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Lazarus ist ein Reborn. Er erwacht in einer Welt, an die er keine Erinnerungen hat, und muss Freunde finden, um sich seinem Schicksal zu stellen.
Das E-Book Death Bell wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Fantasy,Abenteuer,fiktive Welt,Engel,Lateinische Begriffe
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Seitenzahl: 240
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1:
Erwachen
Kapitel 2:
Das Haus Lucis Galateae
Kapitel 3:
Die Irrlichter
Kapitel 4:
Der Mentor eines Reborn
Kapitel 5:
Zwei Rivalen
Kapitel 6:
In der Nacht
Kapitel 7:
Die Slayer
Kapitel 8:
Das Ende der Ruhe
Buch 2
Kapitel 1:
Zeit des Aufbruchs
Kapitel 2:
Der Schlüsseltag
Kapitel 3:
Vorbereitung
Kapitel 4:
Vom Leben der Menschen und Engel
Kapitel 5:
Die Akademie von Skyfall
Kapitel 6:
Wie ein anderes Leben
Kapitel 7:
Die goldenen Regeln
Kapitel 8:
Wovon Reborn träumen
Kapitel 9:
Zuhause
Kapitel 10:
Audienz bei den Arcs
Kapitel 11:
Die Schöne und der andere
Kapitel 12:
Auftakt
Kapitel 13:
Regentropfen
Schatten.
Finsternis.
Ein Meer aus schwarzem Nichts, überall. Stille und zugleich ohrenbetäubendes Rauschen. Eine Leere, unendlich wie der Himmel.
Wie sah er noch mal aus?
Erinnerungen, die verblassen. Gefühle, die verschwinden. Träume, die davonfliegen. Fast so, als hätte es sie nie gegeben. Schmerzen, die vergehen, als hätten die Schläge sie nie verursacht.
Dann war da auch noch diese Einsamkeit!
Im Leben stets gegenwärtig und quälend. Und auch jetzt! Auch jetz t kam sie daher, ohne zu grüßen, und blieb, klebte fest und würde bleibe für den Rest –
Den Rest des Lebens?
Das Leben. Das Süße. Das Bittere. Das Wundervolle. Das Hässliche.
Das Endliche.
Von allen Dingen, die es gab auf der Welt, war das Leben das Beste.
Bis es quälend endet.
Stille. Ein Glockenschlag.
Stille. Dann Schweigen.
Stille. Dann ein Klopfen! Wo kam es her? Was war das? Leise, zart. Stockend und zitternd, wie ein kleines Vöglein, frisch aus seinem Nest. Die Schale zerplatzt, die Äuglein geschlossen, das Schnäblein…
Zu schwach.
Wieder die Stille. Das Klopfen verstummt.
Warten. Ein Zittern.
Warten. Ein Atmen.
Warten. Da, da ist es wieder! Wieso klopft es wieder? Wo kommt es bloß her? Wovon wird es verursacht? Es ist nah, der Grund erbebt. Kalter, schwarzer Grund, schwerelos im Nichts…
Endlos.
Unbemerkt setzt das Klopfen wieder an, mühsam, als müsste man eine alte Maschine wieder in Gang setzen. Nach einer Weile kräftiger, regelmäßiger. Es findet seinen ganz eigenen Takt, verfolgt ihn, behält ihn bei, schlägt weiter, um nicht wieder einzuschlafen.
Ein rasselnder Atemzug, tief und unschlüssig. Gierig wird die kalte Luft eingesogen. Die Nasenlöcher weiten sich, der Mund öffnet sich nur langsam.
Sind die Augen aufgesperrt? Rundum ist nur Dunkelheit, schwarz und überall. Kein einziger Lichtfunke weit und breit. Kein Geräusch ist zu hören, die Nase riecht nichts, die Augen erkennen nichts.
„Erwache!“
Ein Stöhnen, grelles Licht rundumher. Gestalten, riesig und schemenhaft, eingekreist, geblendet. Getuschel, man kann nichts verstehen, es ist zu undeutlich, der Ton verschwommen wie das Augenlicht.
„Erwache!“
Wer spricht da? Wovon spricht er?
Es ist zu viel, zu viele Geräusche, zu grell das Licht. Augen schließen, Ohren zuhalten.
Das Erwachen kommt ganz selbstverständlich.
Die Glieder schmerzen, die Augen beben in ihren Höhlen, in den Ohren dröhnt es. Der Körper bibbert, versucht, sich aufzurichten, die Hände fassen kalten Stein. Die Füße berühren den Boden. Auch er ist kühl, und glatt. Ein Schritt, dann ein weiterer, bis man läuft. Der Atem rast zu schnell, in der Brust sticht es.
Hinaus auf die Treppen. Über der Stille hängt die große Silberkugel, ganz nah, greifbar.
„Ein Reborn!“
Die Stimme klingt ruhig und klar, aber niemand da, der sie verursacht. Über einer der Stufen glänzt ein kleines Lichtlein, kaum mehr als ein Funke. Er tanzt und kreist und schwirrt, ein hypnotisierendes Leuchten, einschläfernd…
„Wach auf, mein Kind.“
Die Augen öffneten sich langsam und erblickten die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes. Seine Hand ruhte auf der Stirn, sie war warm und ruhig.
„Ist sein Bewusstsein erwacht?“, fragte eine zweite Stimme.
„Mein Kind“, sprach der Mann wieder und beugte sich hinab, ein langer Bart zierte sein Gesicht. „Kannst du mich hören?“
„Ja, Herr, ich höre Euch“, drang die Stimme zwischen den Lippen hervor. „Wer seid Ihr, Herr? Wo bin ich, Herr? Mein Kopf… er ist so leer und schmerzt…“
„Das vergeht mit der Zeit.“ Der Mann richtete sich wieder auf. „Fortan ist dein Name Lazarus. Hast du das verstanden?“
„Lazarus.“
„Nun ruh dich noch etwas aus, Lazarus“, sagte der Mann. „Du bist erst vor kurzem erwacht. Ruh dich aus, wir sehen uns dann später, zu jener Zeit erkläre ich dir alles.“
Lazarus nickte stumm. Bevor er die Augen wieder schloss, sah er einen weiteren Mann, der im Halbdunkel stand, zwischen hohen Säulen aus Stein. Er sah herüber, mit einem ausdruckslosen Blick, und wartete, dass der andere ihm hinaus folgte.
Sonnenlicht, das durch hohe Fenster fiel, weckte Lazarus wieder. Es glitt direkt auf sein Gesicht, er hob die Hände, ließ das Licht zwischen seinen Fingern hindurch gleiten. Die Haut war blass, fast schien es, das Licht würde sie durchdringen.
Schwerfällig richtete Lazarus seinen Oberkörper auf, streckte sich, seine Muskeln schrien. Er sah sich um, nahm alles wahr, jede der Säulen, den runden Steinaltar, auf dem er gelegen hatte. Der spiegelglatte Boden, der das Gewölbe über ihm reflektierte. Der Raum war nicht groß, kaum zehn Schritte benötigte Lazarus, um zur Tür zu schreiten.
Er trat hinaus auf einen kleinen Hof, der an einer langen Treppe endete. Die Anlage selbst lag auf einem Hügel und direkt vor ihm erstreckte sich die Stadt mit ihren unzähligen Häusern, die sich zwischen hohen Bergwänden versteckte. Die Wege, die Pflanzen, und genau daneben die Sonne auf ihrem Wolkenthron.
„Dein erster Blick auf Lucias Skyfall, nicht wahr?“
Lazarus wandte sich um und vor ihm stand ein Mann. Er kannte ihn nicht, hatte ihn zuvor nie gesehen, aber er sah ihn an wie einen lang verschollenen Freund. „Sky…fall“, nuschelte Lazarus.
„Die Stadt in den Wolken.“ Der Mann trat näher. Er war schlicht, sein Aussehen, sein Haar, seine Bewegungen. Nur seine Stimme hatte etwas Melodisches und in seinem Auge, das nicht von einer Augenklappe verborgen wurde, glomm ein Licht wie das der Sonne. „Dein neues Zuhause. Als Reborn.“
Da war es wieder, dieses Wort. Lazarus kannte es, er hatte es schon einmal gehört, in der Stille zwischen hier und gestern. Vor seinem Erwachen. Ihm war nicht klar, als was er erwacht war, aber es nannte sich Reborn.
„Komm mit mir, ich bringe dich zu Vozlar“, sagte der Mann und Lazarus folgte ihm zu einem hohen Gebäude, das sich zur Mitte der langen Treppe befand. „Er wird dir alles Weitere erklären.“
In dem Gebäude war es kühl und die Schritte hallten von den Wänden wider. Direkt unter der kleinen Kuppel stand der bärtige Mann, der Lazarus erweckt hatte, zusammen mit einer Frau.
Was Lazarus erst in dem Moment auffiel, waren die Flügel. Sowohl der Bärtige, als auch die Frau hatten sie, trugen sie majestätisch auf ihrem Rücken, raschelnd bei jeder Bewegung.
„Lazarus, du bist wach“, sagte der Bärtige. „Und… Vales! Du bist wieder in Skyfall? Seit wann bist du zurück?“
„Gerade erst angekommen“, sagte der Mann an Lazarus‘ Seite, der einzige der drei, der keine Flügel hatte. „Vozlar, ich wusste gar nicht, dass ihr die neuen Reborn einfach so rumlaufen lasst.“
„Deswegen ist Galatea hier“, erwiderte Vozlar und holte die Frau heran, deren goldenes Haar über ihre Schultern wallte. „Galatea, dies ist Lazarus. Ich übergebe ihm deinem Haus.“
„Sehr wohl, Vozlar.“ Sie lächelte Lazarus zu. „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Lazarus, und willkommen im Hause Lucis.“
Anstatt etwas zu sagen, nickte Lazarus nur.
Wieder wandte sich Vozlar an ihn: „Lazarus, Galatea ist eine der Oberen, das heißt, sie nimmt die neuen Reborn bei sich auf. Wie du einer bist. Du wirst von nun an bei ihr wohnen, unter anderen Reborn. Sie wird dir alles Nötige erklären, was du wissen musst, um auf Skyfall zurecht zu kommen. Zumindest bis deine Ausbildung beginnt.“
„Ausbildung?“ Lazarus rauchte der Kopf von jedem Wort mehr.
„Deine Ausbildung zum Engel.“
„En… gel…“
„Val, was hältst du eigentlich davon, deinen alten Posten wieder zu beziehen?“, fragte Vozlar und Lazarus war froh, dass man das Gespräch von ihm fort lenkte. „Ich meine jetzt, wo du wieder hier bist.“
Vales zuckte zusammen und meinte: „Eigentlich bin ich nicht deswegen hier…“
„Komm schon, Val“, sagte nun Galatea. „Die Männer auf der Wacht sind doch ohne dich aufgeschmissen!“
Vales seufzte, sein Blick traf den von Lazarus. „Und wer kümmert sich um den Reborn?“, fragte er. „Vielleicht wäre es besser, ihm einen… Mentor zur Seite zu stellen.“
Die drei, die eine Mischung aus Fremden und Bekannten waren, sahen einander an. „Du etwa?“, fragte Galatea erstaunt. „Val, du hattest noch nie einen Schützling! Du hast doch in diesem Bereich keine Erfahrung… Und du kannst doch nicht… Nun…“
„Nicht fliegen, ja.“ Vales wirkte gereizt. „Und einige von den anderen Oberen können nicht denken.“
Lazarus grunzte und unterdrückte ein Lachen, obwohl er nicht wusste, warum ihm danach zumute war.
„Nun gut, wie du willst“, meinte Vozlar. „Nimm dich seiner an. Du weißt ja, was von einem Mentor erwartet wird.“
Vales schwieg, nickte und verließ die Halle.
„Galatea, ich überlasse dann dir den jungen Reborn“, sagte Vozlar seufzend und folgte ihm. „Ich erwarte, dass er sich schon bald gut einfindet in unsere Gesellschaft. Ach ja, und halte ihn aus allen Unannehmlichkeiten raus.“
Galatea hatte eine Art an sich, die es ihr ermöglichte, sich so federleicht, wie sie sich bewegte, einen Weg in Lazarus‘ Herz zu bahnen. Sie war freundlich, nahm ihn bei der Hand und führte ihn die lange Treppe hinab.
Die Dächer der Stadt kamen näher mit jeder Stufe, Schornsteine wanden sich in den Himmel. Jeder der Bewohner hatte Flügel, sie glitten mit ihnen durch die Straßen, die sich zwischen den Häusern hindurch wanden wie Schlangen. Kreuz und quer verliefen sie, mal aus Sand, dann wieder aus Stein, von einem großen Platz bis hin zur untersten Stufe der Treppe.
„Wir nennen sie die Himmelstreppe“, erklärte Galatea und beobachtete, wie Lazarus seinen Fuß auf den Stein der Straße setzte, sich umsah, taumelte, weil es so viel zu entdecken galt.-Die Stufen hinter ihnen wanden sich in den Himmel, verschwanden in Wolkenschwaden. „Komm, mein Haus steht in der Mitte der Stadt, am Sternenplatz.“
Auf dem Weg zwischen hohen Häusern hindurch kamen ihnen immer mehr Engel entgegen. Doch nicht nur, sondern auch andere. Wesen, die eine ebenso durchscheinende Haut hatten wie Lazarus. Aber schien keiner so jung zu sein wie er selbst, keiner so unerfahren. Jeder von ihnen ging seinen Aufgaben nach, zielstrebig und unbefangen.
„Keine Sorge, es gibt noch andere so wie dich.“ Galatea blieb stehen, wechselte ein Wort mit einem hochgewachsenen Engel und zeigte zu den anderen Reborn, die in einer kleinen Gruppe einige Meter entfernt dastanden. „Andere Reborn. Allerdings ist es lange her, seit der letzte das Licht unserer Welt entdeckte.“
Lazarus konnte seinen Blick nicht abwenden von den anderen. Bis auf die Tatsache, dass ihnen die Flügel fehlten, waren sie kaum von den Engeln um ihn herum zu unterscheiden. „Warum ich“, nuschelte Lazarus. „Warum wurde ich erweckt?“
Zum ersten Mal schien sich ein Schatten über Galateas Schönheit zu legen. „Ich bin nicht die richtige, um dir das zu erklären“, sagte sie knapp und ging weiter.
Es gab keine andere Möglichkeit als ihr zu folgen. Denn ohne sie hätte sich Lazarus im Werte eines Wimpernschlags verlaufen in den Massen und fremden Straßen, in den Gerüchen und Geräuschen verloren, die ihm so fremd waren. Die hundert Stimmen, die vorbeihuschenden Gesichter, der Duft, der aus einer offen stehenden Tür wehte…
„Erzählt mir etwas über den Ort, zu dem Ihr mich führt“, brach Lazarus das Schweigen und trat an den Rand eines kleinen, runden Platzes.
„Es gibt verschiedene Orte in dieser Stadt, die von höher gestellten Engeln geführt werden.“ Galatea deutete auf ein turmartiges Gebäude, an dessen Seite sie standen. „Dies ist einer von ihnen, eines der Gildenhäuser. Mein Haus ist das der Lucis, dies das Haus der Umbraster.
Aufgabe unserer Häuser ist es, die jungen Reborn aufzunehmen. Sie leben dann bei uns, lernen von uns alles, was sie wissen müssen. Wir sind für sie verantwortlich. Und stehen auch für alles gerade, was sie anstellen. Also sei bitte ein lieber Reborn, ja?“
„Wenn Ihr auf mich aufpasst“, sagte Lazarus und sah sie an, „wozu dann einen Mentor wie Vales?“
Galatea lächelte breit. „Sei froh, dass du ihn als Mentor bekommst, du wirst ihn brauchen.“
Lazarus begriff nicht, wozu der Aufwand diente, aber verstand zu wenig, um etwas erwidern zu können. Momentan war das einzige, was ihm eine Richtung gab, der Engel an seiner Seite, der er hinterher trotten konnte. Er konnte sich nicht vorstellen, je so eigenständig leben zu können wie die Reborn um ihn herum.
Nach einer ganzen Weile ging Galatea auf ein hohes Gebäude zu, dessen Fensterläden offen standen, über allem ein schützendes Dach und eine Pforte an der Vorderseite, wo ein stetiges Kommen und Gehen herrschte. Über dem Rahmen schwang ein Schild in einer Brise, auf dem in großen Buchstaben der Name LUCIS GALATEAE stand.
„Zero!“, rief Galatea plötzlich und winkte einen kleinen Jungen heran, mit dunklem Haar und blasser Haut.
Ein Reborn.
„Zero, ich möchte dir Lazarus vorstellen“, sagte der Engel und legte dem Jungen die Hand auf den Kopf. „Er gehört ab heute zu uns. Bei dir ist doch noch ein Bett frei, oder? Pass gut auf ihn auf.“
„Klar, versprochen!“ Der Junge grinste und sah neugierig zu Lazarus auf. „Hi! Ich zeig dir unser Zimmer!“
Energisch flitzte der Junge zur Tür und wartete, dass Lazarus ihm nachkam.
„Zero wird dein Zimmergenosse. Er wird dir alles zeigen, damit du dich bei uns zu Recht findest. Bis später.“
Schweigend folgte Lazarus dem Jungen in eine kleine Eingangshalle. Die Wände waren bestickt mit Porträts, die Engel zeigten, aber auch Reborn, namenlose Bewohner des Hauses Lucis, einstige Gildenführer. Eine Treppe führte hinauf ins Dach, Türen zweigten ab zu kleineren und größeren Hallen.
„Da geht’s zum Speisesaal“, meinte Zero und Lazarus erhaschte einen Blick auf eine lange Tafel, an der einige Reborn saßen und redeten. „Dahinter liegt die Küche. Hier geht’s rauf!“
Das obere Stockwerk bestand aus einem langen Flur mit vielen Türen. Einige standen offen und dahinter lagen die Zimmer der Reborn, die auf ihren Betten lagen oder lasen. Die meisten Räume waren leer.
Die hinterste Tür auf dem Flur stand offen und Zero flitzte hinein. „Das ist dein neues Zimmer!“, rief er stolz.
Lazarus trat ein und sah sich um. Zwei Betten, eines schlicht, das andere begraben unter Kleidungsstücken, Papier und Skizzen. Die Fenster waren weit geöffnet und ermöglichten einen freien Blick über die Dächer der Stadt, die bis zum Horizont zu reichen schienen. Das freie Bett war ganz weich und Lazarus ließ sich vorsichtig sinken, als fürchte er, es würde unter seinem Gewicht zerbrechen.
„So, du bist also der neue Reborn.“ Zero sah ihn an und sein Blick strotzte von Neugier. „Du bist der erste seit zwanzig Jahren. Ich frage mich, was die Oberen dazu bewegt hat, das Gesetz aufzuheben, neue Reborn zu erschaffen.“
„Wer sind die Oberen eigentlich?“, fragte Lazarus, der kaum begriff, was Zero ihm erzählt hatte.
„Die Oberen sind Engel“, erklärte Zero grinsend. „Sie haben in der Stadt das Sagen, befehligen die Irrlichter… Alle Gildenführer gehören ihnen an. Jeder, der nach seinem Dasein als Reborn zum Engel aufsteigt, wird einer von ihnen. Aber Galatea ist die hübscheste von ihnen.“
Er lachte verlegen.
„Was ist mit Vales“, fragte Lazarus und hob den Kopf. „Ist der auch einer?“
Zero machte ein langes Gesicht. „Über den dürfen wir nicht reden“, meinte er und warf sich auf sein Bett. „Mach dir keine Sorgen, mit der Zeit erfährst du alles. Immerhin hast du mich als deinen Zimmergenossen.“
Er lachte erneut.
Schon bald war Zero auf seinem Bett eingedöst. Lazarus sah ihm zu, wusste nicht, ob er würde schlafen können in all der Verwirrung, die ihn und seinen Körper noch umgab. Langsam ließ er sich in die Federn seines eigenen Bettes gleiten, unterdrückte ein Gähnen, das ihn überkam, und schloss die Augen.
Dunkelheit umfing ihn, aber etwas war anders an ihr. Sie war nicht mehr so endlos wie in seinem Schlaf. Wie vor seinem Erwachen. Er konnte sie beenden, wann immer ihm danach war, und das wandernden Licht der Sonnenstrahlen an der Zimmerdecke beobachten, von gold zu rot und zu violett.
In den späten Abendstunden, als der Mond am Himmel die Sonne ablöste, erwachte Zero aus seinem Schlaf. Erschrocken packte er Lazarus am Arm und zerrte ihn mit sich hinunter zum Speisesaal. „Wir verpassen noch das Essen!“
Lazarus merkte, dass sein Körper noch unerfahren war, er stolperte die Treppe hinunter, Zero hinterher. Zu schnell schwanden die einzelnen Holzstufen unter seinen Füßen davon, er ließ die eine und andere aus, übersprang sie, war mit einem Satz am Fuße angelangt, direkt neben dem anderen jungen Reborn.
Er japste, es stach ihm in der Brust und sein Atem ging schwer. „Was, schon aus der Puste?“, lachte Zero. „Ich erinnere mich noch an meinen ersten Kampf, danach war ich vielleicht kaputt!“
Lazarus fehlte die Luft in den Lungen, um weiter nachzufragen, und Zero zerrte ihn hinter sich her.
Der Speisesaal war gefüllt und alle starrten die beiden an, als sie den Raum betraten. An der Stirn der Tafel, deren Plätze von Reborn belegt waren, saß Galatea, zusammen mit zwei weiteren Engeln zu ihren Seiten. „Ihr seid spät“, sagte sie kühl.
„Sorry“, meinte Zero lachend und zog Lazarus hinter sich her zu zwei freien Plätzen in der Mitte des langen Tisches. „Wir haben verschlafen.
Hier, das musst du probieren!“
Er schob Lazarus einen Teller zu, der mit einer wohlig duftenden Pastete gefüllt war.
„Nun, wie ich gerade sagen wollte“, setzte Galatea an und wandte sich an die anwesenden Reborn, „zu unserem großen Glück haben wir heute endlich einen Neuzugang bekommen für unser stolzes Haus. Heißt Lazarus willkommen bei uns.“
Aller Blicke richteten sich auf Lazarus und er spürte, wie er zusammenzuckte unter ihnen. Vereinzelt erhob sich Getuschel unter den Reborn, einige deuteten auf ihn. Das Mädchen, das zu seiner linken saß, starrte ihn offen an.
Lazarus sah hinüber zu Galatea, die lächelte vor Stolz und das Misstrauen im Raum offenbar falsch deutete. Die Engel zu ihren Seiten, die mit Sicherheit zu den Oberen gehörten, schwiegen und warfen sich einen langen Blick zu.
Warum hatten sie so ein Interesse an ihm? Was war an ihm so besonders? Was wussten sie über ihn, was er nicht wusste? Bei allen Sternen am Himmel, er wusste doch selbst kaum wer, geschweige denn was er war.
Der folgende Tag kam ebenso strahlend und mit blauem Himmel wie der vorangegangene. Warm fiel das Licht ins Zimmer, breitete sich aus in jede Ecke.
Gähnend wachte Lazarus auf, streckte sich ausgiebig und blieb noch eine ganze Weile so liegen. Er konnte sich nicht erinnern, ob in diesem Leben oder in einem anderen, dass er je so tief und fest geschlafen hatte. Erholt fühlte er sich und um ein weites besser als noch am Tag zuvor. Die gesamte Verwirrung war fortgewischt und sein Kopf war glasklar, frei von Schmerzen.
Nach einiger Zeit wurde auch Zero wach. Es wurde schnell klar, dass er ein Morgenmuffel war, er grummelte nur vor sich hin und erst nach einem ausgiebigen Frühstück unten im Saal erwachten auch seine Lebensgeister von Neuem und er hüpfte vor Lazarus‘ Nase her wie ein junges Kaninchen.
„Ich zeig dir ein bisschen die Stadt!“, meinte der Junge und Lazarus folgte ihm, neugierig, was es alles auf den Straßen zu entdecken gab.
Die meisten Bewohner der Stadt hatten offenbar alle ihre Aufgaben zu erledigen, und die meisten warfen den beiden Reborn missbilligende Blicke zu, wenn sie an ihnen vorbeikamen.
Es machte Spaß mit Zero unterwegs zu sein. Er war ein munteres, lebendiges Kerlchen, ziemlich vorlaut vor den Händlern, die unter bunten Planen ihre Waren anboten, Dinge, von denen Lazarus keine Ahnung hatte, wozu es sie gab. Aber jeder schien den Jungen zu kennen und die meisten belächelten seine Scherze.
Als die Sonne im Zenit stand, hoch über den Dächern und Türmen der Stadt, machten die beiden eine Pause an einem kleinen Brunnen, der sich in einer Windung einer Steintreppe befand, die zwei Terrassen voneinander trennte.
„Ah, tut das gut!“, rief Zero lachend und schlug sich die Hände voller Wasser in sein Gesicht, bis es ganz rot war von dessen Kälte. „Die Stadt ist so riesig, ich weiß gar nicht, was ich dir als nächstes zeigen soll!“
Lazarus lächelte und betrachtete sein Spiegelbild im Wasser.
Es war das erste Mal, dass er sich selbst sah. Sein blasses Gesicht, die dunklen, glanzlosen Haare, die ihm ins Gesicht hingen. Das Hemd, das ihm vom Haus Lucis überlassen wurde. „Wenn du irgendetwas brauchst, lass es mich wissen“, hatte Galatea ihm am Morgen gesagt. „Sonst frag die anderen Reborn im Haus, sie werden dir mit Sicherheit bei allen Dingen helfen.“
Heimlich warf Lazarus Zero einen Blick von der Seite zu, wie er so dasaß, ließ sich das Gesicht wärmen vom Licht der Sonne.
Wie war das möglich? Zero sah viel jünger aus als Lazarus, bestimmt fünf Jahre!
„Zero, sag mal, wie alt bist du?“
„Wie alt?“ Zero sah ihn an und machte ein langes Gesicht.
„Du meinst, wann ich zum Reborn wurde?“
„Nein, wie alt bist du.“
„Zwölf“, meinte Zero. „Bin ich schon, seit ich hier bin.“
„Du alterst also nicht?“
Zero versuchte, es ihm zu erklären: „Das ist schwer zu sagen… Weißt du, wir Reborn… Wir sind keine Menschen, aber Engel sind wir auch nicht. Einige von uns waren Menschen, bevor sie gestorben sind. Andere wurden als Reborn geboren, andere als kleine Kinder. Die altern auch normal.
Weißt du, ich war früher ein Mensch… Also bevor ich als Reborn erwachte. Ich habe Erinnerungen, an ein Leben, das nicht dieses ist. Andere Menschen, andere Orte. Andere… Dinge halt.“
„Also bist du gestorben?“
Zero zuckte die Achseln. „Das sagen die uns nicht“, meinte er und wirkte fast ein wenig gereizt. „Wenn sie es denn wissen… Ich hab Galatea mal gefragt, da wurde sie ganz böse und sagte, das dürfen wir nicht wissen. Das sei irgendwie nicht gut oder so.
Wie ist es mit dir? Hast du Erinnerungen?“
Lazarus dachte nach, sah in den Himmel, den Wolken beim Treiben zu. „Ich… weiß es nicht“, nuschelte er. „Ich erinnere mich nur an meinen Schlaf. Wenn ich Erinnerungen hatte, dann sind sie jetzt nicht mehr da. Alles, was in meinem Kopf ist, beginnt mit meiner Erweckung durch Vozlar.“
„Vielleicht warst du ja in deinem vorherigen Leben eine Kröte!“, lachte Zero, sprang auf und flitzte zum Ende der Gasse.
„Ich war bestimmt keine Kröte!“, sagte Lazarus empört und setzte ihm nach.
Zero war zwar klein, aber sehr viel schneller als Lazarus. Im Werte von drei Kreuzungen hatte er ihn abgehängt, untergetaucht in den Massen, die sich durch die Hauptstraßen der Stadt schoben.
„Zero!“, rief Lazarus außer Atem und blieb stehen, sah sich um. Er war in einer schmalen Gasse gelandet, kaum zwei Meter breit, links und rechts hohe Häuserwände aus Stein.
„ZERO!“, brüllte Lazarus.
Keine Antwort. Er war allein, in irgendeiner Gasse, irgendwo in einer Stadt, die er noch kaum kannte. Außer ihm war niemand zu sehen und die Geräusche der Massen schienen ganz weit weg.
„Hey, Reborn!
Lazarus erschrak und wirbelte herum. Doch vor ihm war niemand zu sehen.
„Reborn!“
„Wo… seid Ihr?“, fragte Lazarus verwirrt. Er hörte die Stimme, aber er war sich nicht sicher, ob sie real war.
„Oh, ‘tschuldige, ich vergesse manchmal, dass man uns bei Tag schlecht sehen kann.“
Es gab ein knisterndes Geräusch und direkt vor Lazarus wuchs ein Mann aus dem Boden, der bis auf ein Tuch um seine Hüften nur einen Umhang trug, der luftig seinen nackten Oberkörper bedeckte. Geschultert hatte er einen langen Stab, an dem eine Laterne baumelte. „Ich grüße dich, junger Reborn“, sagte der Fremde.
„Seid Ihr… so was wie ein Magier?“, war das einzige, was Lazarus zu sagen einfiel.
Der Fremde lachte amüsiert. Flügel hatte er keine, aber wie ein Reborn sah er auch nicht aus. „Nein, bin ich nicht“, meinte er grinsend und schwenkte seine Laterne. „Ich bin ein Irrlicht.“
„Was ist ein Irrlicht?“
„Solche wie ich“, erwiderte die Gestalt und wies Lazarus an, ihm zu folgen. „Wegweiser für jene, die vom rechten Weg abgekommen sind, und Irrführer für jene, die den rechten Weg nicht verdienen. Aber keine Sorge, von uns gibt es mehrere, nur sieht man uns nicht immer.
Galatea hat uns übrigens gerufen. Ich soll dich zurück bringen.“
„Also… seid ihr auch Boten?“, fragte Lazarus, fasziniert von dem blauen Licht der Laterne, die vor ihm hin und her schwankte bei jedem Schritt, den das Irrlicht tat. „Habt Ihr einen Namen?“
„Friars Lantern“, sagte das Irrlicht. „Boten, Briefträger, Laufburschen… Wir erledigen die kleinen Aufgaben für die Engel, für die Reborn zu ungeschickt oder schlichtweg zu langsam sind.
So, da wären wir.“ Das Irrlicht schwenkte seine Laterne um die nächste Ecke und Lazarus fand sich direkt neben dem Eingang seines Hauses wieder.
„Lazarus!“, rief eine vertraute Stimme und Galatea kam mit großen Schritten auf ihn zu. „Zero sagte, er hätte dich verloren, ich hatte schon das schlimmste befürchtet!
Ich danke dir, Irrlicht.“ Sie langte in die Tasche ihres Gewandes und hob mit beiden Händen etwas heraus, das zwischen ihren Fingern glänzte und schillerte. Das Irrlicht nahm es entgegen, ließ es verschwinden und verneigte sich knapp. „Ich habe Friars Lantern auf dich prägen lassen, Lazarus, damit er dich finden konnte.“
„Von heute an, immer, egal, wo du dich auch verläufst“, sagte das Irrlicht, es knisterte und in der nächsten Sekunde hatte es sich in ein kleines, glühendes Licht verwandelt, bläulich schillernd wie die Laterne, die es getragen hatte. „Pass auf deine Füße auf, Reborn, sie tragen uns manchmal an wunderliche Orte.“
Mit diesen Worten sirrte das Irrlicht davon, bis Lazarus es im Licht der Sonne nicht mehr sehen konnte.
„Lazarus, da ist jemand, der dich sprechen will“, sagte Reava.
Sie war eine der wenigen, die Zero als „weiblicher Reborn“ bezeichnete, sie war ernst und Lazarus hatte sie in den Tagen, die er bisher im Haus Lucis lebte, noch nie lächeln sehen.
„Aber wir sind beschäftigt!“ Zero starrte auf die Karten in seiner Hand, ohne den Blick zu heben. „Ich hab grade so ein gutes Blatt!“
„Glaub mir, Zero, das solltest auch du dir ansehen.“
Zero schnaubte beleidigt und folgte Lazarus die Treppe hinunter. Vor der Tür nach draußen hatte sich eine kleine Traube aus den Reborn des Hauses gebildet. Wildes Geschnatter erfüllte die Luft, Reava führte die anderen beiden hindurch und hinaus auf den Platz.
„Vales!“, rief Lazarus, als er den Mann erkannte, der vor der Tür auf ihn wartete. Es war merkwürdig, aber bei dem Anblick strahlte er über das ganze Gesicht.
„Wir fangen heute mit deinem Training an“, sagte Vales schroff und auf seinen Wink hin verabschiedete sich Lazarus von seinem gaffenden Zimmergenossen, um ihm zu folgen. „Kannst du kämpfen?“
„Was?“ Lazarus starrte den Rücken des Mannes an, dem er folgte, ohne dass dieser sich im Gehen zu ihm umwandte. „Wieso… Nein, ich glaube nicht…“
Der erste Halt war an einer schmalen Halle, die von einem Engel in silberner Rüstung bewacht wurde, der im Halbschatten saß. In der Halle war es kühl und das wenige Licht, das durch die hohen Fenster hereinfloss, spiegelte sich im Eisen zahlreicher Schwertklingen, brach sich in bronzenen Schilden und edlen Harnischen.
Waffen und Rüstungen, wohin man blickte.
Vales trat auf einen Schrank zu, öffnete die Türen und zog einen Speer hervor. „Hier“, rief er und warf ihn Lazarus zu.
Aus lauter Verwirrung griff Lazarus daneben und die Waffe fiel ihm klappernd vor die eigenen Füße. Die eiserne Spitze glitzerte im Licht, das Holz roch ganz frisch.
„Vielleicht etwas anderes“, murmelte Vales, nahm den Speer auf und legte ihn zurück.
„Habt Ihr auch… eine Waffe?“, fragte Lazarus.
Anstatt zu antworten, hob Vales die Hand über den Kopf und im Werte eines Wimpernschlags umgriffen seine Finger den Griff eines langen Schwertes. Es schmiegte sich nahezu an ihn, man sah, wie sie zusammengehörten. „Ein schönes Schwert“, hauchte Lazarus und betrachtete den Mann vor sich.
„Vielleicht wäre das eher was für dich.“ Vales ließ sein Schwert wieder verschwinden, trat an den Schrank heran und zog eines hervor, dessen silberne Klinge heller strahlte als der Mond.
Vorsichtig nahm Lazarus es an sich, strich mit der Hand die Schneide hinauf und hinunter. „Nimm sie“, sagte Vales, „das ist eine gute Klinge, sie wird dir treue Dienste erweisen. Sie ist aus Feuerstahl gefertigt, ein härteres Material wirst du im ganzen Himmel nicht finden.“
Es ging zu einem sandigen Platz, der zwischen hohen Bäumen verborgen war. Jenseits ihres grünen Kleides, das im Wind raschelte, schnitt sich ein Fluss durch den Stein und trennte die Stadt in zwei Teile. Das andere Ufer hatte Lazarus bisher nicht betreten, Zero hatte ihm erzählt, das ein großer Teil des Gebietes von einem einzigen Gebäude gefüllt war.
Der Akademie.
Vieles wusste Lazarus nicht von diesem Ort, außer, dass die Reborn dorthin gingen, ehe sie zu Engeln ernannt wurden.