DCI Sheens ermittelt in Bis ihr sie findet - Wer auf dich wartet - Neben wem du erwachst - Gytha Lodge - E-Book

DCI Sheens ermittelt in Bis ihr sie findet - Wer auf dich wartet - Neben wem du erwachst E-Book

Gytha Lodge

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Beschreibung

Packende Spannung bis zur letzten Seite: Im Krimi-Sammelband der ersten drei Bände der Bestsellerreihe um DCI-Sheens, kommen Thrillerfans auf ihre Kosten.   Band 1: Bis ihr sie findet Sechs Freunde. Ein Mörder. Wem vertraust du? "Ein dunkler, tiefgehender, grandioser Krimi - das flammende Porträt einer Freundschaft und ihres Verrats." Nicci French Von einer sommerlichen Zeltnacht mit den Freunden ihrer großen Schwester kehrt die vierzehnjährige Aurora nie zurück. Dreißig Jahre später wird ihre Leiche gefunden. In einem Versteck, von dem eigentlich nur die sechs Freunde gewusst haben können. Detective Chief Inspector Jonah Sheens ist fest entschlossen, den Cold Case ein für alle Mal zu lösen. "Ein Geniestreich! Ein kurvenreicher, messerscharf geschriebener Thriller und zugleich eine zarte Ode über Verlust und Sehnsucht." A. J. Finn Bis ihr sie findet ist der erste Band der spannenden Krimireihe um Detective Chief Inspector Jonah Sheens und sein Team. Band 2: Wer auf dich wartet DU HAST ES GESEHEN. DU HAST NICHTS GETAN. WER WIRD DIR NOCH TRAUEN? Ein Mord vor laufender Kamera. Doch der Mörder bleibt im Dunkeln … Abends, kurz vor elf. Aidan loggt sich ein, um mit seiner Freundin zu skypen. Als die Verbindung steht, sieht er nur ihr leeres Zimmer. Dann einen Schatten. Ist Zoe etwa nicht allein? Hilflos muss Aidan mitanhören, wie im Hintergrund gekämpft wird. Bis schließlich Stille herrscht... Als DCI Jonah Sheens und sein Team von der Kriminalpolizei Southampton Stunden später Zoes Wohnung betreten, finden sie die Leiche der jungen Frau. Schon bald stoßen die Ermittler auf ein Geflecht aus Abhängigkeiten, dunklen Geheimnissen und Missgunst. Verdächtige gibt es genug – doch wessen Motiv ist mörderisch genug? Band 3: Neben wem du erwachst Das bleierne Gefühl des Hangovers ist nicht neu für Louise, im Gegenteil: Sie kennt es. Aber an diesem Morgen ist es böser, der Kopf wummert, der Mund ist trocken, die Erinnerung verwischt. Louise fürchtet, etwas Schlimmes getan zu haben. Sie dreht sich um zu ihrem Mann. Aber neben ihr liegt nicht Niall, sondern ein Fremder. Und er ist tot. Hat sie ihn ermordet? --- Ein brillant gestrickter Fall voll unerwarteter Wendungen: der neue Pageturner von Spiegel-Bestsellerautorin Gytha Lodge!

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Seitenzahl: 1536

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Gytha Lodge

DCI Sheens ermittelt in Bis ihr sie findet – Wer auf dich wartet – Neben wem du erwachst

Drei Kriminalromane in einem Band

Aus dem Englischen von Kristian Lutze

Hoffmann und Campe

Bis ihr sie findet

Prolog

Sie schlidderte und rutschte die Böschung hinunter, landete mit ihren Sportschuhen hart auf dem ebenen Boden des Flussufers und schwankte kurz, hielt aber das Gleichgewicht.

»Jessie!«

Als sie ihren Namen hörte, spürte sie ein Kribbeln der Aufregung. Sie zögerte kurz und ging dann weiter. Bloß ihr Bruder, nicht Dad. Oben auf dem Hang. Ihr Bruder würde sie nicht anbrüllen, weil sie allein losgelaufen war.

Es war still. Viel stiller als um den Campingkocher, wo unablässig Dads Befehle ertönten. Ihre Ohren waren voll vom Rauschen der Blätter und lebhaftem Vogelgezwitscher.

Sie trat aus dem Schatten der Bäume, die Sonne brannte Muster auf ihre vom Klettern schon heiße Haut. Sie schirmte die Augen gegen das grelle, vom Wasser reflektierte Licht ab. Sie hätte ihre Sonnenbrille mitnehmen sollen und überlegte, ob sie umkehren und sie holen sollte. Aber sie wollte auf keinen Fall gesehen werden. Denn dann würde man sie auf Schmutz inspizieren und anweisen, sich zu waschen, den Tisch zu decken und aufzuräumen.

Geblendet trat sie in den Schatten der Uferböschung. Wohin sie auch blickte, sah sie blaue Muster. Über ihr breitete eine Buche ihre Äste aus, und Wurzeln wölbten sich aus dem Boden wie platt gedrückte Krocket-Tore. In einem blieb sie mit dem Fuß hängen und stolperte. Kurz glaubte sie, ins Wasser zu fallen, und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Im Schatten unter dem Baum sah der Fluss dunkel und unheimlich aus. Aber sie war eigentlich nicht nah genug, um hineinzufallen, und sie fing sich schnell wieder.

Die Erde vor ihr war ausgehöhlt. Wie eine Hängematte, in die sie sich kuscheln wollte.

»Jessie!«

Na super. Diesmal war es ihr Dad und viel näher. In dem Ton, der eine Antwort verlangte. Aber vor ihr lagen die kühle Erde und ein Versteck. Sie streckte erst einen, dann den anderen Fuß in den Hohlraum. Sofort wurde ihr kühler, und sie setzte sich auf den leicht bröckeligen Boden. Sie stellte sich vor, sie sei eine Dörflerin aus dem frühen Mittelalter, die sich im Wald versteckte, während die Wikinger ihr Haus plünderten.

Aber der Boden war nicht so weich wie erhofft. Wurzeln drückten gegen ihr Becken und ihren Rücken. Sie rutschte hin und her, um eine bequeme Position zu finden. Dabei verhakten sich ihre Shorts an irgendwas, das sie am Bein piekte.

Sie streckte die Hand aus, löste den Stoff und spürte, wie die Wurzel in ihrer Hand zerbröselte. Als sie sie hochhob, blickte sie nicht auf altes Holz, sondern auf braune Flocken und die bleichen weißen Umrisse eines frisch freigelegten Knochens.

Auch ohne ihren Vater, der Arzt war, wusste sie, dass sie einen menschlichen Finger in der Hand hielt.

1.

Jonah war auf halber Strecke den Blissford Hill hinauf, als das Telefon in der Reißverschlusstasche am Rücken seines Radlertrikots vibrierte. Er überlegte, nicht ranzugehen, doch dann hatte er das Bild seiner Mutter im Krankenhaus vor Augen; direkt gefolgt von dem leicht schwindelerregenden Gedanken, es könnte Michelle sein. Völlig irrational natürlich wie jedes Mal, wenn er das in den letzten acht Monaten gedacht hatte, aber er dachte es trotzdem.

Er unterbrach den zermürbenden Anstieg und bremste mit zusammengebissenen Zähnen. Beim Abspringen stieß er sich das Schienbein an der Pedale und war ziemlich ungehalten, als er das Telefon endlich aus der Tasche gezerrt und auf dem Display die Nummer von Detective Sergeant Lightman erkannt hatte.

»Ben?«, fragte er und hielt das Telefon dann ein Stück vom Mund weg, um sein Keuchen zu kaschieren.

»Tut mir leid, Chief.« In seiner Stimme lag kein Bedauern. In seiner Stimme lag eigentlich nie irgendwas. Michelle hatte ihn immer Barbie genannt. Außergewöhnlich hübsch und gefühllos. Allerdings war er deutlich intelligenter als Barbie. »Ein Anruf von Detective Chief Superintendent Wilkinson. Er möchte, dass Sie Ihren Urlaub verschieben, um einen potenziellen Mord zu untersuchen. »

Jonah ließ den DS warten. Er blickte zu der Hügelkuppe, die im Schatten von Bäumen lag. Der Anstieg wäre eine echte Schinderei, aber genau das wollte er. Seine Beine sehnten sich danach. Als er mit der freien Hand den Rennradlenker packte, spürte er den Schweiß auf der Handfläche. Er hatte das in letzter Zeit viel zu selten getan.

»Sir?«

»Wo?«, fragte er, ohne seine Verärgerung zu verbergen.

»Brinken Wood.«

Wieder entstand ein Schweigen, diesmal jedoch unabsichtlich. Jonah war für einen Moment wirklich sprachlos.

»Frische Überreste?«, fragte er schließlich, obwohl er die Antwort schon zu kennen glaubte.

»Laut dem DCS nicht«, erwiderte der Sergeant, der zu jung war, um es zu verstehen.

Sein Radausflug war beendet, aber Jonah fühlte sich mit einem Mal ohnehin zu alt dafür. Er konnte sich nicht erinnern, sich jemals alt gefühlt zu haben.

»Schicken Sie einen Wagen, der mich in Godshill abholt. Sie sollen die Sporttasche hinter meinem Schreibtisch mitbringen. Und finden Sie jemanden, der mir ein Deo leiht.«

»Ja, Sir«, antwortete Lightman so gemessen wie immer.

Jonah steckte das Telefon wieder in die Tasche seines Funktionsshirts. Der Schweiß auf seiner Haut kühlte schon ab und ließ ihn frösteln. Er sollte sich wieder auf den Weg machen. Bis nach Godshill waren es noch ein paar Kilometer.

Doch er blieb noch eine ganze Minute lang regungslos stehen, bevor er sich endlich in Bewegung setzte und das Fahrrad langsam den Hügel hinaufschob.

 

Hanson hatte es so eilig, aus dem Wagen zu steigen, dass sie mit dem Ärmel ihres teuren neuen Anzugs an der Tür hängen blieb und einen Faden zog. Ihr wurde leicht übel. Eigentlich hatte sie sich die Teile ohnehin nicht leisten können. Sie hatte sie zusammen mit drei anderen Anzügen in ihren ersten beiden Wochen als Detective Constable gekauft, weil sie vorher nur Jeans, Tanktops und Pullover sowie ein paar Kleider zum Ausgehen besessen hatte. Anzüge waren verdammt teuer. Und es tat ihr leid um das Geld, das sie stattdessen für ihr unzuverlässiges Auto hätte ausgeben können. Oder vielleicht sogar für ein Privatleben, das sie irgendwann offenbar komplett vergessen hatte.

Sie strich den Ärmel glatt und fragte sich, ob ihre Mum sich die Stelle vielleicht ansehen könnte, vorausgesetzt, sie würde es in nächster Zeit schaffen, ihre Mutter zu besuchen. Bei Verdacht auf Mord musste sie vielleicht das ganze Wochenende durcharbeiten. Nächtelang nur von Koffein leben, bis sie den Mörder gefunden hatten. Der Gedanke ließ sie lächeln.

Sie betrat das Criminal Investigation Department und sah Lightmans Kopf vor seinem Bildschirm. Sie fragte sich, wie lange er schon da war und ob er in seinem Leben noch irgendetwas anderes machte. Ob es eine Lightman-Frau oder Lightman-Kinder gab, die einfach noch nie zur Sprache gekommen waren. Irgendwie sah er aus wie ein untreuer Ehemann. Zu hübsch und zu verschlossen. Vielleicht waren es aber auch ihre eigenen jüngsten Erfahrungen, die ihre Sichtweise verzerrten.

Lightman bemerkte sie und lächelte knapp. »Ich hab den Chef erreicht. Jemand muss ihn abholen und zum Tatort fahren.«

»Wird gemacht«, antwortete Hanson sofort. »Wo ist er?«

»Godshill«, sagte Lightman. »Er ist mit dem Rad unterwegs.«

Hanson nickte und tat so, als wüsste sie genau, wo Godshill lag, dabei würde sie es gleich in ihr Navi eingeben. Nach zwei Wochen in dem Job kannte sie im Prinzip nur die Strecke von zu Hause zum Kommissariat und zum Supermarkt und von dort zum Hafen, wo sie in einem potenziellen Betrugsfall ermittelt hatte. Sie vermisste die Sicherheit, mit der sie sich durch Birmingham bewegt hatte, die Stadt, in der sie aufgewachsen war und wo sie für zwei Jahre als Constable gearbeitet hatte. Obwohl sie zugeben musste, dass New Forest viel hübscher war.

»Das wirst du brauchen«, sagte Lightman und reichte ihr eine dunkelgraue Sporttasche. »Und ich würde ihm trotz der knappen Zeit einen Kaffee mitbringen. Er wird nicht glücklich darüber sein, dass er an seinem freien Tag gestört wurde.«

»Okay. Einfach … Filterkaffee? Keinen Latte oder irgendwas?«

Lightman lachte. »Gott bewahre. Hast du noch nie eine von seinen Tiraden über Kaffeevariationen abbekommen?«

»Nein, aber die sind bestimmt toll.« Sie hängte sich die Sporttasche über die Schulter. »Okay. Sonst noch was? Weißt du schon, um was es sich handelt?«

Lightman schüttelte den Kopf. »Der zuständige Sergeant wird den Fall am Fundort dem Chief übergeben. Er wird euch berichten, was man bis jetzt weiß, aber wenn die Tat schon länger zurückliegt, wird es noch nicht viel sein.«

Hanson nickte und unterdrückte ein Lächeln. Über die Nachricht von einem Mord sollte man nicht lächeln, selbst wenn er schon Urzeiten her war. Aber in Wahrheit freute sie sich darüber.

 

Hanson war so aufgedreht, als sollte sie gleich ihre Prüfungsergebnisse erfahren. Sie plapperte auf Jonah ein, über die Sporttasche und den Kaffee, um dann, ohne Luft zu holen, nach den Überresten zu fragen. Jonah fand das irgendwas zwischen rührend und nervig.

»Ben hat gesagt, es wäre vielleicht ein älterer Fall.«

»Ich würde warten, bis die Forensiker eine Meinung äußern«, erwiderte er und trank einen großen Schluck Kaffee. »Die meisten Leute – mich eingeschlossen – haben keinen Schimmer, wie alt Knochen sind.«

Nachdem er eben noch geschwitzt hatte, fröstelte ihn jetzt selbst in dem Anzug, den er sich in einer öffentlichen Toilette in Godshill angezogen hatte. Er starrte aus dem Fenster und hing seinen Gedanken von vor dreißig Jahren nach. Er unterbrach Hansons Redefluss und bat sie, die Heizung hochzudrehen. Als sie an dem Regler drehte, geriet der Fiat kurz ins Schlingern, stabilisierte sich aber rasch wieder.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Ich bin dankbar, dass Sie fahren«, sagte er und lächelte dünn. »Und der Kaffee war auch eine kluge Idee. Damit haben Sie meine Laune zumindest für ein paar Stunden erträglich gemacht.«

»Hm. Ein paar Stunden. Dann muss ich vorher entweder einen Starbucks finden oder in Deckung gehen?«

»So ungefähr«, sagte Jonah.

Dann waren sie plötzlich in Brinken Wood. Auf einem gekiesten Parkplatz standen etliche Streifenwagen und uniformierte Beamte. Zwangsläufig erinnerte Jonah sich daran, wie es damals hier ausgesehen hatte. Der Parkplatz war noch nicht mit Kies, sondern mit Schlamm und Rindenmulch bedeckt gewesen, aber genauso überlaufen von Polizisten. Die Frisuren waren anders, die Gesichter irgendwie gleich.

Als sie angehalten hatten, stieg Jonah mit dem Kaffeebecher in der Hand aus dem Wagen. Er hatte das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. So viele Monate hatten sie hier mit der endlosen Suche verbracht.

Er ging auf den Sergeant zu. »DCI Sheens. Das ist DC Hanson.«

Vor zwei Wochen hatte Hanson noch denselben Dienstgrad gehabt wie der Sergeant, aber wenn man sich zum Detective ausbilden ließ, musste man de facto eine Degradierung hinnehmen und wieder Detective Constable werden. Jonah erinnerte sich, dass er seinerzeit in der gleichen Lage nie gewusst hatte, wer mehr zu sagen hatte, und er fragte sich, ob es Hanson ähnlich ging.

Am Haaransatz des Sergeants hatten sich Schweißtropfen gebildet. Seine Augen waren geweitet, sein Lächeln war knapp und nervös. Sein Police Constable, ein untersetzter Mann Mitte zwanzig, wirkte deutlich ruhiger.

Jonah richtete seine Frage an die Lücke zwischen den beiden: »Wer hat die Überreste gefunden?«

Der Sergeant antwortete. »Ein Arzt auf Zelturlaub mit seiner Familie. Genau genommen seine Tochter, aber er hat angeru fen.«

»Wie alt ist die Tochter?«

»Neun«, sagte der Constable. »Scheint ihr aber gut zu gehen. Den Vater hat es härter getroffen.«

»Sind sie noch hier?«

»Wir haben sie gebeten, an ihrem Zeltplatz zu warten. Er ist nicht in Sichtweite des Fundorts.«

Jonah nickte und ließ den Sergeant vorgehen, obwohl er den Weg kannte. Es war der Platz, wo sich vor dreißig Jahren sieben Jugendliche zum Schlafen hingelegt hatten, aber nur sechs am nächsten Morgen aufgestanden waren.

 

Dr. Martin Miller saß ein Stück abseits seiner Familie. Die Frau des Arztes sah dem Jungen zu, der auf einem iPad spielte. Das Mädchen wirbelte am Rand des Zeltlagers Staub mit den Füßen auf.

Jonah sprach die Mutter an.

»DCI Sheens.« Er lächelte. Er hatte lernen müssen zu lächeln, während sein Verstand von komplizierten und dunklen Gedanken beherrscht wurde, die sich wie eine gesprungene Scheibe zwischen ihn und die Welt schoben. »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich kurz mit Ihrer Tochter spreche?«

»Jessie!«, rief ihr Vater schrill und gereizt. »Hör auf, Staub aufzuwirbeln. Du machst alles dreckig.«

Das Mädchen wirkte halb erschrocken und halb aufmüpfig. Sie schlurfte zu ihrer Mutter, setzte sich hastig und blickte zu Jonah auf, die Knie knapp unter dem Kinn.

Ihre Mutter legte einen Arm um sie und drückte sie kurz. »Du hast doch nichts dagegen, mit der Polizei zu sprechen, oder Jessie?«, fragte sie ihre Tochter.

Jessie schüttelte den Kopf.

»Wir haben auch nur wenige Fragen«, sagte Jonah mit fester Stimme. »Nur ein paar Details zu dem, was du gefunden hast.«

»Klar.«

»Sie weiß gar nichts«, unterbrach ihr nicht viel älterer Bruder sie. Die Verachtung großer Geschwister war Jonah immer außergewöhnlich heftig vorgekommen.

Er blickte zu dem Jungen, der sie jetzt beide mürrisch beobachtete, und überlegte, ihn wegzuschicken, ließ es dann aber.

Er ging vor Jessie in die Hocke. »Also, ein paar Fragen an dich.«

Das Mädchen sah ihn erneut argwöhnisch an und ließ den Blick dann weiter schweifen. Sie nahm einen Kieselstein und warf ihn zur Seite, dicht gefolgt von einem zweiten.

»Jessie, Herrgott noch mal!« Wieder der Vater. Viel näher jetzt. »Hör auf, mit Sachen zu schmeißen, und guck den Polizisten an, wenn er mit dir redet. Das ist wichtig!«

Jonah lächelte dem Arzt angestrengt zu. »Das ist schon okay, machen Sie sich keine Sorgen.«

»Jessie!«

Es war, als hätte Jonah gar nichts gesagt.

Das Mädchen warf ihrem Vater einen aufsässigen Blick zu und schaute dann, so gut sie es zwischen den Fransen ihres geraden braunen Ponys hindurch konnte, zu Jonah auf. Der bemühte sich, ruhig zu bleiben, trotz der Unterbrechungen des Vaters, dem es keineswegs darum ging, der Polizei behilflich zu sein, sondern nur um Kontrolle.

»Sind Sie ein Inspektor?«, fragte Jessie leise.

Jonah lächelte. »Ja, sogar ein Detective Chief Inspector.«

Jessies Blick blieb ein wenig misstrauisch. »Heißt das, Sie sind für alles zuständig?«

»Ja.« Damit schien sie einigermaßen zufrieden, also sprach er weiter. »Kannst du mir sagen, was du gemacht hast, als du die Knochen gefunden hast?«

Jessie blickte zu ihrem Vater und sagte leise: »Ich hab mich versteckt.«

Jonah sah, wie ihre Mutter das Gesicht verzog, aber sie machte keinen Versuch, es zu leugnen.

»Verstecken macht Spaß«, sagte er. »Diese Höhle unter dem Baum. War die schon da? Oder hast du die gegraben?«

Jessie schüttelte den Kopf. »Ich bin einfach reingegangen und hab mich hingesetzt. Dann hat mich was gepiekt, und ich hab es aus dem Boden gezogen.«

Jonah nickte. »Klar. Und es ließ sich ganz leicht rausziehen?«

»Ja. Ich dachte – ich dachte, es wäre eine Wurzel oder vielleicht eine Pflanze. Aber dann hab ich gesehen, dass es ein Finger ist.«

»Das hast du gut gemacht«, sagte Jonah nickend. »Das hätte nicht jeder erkannt.«

Jessie nickte, lächelte schüchtern und stand auf. Ihre Mutter zog sie an sich und umarmte sie kurz.

»Ich möchte, dass sie für ein paar Tage nicht mit ihren Schulfreundinnen darüber spricht«, sagte Jonah zu Mrs Miller, nachdem sie ihre Tochter losgelassen hatte.

»Das ist kein Problem, in den nächsten paar Wochen trifft sie niemanden. Wir wollen unseren Urlaub fortsetzen, aber woanders.«

Privat unterrichtete Kinder, begriff er. Sie waren schon einen Monat vor dem Ferienbeginn der staatlichen Schulen im Urlaub.

»Gut. Es wäre besser, wenn zunächst noch nicht darüber geredet wird.«

»Selbstverständlich.«

Er hörte Dr. Miller näher kommen.

»Sind wir hier fertig? Es ist ein schöner Tag, und ich glaube nicht, dass wir noch viel hinzuzufügen haben.«

»Ja, wir sind fertig. Vielen Dank für Ihre Geduld.«

Als Jonah aufstand, erteilte der Arzt seinen Kindern bereits Befehle zu packen und scheuchte sie zum Zelt.

Jonah ertappte sich dabei, Mrs Miller zu beobachten, die ebenfalls aufstand und ein paar halb leere Tüten mit Rosinen und eine Tasse einsammelte.

»Tut mir leid, dass Ihr Urlaub unterbrochen wurde«, sagte er.

»Das macht nichts«, sagte sie und winkte ab, bevor sie sich zu ihrem Mann umblickte. »Martin ist bloß … Für ihn ist es nicht so toll.« Sie senkte die Stimme. »Der Urlaub sollte ihn ablenken … Es geht ihm sehr schlecht. Sie sagen, die Chance, dass er bis Weihnachten überlebt, beträgt nur fünfzig Prozent.«

Jonah nickte und fragte sich, ob sie es gewohnt war, sich für ihren Mann zu entschuldigen. Er begriff, dass der Mann Krebs hatte und diese Knochen für ihn eine Begegnung mit der Sterblichkeit gewesen waren. Er empfand einen Hauch von Mitleid.

 

Die Ausgrabung dauerte schon anderthalb Stunden. Dutzende von Fotos wurden gemacht, ein Zelt wurde über dem Fundort errichtet, acht Tüten wurden mit sorgfältig etikettierten Knochenfragmenten gefüllt.

Allen war heiß, alle waren gereizt. Jonah hatte einen bitteren Geschmack im Mund, stundenalter Kaffee. Er konnte die Füße nicht still halten und verspürte einen kräftezehrenden Hunger, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren.

»Schon irgendwelche Erkenntnisse?«, fragte Hanson, nachdem sie mehrmals zum Parkplatz und wieder zurück gelaufen war.

Die Aufregung war in Langeweile umgeschlagen, die einzige verlässliche Konstante im emotionalen Spektrum eines Detective.

»Ich denke, es wird noch eine Weile dauern«, sagte Jonah. »Es ist eine alte Leiche … das ist zeitaufwendig.«

»Können wir sonst irgendwas …?«

»Wir können hier sein, wenn sie uns sprechen wollen«, sagte er und deutete ein Lächeln an.

Gut zwanzig Minuten später stieg Linda McCullough behutsam aus der Bodensenke und kam auf ihn zu. Er war froh, dass McCullough die Spurensicherung leitete. An einem Tatort, der bestenfalls noch zarte Reste von Indizien aufwies, musste man geradezu zwanghaft vorsichtig sein.

»Wie läuft es, Linda?«

»Wir werden noch einige Zeit damit beschäftigt sein, alles einzusammeln.« Sie nahm ihre Maske vom Gesicht und schob sie über ihre weiße Kapuze. Ihr wettergegerbtes Gesicht war schweißnass, was wohl bei jedem, der bei dem Wetter einen Overall hätte tragen müssen, so gewesen wäre. Aber McCullough schien es gar nicht zu bemerken. »Um Ihnen wenigstens eine erste Rückmeldung zu geben: Es handelt sich um ein pubertierendes Mädchen im fortgeschrittenen Zustand der Verwesung.«

»Wie fortgeschritten?«

»Es ist nur eine grobe Schätzung, aber mehr als zehn Jahre. Und weniger als fünfzig.«

Dreißig Jahre, dachte er. Dreißig.

Einen Moment lang fand er es schwer zu glauben, dass so viel Zeit vergangen war. Ihn durchzuckte das Gefühl, den größten Teil seines Lebens verschlafen zu haben wie Rip van Winkle. Der hatte wahrscheinlich auch diese seltsame Mischung aus Wut und Schuld empfunden.

»Linda!«

McCullough drehte sich um und schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Ein zweiter weißer Bioanzug beugte sich aus dem Zelt.

»Ich habe weitere Proben geborgen. Kannst du dir das mal ansehen?«

»Sicher.«

Sie setzte ihre Maske auf, kletterte vorsichtig zum Fundort hinunter und verschwand wieder in dem Zelt.

»Also wenn es ein Mord war, ist er lange her«, sagte Hanson, und Jonah wurde kurz von dem weißen Papier ihres Notizblocks geblendet, als sie eine Seite umschlug. Sie klang enttäuscht, nichts ahnend von den gewaltigen Implikationen, die sich hinter diesen Zahlen verbargen. »Und es ist ein Mädchen im Teenageralter.«

»Es ist dreißig Jahre her«, sagte er. »Und es ist Aurora Jackson.«

2. Aurora

Freitag, 22. Juli 1983, 17:30 Uhr

Hell, dunkel, hell, dunkel.

Im Vorbeifahren war jeder Baum ein schattiger Pulsschlag. Es war ein beruhigender Rhythmus. Sie legte den Kopf auf das heruntergelassene Fenster und beobachtete, wie ihre Haare flatterten. Sie stellte sich vor, auf dem heißen Wind zu treiben, weg von hier, irgendwohin, wo das Licht den ganzen Tag orangegolden war.

»Wo warst du gestern Abend? Ich hab ein paarmal versucht, dich anzurufen.« Es war Topaz, die sich die Sonnenbrille ins schwarze Haar schob und sich von der Rückbank nach vorn beugte. Sie meinte natürlich nicht Aurora.

Aurora wünschte, Brett wäre nicht so nett zu ihr gewesen und hätte sie nicht auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen. Ihr war klar, dass Topaz dort sitzen wollte. Ihre Schwester war wütend, weil sie nach hinten abgeschoben worden war. Connor war auch wütend gewesen. Es hatte ihm nicht gefallen, dass Brett angeboten hatte, sie drei mitzunehmen, während Connor und die anderen mit dem Rad fahren mussten.

»Was? Oh. Ich war im Kino.« Brett wechselte den Gang und streifte dabei mit der Hand Auroras hauchdünnen Rock. »Sorry«, murmelte er.

Aurora zuckte mit den Schultern und rückte etwas. »Meine Schuld. Ich war im Weg.«

»Welcher Film? Irgendwas Verrücktes?«, fragte Topaz, halb auf Aurora hängend.

»Das fliegende Auge.«

»Noch mal?« Topaz lachte und stupste ihn gegen die Schulter. »Den musst du doch schon zwanzig Mal gesehen haben.«

»Erst drei Mal«, erwiderte Brett. »Es ist ein Superfilm. Er schlägt fast alles, was dieses Jahr rausgekommen ist, locker aus dem Feld.« Eine kurze Pause, um einen Wagen mit Wohnanhänger zu überholen. »Was für Filme magst du, Aurora?«

»Was?«

Es war ein Reflex. So zu tun, als wäre sie woanders. Es passierte so oft, dass sie gar nicht mehr anders konnte, selbst wenn sie zugehört hatte. »Dussel«, hörte sie Topaz murmeln.

Sie sah Brett an, der sie freundlich anlächelte.

»Was für Filme siehst du gern?«

»Ich weiß nicht. Alles … bei dem ich andere Welten zu sehen bekomme, glaube ich. Geschichten, die in fremden Ländern spielen oder im Weltraum oder an Phantasieorten. Liebesfilme mag ich auch.«

Sie hörte Coralie schnauben und fragte sich, ob sie hätte lügen und antworten sollen, dass sie Actionfilme mochte. Topaz tat immer so, als würden sie ihr gefallen. Sie verdrehte die Augen über »Mädchen-Mädchen«, die nur Schmalzfilme gut fanden. Aurora ließ sie immer reden, obwohl sie wusste, dass Topaz’ Lieblingsfilme entweder historische Dramen oder romantische Komödien waren.

»Dann gefällt dir bestimmt Star Wars?«, fragte Brett. »Er hat all das. Hast du Die Rückkehr der Jedi-Ritter schon gesehen?«

Aurora schüttelte den Kopf. »Ich wollte warten, bis er auf Video erscheint. Meine Eltern fanden den letzten nicht so gut …«

»Ach was, den muss man im Kino sehen«, sagte Brett und schüttelte den Kopf. »Die ganzen Effekte, die Star Destroyer, das Gedonner aus den Lautsprechern – und es dauert noch Urzeiten, bis der auf Video rauskommt. Das sollten wir regeln, Topaz.« Er blickte in den Rückspiegel. »Wir gehen alle zusammen.«

»Klingt gut«, sagte Topaz, und Aurora konnte an ihrem Mund ablesen, dass sie nicht glücklich war.

Ich hätte unsere Eltern nicht erwähnen sollen. Sie hat mir gesagt, dass ich nicht über sie sprechen soll.

Aurora spürte einen Knoten der Anspannung im Bauch. Sie wusste nie, was sie vor Topaz’ Freundinnen und Freunden sagen sollte. Was ihr auch einfiel, es war immer verkehrt. Und es vor Brett verkehrt zu machen war noch schlimmer. Er war der ältere Junge, in den alle verknallt waren, der Star-Sportler, dem sofort ein Dutzend Mädchen zusah, wenn er bloß im Schwimmbecken der Schule trainierte.

Sie empfand eine Mischung aus Dankbarkeit und Ängstlichkeit. Jede in ihrer Stufe – eigentlich jede in der ganzen Schule – würde morden, um auf ihrem Platz zu sitzen. Neben Brett Parker, so nah, dass sie ihn berühren konnte. Und mehr noch, sie war mit der Clique zusammen, mit Benners’ seltsamen, anarchischen, genialen und schönen Freunden.

Es war eine Clique, in die sie überhaupt nicht passte und in die sie nur wegen ihrer Schwester eingeladen worden war. Und es war eine dieser Ironien des Schicksals, dass Topaz gar nicht wollte, dass sie hier war.

Sie blickte wieder zu den Bäumen und der Sonne und malte sich aus, wie die Brise sie hochhob und sanft in ein Paar starker Arme trug. Sie gab den Armen einen Besitzer mit dunklem Haar.

Sie stellte sich vor, wie er zu ihr sprach. Ich habe noch nie so jemanden getroffen wie dich. Du bist mein Ein und Alles.

»Hey.« Coralie beugte sich vor und zeigte den Weg an. »Da musst du abbiegen.«

Am Ende des Satzes stieß sie ein kleines Lachen aus, eine Angewohnheit von ihr, die sie noch kindischer wirken ließ. Zusätzlich zu den pinkfarbenen Kleidern, den Kulleraugen und dem aufgesetzten Staunen über die Welt.

Der Wagen bremste; Aurora bedauerte, dass der flackernde Rhythmus von hell und dunkel langsamer wurde, bis sie ganz im Schatten der Bäume waren, die die Straße überragten. Sie versuchte, das Gefühl festzuhalten, in Armen gewiegt und eingelullt zu werden, doch Coralie öffnete schon die Tür, und Brett zog den Schlüssel aus der Zündung.

Widerstrebend stieg sie aus und sah, wie Topaz um den Wagen zu Brett ging, der mehrere Schlaf- und Rucksäcke auspackte. Topaz streckte die Arme in die Luft, sodass ihr bauchfreies Top hochrutschte und noch mehr von ihrer gebräunten Taille freigab. Dann wandte sie sich von Brett ab, beugte sich nach vorn und berührte mit den Fingern ihre Zehenspitzen.

Aurora sah, wie Bretts Blick zu Topaz’ Hintern wanderte, wo ein Teil ihrer Pobacken und der Saum ihrer Spitzenunterwäsche zu sehen waren.

»Ich bin sooooooo steif«, sagte Topaz, richtete sich langsam wieder auf und sah Brett über die Schulter an. »Kommst du?«

»Ähm … ja klar.«

Coralie lief um den Wagen, fasste Topaz’ Hand und schlenderte mit ihr auf dem Waldweg voran.

3.

Jonah nahm Hanson mit zum Haus der Jacksons außerhalb von Lyndhurst. Er hätte es auch ein paar Sozialarbeitern der Gemeinde überlassen können, die nächsten Verwandten zu informieren, doch es war ihm ein Bedürfnis, selbst dorthin zu fahren. Vielleicht um zu trösten; vielleicht weil er dreißig Jahre auf einen Abschluss gewartet hatte.

Die Jacksons waren nie aus New Forest weggezogen. Das war bei Vermisstenfällen der üblichere Ausgang. Während ein Mord eine Familie häufig forttrieb, band ein ungelöster Vermisstenfall sie an den Ort, wo der oder die Vermisste gelebt hatte. Denn es gab immer die vage Hoffnung, dass sie eines Tages nach Hause kommen würden.

Die siebenhundert Meter lange Zufahrt war mittlerweile fast unpassierbar. Der Belag aus Sand und Schotter war zu einem Minenfeld aus Schlaglöchern verkommen. Hanson fluchte, als der linke Vorderreifen durch ein tiefes Loch holperte und der Unterboden des Wagens über getrockneten Schlamm schrammte. Sie riss das Lenkrad heftig herum, um einem weiteren Schlagloch auszuweichen; Jonah musste sich am Armaturenbrett abstützen.

»Sorgt die Gemeinde nicht für neuen Straßenbelag?«, fragte sie.

»Privatweg«, antwortete Jonah. »Die Jacksons waren noch nie große Fans von Asphalt. Sie sind ein bisschen alternativ. Obwohl ich ehrlich gesagt nicht weiß, ob es Liebe zur Natur oder bloß Faulheit ist.«

»Ich habe nichts gegen die Natur, wenn sie die Finger von meinem Wagen lässt«, murmelte Hanson.

Sie hielt auf einer dürftig gerodeten Fläche vor einem einstöckigen Haus. Jonah öffnete die Wagentür über einem ausgetrockneten Schlammkrater, trat hinein und spürte, wie spitze Steine sich durch die Sohle seines Schuhs in seinen Fuß bohrten.

Er war erst halb ausgestiegen, als die ramponierte Haustür geöffnet wurde. Eine rundliche, unsicher wirkende Gestalt in einer dicken Strickjacke und einem selbstgefärbten Kleid stand in der Tür und blinzelte in die Sonne.

»Guten Morgen, Mrs Jackson. Entschuldigen Sie die Störung, aber dürfen wir reinkommen?«, fragte er möglichst neutral.

»Ich … Ja. Ja, ich denke schon.« Sie trat etwas weiter aus dem Schatten einer verdorrten Glyzinie. »Es ist doch nicht wegen Topaz, oder?«

Jonah schüttelte den Kopf, Hanson antwortete für ihn.

»Mit Ihrer Tochter ist alles in bester Ordnung, Mrs Jackson«, sagte sie mit einem warmen Lächeln, und Jonah war froh, dass er sie mitgenommen hatte.

»Wir wollten mit Ihnen bloß über eine neue Entwicklung im Fall von Auroras Verschwinden sprechen«, fügte er hinzu.

Joy Jackson drehte sich kurz zum Haus um und steckte die Hände in die Taschen ihrer Strickjacke.

»Ja, ja, natürlich. Warum kommen Sie nicht …«

Sie trat nervös von einem Fuß auf den anderen, während Jonah und Hanson vorsichtig über den überwucherten Pfad mit seinen teilweise lockeren Pflastersteinen balancierten.

Von nahem war Joy rosiger und faltiger, als Jonah sie in Erinnerung hatte. Runde Wangen mit einem Netz von roten Äderchen; Augen, die unablässig in runzeligen Höhlen hin und her zuckten.

Als sie sich umdrehte, verströmten ihre Kleider Lavendelduft. »Kommen Sie rein. Ich hol Tom. Tom!«, rief sie mit schriller Stimme, als sie in den dunklen Flur trat. »Tom!«

Der Flur war wegen der Mäntel, Schuhe, diverser Outdoor-Klamotten und Kisten beinahe unbegehbar, aber Joy war offen bar schon lange daran gewöhnt und fand einen Weg, ohne hinzusehen.

»Kommen Sie in die Küche. Ich setze Teewasser auf. Tom!«

Die Küche war genauso unordentlich. Ein Ende des riesigen Eichentischs war frei geblieben, der Rest mit Zeitungen, Briefen und Münzen bedeckt.

»Machen Sie sich keine Umstände, wenn Sie selbst keinen Tee wollen«, sagte Jonah, während Joy drei Schränke öffnete, bis sie eine Teedose fand. Sie drehte sich damit um und hielt unschlüssig inne.

Jonah drückte sich an der Tischkante entlang und sah sich um. Die Arbeitsflächen waren von einem Schmierfilm überzogen; darauf war wie ein Ornament schmutziges Besteck ausgebreitet, hin und wieder unterbrochen von einem größeren Objekt. Ein altes Stück Rohr. Ein Tennisschläger. Ein Hammer.

Die gebeugte Gestalt, die in der Tür auftauchte, ließ Jonah stutzen. Ohne die ungepflegten grauen Haare und den Vollbart hätte er sie nie als Tom Jackson erkannt, den er als arroganten, wohlerzogenen und eindeutig autistischen Sonderling in Erinnerung hatte. Kaum noch eine Spur von dem streitlustigen Mann, der in seinem verbeulten Volvo in Lyndhurst aufgekreuzt war und sich in regelmäßige Fehden mit der Gemeindeverwaltung oder dem Postamt verstrickt hatte. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst.

»Polizei, stimmt’s?«

Die Stimme war ebenfalls leblos. Jonah erinnerte sich an die Wut des Mannes nach Auroras Verschwinden. Wie er mit dem Finger in die Luft gestochen und ihnen erklärt hatte, was sie falsch machten und warum sie Aurora nicht finden konnten. Vielleicht brannten dreißig Jahre Wut einen Menschen aus.

»Ja, Tom.« Joy hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und füllte einen uralten Kessel mit Wasser. »Möchtest du …? Ich mach eine Kanne.«

Tom zog sich einen Holzstuhl heran, nahm schwerfällig darauf Platz und sah Hanson und Jonah nacheinander an. Offenbar verlor er schnell das Interesse an beiden, denn sein Blick wanderte zu einem blassen Gemälde an der Wand.

Die nur vom Rauschen des Kessels untermalte Stille dehnte sich bis zur Unbehaglichkeit. Jonahs Geduld war aufgebraucht, bevor das Wasser kochte.

»Wir wollten als Erstes mit Ihnen sprechen. Es hat heute Morgen eine neue Entwicklung gegeben.«

Joy brach in hektische Aktivität aus, schob Tassen über den Tisch, steckte die Hände suchend in beide Taschen und zog sie leer wieder heraus.

»Sie haben Neuigkeiten zu Aurora, Tom«, sagte sie.

»Ja. Das dachte ich mir.«

Jonah fing einen Blick Toms auf, aus dem eine so tiefe Gleichgültigkeit sprach, dass er unwillkürlich wegguckte.

»Eine offizielle Identifizierung muss noch erfolgen«, sagte Jonah, »aber wir haben in der Nähe des Zeltplatzes, wo Aurora verschwunden ist, sterbliche Überreste gefunden. Geschlecht und Alter stimmen überein, und die Überreste sind dem Anschein nach etwa dreißig Jahre alt.« Er wartete auf eine Reaktion. Tom schnippte sich eine Strähne aus den Augen, während Joy den Blick aus irgendeinem Grund fest auf Hanson gerichtet hielt.

»Wir glauben, es ist Ihre Tochter«, schloss Jonah so sanft wie möglich.

Joy starrte mit schlaffem Kinn ins Leere, bevor sie unbeholfen eine Tasse auf den Tisch stellte.

»Sie … Oh, Tom.« Sie atmete geräuschvoll ein, schluchzte und wandte sich ab, um ihr Gesicht zu verbergen. »Tom. Oh, Tom. Sie ist …«

Hanson legte tröstend den Arm um ihre Schultern. Tom Jackson zeigte keine Regung, sah seine Frau nur mit leerem Blick an.

»Nun, war doch klar, dass sie nicht mehr lebt, oder?«, sagte er schroff. »Dreißig Jahre und kein verdammtes Wort. Natürlich ist sie tot.«

 

Zwanzig vor neun an einem Sonntag. Connor Dooley hätte ein freies Wochenende haben sollen, doch er musste trotzdem früh ins Büro, um Arbeiten zu korrigieren und die Institutsratssitzung vorzubereiten. Das kam zunehmend häufiger vor: Ferien und Wochenenden wurden allmählich von Sitzungen, Papierkram und Mediationen vereinnahmt. Genau wie seine Räume. Die schlichten Mahagoniplatten waren von Aktenordnern und Briefumschlägen bedeckt, die wenigen freien Flächen matt und verstaubt.

Heute bereitete Connor sich auf einen Kampf vor. Es war ein frustrierender und unnötiger Kampf, ausgelöst durch den störrischen Geiz des Finanzverwalters. Vor einem Jahr war eine dringend notwendige neue Stelle eingerichtet worden. Die Geschichtsdozenten waren schon lange überlastet gewesen; das College nahm immer mehr Doktoranden und Masterstudenten an. Selbst mit der neu geschaffenen Stelle lagen sie acht Prozent unter dem Betreuungsschnitt. Aber er hatte geglaubt, diesen Kampf zumindest teilweise gewonnen zu haben – bis Lopez eine Professur an der Glasgow University angenommen und der Finanzverwalter verkündet hatte, dass er die Stelle nicht neu besetzen wolle. Er hatte Connor unverblümt erklärt, der zusätzliche Dozent sei ein Luxus gewesen, den man sich nicht länger leisten könne. Die drei aktuellen Dozenten könnten die zusätzliche Arbeit untereinander aufteilen.

Also saß Connor am Sonntagmorgen, noch bevor die Cafés auf der West Nicholson Street öffneten, in seinem Büro, um Tabellen und Diagramme zu den zeitlichen Verpflichtungen seines Lehrkörpers auszudrucken. Er würde den Finanzverwalter mit Fakten erschlagen. Und wenn diese Taktik scheiterte, könnte er den Mann vielleicht einfach zum Abendessen einladen. Manchmal war alles Kämpfen unnötig, wenn seine Frau im kleinen Schwarzen auf einen Kollegen zuging.

Das Summen seines Telefons war ihm halb willkommen, ein Vorwand, die Aufbereitung der Daten zu verschieben. Ein Grund, die Phantasie zu verdrängen, dass er den Finanzverwalter mit beiden Händen an seinem schwabbeligen Hals packen wollte.

Topaz. Rief sie an, um das Mittagessen abzusagen? Er erinnerte sich vage, dass sie sich in Sportkleidung mit zurückgekämmtem Haar in aller Herrgottsfrühe mit einem Kuss von ihm verabschiedet hatte.

Er wusste nicht mehr genau, was sie vorgehabt hatte. Früher als üblich trainieren offensichtlich. Danach würde sie irgendwo einen Kaffee trinken gehen. Eins dieser Treffen, die halb Geschäftstermin, halb privater Plausch waren.

»Hey, T«, sagte er. »Alles okay?«

»Sie haben sie gefunden.«

Es war ein eigenartiger Moment. Er hörte die Emotion in ihrer Stimme, konnte sie jedoch nicht genau einordnen. Er wusste, wen sie meinte, ohne dass sie es aussprechen musste. Die Vorstellung, Topaz könnte ihm berichten, sie habe all die Jahre gelebt und sich nur versteckt, ließ ihn kurz schwindeln.

»Ist sie …«

»Sie hat den Zeltplatz nie verlassen.« Jetzt hörte er die Schärfe in ihrer Stimme. »Man hat Überreste in der Nähe des Flusses gefunden. Sie ist es. Sie ist …«

Die folgende Pause war lang und schrecklich. Es war aussichtslos, seine Frau auf irgendeine sinnvolle Weise trösten zu wollen, doch er versuchte es trotzdem.

»Oh, Topaz«, sagte er. Und dann: »Ich komm dich abholen.«

Ein feuchter Atemzug.

»Sorry … ja. Bitte. Wir sollten runterfliegen. Es gibt bestimmt Flüge …«

Connor zögerte, dachte an den Finanzverwalter und den Kampf, den er unweigerlich verlieren würde, wenn er jetzt wegfuhr. Aber dieser Gedanke wurde von der Erinnerung an einen heißen, dunstigen Sommer und ein Mädchen mit einer Korona aus blondem Haar durchschnitten.

»Klar. Ich sag die Sitzungen morgen ab. Wir sollten hinfahren.«

Er legte auf und stand eine Weile reglos da.

Sie war also beim Fluss …

Er dachte darüber nach, was das bedeutete. Dann klappte er den Laptop zu und begann, seine Sachen wieder einzupacken.

4. Aurora

Freitag, 22. Juli 1983, 18:15 Uhr

»Wir haben es im letzten Sommer entdeckt, als wir hier draußen Benners’ Geburtstag gefeiert haben.« Topaz kletterte die bröckelige Uferböschung hinunter. Coralie war wie gewohnt direkt hinter ihr, stolperte auf ihren dünnen Beinen wie ein Fohlen, immer kurz davor hinzufallen. Benners, Connor und Jojo waren noch nicht eingetroffen, aber Topaz konnte es offenbar nicht abwarten, Brett herumzuführen.

Brett schien durchaus zufrieden damit, sich alles zeigen zu lassen. Er folgte den beiden so dicht, dass er sie mit der ausgestreckten Hand berühren konnte, wenn er denn wollte. Aurora glaubte, dass er es wollte. Alle wollten das.

Aurora ging in einigem Abstand hinterher, trunken von Hitze und Sonnenschein. Sie folgte ihnen nur, um zu folgen. Als sie am Rand des Ufers stolperte, erinnerte Brett sich daran, dass sie da war, und drehte sich um. »Warst du schon mal hier?«

»Nein.«

»Aurora …« Sie hörte die Schärfe in der Stimme ihrer Schwester.

Coralie sah sie an und flüsterte: »Super, das Kind der Liebe ist auch hier …«

Topaz hatte sich umgedreht. Unsicher versperrte sie ihnen mit ihrem Körper den Weg. Hinter ihr breitete eine riesige Buche ihre Äste aus, ihre Wurzeln ragten bis in den glitzernden Fluss.

»Kein Wort zu Mum und Dad, ist das klar?«, sagte Topaz.

»Warum sollte ich ihnen irgendwas erzählen?« Aurora blickte zu dem Baum auf und lächelte. »Er ist schön.«

»Das ist mein Ernst.«

Sie blickte in die undurchdringlichen blauen Augen ihrer Schwester. In diesem Moment war sie wie ein scharfkantiger Fels. Wie aus unnachgiebigem Stein gehauen. Gemeißelt und verwittert.

»Natürlich erzähl ich ihnen nichts.«

»Dann kommt.« Brett trat vor und legte eine Hand auf Topaz’ dunkle, bronzefarbene Schulter. Sie gab nach und drehte sich wieder um.

»Hier entlang.«

Sie tauchte mit dem Kopf unter ein Dach aus glänzenden Blättern und verschwand im Halbdunkel. Aurora ließ Coralie und Brett vorgehen und streckte die Hand aus, um das dichte grüne Blattwerk zu berühren.

»Es ist heiß hier.« Sie beugte sich vor. »Hast du Durst?«, flüsterte sie dem Baum zu.

Dann duckte auch sie sich unter die Blätter. Im Schatten des Baumes war der Boden kahl und dunkelbraun, nur lockere Erde und glatte Wurzeln sowie ein einzelner strauchartiger Sprössling direkt unten am Stamm.

Topaz bog zwei seiner Äste beiseite. Dahinter befand sich eine düstere Kammer, wo der Fluss die Uferböschung ausgehöhlt hatte.

»Cool!«, sagte Brett und trat einen Schritt vor.

»Guck es dir an«, sagte Topaz. »Es kann immer nur eine Person reinkriechen.«

Aurora beobachtete, wie Brett seine breiten Schultern seitlich verschob und sich durch die Öffnung zwängte.

»Was ist da drinnen?«, fragte Aurora. Es sah aus wie der Bau eines Tieres. Ein Dachs, ein Kaninchen. Vielleicht ein Otter.

»Privatsachen«, sagte Topaz sofort. »Sachen, über die du den Mund halten musst. Verstanden?«

Aurora zuckte die Schultern. »Okay.«

Und dann tauchte Brett mit schmutzigem Gesicht und leuchtenden Augen wieder auf.

»Mann. Das ist ja ein ordentlicher Vorrat. Woher habt ihr den?«

Topaz grinste ihn an.

»Von einem Freund von Jojos Bruder. Dem ist ein Deal geplatzt, und er schuldete seinem Lieferanten Geld. Benners hat alles zum Selbstkostenpreis gekauft.«

»Mit welchem Geld?«

»Er hat seine Alten darum gebeten«, schaltete Coralie sich ein. »Die haben nichts gerafft. Er hat behauptet, es wäre für ein neues Auto. Er hat für fünfzig Pfund irgendeine Schrottkarre gekauft, und der Rest ist dafür draufgegangen.«

»Meine Fresse.« Brett lachte und rieb sich das Gesicht. »Das reicht ja für eine Menge Partys.« Sein Blick fiel auf Aurora. »Das musst du dir angucken.«

»Nein, muss sie nicht«, erwiderte Topaz. Sie hatte die Arme vor dem Körper verschränkt und starrte ihre Schwester an.

»Komm schon. Sie erzählt es deinen Eltern bestimmt nicht. Damit würde sie sich genauso reinreißen wie dich. Sie ist schließlich mit uns hier, oder nicht?«

Aurora richtete ihren Blick zwischen die beiden und sah dann, wie Topaz winkte.

Sie sank auf die Knie und kroch in die Höhle, Erde klebte an ihrem Rock. Als sie in die Dunkelheit krabbelte, spürte sie einen winzigen Hauch von Feuchtigkeit in der Luft. Die Erde unter ihren Händen war weich und fühlte sich frisch gelockert an, wie auf einem Grab.

Es war ein kleiner Raum, gerade genug Platz, um zu sitzen oder zu knien. Vor ihr schimmerte etwas in der Dunkelheit. Sie blinzelte und strich mit der Hand über die Wand aus mattem Silber. Sie erkannte, dass es stapelweise sorgfältig gefaltete Päckchen aus Silberfolie in Dutzenden von durchsichtigen Plastikbeuteln waren.

Niemand musste ihr erklären, was sich darin befand. Irgendwelche Drogen, dachte sie. Nichts, wovon sie etwas wissen wollte.

Es war schade, dass sie so viel von dem Raum einnahmen. Es roch ein wenig nach Tier, und Aurora vermutete, dass die Kreatur, die diese Höhle gegraben hatte, verscheucht worden war. Sie konnte sich vorstellen, ein Tier zu sein und hier zu wohnen. Im Winter hier zu schlafen und sicher vor Jägern auf ihre Jungen aufzupassen.

Sie kroch langsam wieder hinaus und klopfte sich die Erde vom Rock. Ein wenig blieb, festgedrückt von ihren Knien, an dem dünnen Stoff kleben.

»Was denkst du?«, fragte Brett sie.

Sie lächelte dünn.

»Es ist schön da drinnen.«

Trotz Bretts dröhnenden Lachens konnte sie Topaz’ verächtliches Schnauben hören.

5.

McCullough zeigte ihm den Kiefer.

»Hier.«

Sie waren in der forensischen Abteilung im Keller der Station. McCullough hatte ihn eine Stunde nach seiner Rückkehr vom Haus der Jacksons angerufen. So schnell hatte er keine Ergebnisse erwartet. Die Identifizierung einer Leiche konnte Tage dauern.

Er beugte sich vor, dankbar, dass die Leiche so alt war und er eine Maske trug. McCullough fuhr mit dem Zeigefinger über den Kiefer.

»Da ist die Füllung. Schauen Sie sich das Innere des zweiten Prämolaren an.«

»Und der angestoßene zweite Schneidezahn. Definitive Identifizierung. Ohne jeden Zweifel.«

Jonah nickte. Er hatte keine Bestätigung gebraucht, aber nun war es offiziell. Es war Aurora.

»Den Unterlagen zufolge war sie vierzehn, als sie gestorben ist«, fügte Linda hinzu.

»Und die Todesursache?«

»Noch nichts Konkretes.« Sie legte den Kieferknochen zurück auf den Rollwagen. »Bei einer ersten rein visuellen Untersuchung des Skeletts habe ich keine Stichwunden oder Schusskanäle festgestellt, aber vielleicht ergibt die digitale Analyse der forensischen Anthropologie mehr. Die kriegen wir in ein paar Tagen.« Sie seufzte frustriert. »Ich hätte wirklich gern genug Material für eine toxikologische Analyse, aber die Verwesung ist ziemlich komplett.«

»Warum eine toxikologische Analyse? Gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

»Ja, signifikante Spuren eines Grundes.«

Sie ging zu einem abgedeckten Arbeitstisch und zog die Plane weg. In einer Schicht zeichneten sich die Umrisse von in Aluminiumfolie gewickelten Päckchen ab.

»Dexedrin.« Mit behandschuhten Händen öffnete sie einen Plastikbeutel und nahm ein bereits geöffnetes Folienpäckchen heraus. Darin befand sich ein grauweißes Pulver, schwammartig verklumpt wie bröckeliger Putz. »Wir haben mehrere Päckchen direkt neben der Leiche gefunden. Der Chemiker hat Proben genommen; sieht nach medizinischer Qualität aus, meint er. In der Erde waren weitere Päckchen, und der Boden in der Nähe der Leiche wurde allem Anschein nach umgegraben. Möglicherweise wurde ein Teil des Vorrats weggeschafft. Ob durch Tiere oder nicht, ist schwer zu sagen.«

Jonah trug ebenfalls Latexhandschuhe. Er tippte mit dem Zeigefinger in das Pulver und versuchte, sich an die amphetamingetränkten Achtziger zu erinnern. War Dexedrin die Ursache der vielen Todesfälle in teuren Penthäusern gewesen? Oder Speed? Oder Crystal Meth? Schwierig auseinanderzuhalten, welche Drogen wann in Mode gewesen waren. So viele Leichen, so viel Puder und Kristalle und Dreck.

»Können Sie versuchen, Gewebereste zu finden, die man auf Spuren untersuchen kann? Wenn sie mit dem ganzen Zeug begraben wurde, ist es mehr als wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang besteht.«

»Danke«, sagte McCullough trocken. »Darauf war ich noch gar nicht gekommen.«

Jonah lächelte knapp. »Sonst irgendwelche Spuren an der Leiche?«

»Na ja …«

Er wischte sich den Finger an seinem Plastikoverall ab und folgte ihr zurück zu dem Tisch.

»Nichts weiter Aufschlussreiches. Die Leiche lag irgendwann unter Wasser. Aber ich würde sagen, lange nach ihrem Tod.«

Jonah dachte an die Flut, von der der Sergeant am Fundort gesprochen hatte. »Sie ist also nicht ertrunken«, sagte er.

McCullough sah ihn nüchtern an. »Sie könnte trotzdem ertrunken sein.«

»Also gut.« Er lächelte erneut. »Aber sie hat unabhängig davon unter Wasser gelegen. Und Sie haben keine Hinweise auf einen Tod durch Ertrinken gefunden.«

»Nein, aber solange ich nicht sicher bin, schließe ich nichts aus.«

»Ist notiert. Sonst irgendwas am Fundort?«

»Diverse vergrabene Objekte, die wir durchgehen. Wahrscheinlich war die Stelle schon vorher verschmutzt, und einiges könnte auch von der Flut angespült worden sein. Bis jetzt nichts Spannendes. Chipstüten, eine zerdrückte Bierdose, ein Gummiball und mehrere bisher nicht bestimmbare Plastikreste. Keine Waffen. Also nichts, worüber Sie in helle Aufregung geraten könnten. Tut mir leid.«

Jonah schüttelte den Kopf, bedankte sich bei ihr und verließ die Leichenhalle. Er war erleichtert, wieder ans natürliche Licht zu kommen, aber die plötzliche stickige Hitze war bedrückend. Auf der Treppe traf er Hanson, die verlegen ein paar Akten an sich gedrückt hielt. Offenbar arbeitete sie immer noch an der Ermittlung im Hafen, was angesichts eines potenziellen Mordfalls, der alle elektrisierte, echtes Engagement bewies.

Sie machte kehrt, um mit ihm die Treppe hinaufzugehen. »Chief, ich hätte gern ein Update.«

»Ich bin auf dem Weg.«

Hanson nickte, schwieg ein paar Stufen lang und fragte dann: »Ist es definitiv ein Mord?«

»Sieht ganz so aus.«

»Wurde sie erschossen?«

Jonah sah sie an, überrascht von der Frage. »Möglich. Bis jetzt gibt es dafür keine Anzeichen. Bemerkenswerter ist, dass sie neben den Resten eines Dexedrin-Depots gefunden wurde. Also hat sie möglicherweise eine Überdosis genommen oder aber sie hat etwas entdeckt, das sie nicht hätte finden sollen.«

Er sah Hansons schmales Lächeln, die erweiterten Pupillen.

»Also könnten es die anderen Jugendlichen gewesen sein, die sie entweder umgebracht oder ihren Tod vertuscht haben.«

»Auf jeden Fall eine naheliegende Möglichkeit.«

 

»Verdammte Kacke.«

Detective Sergeant O’Malley, der Älteste in Jonahs Team, war hörbar ungehalten, als zwei Beamte vier Kartons mit Fallakten auf den Tisch im Besprechungszimmer stellten. In seinen leicht geröteten Gesichtszügen stand die bare Überraschung.

»Ich würde mir noch ein paar Flüche aufsparen«, sagte Jonah trocken. »Das ist nur der lokal gelagerte Kram.«

»Nein, dies ist die erste Ladung des lokal gelagerten Krams«, korrigierte Amir, einer der beiden linkischen Archiv-Kollegen, und zupfte an seiner Krawatte. »Das sind die Unterlagen von neunzehnhundertdreiundachtzig. Es gibt fünf weitere Kartons mit Material aus den Jahren vierundachtzig bis achtundneunzig, als die Akte endgültig geschlossen wurde. Dazu noch aktuelleres Material, aber nach dem, was im System erfasst ist, handelt es sich dabei hauptsächlich um unbestätigte Sichtungen und Anrufe der Eltern – es ist in der Datenbank.«

Lightman hob die Hand. »Sorry, aber … 83. Das ist …«

»Aurora Jackson, Ben. Ein Vermisstenfall. Domnall ist wahrscheinlich der Einzige, der alt genug ist, von ihr gehört zu haben.«

Amir verabschiedete sich, und Jonah sah sein Team an. Lightman, auch angesichts der neuesten Entwicklungen absolut ruhig wie immer; Hanson, die vor Eifer auf ihrem Stuhl hin und her rutschte, und O’Malley, dessen Miene nachdenklich wirkte.

Jonah zog einen Plastikordner aus einer der Kisten und schlug ihn auf. Ganz oben lag eine Hochglanzfotografie, die seltsam neu wirkte. Aurora blickte mit einem schiefen Lächeln in die Kamera, eine auffallende Schönheit auf diesem Schulfoto, obwohl Jonah sich noch an sie erinnerte, bevor sie aus dem Kokon der Kindheit geschlüpft war: ein Pummel mit krausen Haaren und immer unordentlicher Kleidung. Die hässliche kleine Schwester des Mädchens, das alle begehrten.

Er heftete das Foto an ein weißes Brett.

»Im Ernst?« O’Malley sah sich zu Lightman und Hanson um. Hanson wirkte ein bisschen selbstzufrieden. Sie kannte die Pointe. »Das ist … der größte Vermisstenfall, an den ich mich erinnern kann.«

»Jetzt ist es kein Vermisstenfall mehr.«

Jonah heftete ein Foto der Überreste, die McCullough ausgegraben hatte, neben das Schulfoto.

»Auroras Leiche wurde unter einem Baum am Flussufer gefunden, keine fünfhundert Meter von dem Zeltplatz entfernt. Zusammen mit ihr waren einige Silberfolienpäckchen mit Dexedrin vergraben, und so wie es aussieht, könnten es noch mehr gewesen sein.«

Er sah, wie Lightman auf einem A4-Block Notizen machte. Seiner emotionalen Reaktion nach hätte er auch eine Weihnachtskarte schreiben können. O’Malley lehnte sich zurück, blickte von Jonah zu den Fotos, und die Falten seiner zerfurchten Stirn vertieften sich. Jonah verstand, dass O’Malley damit rang, seine Erinnerungsfetzen mit der Realität des Fundes in Einklang zu bringen. Eine zum Leben erwachte Legende. Nur dass sie in keiner Weise lebendig war.

»Ich möchte, dass wir uns mit der kompletten ursprünglichen Ermittlung vertraut machen. Ich möchte, dass Sie eine Zusammenfassung der damaligen Vernehmungen erstellen. Wenn Sie den Eindruck haben, dass etwas übersehen wurde, oder denken, es gibt eine Spur, der nicht nachgegangen wurde, schreiben Sie es auf. Wenn Sie das Gefühl haben, dass an einer Stelle schlampig ermittelt wurde, notieren Sie auch das.«

Nur Lightman gelang es, sein Missbehagen über diesen Plan zu unterdrücken. Vielleicht gefiel er ihm auch. Er mochte Zahlen und Daten.

»Gleichzeitig«, fuhr Jonah fort, »führen wir eine vollständig neue eigene Ermittlung durch, befragen alle Beteiligten noch einmal und konzentrieren uns diesmal auf die Drogen. Wer hat sie dorthin gebracht? Und wie konnte es passieren, dass das Mädchen übersehen wurde, obwohl es nur ein paar hundert Meter von dem Zeltlager entfernt lag?«

Er sah O’Malley lächeln. Das war mehr nach seinem Geschmack. Er vernahm gern Zeugen und Verdächtige, der ehemalige Captain O’Malley.

»Heute kommt Juliette mit zu den Befragungen. Ich möchte die Mitglieder der Gruppe treffen, die damals dort gezeltet hat. Sie können eine Adressenliste zusammenstellen, Juliette, während ich mir das Archiv-Dossier anschaue. Und ich möchte, dass Domnall und Ben anfangen, die ursprünglichen Fallnotizen durchzugehen.«

O’Malley seufzte vernehmlich. »Vielen Dank, Chief. Mir war schon, als würde es in meinem Leben an Papierkram fehlen.«

Jonah lächelte, entschuldigte sich jedoch nicht.

»Haben Sie an den damaligen Ermittlungen teilgenommen?«, fragte Hanson und blickte knapp an Jonah und der Tafel vorbei.

»So eben«, antwortete Jonah. »Ich war damals gerade ein frischgebackener Constable. Aber ich wollte an dem Fall mitarbeiten. Sie war auf meiner Schule, auch wenn ich sie eigentlich nicht gekannt habe.«

Er sah wieder zu ihrem Foto. Der Anblick ihrer strahlenden Schönheit rief ein unbehagliches Gefühl in ihm wach, die Erinnerung an einen ganz bestimmten Abend, an eine verwirrte Folge von Handlungen, die er seit dreißig Jahren verzweifelt zu vergessen suchte.

Er wandte den Blick ab. Wenn er jetzt darüber nachgrübelte, würde das weder ihm noch den anderen helfen.

Lightman steckte seinen Stift ein und machte Anstalten aufzustehen. »Und das hat Priorität vor der Ermittlung im Hafen?«

»Für die nächsten achtundvierzig Stunden auf jeden Fall«, antwortete Jonah. »Danach sehen wir weiter. Achten Sie auf Hinweise auf Drogenkonsum und alles, was damit zu tun hat«, fügte er an Lightman gewandt hinzu. »Wenn einer von ihnen von dem Drogendepot wusste, will ich das wissen. Und dann will ich sie alle noch einmal in die Mangel nehmen und gründlich dazu befragen, was sie gesehen und gehört haben. Denn wenn Aurora nur gut hundert Meter von ihnen entfernt gestorben ist, wirken all ihre öffentlichen Appelle und Suchaktionen wie eine dreißigjährige Scharade.«

6. Aurora

Freitag, 22. Juli 1983, 18:35 Uhr

Sie hatten Benners, Jojo und Connor getroffen, als sie von der Buche zurückgekommen waren. Die drei wirkten angespannt und reizbar, und das umso mehr, als ihnen klar wurde, wohin Topaz die anderen geführt hatte.

Vor allem Benners, was Aurora überraschte. Sie hatte ihn noch nie so wütend gesehen. Topaz war sowieso immer gereizt und Connor nicht selten aggressiv. Aber Benners war im Frieden milder Wohlstandsvernachlässigung aufgewachsen. Er war Titus Groan oder Sebastian Flyte, nur ein bisschen selbstreflektierter.

Er hatte Jojo und Brett Brennholz sammeln geschickt und sich dann Topaz zugewandt.

»Du hättest es ihm nicht erzählen dürfen.« Er bemühte sich, leise zu sprechen, was ihm aber nicht recht gelang. »Es geht um mehr als dich und den neuesten Schwarm, den du beeindrucken willst.«

»Das war es nicht.« Topaz wurde rot.

Benners ignorierte ihre Erwiderung. Er blickte von der ganzen Höhe seiner 1,83 Meter auf sie herab. »Wir kennen ihn nicht, Topaz. Nicht so, wie wir jeden anderen hier kennen.«

»Ich kenne ihn seit Jahren!«, erwiderte Topaz. »Ich vertraue ihm.«

»Es geht nicht darum, wem du vertraust!«, sagte Benners immer noch mühsam beherrscht. »Der Vorrat ist nicht dein Geheimnis, das du beliebig teilen kannst. Es ist meins. Und wenn es rauskommt, sitze ich in der Scheiße.«

»Es wird nicht rauskommen.«

Die Hände immer noch in den Taschen, hob Connor den Kopf, sein Blick war hart. »Ich brech ihm den beschissenen Arm, wenn er redet. Das kannst du ihm sagen. Sag ihm, dass ich ihm den Arm brechen und es genießen würde.«

Topaz verdrehte die Augen. »Herrgott …«

Benners seufzte. »Also gut.« Er war immer noch wütend und aufgewühlt, strengte sich jedoch an, in die Pose gelassener Überlegenheit zurückzufinden. »Man muss ihm nicht drohen. Er sollte bloß wissen, dass wir … da alle zusammen drinstecken. Okay?«

»Gut.«

Topaz drehte sich um und schlich davon, dicht gefolgt von Coralie, ihrem allgegenwärtigen, kindlichen Schatten. Aurora ahnte, dass ihre Schwester gleich in eine Tirade ausbrechen würde. Das hatte sie zu Hause im Obstgarten oft genug gehört, auch wenn es dabei meistens nicht um Benners oder Connor gegangen war. Topaz’ wortreicher Zorn auf Menschen, von denen sie sich gekränkt fühlte, war, untermalt von Coralies Zustimmung, an warmen Wochenenden häufig zu Auroras offenem Fenster hochgeweht, bis sie es geschlossen oder das Zimmer verlassen hatte.

Connor gab sich weniger Mühe, ruhig zu bleiben. »Brett hat echt Nerven, seine beschissene Nase da reinzustecken«, sagte er und trat in die trockene Erde. Er hatte die Fäuste geballt, die Sehnen, Muskeln und Venen seiner Unterarme traten deutlich hervor.

»Er will bloß Spaß haben«, sagte Benners und rubbelte sich das Haar, das in verschwitzten Stacheln hochstand. »Ich bin sicher, er verrät nichts. Er ist kein Idiot.«

»Er ist ein Idiot.«

Benners lachte. »Nicht, was seine Allgemeinbildung betrifft. Ich meine … er wird sich nicht selbst reinreiten, wenn er es vermeiden kann.«

Connor grunzte.

Benners blickte zu Aurora und wieder weg. Sie fühlte sich besonders verlegen.

»Du weißt … du weißt, dass ich es auch niemandem erzählen werde, oder?«, stammelte sie.

Benners sah sie stirnrunzelnd an. »Natürlich weiß ich das. Deinetwegen mache ich mir keine Sorgen.«

Sein Vertrauen durchrieselte sie warm.

»Wir sollten die restlichen Sachen ausladen.« Benners war wieder ganz der Vernünftige und Praktische. Der ruhige ältere Bruder. Der Pfadfinder-Anführer. Nur dass er für die Pfadfinder immer zu cool gewesen war. »Die Nahrungsmittel können wir noch im Wagen lassen; wir sollten zuerst ein Zelt aufbauen und alle Kochutensilien auspacken.«

»Gut. Besser, als später im Dunkeln rumzutappen, wenn wir betrunken sind«, stimmte Connor ihm zu.

Benners ging zum Wagen. Connor deutete Aurora mit einem Kopfnicken an, dass sie ihm folgen sollte. Er war immer noch sauer, aber eher knurrig wie ein alter Hund. Und er wirkte auch nicht halb so einschüchternd, wie er selbst gern glaubte.

»Wir sollten schwimmen gehen«, rief er ihr nach. »Hast du Schwimmsachen dabei, Aurora?«

»Nein … aber ich habe ein paar Klamotten … ich finde bestimmt irgendwas.«

»Du musst unbedingt schwimmen gehen. Das ist das Beste. Mondlicht und kaltes Wasser.« Als sie sich umdrehte, blickte er mit gesenktem Kopf zu ihr auf. Sie lächelte über die unerwartete Poesie in seiner Stimme und die Art, wie er in einen breiten irischen Westküstenakzent verfiel. Connor wurde verlegen. »Bestimmt kann dir eins der anderen Mädchen was leihen. Außer Jojo. Die hat keine Mädchensachen.«

Sie mussten zwei Mal gehen, um Bretts Wagen und die Satteltaschen von Benners’ Fahrrad zu entladen. Insgesamt hatten sie drei Zelte, für den Fall, dass das Wetter umschlug. Sieben Schlafsäcke und dicke Schaumstoffmatten. Decken. Ein Transistorradio. Einkaufstüten voller Nahrungsmittel und Wasserflaschen. Kastenweise Bier in Flaschen und Dosen. Kopfkissen, zwei Campingkocher und vier Taschenlampen, denn Benners’ Eltern hatten Wirtschaftsgebäude, die mit solchem Zeug vollgestopft waren.

Sie bauten ein Zelt auf, um einen Unterschlupf zu haben, falls es anfing zu regnen. Darin herrschten schon saunaartige Temperaturen, als Jojo und Brett von ihrer Brennholzsammelexpedition zurückkehrten. Sie hatten das Holz gebündelt und zogen es mit Seilen hinter sich her. Jojos Idee, vermutete Aurora. Jojo lebte praktisch im Freien und war ungeachtet ihres hellen Haars in ihrem ärmellosen T-Shirt brauner gebrannt als die Jungen.

»Geht unten am Fluss nicht nach links«, verkündete Brett. »Da liegt ein totes Tier, und es stinkt abartig. Ich meine, es stinkt, als wenn man ein Grab öffnen würde.«

»Vor kurzem gestorben?«, fragte Aurora.

»Vor drei oder vier Tagen, schätze ich«, antwortete Jojo, richtete sich auf und wischte sich mit dem Arm über die Stirn. »Drei oder vier echt heiße Tage. Schon irgendwie beeindruckend, wie extrem es stinkt.« Sie grinste. »Hey, vielleicht sollten wir es in Topaz’ Schlafsack stecken.«

»Ist vielleicht kein guter Zeitpunkt«, erwiderte Benners, beugte sich vor und fummelte an einer Zeltleine herum. »Habt ihr die beiden anderen getroffen?«

»Nein. Sind sie uns nachgegangen?« Brett wandte sich blinzelnd zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Theoretisch schon. Aber Topaz’ Orientierungssinn ist nicht der allerbeste.«

»Aber sie kennen sich hier aus, oder?« Ohne jede Verlegenheit angesichts des Publikums begann Brett, sein T-Shirt auszuziehen. Es war schweißnass, und der gut trainierte Oberkörper darunter glänzte. »Sie kommen doch klar?«

»Da bin ich mir sicher«, sagte Benners.

Bretts nackte Haut machte Aurora unvermittelt nervös. Sie wollte hinsehen, hatte jedoch Angst, ertappt zu werden. Sie wandte den Blick ab, bemerkte Connors wütenden Gesichtsausdruck und hatte ein bisschen Mitleid mit ihm.

»Oh«, sagte Jojo, als sie sich nach dem Lösen eines Brennholzbündels wieder aufrichtete. »Ohne vorher zu fragen, ist das visuelle Belästigung.«

Connor lachte kurz prustend auf, aber Brett grinste Jojo bloß an.

»Aber die Art von Belästigung, bei der man nicht wirklich nein sagt«, erwiderte er, knüllte sein T-Shirt zusammen und warf es zu einem der Zelte. »Ich brauch einen Drink. Wo muss ich suchen?«

»Hier«, sagte Aurora und schob ihm mit dem Fuß eine Tüte mit einem doppelten Sixpack Kestrel rüber.

Er blickte hinein. »Ach so, nee, kein Bier. Wo ist das harte Zeug?«

Er durchsuchte die anderen Tüten, bis er eine Flasche Wodka und ein paar Plastikbecher fand. Aurora beobachtete, wie er in jeden Becher einen Schluck Wodka goss, den er mit Orangensaft auffüllte.

»Ist das dein verdammter Ernst?«, fragte Connor und lachte unnötig laut. »Wodka und Orangensaft?«

»Ich bin Sportler, Mann«, sagte Brett. »Ich kann mir keinen Bierbauch leisten.«

»Du achtest auf dein Gewicht?«, fragte Connor immer noch grinsend.

Brett antwortete nicht. Er hielt Aurora einen Becher hin. Sie schüttelte hastig den Kopf.

»Oh. Sorry. Ich … ich will keinen. Danke.«

»Wirklich?« Er schien überrascht. »Hast du keinen Durst?«

»Doch, schon. Ich nehm nur Orangensaft.«

Sie nahm ihm die Tüte ab, fand einen sauberen Becher und streckte die Hand nach der Orangensaftpackung aus.

»Wenn du dir Sorgen wegen des Geschmacks machst«, sagte er leise, als er sie ihr gab, »es ist eigentlich ziemlich süß. So, dass man es trinken kann, auch wenn man keinen Alkohol mag, weißt du?«

»Sie ist vierzehn«, hörte Aurora Connor hinter sich sagen. Er klang wütender als nötig. »Und sie trinkt keinen Alkohol.«

Für einen Moment schwiegen alle. Brett blickte weiter halb lächelnd an ihr vorbei zu Connor und sagte: »Ich dachte, deine Familie trinkt gern einen. Du, dein Dad …«

Es entstand eine heiße, drückende Stille. Connor machte zwei schnelle Schritte auf Brett zu. Aber Benners trat genauso schnell zwischen die beiden, während Brett sich langsam und immer noch lächelnd aufrichtete.

»Was hast du verdammt noch mal gesagt?«, fauchte Connor.

»Komm schon, komm schon«, sagte Benners laut. »Spring nicht darauf an. Spring nicht darauf an.«

Er drückte einen Arm gegen Connors Brust und packte dessen Schulter, aber obwohl er größer war als Connor, verlor er rasch an Boden, und seine Füße fanden auf der trockenen Erde keinen Halt.

Brett schüttelte den Kopf. »Du willst dich nicht mit mir anlegen, Alter.« So wie er es sagte, war es nicht einmal eine Drohung, nur eine Feststellung.

»Im Ernst«, sagte Benners und an Brett gewandt: »Halt dich einfach zurück. Wir wollen hier mit Freunden relaxen, nicht …«

Es war Brett, der schließlich einen Schritt zurück machte. »Schon gut, schon gut … das war … Okay. Es tut mir leid. Ich war ein Arschloch. Trinken wir was, dann fühlen sich alle besser. Hier.«

Er nahm eine Dose Kestrel und gab sie Connor, dem es nach wie vor merklich in den Fingern zuckte.

»Komm, Connor«, murmelte Benners. »Vergiss es.«

Mit klopfendem Herzen trat Aurora vor. »Es war meine Schuld. Ich … ich hätte es einfach trinken sollen. Tut mir leid, Connor.«

Connor sah sie an, und seine Miene entspannte sich ein wenig. »Nein, hättest du nicht.« Wieder entstand ein gewichtiges Schweigen. Aurora spürte die Schweißtropfen auf ihrem Rücken. Dann hob Connor die Hände und machte kopfschüttelnd ein paar Schritte zurück. »Schon gut.«

Er nahm das Bier von Brett an. Aurora sah die Kondenströpfchen auf der Dose, wie ein Spiegelbild der Schweißtropfen auf seiner Haut.

»Sorry, Mann«, sagte Brett und hob seinen Becher.

7.

Es war ein eigenartiges Gefühl, sich auf der Grundlage von Ermittlungsunterlagen Notizen zu einem Fall zu machen, mit dessen Details man vertraut war. Auch die Menschen, über die er Informationen zusammentrug, kannte Jonah, aber nicht gut genug, als dass es ihm helfen würde.

Die Stelle, an der die Gruppe und auch andere schon öfter gezeltet hatten, war kein offizieller Campingplatz und nur über einen gewundenen, undeutlich markierten Pfad durch den Wald erreichbar.