Dead Letters – Schwestern bis in den Tod - Caite Dolan-Leach - E-Book

Dead Letters – Schwestern bis in den Tod E-Book

Caite Dolan-Leach

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Beschreibung

Von A bis Z, von Ava bis Zelda, von Anfang bis Ende, Schwestern für immer, Glück auf ewig – das stimmt schon lange nicht mehr. Ava hat ihre Zwillingsschwester und das Weingut der Familie in Upstate New York vor Jahren zurückgelassen und ein neues Leben in Paris begonnen. Als sie vom Tod Zeldas erfährt, tritt sie die Reise nach Hause an. Dort angekommen, meldet sich die totgeglaubte Schwester zurück: durch E-Mails, Briefe, Facebook-Nachrichten. Ist Zelda tatsächlich noch am Leben? Um das herauszufinden, muss sich Ava den Abgründen ihrer Familiengeschichte stellen. Doch kann sie die Wahrheit ertragen?

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Das Buch

Deine Zwillingsschwester stirbt. Du verstehst die Welt nicht mehr. Plötzlich meldet sie sich zurück ...

Von A bis Z, von Ava bis Zelda, von Anfang bis Ende, Schwes-tern für immer, Glück auf ewig — das stimmt schon lange nicht mehr. Ava hat ihre Zwillingsschwester und das Weingut der Familie in Upstate New York vor Jahren zurückgelassen und ein neues Leben in Paris begonnen. Als sie vom Tod Zeldas erfährt, tritt sie die Reise nach Hause an. Dort angekommen, meldet sich die totgeglaubte Schwester zurück: durch E-Mails, Briefe, Facebook-Nachrichten. Ist Zelda noch am Leben? Um das herauszufinden, muss sich Ava den Abgründen ihrer Familiengeschichte stellen. Doch kann sie die Wahrheit ertragen?

Die Autorin

Caite Dolan-Leach, aufgewachsen in Upstate New York, studierte am Trinity College, Dublin und lebt heute als Literaturkritikerin und Übersetzerin in Paris. Dead Letters. Schwestern bis in den Tod ist ihr erster Roman.

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ISBN 978-3-8437-1515-7

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Juni 2017

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Copyright © 2017 by Caite Dolan-Leach

Published in the United States by Random House, an imprint and division of Penguin Random House LLC, New York.

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Dead Letters

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: plainpicture/Millennium/© Gabriele Lopez

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Man wird daraus etwas ableiten, das sicherlich die höchste Wahrheit des Puzzles ist: Allem Anschein zum Trotz ist es kein solitäres Spiel: Jede Gebärde, die der Puzzlespieler macht, hat der Puzzlehersteller vor ihm bereits gemacht; jeder Baustein, den er immer wieder zur Hand nimmt, den er betrachtet, den er liebkost, jede Kombination, die er versucht und wieder versucht, jedes Tasten, jede Intuition, jede Hoffnung, jede Ermutigung sind von dem andern ergründet, auskalkuliert, beschlossen worden.

Georges Perec, Das Leben. Gebrauchsanweisung

Un dessein si funeste, s’il n’est digne d’Atrée, est digne de Thyeste.

Zu solch finsterem Plan würde sich Atreus nicht herablassen, Thyestes jedoch gewiss.

Crébillons, Atrée et Thyeste zitiert von Edgar Allan Poe in: Der entwendete Buchstabe

1

Abertausendmal erzählte meine Schwester, eine begnadete Erfinderin von Mythen, wie es zur Vertauschung unserer Namen kam. Sie war stolz darauf, so als hätte sich das Schicksal dem Willen eines winzigen, blau angelaufenen Babys gebeugt und ihr den Namen gewährt, der eigentlich mir zugedacht war. Meine Eltern versuchten, clever zu sein (lange, bevor sie nur noch schlichtweg erbärmlich sein konnten) und unsere Namen als weiteres Puzzleteil unserer selbst gebastelten, schrägen Familienmythologie zu nutzen. A–Z: Ava und Zelda. Die Erstgeborene sollte mit Ava das A darstellen und die Zweitgeborene mit Zelda das Z; gemeinsam bildeten wir somit das gesamte Alphabet für meine Eltern, die sich Illusionen und damit kurzzeitig dem Optimismus hingaben und selbst nicht sonderlich beeindruckend irgendwo in der Mitte angesiedelt waren: bei M wie Marlon und N wie Nadine. Mein Vater war ebenfalls nach einem Filmstar benannt worden und wollte mit seinem üblichen kurzsichtigen Narzissmus etwas hinterlassen, das aus der Menge hervorstach und lange Schatten warf. Davon konnte keine Rede sein.

Als Zweitgeborene war ich eigentlich fürs Ende des Alphabets bestimmt. Doch meine Schwester war eine echte Zelda: wild und unbeugsam von ihrem ersten Schrei nach Luft bis zu ihrem letzten Opfer. Eine nachlässige Krankenschwester reichte meinem Vater die Babys in der falschen Reihenfolge, so dass seine Zweitgeborene unsanft als Erste in seinen Armen landete und Ava getauft wurde. Dabei meine ich ›getauft‹ im übertragenen Sinne, denn meine Mutter hätte sich eingenässt, wäre von einer echten Taufe auch nur die Rede gewesen. Meine Eltern waren in nichts besonders gut, aber gute Heiden, das waren sie.

Meinem Vater gefiel diese kuriose Vertauschung ganz offensichtlich, denn er bestand darauf, dass wir unsere Namen behielten, und erklärte, die Familie Antipova würde sogar das Alphabet auf den Kopf stellen. Meine Mutter lag, wie vorauszusehen, elend und ausgelaugt in ihrem Bett und zählte wahrscheinlich die Sekunden bis zu ihrem ersten Gin Tonic acht Monate später. Selbst jetzt kann ich ihr das eigentlich nicht verübeln.

Als die Sitzgurt-Lämpchen mit einem Ping ausgehen, schnalle ich mich ab und suche in der Tasche nach meinem iPad. Zwar habe ich die E-Mail schon so oft gelesen, dass ich sie auswendig kann, doch irgendwas treibt mich immer noch dazu, die Wörter auf dem hellen Bildschirm anzustarren.

An:[email protected]

Von: [email protected]

Datum:21. Juni 2016, 03.04 Uhr

Ava, also wirklich, du hast das Handy doch vor allem, damit ich dich im Notfall anrufen kann. Was jetz der Fall ist. Wenn du an dein GOTTVERDAMTES Handy gehen würdes, müsste ich dir nicht per EMAIL miteilen, das deine Schwester tot ist. Nach einem ihrer Saufgelage gab es ein Feuer, aus dem sie sich offenbar nicht retten konnte. Wenn du sofort in den Flieger steigs, könntes du es noch zur Beerdigung schaffen.

Ich weiß nicht genau, ob Mom Rechtschreibfehler macht, weil sie a) betrunken ist, b) nie richtig tippen gelernt hat (»Ich bin doch keine Scheißtippse. Ich bin keine Feministin geworden, um unsere Schriftsachen zu tippen.«), oder c) die Demenz ihre Rechtschreibung beeinträchtigt. Ich würde auf alles drei setzen. Ich habe noch nie erlebt, dass Nadine Antipova, geborene O’Connor, Neuigkeiten, ob gute oder schlechte, ohne ein gewisses Quantum Gin intus entgegennimmt. Der Tod der Tochter, vor allem der Lieblingstochter, wird wahrscheinlich sogar sie durchgerüttelt haben. Ich schätze, sie war schon ziemlich abgefüllt, als sie es erfuhr, und konnte mich dann nicht über Handy erreichen, weil sie sich nicht mehr an die Nummer erinnerte oder sich ständig verwählte. Sie wird vermutlich nach oben zu dem altersschwachen MacBook getorkelt sein, das auf dem ehemaligen Schreibtisch meines Vaters Staub ansetzt. Dann hat sie sich wohl auf dem kippligen Stuhl niedergelassen und mit zusammengekniffenen Augen auf den grellen Bildschirm gestarrt. Nach mehreren frustrierenden Fehlversuchen (und wahrscheinlich einem weiteren Schlückchen Gin) wird sie Firefox aktiviert und sich irgendwie bis zu Gmail durchgeklickt haben – es sei denn, sie hat es zuerst auf ihrem alten stillgelegten Hotmail-Account versucht. Auf die Frage nach ihrem Passwort hat sie bestimmt wüst den Monitor beschimpft. Die Forderung ihres Computers, sich an ein bestimmtes Detail zu erinnern, wird Nadine als persönlichen Affront betrachtet haben, als verdeckten Spott über ihre schwindenden Fähigkeiten.

Bei dem Versuch, etwas einzutippen, ist dann wohl ein bereits gespeichertes Passwort aufgetaucht, da Zelda auf ihre nachlässige und widersprüchliche Art versucht hat, unserer Mutter ihr elendes Leben etwas zu erleichtern. Und dann hat meine Mutter mir betrunken, dement, zornig und verängstigt eine bissige E-Mail geschrieben, um mir mitzuteilen, dass meine Zwillingsschwester verbrannt ist. Und wenn sie mich auf diese Weise informiert hat, kann ich nur ahnen, wie mein Vater es erfahren hat.

Als ich die E-Mail las, war mein erster Gedanke, dass Zelda dieser Tod gefallen hätte: Genau so hätte sie ihn sich ausgesucht. Das passende Ende für jemanden, der nach Zelda Fitzgerald benannt worden war, welche, wahrscheinlich tobend, bei einem Feuer im Sanatorium starb, wo sie einen Großteil ihres Lebens verbringen musste. Genau wie Bertha Rochester, unter ähnlichen Umständen. Als Kinder spielten wir oft Johanna von Orléans, und Zelda baute raffinierte Scheiterhaufen für Strohpuppen, die wie die junge Märtyrerin aussahen (Zelda war Johanna, während ich immer den ruchlosen englischen Inquisitor spielen musste). Der Tod durch Feuer war Visionären und verrückten Frauen zugedacht, und Zelda war beides. Meine finstere Doppelgängerin.

Doch dann lese ich zwischen den Zeilen. Weil ich meine Schwester kenne.

Das Ganze war so typisch für Zelda. Zu typisch. Als ich meine Mutter endlich telefonisch erreichte, erklärte sie mir nuschelnd, die Scheune hätte Feuer gefangen und Zelda drinnen festgesessen. Die Scheune auf dem Grundstück, die Zelda als Zuflucht genutzt hatte, wenn sie es im Haus nicht mehr mit unserer zeternden, tobenden Mutter aushielt. Ich weiß, sie zog sich gern in ihr Refugium auf dem ehemaligen Heuboden zurück, um aus dem Fenster zu starren, zu trinken, Kette zu rauchen und mir E-Mails zu schreiben. Offenbar gingen die Brandermittler davon aus, sie hätte mit einer Zigarette in der Hand das Bewusstsein verloren (klassisch, Zelda!), und in der trockenen Junihitze hätten das Holz der Scheune und all die Bücher, die sie dort aufbewahrte, Feuer gefangen. Zur Sommersonnenwende bei lebendigem Leibe verbrannt. Und die verkohlten Überreste von der Hälfte der Fenster im Haus deutlich sichtbar, so dass meine Mutter ständig an Zelda erinnert wird, obwohl ein Teil ihres Hirns schon aufgeweicht und mehr als ein Teil ihrer Leber in Alkohol eingelegt ist. Einen passenderen Tod hätte meine Schwester gar nicht planen können. In der Tat.

Der Getränkewagen wird vorbeigeschoben und ungeniert gegen die Knie der langbeinigen Passagiere gestoßen. Ich mit meiner kompakten, reisetauglichen Gestalt habe selbst auf den engen und immer dichter zusammengedrängten Flugzeugsitzen reichlich Platz. Ich sichere mir eine langweilige Bloody Mary in einem Plastikbecher und frage mich zum unzähligsten Mal, woher der Name dieses kostbaren, Leben spendenden Elixiers stammt: Hat er etwas mit der blutrünstigen Braut zu tun, die wir als Kinder im Spiegel heraufbeschworen?

Ich schwenke den dickflüssigen Tomatensaft zwischen viel zu vielen Eiswürfeln und nicht mal annähernd genug Wodka hin und her und sauge an dem winzigen roten Strohhalm. Ich liebe diese Mixhalme, gerade weil sie so extrem dünn sind. Gleichzeitig bemühe ich mich nach Kräften, nicht daran zu denken, was ich hinter mir lasse und vor mir habe. Ich fand es schon immer grausam, auf diese Weise den Atlantik zu überqueren: zum Frühstück Europa zu verlassen und die Vereinigten Staaten zum Brunch zu erreichen, erschöpft und längst fällig für Happy Hour und Dinner. Dem Lauf der Sonne weit voraus. Auf die eifrig bemühten Freunde und Verwandten zu, nachdem man fünfzehn kräftezehrende Stunden im Vakuum der Flughäfen und Flugzeuge verbracht hat. Die endlose Rückkehr nach Ithaca. Oder Ithaka. Ich werde von dem winzigen Flughafen abgeholt und ins Haus meiner Kindheit gebracht werden, das fünfzig Meter von der Stelle entfernt steht, wo meine Zwillingsschwester nur wenige Tage zuvor anscheinend zu Tode gegrillt wurde – und das alles noch vor dem Mittagessen. Ich frage mich, ob die Trümmer immer noch rauchen. Tun Trümmer je etwas anderes? Wir zwei waren seit fast einem Monat fünfundzwanzig.

Wenn ich ins Haus trete, wird mich sofort der Geruch überfallen, der Geruch meiner Kindheit, meiner Heimat. Ich werde nach oben zum Zimmer meiner Mutter gehen. Wenn es auch nur eine Minute nach fünf ist, wird sie betrunken sein oder auf dem besten Wege dorthin, und ich werde mich zu ihr setzen und uns beiden ein schönes großes Glas Wein einschenken. Über Zelda werden wir nicht sprechen, das tun wir nie. Schließlich (und das wird nicht so lange dauern, wie ›schließlich‹ nahelegt) wird sie irgendetwas Vernichtendes von sich geben, etwas Grausames, das ich nicht einfach abschütteln kann, und dann werde ich gehen. Sollte ich auf Rache aus sein, werde ich den Wein mitnehmen, so dass sie sich für eine neue Flasche nach unten wagen und einen Hüftbruch und die Demütigung des Scheiterns riskieren muss.

Ich werde mit meiner Flasche Wein nach draußen gehen und mir die schwarzen Balken der Scheune ansehen. In den dunklen Aschehaufen stochern. Und dann werde ich den Versuch starten, das Geheimnis meiner Schwester aufzudecken. Ich werde sie finden, wo auch immer sie sich versteckt. Komm raus, komm raus, wo immer du bist. Was spielst du für ein Spiel, Zelda? Mit Regeln hatte sie es nie so.

***

An:[email protected]

Von:[email protected]

Datum:5. September 2014, 20.36 Uhr

Liebste Schwester, monozygotische Mitbewohnerin des Uterus,

und: Ist Paris alles, was du dir je erträumt hast? Glänzt es im hellen Licht von Mythos und protziger Zurschaustellung? Ich wette: beides, zumindest, was dich angeht. Lass mich raten, was du dir auferlegt hattest: Direkt nach der Landung hast du dein Gepäck entsorgt und bist auf der Stelle zu einem siegestrunkenen Spaziergang an der Seine aufgebrochen – in Zeiten des Triumphs zieht es dich doch immer zum Wasser, das ist das genetische Erbe unserer angelsächsisch-protestantischen Ahnen mütterlicherseits, die allesamt Strandläufer waren. Also bist du an den geheiligten Ufern entlanggeschlendert, nein getänzelt, bis du Blasen an den Füßen hattest, und dann hast du dich, ganz die Tochter deiner Mutter, auf die Suche nach einem alkoholischen Kaltgetränk gemacht. Und da es dir einerseits sehr wichtig ist, dich unter die Einwohner zu mischen, und andererseits, historisch ›authentisch‹ zu sein, wette ich, dieses Kaltgetränk war … Lillet! Oder auch Champagner, doch würde ich mein Geld darauf setzen, dass dich Scham und Sparsamkeit davon abgehalten haben, sechzig, siebzig Euro für eine Flasche Blubberwasser hinzublättern. Bestimmt hast du an deinem Lillet genippt, dich in deinem vollkommen akzeptablen Französisch versucht, in deinem Entkommen geschwelgt und so getan, als wolltest du nichts mehr trinken, nur um auf dem Heimweg in einem charmanten, ›authentischen‹ Weinladen den Champagner zu kaufen und in die winzige Schuhschachtel zu bringen, in der du leben wirst, bis du deine Frankophilie losgeworden bist (oder Dads Schweigegeld aufgebraucht hast und wieder nach Hause musst). Und die ganze Zeit weigerst du dich, daran zu denken, was geschah, bevor du uns verlassen hast. Warum du uns verlassen hast. Da habe ich doch recht, Ava, n’est-ce pas?

Nun, ich freue mich sehr, dass du dir deine Träume und so weiter erfüllst, selbst wenn du dafür deine geliebte Zwillingsschwester im Stich gelassen hast, die nun in der Hängematte schmachtet und leicht hysterisch wird bei der Vorstellung, nun die alleinige Verantwortung für die Matriarchin zu haben. Ich weiß, du hast schon immer gesagt, dass ich ihr lieber bin, doch GUTEGÜTE, du solltest sehen, wie trübsinnig sie ohne dich herumschleicht. Sie glaubte wohl wirklich, du würdest nur bluffen und es nicht ernst meinen mit dem Aufbaustudiumsdings; wir würden beide zu ihr ziehen, um ihr die Stirn abzutupfen und ihre zitternde Hand zu halten, während sie sich täglich durchs Programm zappt und dabei den Verstand verliert. Ihr Blick, als dein Koffer die Treppe herunterkam! Auch wenn sie sich nicht mehr an viel erinnern kann: an DIESEN Verrat schon! Wie eine Sitzengelassene harrte sie wochenlang in banger, schmerzlicher Erwartung aus, weil sie einfach nicht glauben konnte, unter solch fadenscheinigem Vorwand verlassen worden zu sein.

Ich will dir keine Schuldgefühle machen (würde ich nie! Nie, niemals. Nicht nach allem, was passiert ist …), sondern versuche, dir lediglich zu skizzieren, wie unser Leben sich während deiner Abwesenheit gestalten wird. Ich werde im Wohnwagen bleiben (wirklich! Aus dem bringt mich keiner raus! Nicht mal diese verdammte Fledermaus!) und nicht ins Haus im Weinberg zurückziehen. Moms Zustand ist zwar prekär, doch wie du weißt, werde ich sie jeden Tag aufsuchen, und für die Nächte ist sie noch klar genug. Glaube ich zumindest. Jedenfalls ist der Wohnwagen ja nicht mal eine Meile entfernt – also werde ich wohl den Rauch sehen, wenn sie das Haus abfackelt, haha! Ich hatte in Erwägung gezogen, jemanden einzustellen, der ein bisschen bei ihr bleibt und sich um die unappetitlicheren Aufgaben kümmert (Windeln sind in greifbare Nähe gerückt, ernsthaft), doch widerstrebt es mir, auf die sich leerende Geldschatulle der Familie zurückzugreifen. Die fetten Jahre des Silenus-Weinguts sind wohl vorbei, es sei denn, ein Erntewunder reißt uns raus. Im Ernst, Ava. Doch zumindest gewährt mir das fehlgeschlagene Winzerabenteuer die Illusion, einen Beruf zu haben, was sehr nützlich ist bei den wenigen Cocktailpartys, die ich besuche – wenn auch nirgends sonst. Und augenscheinlich einen Platz in der Welt. Und natürlich Wein. Kein Wunder, dass der Urvater aller Satyre, Unser Unheiliger Vater, so beflügelt war von der Idee, einen Weinberg zu bewirtschaften. Ganz dumm war er nicht, dieser Mann.

Aber ich schweife ab. Hier sitze ich und tippe auf dem antiken Laptop auf Dads ehemaligem Schreibtisch. Ich habe versucht, Mom damit vertraut zu machen, doch sie kann sich kaum noch daran erinnern, nach dem Pinkeln wieder die Unterhose hochzuziehen (besser als andersherum, oder?), daher habe ich es wohl eher zum eigenen Vergnügen gemacht. Wenn ich gleich aufhöre, werde ich Mutter von ihrem Sonnenthron holen und sie mit ein bisschen Sprit ins Haus zu locken versuchen. Zeit, das Hansaplast abzureißen (die Rechtschreibkontrolle besteht darauf, den Markennamen zu verwenden. Ich frage mich, ob Gmail dafür Geld von Hansaplast bekommt). Du schwelgst sicher in Brie und Baguette – aber denk dran: nicht übertreiben! Niemals! Wenn Mom da wäre, würde sie dich daran erinnern, dass sie neulich etwas Wabbel an deinem Oberarm entdeckt hat und dass man es sich in deinem Alter nicht leisten kann, seinen Gelüsten zu frönen. Welche Ironie!

Aber jetzt ganz im Ernst: Ich vermisse dich wahnsinnig. Und die Sache mit dem Aufbaustudiumsdings WAR doch wohl ein Scherz, oder? Und wir können doch wieder anfangen, miteinander zu reden?

In ewiger Liebe, dein dich anbetender Zwilling

Z wie Zelda

***

Sieben Stunden und einen weiteren Flug mit dünner Bloody Mary später starre ich durch das winzige Bullauge auf die Schneise der Seen unter mir. Das Flugzeug ist so laut, dass mir der Kiefer und die Schläfen weh tun. Als es sich zum Landeanflug auf den Flughafen von Ithaca neigt, kann ich alle Finger Lakes sehen wie eine glitzernde ausgestreckte Hand, die nach der Nachmittagssonne greift. Selbstverständlich komme ich verspätet: Die Einreiseschlange in Philadelphia hat Stunden gebraucht, mein Koffer war der letzte auf dem Gepäckband, und den Anschlussflug habe ich verpasst. Der darauffolgende Flug nach Ithaca wurde gecancelt, womit in fünfzig Prozent der Fälle zu rechnen ist. Im Winter noch häufiger. Der Flughafen hat mich seelisch gebrochen: Abgesehen von allem anderen machten die Fertigkost aus der Mikrowelle und Bier für acht Dollar es mir unmöglich, mich zu entspannen. Essen und Trinken sind mein einziges echtes und tief empfundenes (wenn auch konfliktbehaftetes) Vergnügen. In dieser Hinsicht ähnle ich meinem Vater. Jetzt bin ich wirklich dankbar, in diesem dröhnenden Flugzeug zu sitzen und über den Seen zu kreisen wie Zahnpasta im Ausguss. Mich hinunterzuschrauben.

Nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob es ein Fehler war, allein zu kommen. Nico hat mir gestern Nacht im Bett angeboten mitzukommen, auf seine zärtliche gallische Art. Unverbindlich und großzügig wie immer. Aber er würde in Stücke gerissen. Solch mutwillige Grausamkeit würde ihn kalt erwischen und verstören. Aus Höflichkeit würde er versuchen, den Wein zu trinken, doch sein Glas würde den ganzen Abend halb voll bleiben. Er ist zwar kein Snob, aber Franzose. Und vor allem anderen hat Nico Umgangsformen; er wäre vollkommen verloren zwischen meinen Freunden und Familienangehörigen, die zu sehr damit beschäftigt wären, sich gegenseitig zu zerfleischen, um sich mit transatlantischer Höflichkeit aufzuhalten. Ich hätte ihn gern bei mir, es wäre eine schöne Vorstellung, dass er am Ende jedes brutalen Tages oben in meinem luftigen reinweißen Schlafzimmer auf mich warten würde, um mich nach der neuesten Attacke zu trösten und zu wärmen. Bei dem Gedanken macht mein Magen einen kleinen Satz, und wieder kommen mir Zweifel an meiner Entscheidung. Ich habe ihm gesagt, er könnte mich besuchen, sollte ich länger als ein paar Wochen bleiben. Ein weiterer Anreiz für mich, den Weinberg – und den Seneca Lake – so schnell wie möglich wieder hinter mir zu lassen. Als brauchte ich den noch.

Als die Räder aufsetzen, werfe ich einen grimmigen Blick zu den Panoramafenstern des Flughafens. Ich frage mich, ob mein Vater tatsächlich sein Versprechen hält und mich abholt. Ich schmecke schon förmlich den hiesigen beißend sauren Pinot Grigio, den meine Mutter im Kühlschrank hat, und spüre, wie sehr ich mich danach sehne.

Mein Vater, Marlon, hat vor dem Flughafen Posten bezogen und macht auf einer der Bänke ein Nickerchen. Er hat den Strohhut tief ins Gesicht gezogen, und ich habe den Eindruck, so sitzt er schon eine ganze Weile. Als ich seine Füße leicht anstupse, um ihn zu wecken, sehe ich, wie er unter dem Strohhut träge die Augen öffnet.

»Little A!«, ruft er erfreut und richtet sich auf. Er ist ganz in edel geknittertes Leinen gekleidet. Seine scharfen blauen Augen sind momentan nicht ganz so scharf. Zwar habe ich meinen Vater über zwei Jahre nicht mehr gesehen, doch er wirkt mehr oder weniger unverändert. Vielleicht sind seine dunklen Haare etwas grauer geworden und die Falten um seine Augen ein bisschen tiefer, doch ist er immer noch der charmante Schwerenöter, wie eh und je. Und wie immer, wenn ich sein Lächeln sehe, fühle ich mich unglaublich stark versucht, ihm all seine Unzulänglichkeiten zu verzeihen. Und dass er uns verlassen hat. Meine Mutter hat diesem Mann fünfzehn Jahre lang verziehen, und sie ist kein Mensch, der leicht verzeiht. Ich staune über seine Anziehungskraft und wünschte, ich hätte die geerbt statt seiner blauen Augen und seiner Schwäche fürs Essen.

Sobald er mich erblickt, springt er auf, überraschend munter für jemanden, der gerade ein Kind verloren hat. Doch ich weiß, mir zuliebe wird er plaudern und strahlen. Er will geliebt werden. Gerade schickt er sich an, mich in seine Arme zu schließen, da scheint er sich zusammenzureißen, weil ihm einfällt, wie die Dinge zwischen uns liegen. Er ist immer noch schlank, allerdings entdecke ich den Ansatz eines Bäuchleins unter dem cremefarbenen Leinenhemd, als ich ihn leicht und reserviert, behindert durch mein Handgepäck, umarme. Er drückt mich fest an sich.

»Hi, Daddy. Schön, dass du es geschafft hast.« Ich versuche wirklich, keinen Sarkasmus durchklingen zu lassen, aber vergeblich. Er überhört das. Mein Vater hasst Konflikte. Wahrscheinlich ist ihm deshalb seine neue Familie lieber.

»A, es tut mir ja so leid. Gott, ich kann mir gar nicht vorstellen …« Er fasst mich an den Schultern und blickt forschend in mein Gesicht. Als ich spüre, dass mir, wider besseres Wissen, die Tränen kommen, schüttle ich ihn sanft ab. Seine Miene ist zerfurcht: der erschütterte Patriarch, das Königreich in Trümmern, die Tochter tot.

»Ich weiß, Dad. Lass uns die Kurve kratzen.« Alter Familienwitz. Wie: Wir haben gerade noch mal die Kurve gekratzt. Die Komik ist aber kaum noch erkennbar und wird mit den Jahren immer mehr schwinden. Wie unsere Familie. »Mom ist ganz sicher …« Ich verstumme, weil ich nicht weiß, wie ich den Satz beenden soll. Mom ist ganz sicher am Boden, bestimmt hat sie, angesichts meiner Verspätung, schon mindestens eine Flasche Pinot Grigio intus. Ich bin überzeugt, wenn Marlon am Haus auftaucht, wird es eine ganz besonders hässliche Szene geben. Jetzt nimmt er mir mit großer Geste das Gepäck ab und führt mich zum Parkplatz. Als Demonstration seiner Männlichkeit wirft er sich den Koffer über die Schulter.

»Du hast so wenig Gepäck, A.«

»Ich hatte kaum Zeit zu packen. Außerdem habe ich noch ziemlich viele Sachen von mir im Haus. Und ich kann ja was von Zelda anziehen.« Daraufhin zuckt er deutlich sichtbar zusammen und meidet meinen Blick. Nico ist auch zusammengezuckt, als ich gestern Abend dasselbe zu ihm sagte, während ich wahllos Sachen in meinen Koffer warf und er nervös und besorgt um meinen psychischen Zustand auf der Bettkante hockte. Mir ist schon klar, dass es wie ein Faux pas aussehen könnte, nur wenige Tage nach dem Tod meiner Schwester ihre obskuren Klamotten zu leihen und damit wie ein Fleisch gewordener Poltergeist durchs Haus zu huschen. Aber ich hab schon immer Zeldas Sachen getragen. Wenn ich das jetzt ließe, wäre das ein Zugeständnis an ihren Plan.

»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«, fragt Marlon.

»Ja, gestern Abend am Telefon, aber nur kurz. Sie war ziemlich desorientiert, daher habe ich kaum etwas erfahren.«

»Ging es ihr denn … gut?«

»Was denn: Hast du sie nicht angerufen?«

»Das wollte ich ja, Little A. Aber sie hat direkt wieder aufgelegt.« Er zögert. »Kann ich ihr nicht verdenken. Muss die Hölle sein.«

»Ich weiß wirklich nicht, wie es ihr geht, Dad. Denn so oft spreche ich nicht mit ihr. Sie war sehr … aufgebracht, seit ich nach Frankreich gegangen bin, und Zelda meinte, sie hat immer weniger gute Tage.«

»Hör mal, Kleine, es … es tut mir leid, dass du dich damit rumschlagen musst. Mit ihr. Das ist nicht fair. Nach allem anderen …« Marlon scheint unschlüssig, wie er fortfahren soll. Eine deutlichere Entschuldigung werde ich von ihm nicht bekommen. In Entschuldigungen ist er sehr gut. Man merkt erst später, dass er genau genommen für nichts die Verantwortung übernommen hat.

»Lass gut sein, Dad. Mir wäre lieber … wir genießen einfach die Sonne.« Mittlerweile haben wir den Wagen erreicht, den er optimistischerweise in der Kurzparkzone abgestellt hat. Er hat einen Strafzettel, den er ganz sicher nicht bezahlen wird. In diesen Teil der Welt ist die Post-Nine-Eleven-Haltung bezüglich Kurzparkzonen noch nicht vorgedrungen, und die Behörden halten sich höchstens dem Anschein nach an ihre Antiterror-Vorschriften. In New York hingegen wäre Marlons Wagen längst abgeschleppt und er selbst in Polizeigewahrsam. Doch hier in Ithaca gibt’s nur einen Strafzettel.

Er hat ein schickes Cabrio gemietet. Typisch. Mein Dad reist gerne stilvoll, ohne auf Geld, Etikette und Takt zu achten. Ökonomische Beschränkungen sind für ihn etwas, das nur auf dem Papier besteht und für ihn nicht gilt.

»Schöne Karre«, sage ich. Er grinst verschmitzt, als wir mein Gepäck verstauen, selbst einsteigen und dann viel zu schnell losbrausen. Ich hoffe nur, dass er fahren kann. Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr am Steuer eines Wagens gesessen und nicht mal einen Führerschein, doch wäre es vielleicht trotzdem besser, ich würde fahren, falls er betrunken ist. Allerdings wirken seine Bewegungen ziemlich koordiniert, und wenn wir erst mal aus der Stadt raus sind, werden wir über leere Schotterstraßen brettern, auf denen wir viel Staub aufwirbeln werden und uns austoben können, wie wir wollen. Als wir, den Cayuga Lake zu unserer Rechten, die Route 13 entlangbrausen, entspanne ich mich.

»So, so, so. Paris! Teufel auch, wie ist es, Pimpf?«

»Wie zu erwarten, Dad«, sage ich achselzuckend.

»Komm schon, mehr hast du nicht dazu zu sagen? Paris ist eine der großartigsten Städte der Welt!«

»Es ist weit weg von Silenus. Noch weiter sogar als Kalifornien.« Dad ignoriert meinen frostigen Ton. Er gibt sich heiter, doch ich höre, wie angestrengt seine Stimme klingt, während er versucht, für mich fröhlich zu sein.

»Das ist meine Little A, immer leicht und unbeschwert«, scherzt er. »Ach ja, das Herz so leicht!« Er pfeift vor sich hin, während wir die Stadt durchqueren, und der Wind fährt ihm durch die schwarzen Haare, die im Gegensatz zu unseren nicht lockig sind, sondern eher wellig. Als wir gelernt haben, dass lockiges Haar ein rezessives Gen ist, stellten Zelda und ich Spekulationen an. Doch lässt sich Marlons Vaterschaft an zu vielen unserer Eigenschaften ablesen, daher taten wir die Möglichkeit einer mysteriösen Herkunft schnell als reines Wunschdenken ab. Die Buchstaben auf unserer DNA legen unseren Ursprung fest, aber nicht unsere Zukunft.

»Was hast du gemacht, während du auf mich warten musstest?«, erkundige ich mich, obwohl ich die Antwort schon kenne. Ich frage mich, ob er mich anlügen wird.

»Ich hab alte Freunde besucht, und dann sind wir zusammen essen gegangen.«

»Ach ja? Wo denn?«

»Äh, im Ortszentrum, wie heißt das noch? Das mit den billigen Margaritas?«

»Viva.«

»Ja, schreckliches mexikanisches Essen«, grinst er. »Aber es ist das einzige Lokal in diesem Kaff, das nachmittags geöffnet hat.«

»Das einzige, wo man was trinken kann, meinst du«, sage ich nur halb im Scherz. Daraufhin lächelt er wieder.

»Ich habe ganz vergessen, wie schön … beschaulich es hier ist.« Er setzt den Blinker, dann sagen wir ein, zwei Minuten nichts mehr.

»Wie geht’s denn deiner ›alten Freundin‹, Dad?«, frage ich dann. Er blinzelt kurz. Er ist ein sehr guter Lügner, und jetzt sehe ich ihm an, dass er überlegt, ob er lügen soll oder nicht. Doch ich wette, er wird mit der Wahrheit rausrücken. Weil ich älter geworden bin. Weil meine Zwillingsschwester gerade gestorben ist. Meine Zwillingsschwester, die zufällig sein Talent geerbt hat, andere zu täuschen.

»Meinst du Sharon?«, fragt er.

»Wen sonst?«

»Ach, ganz gut«, sagt er vage. Wir haben uns nie richtig über die Frau unterhalten, mit der er während meiner Jahre in der Mittelschule gevögelt hat. Mehr als einmal habe ich mich gefragt, ob er weiß, dass Zelda und ich im Bilde waren. Unsere Mutter jedenfalls wusste Bescheid.

»Das ist schön. Triffst du sie noch oft?«

»Nein«, sagt er leise. »Seit Jahren nicht mehr.«

»Und wie geht’s der dritten Frau? Maria?«

»Der geht’s gut. Den Mädchen auch. Die sind schon sechs und acht, unglaublich, oder? Kleine, wilde Dinger. Ich zeig dir später Fotos auf meinem Handy.« Er verstummt kurz. »Blaze ist ein ziemlicher Wirbelwind, und Bianca erinnert mich manchmal an dich, als du noch klein warst. Sie ist so … adrett.«

»Also tut Napa dir gut?«

»Aber ja! Es ist großartig! Und das Weingut auch, wir waren letzten Monat sogar im Wine Spectator.« Das weiß ich. Schließlich sind wir ebenfalls Besitzer eines Weinbergs und haben seit 1995 den Wine Spectator abonniert. Was Dad seinerseits weiß, schließlich bestand er auf dem Abo und ließ uns mit der Rechnung sitzen. »Solange du noch in den Staaten bist, solltest du uns mal besuchen kommen. Ich weiß, dass Maria euch Mädels kennenlernen will.« Wir zucken beide zusammen, weil er die Gegenwartsform und die Mehrzahl benutzt hat.

»Vielleicht. Aber ich muss ziemlich bald wieder nach Paris zurück.«

»Wir haben Sommer, Little A! Also solltest du ein bisschen das Leben genießen! Du machst nie mal Pause. Dein Studium kann doch sicher bis zum Herbst warten.« Nervigerweise stößt er mich mit dem Ellbogen an. Ich nicke.

»Wahrscheinlich hast du recht. Aber ich sitze gerade an meiner Doktorarbeit, deshalb habe ich viel zu tun. Ich beschäftige mich mit den Gemeinsamkeiten von Edgar Allan Poe und der Oulipo-Bewegung, ihre Gewichtung formaler Zwänge –«

»Poe kam mir nie wie jemand vor, der sich Zwängen unterwirft«, unterbricht Marlon mich und kommt sich wohl sehr schlau vor.

»Nicht gesellschaftlichen, sondern formalen Zwängen. Ich beschäftige mich insbesondere mit Leipogrammen und Pangrammen und habe die Theorie aufgestellt, dass diese in Oulipo-Texten ein offensichtliches Charakteristikum sind, während sie in Poes Werke wahrscheinlich unbewusst eingeflossen sind. Bislang habe ich mich hauptsächlich auf Alliterationen und Wiederholungen konzentriert, und weil sich Poe in seinem Werk explizit dem Unbewussten widmet –«

»Ein Pangramm, das ist doch so was wie ›Bei jedem klugen Wort von Sokrates rief Xanthippe zynisch: Quatsch!‹, oder?«, wirft Marlon ein. Wahrscheinlich versucht er, mich zu beeindrucken. Genau wie Zelda, die jeden ihrer Briefe mit einem kursiv gesetzten Pangramm versah. »Ja, alle Buchstaben des Alphabets in einem Satz. Bis jetzt habe ich mit diesem einen Essay gearbeitet, den Poe über das poetische Prinzip geschrieben hat –«

»Das klingt sehr gelehrt, Little A, und ich freue mich schon auf weitere Gespräche darüber. Doch könntest du nicht mal Pause machen? Wo doch jetzt Sommer ist und deine Schwester, tja …« Ich kapituliere. Marlon interessiert sich nicht im Geringsten für das, worüber ich Tag für Tag nachdenke.

»Tja, Zelda war eben die Entspannte. Ich war die Vernünftige.«

»Das bist du immer noch, Süße«, erwidert er und will mich damit wohl trösten.

»Nein, jetzt bin ich die Einzige.« Plötzlich komme ich mir wie meine Mutter vor, weil ich will, dass er sich durch meine gehässige Bemerkung scheiße fühlt. »Tut mir leid, Dad. Ich bin nur … nicht sicher …« Ich verstumme und beobachte im Rückspiegel, wie Ithaca hinter uns verschwindet und wir auf der anderen Seeseite auf den Highway fahren.

»Ist schon gut, Kleine. Du kannst sagen, was du willst.« Er tätschelt mir das Knie. Mir fällt auf, dass mich mein Vater seit unserer Begrüßung kein einziges Mal mehr angesehen hat. Als könnte er das einfach nicht. Ich wühle in meiner überdimensionalen Tasche nach der Sonnenbrille und setze sie auf. Falls mir die Tränen kommen. Doch als ich aus dem Fenster auf das grellgrüne Laub und das glitzernde Wasser blicke, ahne ich, dass dies nicht geschehen wird.

2

Benommen vom Jetlag und durch die Bloody Marys auch nicht erfrischt, fallen mir immer wieder die Augen zu, und irgendwo auf der Schotterstraße, die uns durch den schmalen, zerklüfteten Landstrich zwischen den Seen bringt, nicke ich ein und wache erst wieder auf, als wir den Gipfel des Hügels erreichen und Seneca überblicken können. Mit der sinkenden Sonne im Westen ist die Aussicht spektakulär, und wie immer auf dieser Strecke stockt mir ein bisschen der Atem. So lange war ich noch nie von zu Hause fort: einundzwanzig Monate. Als ich einen Blick zu Marlon hinüberwerfe, merke ich, trotz seiner Sonnenbrille, dass er geweint hat. Sogar ziemlich heftig. Das erschreckt und bekümmert mich, denn seine charmante, heitere Fassade bekommt so selten Risse, dass ich, wenn es doch passiert, immer das Gefühl habe, meine Welt bricht zusammen. Vielleicht weiß Marlon das, denn als er sieht, dass ich wach bin, reißt er sich sofort zusammen und bedenkt mich mit seinem hinreißenden, strahlenden Lächeln. Ich weiß, dass er das Leben hier geliebt hat und unseren suboptimalen Weinberg auch. Sogar meine Mutter und natürlich uns Mädchen. Doch seine Liebe zu uns wurde durch Jahre voller Zwietracht und Grausamkeit schwächer, während seine Liebe zu diesem bescheidenen Fleckchen Erde ungetrübt ist. Ich erwidere sein Lächeln, denn trotz allem habe ich das alles auch vermisst.

Leicht schlingernd fährt der Wagen auf der Schotterpiste bergab, aufs Seeufer zu. Weinberge umgeben uns und mit ihnen das angenehm an- und abschwellende Summen und Brummen von Milliarden Insekten. Plötzlich fällt die Temperatur durch unsichtbare Luftschichten, und ich bekomme eine Gänsehaut auf Armen und Beinen, als wir hindurchfahren. Warm, kalt, warm. Ich rieche kaltes Wasser.

Das Silenus-Weingut liegt auf dem Hügel, und die Reihen mit Wein erstrecken sich unter dem Verkostungsraum, einem rustikalen Terrassenbau mit Blick auf das Wasser und ein paar pittoresk verteilten Weinfässern. Es wirft nicht besonders viel ab, und der Wein ist mittelmäßig, selbst für die Region um die Finger Lakes.

Im Vorbeifahren spähe ich angestrengt auf die Weinreben, um zu sehen, was Zelda in den letzten zwanzig Monaten so gemacht hat. Ich kann mir kaum vorstellen, dass meine launische und zügellose Schwester das Land wie eine gute Winzerin bestellt hat, doch sie hat es tatsächlich geschafft, das Gut vor dem totalen Niedergang zu bewahren, und das praktisch allein. Ich frage mich, ob er da war, ob er mit ihr im Wohnwagen gelebt hat, ob er derjenige ist, der das Pflanzen im Frühjahr und die Weinlese im Herbst organisiert hat. Ich gehe davon aus, schließlich hatte es Zelda nie so mit Zeitplänen, und ich kann mir ohne weiteres vorstellen, dass sie den ganzen Mai und Juni nur auf der Terrasse gesessen und Pimm’s-Cocktails getrunken hat, aber ständig beteuerte, sie würde die neuen Reben morgen setzen. Wenn sie allerdings wirklich für etwas Feuer fängt, dann ist sie eine Urgewalt. Beißt sich fest wie ein Terrier. Ich weiß, ich muss ihm schon bald unter die Augen treten, vielleicht sogar schon heute. Und bei dem Gedanken, was ich zu ihm sagen soll, krümme ich mich innerlich.

Mein Vater räuspert sich verlegen.

»Weißt du, mir ist was ganz Komisches passiert«, setzt er an. »Ich glaube, ich fang an zu spinnen.« Er zögert kurz. »Aber als ich in der Bar war …« Er schüttelt den Kopf, so dass seine Locken wippen. Sehr attraktiv. Er spricht nicht weiter.

»Was denn?«, helfe ich nach.

»Nein, es ist albern.«

»Was denn?«, wiederhole ich.

»Ich dachte, ich hätte deine Schwester gesehen.« Ich blicke so ausdruckslos wie möglich. »Oder dich natürlich. Aber das Mädchen ging wie Zelda. Ich weiß nicht, völlig gelöst.« Marlon gluckst leise. »Lächerlich, oder?«

»Trauer bewirkt manchmal Seltsames«, sage ich in dem Versuch, nichts durchblicken zu lassen. Wollte Zelda von ihm gesehen werden? Ist sie in Ithaca? Oder in Kalifornien? Ich lehne mich auf dem Sitz zurück und denke über meine Schwester nach. Darüber, ob sie sich überhaupt die Mühe machen würde, mit Marlon Spielchen zu veranstalten. Als er uns verließ, existierte er eigentlich nicht mehr für sie. Ich hingegen vermisste ihn schmerzlich.

Dad fährt die lange, steile Einfahrt hinunter, die zum Verkostungsraum und dem Haus führt, das dicht danebensteht. Marlon und Nadine errichteten es erst nach dem Bau von Verkostungsraum und Weinkeller und legten damit direkt ihre Prioritäten fest: erst ein Haus zum Trinken und dann ein Haus zum Wohnen. Meine anspruchsvolle, pingelige Mutter entwarf es zusammen mit einem befreundeten Architekten aus New York, und jedes Fenster, jede Ecke und jedes Detail spricht von ihrer Schwäche für rechte Winkel, Modernes und Abstraktes. Es ist kein warmes, gemütliches Heim. Und neben dem Haus steht die Scheune.

Als Dad mit knirschenden Rädern auf den gekiesten Parkplatz fährt, kann ich die verkohlten Trümmer dieser Scheune sehen. Zwar versperrt mir das Haus teilweise die Sicht, doch erkenne ich schwarzes Gebälk, das aus dem Boden ragt. Außerdem bemerke ich, dass über ein großes Stück unseres Rasens gelbes Absperrband gespannt ist. Neben den Trümmern ist ein Streifenwagen geparkt, und ein Brandermittler stochert mit hochkonzentrierter, professioneller Miene in dem Bereich herum. Plötzlich fangen meine Hände so heftig an zu zittern, dass ich es kaum über mich bringe, aus dem Wagen zu steigen. Zelda, zum Teufel, was hast du getan?

Als Dad wortlos unser beider Gepäck aus dem Kofferraum holt, wird mir mit einem Anflug von Panik klar, dass er die Absicht hat hierzubleiben, unter demselben Dach wie Mom. Er wirkt betroffen, und ehrlich gesagt erfüllt es mich mit Erleichterung, dass sein Gleichmut zumindest leicht erschüttert ist. Schließlich sieht es so aus, als würde sein erstgeborenes Kind in den Trümmern der Scheune vor sich hin kokeln, die er in jenem quälend langen Sommer baute, als meine Mutter ihn nicht mehr im Haus ertrug. In ihrem Haus. Als wir hineingehen, blickt er demonstrativ nicht dorthin. Und zu mir auch nicht.

»Mom?«, rufe ich unsicher und versuche abzuschätzen, wo sie sein mag. Da die Sonne schon untergeht, frage ich mich, ob sie einfach ohne uns angefangen hat zu essen. Ich weiß nicht, ob Betsy, unsere pummelige, gluckenhafte Nachbarin noch hier ist; nach dem Telefonat mit meiner Mutter rief ich sie an und bat sie, zum Haus zu gehen und aufzupassen, dass Mom etwas zu essen bekommt und nicht die Treppe hinunterfällt. Betsy war ganz die tröstlich murmelnde und pragmatisch zupackende Landfrau; selbstverständlich wusste sie Bescheid, da sie das Feuer von ihrem nur eine Meile entfernten Haus sehen konnte. Sie war schon bei uns gewesen und wollte nur kurz einen eingefrorenen Auflauf aus ihrer Kühltruhe holen, als ich anrief. Eigentlich wollte sie mir die ganze Geschichte erzählen, doch ich brannte darauf, nur vom Telefon weg und mit Nico ins Bett zu kommen, damit er mir in seinem ausgeprägten Akzent tröstende Worte zumurmeln konnte.

»Betsy?«, rufe ich jetzt.

»Oben!«, ertönt eine Stimme, vermutlich Betsys. Dad setzt die Koffer an der Tür ab und blickt sich verstohlen um. Ich sehe, dass er registriert, was sich in diesem Haus verändert hat. Das behindertengerecht wirkende Geländer an der Treppe. Die Schlösser an einigen Schränken in der Küche. Das Lieblingsbild meiner Mutter, ein Druck von Barnett Newman, das früher im Flur hing, ist fort. Zelda hat es bei einem besonders heftigen Streit lodernd vor Zorn abgerissen und in den See geworfen – das war, bevor bei meiner Mutter die Demenz diagnostiziert wurde und als ihre abrupten Stimmungsschwankungen noch unerklärlich waren. Ich sehe Marlon an, dass es ihm widerstrebt, nach oben zu gehen.

»Ich, äh, schaue mich erst mal um und gehe ins Bad. Dann bringe ich uns gleich eine Flasche und ein paar Gläser hoch«, bemerkt er verlegen und entfernt sich von der Treppe und der dräuenden Präsenz meiner Mutter, die wie eine Spinne oben hockt. »Vielleicht wäre es nicht schlecht, sie vorzuwarnen, dass ich auch hier bin, Kleine. Möglicherweise ist sie, äh, nicht so begeistert darüber.« Ich nicke. Ich weiß, sobald ich außer Sicht bin, wird er zum Barschrank gehen, zu seiner Enttäuschung aber bemerken, dass ein Zahlenschloss daran hängt. Zelda hat mich letztes Jahr in einer ihrer ausschweifenden E-Mails mit rachsüchtig triumphierendem Ton darüber informiert, dass sie das Schloss angebracht hat, nachdem meine Mom sich mit Scotch fast zu Tode gesoffen hätte. Offenbar hatte Nadine vergessen, dass sie den ganzen Tag schon Wein und Beruhigungsmittel zu sich genommen hatte, und hätte ihrer Leber mit einer Flasche Glenmorangie fast den Rest gegeben. Also wird Marlon sich mit etwas aus dem Kühlschrank behelfen müssen, das weniger Alkohol hat.

Als ich die Treppe hinauflaufe, spüre ich unter meinen Füßen die vertrauten Kerben in den Holzstufen. Instinktiv habe ich die Schuhe ausgezogen, denn meine Mutter hasst Schuhe in ihrem einst makellosen Zen-Paradies. Jemand, der mit Stiefeln an den Füßen im Wohnzimmer saß, konnte sie zur Raserei treiben. Jetzt ist das Haus definitiv schmutziger als zu meiner Zeit; wahrscheinlich hat Zelda die Haushälterin gefeuert, die ich vor meinem Aufbruch nach Paris auf eine Stellenanzeige in der Zeitung hin eingestellt hatte. Ich spüre, wie sich unter meinen nackten Füßen Krümel und Staubflocken sammeln, und als ich das Geländer berühre, sind meine Finger sofort klebrig. Doch die Stufen unter meinen Füßen sind immer noch dieselben, und auf jedes Knarren reagiert mein Körper mit der Resonanz auf Vertrautes.

Mom und Betsy sind auf dem Balkon der Bibliothek. Betsy hat der Scheune den Rücken zugewandt, doch meine Mutter blickt direkt darauf und starrt mit kriegerischer Miene auf den Schandfleck auf unserem Rasen, der mit Absperrband markiert ist.

»Hi, Betsy, vielen Dank für alles«, sage ich und wappne mich vor der unvermeidlichen Umarmung, als Betsy sich mühsam vom Stuhl erhebt, um mich zu begrüßen. »Ehrlich, du hast mir das Leben gerettet.« Ich grüble noch über meine Wortwahl nach, da drückt mich Betsy schon rippenquetschend an ihre Brust.

»Oh Ava, es tut mir ja so leid – deine arme Schwester.« Sie fängt an zu schluchzen: Ihr großer Busen wippt, und ihre braunen Rehaugen füllen sich mit Tränen. Ich tätschle ihr die Schulter und versuche, ein Stück von ihr abzurücken, da mein T-Shirt von ihrem Schweiß feucht wird.

»Danke. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du hier warst.« Dann zögere ich kurz. »Hi, Mom.« Ich neige mich zu ihr, um ihr auf die Wange zu küssen und die Sicht auf die Scheune zu versperren. »Wie geht es dir?«

»Gottverdammt noch mal, Zelda, was hast du mit der Scheune gemacht? Zum Teufel, wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst da nicht rauchen?« Ich zucke zusammen. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass sie mich mit meiner Schwester verwechselt.

»Mom, ich bin’s, Ava«, erwidere ich geduldig. »Ich bin gerade angekommen. Aus Paris.«

»Netter Versuch, Zelda. Gott, du benimmst dich noch genauso wie mit vier: Versuchst, dich immer noch hinter deiner Schwester zu verstecken, wenn du was verbrochen hast. Ich bin weder blöd noch geistesgestört und erwarte, dass du das in Ordnung bringst!« Sie weist gebieterisch zur Scheune. »Und zwar auf der Stelle. Und ohne dein übliches dramatisches Getue, wenn ich bitten darf.« Ich werfe einen Blick zu Betsy, die uns mit weit aufgerissenen Augen beobachtet. Das verzückte Gaffen guter Nachbarn. Ich spreche sie an.

»Noch mal vielen Dank, Betsy. Die letzten ein, zwei Tage waren bestimmt nicht leicht für dich. Und danke, dass du die Feuerwehr gerufen hast. Wer weiß … was sonst noch passiert wäre.«

»Oh Ava«, beginnt Betsy sofort wieder zu jammern. »Es war ja so schrecklich, die ganze Scheune stand in Flammen. Ich bin so schnell rübergerast, wie ich konnte, aber – deine Schwester!«

»Zelda, ich brauche noch Wein!«, befiehlt Nadine scharf und unterbricht damit Betsys Gejammer. Ich ignoriere sie.

»Wie geht’s deinen Kindern, Betsy?«, frage ich.

»Meinen Kindern? Ach so, so weit gut«, erwidert sie und kichert. »Rebecca hat gerade ihre erste Stelle als Zahnarzthelferin angetreten. Und erinnerst du dich noch an Cody?«, fragt sie beifallheischend. Ja, allerdings. Cody war eines der rettungslosen Arschlöcher, die mit mir den Abschluss gemacht haben. Liebend gern würde ich Betsy erzählen, dass er früher dem einzigen offen schwulen Jungen nachgestellt hat, ständig »Schwuchtel« flüsterte und ihm den Hintern tätschelte.

»Hm. Wie geht’s ihm?«

»Er lebt jetzt in San Francisco. Mit einem seiner Kommilitonen vom College«, verkündet sie stolz. Ich unterdrücke ein Kichern. Das ist perfekt.

»Zelda, Herrgott noch mal!«, unterbricht uns Nadine.

»Ab hier übernehme ich, Betsy«, sage ich und entlasse sie damit. Sie wirkt erleichtert.

»War doch eine Selbstverständlichkeit, Ava. Gar kein Thema. Wann immer ich helfen kann, bin ich da. Morgen bringe ich noch mal was zu essen vorbei.«

»Das musst du nicht«, sage ich rasch. Wirklich, das muss nicht sein.

»Doch, doch, kein Problem. Ich sehe dann nach euch. Nadine hat schon gegessen, aber es ist noch Auflauf im Kühlschrank.« Da kann er auch schön bleiben. Betsy tupft sich mit dem Kragenzipfel ihres überdimensionalen Batikkaftans die Tränen ab. »Wenigstens habe ich sie diesmal dazu bringen können, etwas zu essen. Beim letzten Mal wollte sie nichts anrühren.«

»Danke, Betsy. Ach, unten ist auch Marlon, dem kannst du kurz hallo sagen, wenn du gehst.« Da verkrampft sich Betsys Miene deutlich sichtbar: Sie gehört zu den wenigen, die nicht vom Charme meines Vaters eingenommen waren. Ihr Gedächtnis ist ziemlich gut, und sie kann Marlon seinen Abgang einfach nicht verzeihen. Wieder einmal wünschte ich, ich würde sie lieber mögen.

»Aber natürlich. Und, Ava? Mein aufrichtiges Beileid«, sagt sie ernst und umarmt mich noch einmal. Bekümmert nickend watschelt sie durch die Balkontür und stapft nach unten. Ich setze mich auf ihren frei gewordenen Adirondack-Sessel und bin froh, dass er zum Verkostungsraum gerichtet ist. Allerdings ist er noch unangenehm warm von ihrem Körper.

»Du siehst ziemlich gut aus, Mom. Alles in allem.«

»Spar dir diesen Ton, Ava«, erwidert sie. Ich grinse breit.

»Also wusstest du doch Bescheid.«

»Wie ich bereits sagte, Püppchen: Ich bin nicht geistesgestört. Jedenfalls noch nicht ganz. Es ist nur so, dass ich diese Frau verachte mit ihrer Herumgluckerei und ihrer scheinheiligen … Gutmenschlichkeit.« Nach dem letzten Wort musste Mom suchen, doch ich sehe, dass sie ziemlich klar ist. »Sie ist strohdoof und merkt es nicht mal. Die letzten vierundzwanzig Stunden musste ich ihr Geplapper ertragen – dass alles wieder gut wird, dass du bald da bist und so weiter und so fort.« Entnervt verdreht sie die Augen. »Ich bin hier raus und hab direkt vor der Scheune geparkt in der Hoffnung, sie damit abzuschrecken. Aber sie muss ja immer das Richtige tun. Gott, und dieser Auflauf …« Sie erschauert theatralisch.

»Was ist passiert, Mom?«, frage ich.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich hab das Ganze verschlafen. Wegen der gottverdammten Tabletten, die deine Schwester mir verabreicht hat.« Mom nimmt einen Schluck Wein aus dem Glas, das sie mit zitternder Hand am Stiel hält. Reflexartig werfe ich einen Blick auf die Flasche, um einzuschätzen, wie viel sie schon intus hat. Dabei ertappt sie mich.

»Herrgott, du bist ja noch schlimmer als deine Schwester. Zumindest hatte sie den Anstand, mich nicht allein trinken zu lassen. Du bist doch nicht bei den AAs gelandet, oder, Little AA?«, spöttelt sie, verballhornt den Spitznamen meines Vaters für mich und versucht, mich gleichzeitig dazu zu verleiten, ihr beim Trinken Gesellschaft zu leisten. Obwohl ich all das weiß, ändert es nichts an der Tatsache, dass ich das auch will.

»Dad kommt gleich mit einer neuen Flasche und Gläsern«, sage ich beiläufig und empfinde Genugtuung, als sie zusammenzuckt.

»Marlon ist hier? Der große Fisch, der durchs Netz gegangen ist?« Sie bemüht sich um einen leichten Tonfall, doch höre ich Anspannung in ihrer bebenden Stimme. Instinktiv berührt sie ihr Gesicht: die ununterdrückbare Verlegenheit einer Frau, die weiß, dass sie nicht gut aussieht.

»Ist heute Morgen hier gelandet. Aber du musst doch damit gerechnet haben, dass er zur Beerdigung seiner Tochter heimkommen würde.«

»Ja, davon ging ich aus. Es überrascht mich nur, dass er nicht sein neuestes Anhängsel dabeihat.«

»Maria ist doch nicht neu, Mom. Sie sind seit fast acht Jahren verheiratet.«

»Maria? Ich dachte, ihr Name wäre Lorette?«

»So hieß meine Freundin, als wir zwei uns kennenlernten, Nadine«, sagt mein Vater von der Tür aus. Er sieht sie mit einem merkwürdigen Ausdruck an; ich weiß nicht, wann die beiden sich das letzte Mal gesehen haben, aber Moms Anblick muss ein Schock für ihn sein. Sie ist so dünn.

»Aber natürlich, ich erinnere mich«, sagt Mom automatisch, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt. Aber sie wird sich sehr bemühen, uns davon zu überzeugen.

»Wäre nicht so schlimm, wenn du’s vergessen hättest. Es ging ja nur sehr kurz«, werfe ich ein. Nadine schnaubt. Dad hält mit leicht verlegener Miene eine Flasche Sekt und drei Sektflöten in die Höhe. Die Gläser hängen am Stiel zwischen seinen Fingern und klimpern magisch. Ich liebe dieses Geräusch.

»Im Kühlschrank war nur Sekt«, sagt er entschuldigend. Ich nicke und gebe ihm damit die Erlaubnis einzuschenken. Er stellt die Gläser auf das Balkongeländer und befreit die Flasche routiniert von Folienhülle und Korken. Bei dem triumphierenden Knallen zucken wir alle drei zusammen, dann blicken Mom und Dad unwillkürlich zur Scheune, als würde dieser pawlowsche Reiz Zelda herbeirufen, und sei es aus dem Grab. Denn natürlich ist Champagner ihr Lieblingsgetränk. Allerdings ist dies nur Sekt aus unserem eigenen Weinkeller. Dad gießt die köstlich perlende Flüssigkeit in die Gläser und reicht zuerst Mom eins und dann mir. Trotzig hebe ich das Glas.

»Na dann, Prost, Familie.« Als mich beide mit leerer Miene anstarren, blicke ich zum See und leere mein Glas mit einem einzigen Schluck.

***

An:[email protected]

Von:[email protected]

Betreff:Mademoiselle Schmoll

Datum:1. Oktober 2014, 00.45 Uhr

Liebste schweigende, schmollende Schwester,

findest du das nicht ein bisschen albern, Ava? Du walzt das Ganze ziemlich grässlich aus, so als wären wir noch in der Highschool. Zugegeben, es reicht tatsächlich bis in die Highschool zurück, daher sei dir EIN BISSCHEN Spielraum gewährt, um dich wie eine völlig durch die Hormone verkorkste Irre zu benehmen, doch mit zunehmender Reife wirst du es doch EINFACH GUT SEIN LASSEN? Sollte es helfen, stoße ich ihn ab; du musst es nur sagen.

Kommen wir nun zu etwas anderem (und offen gestanden Interessanterem): Unsere Mutter ist ein psychisches Wrack und eine Säuferin. Letzte Nacht musste ich sie aus dem Weinberg aufklauben, wo sie halb nackt herumtobte und eine Flasche von diesem grauenhaften Faux-jolais Nouveau trank, den Dad unbedingt produzieren musste, obwohl er wie Pferdepisse mit Kohlensäure schmeckt. Und doch besteht Nadine aus irgendeiner fehlgeleiteten Nostalgie darauf, ihn jedes Jahr aufs Neue zu produzieren, so als würde dieser Jahrgang endlich trinkbar sein. Offenbar glaubt sie, wenn sie auch nur eine Flasche hinkriegt, die halbwegs genießbar ist, kommt Marlon zurück, und sie kann wieder auf der Terrasse sitzen und ihm wie eh und je beim Arbeiten im Weinberg zuschauen. Ihrem ganz persönlichen Contadino.

Wie auch immer: Gestern Abend kreischte und schluchzte sie herum, sie wollte unbedingt zurück in den Schoß der Erde, oder so. Ich glaube, sie wollte zum See runter, wahrscheinlich, um ins Wasser zu gehen. Nicht mehr lange, und ich lass sie tatsächlich. Doch gestern gab ich ihr einfach etwas von ihrer ›Medizin‹ (welch ein nützlicher Euphemismus für starke Beruhigungsmittel) und schleppte sie zurück ins Bett, wobei sie die ganze Zeit kreischte wie eine irre Todesfee. Selbstverständlich gönnte ich mir danach erst mal ein Glas vom richtig guten Stoff. Das war keine reine Selbstsucht: Die Beruhigungspillen verschaffen nicht nur mir, sondern auch ihr eine kleine Verschnaufpause!

Der Herbst hat sich mittlerweile durchgesetzt; in alarmierendem Tempo verlieren die Blätter ihre Farbe und trudeln zu Boden. Und Paris? Voyez le brick géant que j’examine près du wharf. Was sagst du zu meinen Sprachfertigkeiten? Ich hab Fotos von den Tuilerien gegoogelt, um herauszufinden, wie sie aussehen (dort wollten wir doch leben, als wir noch klein waren, oder? Obwohl ich davon ausgehe, dass du in der Nähe des Parks lebst und nicht, wie früher geplant, in einem Märchenschloss mittendrin). Jedenfalls sehen die Tuilerien wirklich sehr pittoresk aus. Trotzdem kein Vergleich zu der Aussicht auf Silenus. Die Weinlese war brutal; noch ein, zwei Jahre so, und ich sabbere genauso in meinen Riesling wie Momma! Sehen wir mal, was dabei herauskommt. Ich schätze, mehr desselben.

Aber jetzt im Ernst: Hast du wirklich die Absicht, nie mehr mit mir zu reden? Oder erst dann wieder, wenn du mit einem kettenrauchenden, achselzuckenden Pariser im Bett landest? Ehrlich, Ava, so schlimm war das Ganze auch nicht. Ich bin drüber hinweg. Er ist drüber hinweg. Seltsamerweise ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich deine Bettwäsche regelmäßig wechsle und wasche. Dabei wasch ich meine ja kaum! Was glaubst du, hat das zu bedeuten?

Deine bußfertige zweite Embryonenhälfte

Z wie Zelda

***

Ich bringe Nadine zu Bett, schließe aber nicht die Tür hinter ihr ab – Zelda hat geschrieben, dass sie in letzter Zeit schlafwandelt, aber ich bringe es einfach nicht über mich, sie einzuschließen. Was, wenn es noch mal brennt? Nachdem ich Marlon im Gästezimmer untergebracht habe, schleiche ich mich mit einer Taschenlampe nach draußen. Dort riecht immer noch alles nach Rauch. Ich steuere die Überreste der Scheune an. Es ist noch warm; die Sommer hier werden immer heißer, obwohl viele unserer Nachbarn als eingefleischte Republikaner den wahren Grund dafür leugnen. Zelda stellte Spekulationen darüber an, was das für den Wein bedeuten würde (»Wusstest du, dass französische Champagnerproduzenten mittlerweile Land im Süden von England kaufen, weil sie davon ausgehen, dass in zwanzig Jahren die Anbaubedingungen dort besser sind als in der Champagne? Glaubst du, dass wir hier bei uns demnächst – ich weiß nicht – Chianti produzieren können?«) Da ich barfuß bin, taste ich mich vorsichtig über die Wiese und weiche verbrannten Holz- und anderen Trümmerstückchen aus. Ich richte die Taschenlampe hierhin und dorthin und gehe schließlich ein paar Meter vom ehemaligen Scheunentor in die Hocke. Dort steckt eine kleine gelbe Fahne zwischen verbranntem Holz und Asche. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sofort die Scheune vor mir; ich stelle mir vor, wie ich das schwere Tor aufschiebe, über den Betonboden tappe, wo wir alle möglichen, bedrohlich wirkenden Winzergerätschaften aufbewahren, und die Leiter zum Loft emporsteige.

Als Marlon die Scheune baute, schwebte ihm vor, auf dem Boden Heu zu lagern und unten ein paar Ziegen und Schafe in urigen Verschlägen zu halten. Doch er verschwand, noch bevor wir Heu oder Vieh kauften, und die Scheune wurde zum Lager für den alten Traktor, Ersatzfässer und Werkzeug, das nicht so oft genutzt wurde. Zelda besetzte den Dachboden und verwandelte ihn in ihren eigenen prächtigen Hobbyraum; mit pubertärer Sturheit bestand sie darauf, Bücher und Möbel durch die Heurutsche hochzuschaffen. Sie hatte ein paar alte Futons da, einen großen Arbeitstisch, ein paar Sitzgelegenheiten und etliche ironisch gemeinte Bilder (hauptsächlich von Tierbabys), die sie von der Heilsarmee in Ithaca angeschleppt hatte. Selbst schon als Teenager fühlte sie sich bei unserer Mutter im Haus eingesperrt und verzog sich hierher, wenn sie mal wieder gestritten hatten. Da ich es gewohnt war, dass sie alle Projekte nach kurzer Zeit aufgab, sah ich mit Erstaunen, wie sie die Scheune nutzbar machte. In meinen Augen war das fast erschreckend untypisch für sie.

Nach der Highschool fing sie an, alle möglichen Leute in ihre sogenannte Bacchus Barn einzuladen (Zelda muss allem einen Namen verpassen). Mutter biss dann passiv-aggressiv die Zähne zusammen und starrte zur hell erleuchteten Scheune, aus der laute Musik drang, die uns die ganze Nacht wach hielt. Sie wusste nie, was sie mit Zelda machen sollte. Oder diesem Weingut.

Wir hatten einen kollektiven Mythos darüber, wie wir zu Silenus kamen, zusammengeflickt aus den extrem unterschiedlich gefärbten Erzählfäden von vier verschiedenen Personen. Die Kernaussage, der gemeinsame Nenner dieser Geschichte ist, dass meine Mutter das Geld für Silenus gab, obwohl es die Vision meines Vaters war. Marlon war eigentlich nicht der Typ Mann, für den meine Mutter sich normalerweise interessierte. Sie hatte eine Schwäche für sehr gut betuchte Männer, die Jura studiert hatten und am Wochenende Golfen gingen. Männer, die etliche Knoten für ihre Krawatten kannten und stets ›Tanqueray‹ hinzufügten, wenn sie einen Martini bestellten. Marlon Antipova, der lässige, schon fast pathologisch leichtsinnige sonnengebräunte und schneidige Charmeur, war das Gegenteil von dem, was sie sich immer als Partner vorgestellt hatte. Doch nachdem Nadines Mutter nach einer langen zehrenden Krankheit (Parkinson) gestorben war und sie allein zurückblieb, brach sie ihre Zelte ab und zog nach New York. Sie war zweiunddreißig und musste entscheiden, was sie mit sich und ihrem Geld anfangen wollte. Als Marlon in die Bar im Village geschlendert kam, wo sie sich an ihrem Gin Tonic festhielt, um nicht in ihre viel zu stille Luxuswohnung an der Upper West Side zurückzumüssen, sah sie einen Fluchtweg vor sich und ihrer Vergangenheit und stürzte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, in ein vom Zufall bestimmtes Leben mit einem abenteuerlustigen Vagabunden aus Florida.

Mein Vater war kein praktisch veranlagter Mensch, hatte aber Ambitionen: eine gefährliche Mischung. Er verkörperte bis zur Vollkommenheit den leichtlebigen Bohemien, während er gleichzeitig darauf bedacht war, seinen stillen Ehrgeiz hinter der blendenden Fassade außergewöhnlichen Draufgängertums zu verbergen. Da die Szene so entscheidend für unsere Familiengeschichte ist, habe ich sie mir ziemlich oft ausgemalt. Es war eine Zeit, da sie einander noch wollten, als die Zukunft noch nicht desaströs in ihre Pläne gekracht war. Zelda und ich erzählten uns die Geschichte oft und überließen uns abwechselnd die Erzählerrolle.

Allerdings fing ich immer an: Marlons Pick-up bog auf die Schotterstraße ein, die später unsere Auffahrt werden sollte. Unter ihm und meiner Mutter breitete sich der See aus, und Marlon brachte den Truck knirschend zum Stehen, als sie vor dem staubbedeckten, in die Erde gerammten Maklerschild landeten. Darauf stand mit Edding eine siebenstellige Telefonnummer ohne Vorwahl – ein subtiler Hinweis darauf, dass sich nur Einheimische melden sollten.

»Das ist also deine großartige Überraschung?«, fragte Nadine und bemühte sich, weder enttäuscht noch begeistert zu klingen. Es war ihr immer wichtig, gelassen zu bleiben und niemals durchblicken zu lassen, was hinter ihren kühlen grauen Augen vorging. Niemals die Beherrschung zu verlieren (wozu sie neigte) oder Aufregung oder gar Glück zu zeigen, was eine ganz neue Erfahrung für sie war. Nachdem sie die letzten Jahre damit verbracht hatte, ihre Eltern dahinsiechen zu sehen, war sie jetzt frei, zum ersten Mal seit ihrer frühen Kindheit. Immer noch (relativ) jung, mit Geld und Unabhängigkeit gesegnet, konnte sie tun, was auch immer ihr gefiel. Und ihr gefiel am meisten dieser durchtriebene, schwer zu fassende Mann mit dem Pferdeschwanz und dem strahlenden Lächeln. Wie seltsam, dass er ausgerechnet sie mit ihren steifen Umgangsformen und ihrem harten Kern aus Zorn erwählt hatte. Dass er nachts, ganz gleich, wie spät es war, an ihre Tür klopfte und in ihr Schlafzimmer geschlendert kam: mit einer Flasche Bourbon und seinem schleppenden Südstaatenakzent, den er offenbar nur ihr, in Augenblicken tiefster Intimität unter ihrer teuren Bettdecke, vorbehalten hatte. Noch nie hatte sie jemanden so weit in ihre äußere und innere Welt gelassen, und manchmal starrte sie Marlon grübelnd an, weil sie einfach nicht glauben konnte, dass er sie tatsächlich wollte.

Dann übernahm Zelda, um unseren Vater zu beschreiben: Marlon tat immer so, als bemerkte er nicht diese verhalten intimen Momente, fühlte sich ihrer aber immer sicherer, wenn er ihren durchdringenden, kalkulierenden Blick spürte. Diese Frau war alles, was er nicht war, aber sein wollte. Sie bestellte Drinks, ohne die Karte zu konsultieren: Sie wusste, was sie wollte, und machte sich über den Preis kaum Gedanken. Nie fragte sie sich, ob sie es sich leisten konnte, ob die Rechnung kommen und sie kalt erwischen würde. Marlon hatte in seiner sumpfigen Heimatstadt eine Reihe wütender Geschäftspartner und ausstehender Verbindlichkeiten (finanzieller und anderer Natur) zurückgelassen und war aus reiner Notwendigkeit in der anonymen Schar mittelloser Musiker in New York verschwunden. Jetzt sah er eine Zukunft vor sich, in der er hier sitzen und sein eigenes Stück Land überblicken würde. Ein paar Jahre zuvor hatte er ein Wort gelernt, ›Provenienz‹, das er manchmal, nach fünf, sechs Drinks, in den Mund nahm. Nadine, die immer so kühl und distanziert war und ihn so selten hinter ihre makellose Fassade blicken ließ, hatte in einer Weise Klasse, die Marlon unwiderstehlich erotisch fand. Ihre blasse irische Haut erinnerte ihn an Marmor und ihre stocksteife Haltung an eine Statue. Sie war so ganz anders als die sonnengebräunten zähen Mädchen, mit denen er sich als junger Mann in verrauchten Spelunken und tropischen Regenstürmen herumgetrieben hatte.