Demons Dawn - Falk Hartmann - E-Book

Demons Dawn E-Book

Falk Hartmann

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Beschreibung

Buch 1 Nach dem Tod ihres Onkels wird Finia aus dem Leben gerissen, das sie bisher kannte. Was ihr Entführer Flake mit ihr vorhat und wieso auf einmal völlig fremde Mächte hinter ihr her sind, muss sie erst noch herausfinden.

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Seitenzahl: 199

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Wintertrauer

Kapitel 2: Auf der Jagd

Kapitel 3: Ferne Ziele

Kapitel 4: Die Taverne am Waldrand

Kapitel 5: Tatenlos

Kapitel 6: Der Sklavenwald

Kapitel 7: Die Tore von Lirna

Kapitel 8: Ein schuppiger Poet

Kapitel 9: Diskussion

Kapitel 10: Wilde Gefechte

Kapitel 11: Gesucht, gefunden, verloren

Kapitel 12: Der Weg nach Norden

Kapitel 13: Die Wegkreuzung

Kapitel 14: Die Bestimmung

Kapitel 15: Hilflos und allein

Kapitel 16: Macht haben, Macht verlieren

Kapitel 17: Vorbei

Kapitel 18: Sichere Grenzen

Kapitel 19: Die Waldläuferin

Kapitel 20: Das Blut von Zoeil-Dron

Kapitel 21: Fiebrige Schatten

Kapitel 22: Der Palast des Zwergenkönigs

Kapitel 23: Ein geheimes Treffen

Kapitel 24: Heimweh

Kapitel 25: Das Tal der Riesen

Kapitel 26: Der Tanzball

Kapitel 27: Der Wall von Taymath

Kapitel 28: Ins Nirgendwo

Kapitel 29: Ferne Lande

Kapitel 30: Die Stadt und ihr Turm

KAPITEL 1: WINTERTRAUER

Der kalte Wind des Mittags trieb Schneeflocken in das Gesicht von Finia Iraney, so zart, dass man sie mit kleinen Elfen hätte verwechseln können. Leise rieselten sie vom grauen Himmel herab und kamen erst auf dem gefrorenen Boden zumRuhen. Finia sah ihrem Treiben zu, ignorierte die Kälte. Wie lange sie vor der kleinen Kapelle des Dorfes saß, wusste sie nicht. Die niedrige Mauer, die den Friedhof umgab, war hart und ebenso kalt, aber das Mädchen störte sich nicht daran.

Wann ihre Mutter wohl kam, um sie von ihrem Platz abzuholen? Finia hatte ihr versprochen, solange zu warten, bis die Beerdigung ihres Onkels vorbei war. Draußen auf der Mauer, außerhalb der heiligen Hallen, in denen es wohl genauso kalt war wie auf der Mauer.

Es war unhöflich ihrem Onkel gegenüber, das wusste Finia. Das Schuldgefühl lauerte in ihr, wartend wie sie selbst.

Aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht in die Kapelle, wo das friedliche Gesicht ihres toten Onkels in einem schlichten Holzsarg lag. Wo nichts auf sie wartete, bis auf die vom Kummer erfüllten Gesichter der Dorfbewohner, die um Dracos Iraney trauerten und ihn auf seiner letzten Reise begleiten wollten.

Der Schmerz, ihren Onkel verloren zu haben, machte Finja ganz taub. Sie wollte weinen und schreien, durch das Dorf laufen. Überall hin.

Nur nicht in die Kapelle.

Solange Finia denken konnte, hatte sie keine Kapelle mehr betreten, seit sie vor Jahren bei ihrem ersten Gottesdienst singen sollte. Anstatt zu singen, hatte sie zu schreien angefangen, sie war ganz blass gewesen. Totenblass. War bewusstlos.

Seit diesem Ereignis, das niemand sich erklären konnte, mied Finia die Kapelle. Selbst für ihren Onkel konnte sie nicht über die Mauer springen, den kleinen Hügel hinauf laufen und das kümmerliche Gotteshaus betreten.

Es war das einzige Gebäude im Dorf, das aus Stein bestand, und der hohe Glockenturm ragte in den grauen Himmel. Das dichte Schneetreiben verdeckte seine Spitze und das Symbol der Sonne, das hoch oben thronte.

Finia fröstelte. Die Glocken läuteten und verkündeten das Ende des Trauergottesdienstes. Leer und merkwürdig hohl hallte es über das Dorf hinweg, über die leeren Häuschen, deren Bewohner aus der Kapelle traten, einen Sarg zwischen sich. Weiß wie der Schnee zu Finias Füßen wurde er über den Friedhof getragen, den die Mauer umgab. Unter fernem Wehklagen versammelten sich die Dorfbewohner im Osten und sahen, in schwarz gehüllt, dem Sarg zu, der mit seinen kümmerlichen Blumenkränzen in irgendeinem Loch verschwand. Man schaufelte ihn zu, noch während ein alter Mann eine Rede des Abschieds hielt.

Es war so ermüdend, der Menge zuzusehen, und Finia wandte ihnen den Rücken zu. In der Hoffnung, sie würden diese Trauer gleich mit begraben, die wie eine Seuche über dem stillen Acker lag.

Nach einer Weile zerstreute sich die Menge. Einige blieben noch am Grab stehen, andere kamen auf Finia und das schmiedeeiserne Tor zu, neben dem sie wartete. Eine der letzten war eine junge Frau. Wie all die anderen war sie ganz in schwarz gekleidet, einen Schleier vor ihrem von Tränen geröteten Gesicht. Langsamen Schrittes kam sie den Hügel herab auf Finia zu.

Clay Iraney hob erst kurz vor dem Tor des Friedhofs den Kopf. Unverändert saß ihre Tochter auf der Mauer, dort, wo sie sie zurückgelassen hatte, Schnee glitzerte in ihren langen, roten Haaren.

Diese roten Haare… Jedes Mal aufs Neue erinnerten sie Clay an ihren seit Jahren verschwundenen Mann. Jedes Mal aufs Neue an den Abend, an dem sie sich schlafen legten. Und jedes Mal aufs Neue an den Morgen, an dem die andere Bettseite neben ihr leer war.

Das war nun über vierzehn Jahre her.

„Mutter!“

Der Ruf ihrer Tochter riss Clay aus ihren Gedanken, die ihr erneut die Tränen in die Augen trieben. „Finia, da bist du ja“, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“

Ihre Tochter nahm sie bei der Hand, eiskalt war sie nach all der Zeit des Wartens, und zog ihre Mutter mit sich. Leere, vom Schnee nahezu eingemauerte Gassen zwischen ärmlichen Häusern hindurch.

Es war so schrecklich still im Dorf. Alle waren bei ihren Familien Zuhause und wärmten sich an einem herrlichen Feuer im Ofen, auf dem das Essen kochte. Clay sehnte sich bereits nach ihrem eigenen Haus, das am Ende der Gasse auftauchte. Von allen sah es am ärmlichsten aus, das Dach war erneut undicht. Gleich am nächsten Tag würde sie jemanden suchen gehen, der es reparieren konnte.

Zugleich fielen Clay die Töpfe auf dem Herd ein, in denen noch diese Kartoffelsuppe lauerte.

Die letzte Ernte war schlecht ausgefallen und so ziemlich das einzige, was sie sich noch leisten konnten, waren Kartoffeln. Das einzige, was die Raubritter auf ihren Streifzügen zurückgelassen hatten.

Der Weg zur Haustür war erneut völlig zugeschneit. Mühsam kämpfte sich Clay ihrer Tochter voraus durch die Schneemassen. Schwer lagen sie auf dem Dach und drohten, es zum Einsturz in die Knie zu zwingen. Sie begleiteten sie bis hinein in die Hütte und erschwerten es, die schiefe Tür zu öffnen und wieder zu schließen. Um den Großteil der Kälte draußen zu lassen.

Die Hütte bestand nur aus drei Zimmern: der Küche, in der noch etwas Glut im Ofen für Wärme sorgte, das kleine Zimmer, in dem Clay und Finia schliefen, und dem angrenzenden Stall, in dem nur noch ein Pferd übrig geblieben war.

Hungrig fiel Finia wenig später über die karge Kartoffelsuppe her, die Clay ihr auf den zerkratzten Esstisch stellte. Clay sah ihr zu, müde von der Trauer um Dracos, und wärmte ihre noch immer kalten Hände an dem Holzteller vor sich.

In der Kapelle war es noch kälter gewesen als draußen. Ihre Knie hatten gezittert, als Clay vor den Altar getreten war und hinab in Dracos’ Sarg geblickt hatte, den man dort für den Abschied aufgestellt hatte. Sie hatte hinab gesehen in sein bleiches und dennoch so ruhiges Gesicht, lächelnd, als träume er vom warmen Sonnenschein, der ihn wärmte.

Alle im Dorf waren gekommen. Alle. Alle, bis auf ihre eigene Tochter, die auf einer heißen Kartoffel herum kaute.

„Warum konntest du nicht wenigstens für Dracos in die Kapelle kommen?“, fragte Clay und konnte einen gewissen anklagenden Ton in ihrer Stimme nicht unterdrücken. „Er ist… Er war dein Onkel!“

Finia schwieg und ein Ausdruck von Trotz trat auf ihr Gesicht. Und der Bruder von Vater, schien dieser hinzuzufügen.

Clay löffelte an ihrer Suppe, die allmählich den Geschmack von altem Pergament angenommen hatte.

Dracos war der letzte gewesen, der ihr etwas von ihrem Mann hätte erzählen können. Sie erinnerte sich noch so deutlich an den Tag ihrer Hochzeit, als Dracos sein Trauzeuge gewesen war. Er hatte so glücklich neben seinem jüngeren Bruder gestanden, der mit vor Stolz geschwellter Brust wie ein Pfau dagestanden hatte, und dessen Gesicht mehr und mehr in Clays Erinnerungen verblasste und verschwand.

„Es wird schon dunkel.“ Clay erhob sich und räumte die geleerten Teller vom Tisch. „Kannst du noch das Pferd füttern? Er ist schon so alt und ich weiß nicht, ob er diesen Winter noch überlebt.“

Wie von einem Drachen gebissen, sprang Finia auf und huschte in den Stall.

Irgendwie spürte Clay, dass es in dieser Nacht ungewöhnlich kalt werden würde. Besorgt trat sie an eines der Fenster, die Fensterläden aus modrigen Holzlatten waren geschlossen, da das Glas schon lange gesprungen war. Durch die Ritzen der Latten spähte sie hinaus in die Dunkelheit der Nacht, die unbemerkt über das Dorf gekommen war wie ein schwarzer Schatten.

Das Dorf, in das Flake ritt, wirkte ausgestorben. In nur wenigen Häusern brannte noch Licht, auf den Gassen war niemand mehr unterwegs. Offenbar kümmerte sich niemand darum, dass sie frei vom Schnee waren, um sie passieren zu können.

„Faules Menschenpack“, knurrte Flake und trieb sein sich sträubendes Pferd auf die ersten Häuser zu, an einem halb verwitterten Holzschild stand der Name des Dorfes. „Elinas… Schon wieder… Die Einwohnerzahl ist auch schon wieder dreimal durchgestrichen worden. Die letzte war eine dreiundvierzig… Es wird stets mickriger…“

Flake ignorierte die schwarzen, vom Eis starren Bänder, mit denen man das Schild geschmückt hatte, und ritt im Schritttempo weiter. Hoch waren die Bauernhäuser nicht, klein und dicht an dicht gereiht. Fürchteten die Bewohner hier etwa die düsteren Schatten, die sonst an ihren Häuserwänden entlang huschen könnten? Flake lachte kurz auf bei diesem Gedanken.

Die Gasse endete direkt am Fuße eines Hügels. Dunkel ragte eine Kapelle auf seinem Haupt aus dem dunklen Schneegestöber hervor. Von ihrem Friedhof ging der Geruch des Todes aus, vermischt mit frischer, kalter Erde.

Flake warf dem Gotteshaus einen angewiderten Blick zu und scheuchte sein Pferd auf ein schmales Gasthaus zu. Er brachte das Tier in einen angrenzenden Stall, stieg aus dem Sattel und drückte die Zügel einem blondhaarigen Jüngling in die Hand, der eine Box ausmistete. „Kümmere dich um mein Pferd, Kleiner“, sagte Flake kurz und wandte sich dem Gasthaus zu.

Drinnen im Schankraum brannte noch Licht. Flake trat hinein und ließ den Blick über die schwarz gekleideten Bewohner wandern, der Großteil bestand aus Bauern. Sie alle waren ungewöhnlich still, das Feuer des Kamins knisterte.

„Guten Abend, Fremder“, sagte der Wirt, der am Tresen stand und einen Bierkrug schrubbte. „Zu so später Stunde noch draußen in der Kälte unterwegs -?“

„Habt Ihr ein Zimmer für mich frei, guter Mann?“, fuhr ihm Flake dazwischen. „Ich habe eine lange Reise hinter mir und will mich in Eurem Haus etwas ausruhen.“

Der Wirt stutzte und musterte ihn voller Verwunderung mit seinen Fischaugen. „Äh, ja, Herr“, stammelte er und deutete auf eine schmale Holztreppe neben dem Tresen. „Ja, oben müssten noch ein, zwei Zimmer frei sein. Kann ich Euch vielleicht etwas anbieten?“

Flake musterte die schweigsamen Bauern. „Ja“, antwortet er. „Informationen. Warum sind hier alle so trübsinnig und mundfaul?“

„Ich muss doch bitten, der Herr!“ Der Wirt seufzte. „Einer unserer engsten Freunde im Dorf ist vor ein paar Tagen verschieden. Heute war seine Beerdigung.“

„Oh. Tut mir leid“, sagte Flake trocken. „Wer war es denn?“

„Sein Name war Dracos“, sagte der Wirt. „Dracos Iraney.“

Iraney?!

„Er war so etwas wie das Oberhaupt unseres Dorfes“, redete der Wirt betrübt weiter, ohne zu bemerken, dass sein Krug längst sauber und Flakes Gesicht erstarrt war. „Er hat sich um alles gekümmert, Feiern organisiert, bei der Ernte geholfen. Zudem war er der fähigste Arzt in der Gegend! Es ist ein schwerer Verlust.“

„Leben noch Verwandte von ihm hier?“, hakte Flake nach, kein Interesse an dem Geplapper des Mannes. „Andere mit dem Namen Iraney?“

„Ja, schon“, gab der Wirt zu, ein bisschen überrascht. „Zum einen die Ehefrau seines Bruders, Clay, zum anderen deren Tochter Finia Iraney. Sie wohnen in einem Haus am anderen Ende des Dorfes.“

„Danke“, murmelte Flake, nahm den Zimmerschlüssel, den der Wirt ihm reichte, und wandte sich ab. „Gute Nacht.“

Ohne den Wirt noch eines Blickes zu würdigen, schritt Flake an den versammelten Trauernden vorbei und erklomm die Treppe. Mit jeder Stufe schlug sein Herz schneller. Offenbar hatte es sich gelohnt, hierher zu kommen, dachte Flake und grinste, das Pochen schmerzte schon fast vor Aufregung. „Vielleicht finde ich hier endlich, wonach ich schon so lange suche…“

KAPITEL 2: AUF DER JAGD

Ein kalter Luftzug weckte Iro. Draußen war es noch stockfinster und der Junge hatte keine Ahnung, ob es noch früh am Morgen oder bereits Mittag war. Grummelnd rieb er sich das Gesicht, das unter seiner Decke hervor lugte. Am liebsten wäre Iro noch liegen geblieben, tief eingerollt in seinem Strohsack, der ihm als Bett diente. Wäre die Decke nur nicht so kratzig gewesen…

Von nebenan tönte Geraschel und Gepolter in die kleine Schlafkammer. Pater Arturius suchte vermutlich wieder einmal seine Lesebrille, seine heiligen Bücher oder eines der Werke, die er für seine nächste Predigt nutzen konnte.

Iro gab es auf, unter seiner muffigen Decke Schlaf zu finden, und schlüpfte hastig in seine Hosen. Im Arbeitszimmer des Pastors herrschte ein heilloses Durcheinander. Bücher, die aus den Regalen gewissen worden waren, türmten sich gefährlich nahe am Feuer des Kamins zur Decke empor. Auf dem Pult des Pastors lag noch ein Teller mit Brot und Käse.

An einem noch zur Hälfte gefüllten Regal stand der Pastor, das schüttere Haar zerzaust, und blätterte fahrig in einem Buch umher. Iro ging auf ihn zu, schnappte sich das Brot und ignorierte, dass es schon seit dem letzten Abend ungerührt auf dem Teller gelegen hatte.

„Ah, Iro!“, begrüßte ihn Arturius und wandte kurz den Kopf nach ihm, die Lesebrille ließ seine Augen wie die eines Fisches aussehen. „Ich wollte gerade Marianne nach dir schicken, damit sie dich weckt. Clay Iraney war vor einer guten Stunde bei mir. Sie bat mich, dich zu ihr zu schicken. Ihr Dach ist schon wieder löchrig wie ein alter Käse…“

Iro musterte den Käse auf seinem Brot und schluckte den Rest hastig hinunter. „Ich mache mich gleich auf den Weg“, sagte er. „Ich wollte ohnehin kurz nach Finia sehen.“

„Sie war gestern nicht auf Dracos’ Beerdigung“, murmelte Arturius und vertiefte sich wieder in sein Buch. Es war nicht selten, dass man sich mit ihm unterhielt und er einfach ein Buch zückte, es las und zugleich über diverse Themen diskutierte. „Richte Clay noch einmal mein Beileid aus. Und vergiss deinen Mantel nicht!“

„Natürlich nicht!“, rief Iro und stapfte bereits die Stufen der Treppe hinunter zum Flur des Hauses. An der Tür hing sein dicker Mantel, den ihm Arturius geschenkt hatte, warf ihn sich über und huschte hinaus in den Schnee.

Arturius’ Häuschen stand auf dem Hügel der Kathedrale und hatte einen kleinen Innenhof, auf dem ein Brunnen stand. Marianne, die Magd des Pastors, war gerade dabei, Wasser zu schöpfen, und hob grüßend die Hand. Iro nickte und schlurfte durch den hohen Schnee über den Hof und den Hügel hinunter.

Das Dorf lag begraben unter einer fast einen halben Meter dicken Schicht aus kaltem Weiß und die Schneemassen erschwerten es Iro, voranzukommen. Frierend kam er am Gasthaus vorbei, an dem Stall, wo er am Abend zuvor das Pferd dieses Fremden versorgt hatte.

Er konnte sich gar nicht daran erinnern, wann zuletzt ein Reisender durch Elinas gekommen war.

Es war kaum jemand auf den zugeschneiten Gassen unterwegs. Nur Martell, der Schmied, kam Iro mürrisch entgegen. Er war einer der paar Leute im Dorf, die auch mal auf ihren Reisen etwas anderes von der kleinen Grafschaft Liriana sahen als das kümmerliche Dörfchen, in dem alle ihr Leben lang festsaßen.

Martell nickte Iro stumm zu und marschierte schweigend weiter, sein Mantel war viel zu eng für seine kräftigen Arme. Er war wohl wieder einmal auf dem Weg zu einem der Bauern, um deren Feldgeräte zu reparieren. Sie mussten in Takt sein für die Ernte und das Frühjahr war nah.

Das Haus von Finia und ihrer Mutter lag am Rand des Dorfes, ein paar Meter entfernt von dem nun leer stehenden Haus ihres Onkels.

Iro verzog das Gesicht. Er hatte Dracos Iraney gemocht, sogar sehr. Niemand in bestimmt ganz Liriana konnte so gute Geschichten von Drachen, Dämonen, Rittern und schlauen Räubern erzählen wie er. Gar oft hatten sich die Bewohner des Dorfes nachts in einer alten Scheune am anderen Dorfrand versammelt, um eine von Dracos’ wilden Geschichten zu hören.

Iros Lieblingsfigur in Dracos’ Geschichten war der legendäre Anführer einer Räuber-bande an der Grenze zu den anderen Reichen. Wenn er es genau nahm, sah der Räuber in seinen Vorstellungen genauso aus wie er selbst, mit blondem Haarschopf, geschmeidigen Bewegungen – und diesem gewissen Sinn für Gerechtigkeit.

Der kalte Schnee, der von einem nahen Dach in Iros Kragen fiel, riss ihn aus seinen wirren Gedanken, und er fand sich vor der Haustür der Iraney-Hütte wieder.

Iro trat ein. Clay Iraney stand am Herd und rührte in einem ausgebeulten Topf herum, ihre langen, blonden Haare im Nacken zusammengebunden. Trotz der Hitze, die der Herd im Raum verströmte, trug sie einen dicken Wollmantel um die Schultern.

Beim Knarren der Tür schreckte sie hoch. „Oh!“, rief sie aus und wandte sich zu ihm um. „Iro! Das ging aber schnell. Ich hoffe doch, Pater Arturius hat dich nicht extra geweckt?“

„Nein, nein“, lachte Iro. „Habt ihr schon Stroh hier, das ich für das Dach benutzen kann? Sonst gehe ich noch schnell los und hol welches.“

„Wir müssten noch ein paar Ballen übrig haben“, entgegnete Clay und deutete auf die Tür zum Stall. „Sie stehen in der vorderen, leeren Box. Die Leiter und alles andere müssten auch irgendwo sein…“

„Ich geh’s mal holen“, sagte Iro und huschte durch den Raum in den Stall.

Es war ein kleiner, angrenzender Raum, durch dessen Holzwände eiskalter Wind herein pfiff. Früher hatten in den drei Boxen Pferde gestanden, aber nun war nur noch ein altes, klappriges Tier übrig geblieben, eine fransige Decke auf dem knochigen Rücken. Finia fütterte es mit ein paar Äpfeln, die in einem Korb zu ihren Füßen lagen. Sie hob den Kopf, als Iro hinter sie trat, und wischte sich etwas getrocknetes Stroh aus den Haaren.

Iro hatte noch nie so glatte, rote Haare gesehen und er wusste auch von niemandem, der rote hatte. Sie umrahmten ihr blasses Gesicht, das sich bei seinem Anblick etwas entspannte. „Hallo Iro“, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln.

„Hallo“, nuschelte er schüchtern. „Arturius schickt mich. Ich soll euer Dach reparieren.“

Finia nickte und fütterte den Hengst weiter, der ihr die Äpfel gierig aus der dargebotenen Hand schleckte.

Ein Schweigen setzte ein, in dem Iro nicht wusste, wohin er blicken sollte, um nicht das Mädchen anzustarren. Er schritt in die angrenzende Box und schnappte sich einen der wenigen Strohballen. „Du warst gestern gar nicht auf der Beerdigung“, sagte er, zerrte sich den Ballen auf den Rücken und schleppte ihn durch die Tür nach draußen, wo er auch die lange Leiter aufstellen konnte. „Warum bist du nicht gekommen? Er war doch dein Onkel!“

„Du klingst schon wie meine Mutter, Iro“, meinte Finia unbekümmert „Dabei weißt du genau, dass ich Gotteshäuser nicht leiden kann.“

„Und in all den Jahren, die wir uns nun schon kennen, habe ich es nie ganz verstanden.“ Iro nahm sich einen Apfel und hielt ihn dem Hengst hin, der ihn gleich verschlang. „Irgendwann gehe ich fort von hier. Ich will die Welt sehen, so wie Dracos! Kommst du mit mir?“

„Ich kann nicht“, lehnte Finia ab und sah Iro direkt in die Augen, so offen, dass es ihm ganz unangenehm war. „Meine Mutter hat doch niemanden mehr außer mir. Was soll aus ihr werden, wenn ich einfach gehe? Dann ist sie doch ganz allein, jetzt wo auch mein Onkel tot ist.“

Es war erschreckend, wie ruhig sie über den Tod sprechen konnte, während ihn alle anderen fürchteten. „Und warum willst du gehen?“, fragte sie Iro.

Iro grunzte, klopfte die Flanke des Pferdes und meinte: „Was soll ich hier? Hier ist nichts, meine Eltern sind eh das ganze Jahr auf Reisen und irgendwann werden die Raubritter unser ruhiges Elinas auf einem ihrer Züge niederbrennen. Da möchte ich lieber nicht mehr hier sein.“

„Rede nicht so!“, rügte ihn Finia und schritt aufgebracht zur Tür. „Selbst wenn sie kommen, ich lasse es nicht zu, dass sie meine Heimat zerstören!“

Mit diesen aufgebrachten Worten verschwand sie durch die Tür und ließ Iro zurück. Geistesabwesend verfütterte er den letzten Apfel an den Hengst und machte sich mit einem Seufzer daran, auf das Dach zu klettern.

Finia lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand, der Schnee wehte ihr auf das Haar. Von der anderen Seite des Hauses hörte sie Iro, der neues Stroh auf dem Dach verteilte, um die Löcher darin zu stopfen.

Was wusste er schon… Er konnte einfach nicht begreifen, dass Elinas für Finia etwas Besonderes war. Eine Zuflucht vor den schrecklichen Dingen, die außerhalb der Höfe lagen. Diese Dinge, die Reiche auseinander rissen und Menschenleben forderten.

Elinas war der einzige Ort, an dem sich Finia ihrem Vater nahe fühlte. Wie sie war er hier geboren worden und hatte jahrzehntelang im Dorf gelebt. Bis zu dem Tag, an dem er spurlos verschwunden war.

Vor Jahren hatte Iro ihr den Vorschlag gemacht, in die Welt hinauszuziehen, um Tronas Iraney zu suchen. Alle außer ihnen glaubten, dass er längst gestorben war, weit weg von Elinas, auf irgendeinem Acker in fremder Erde verscharrt.

Finia rieb sich mit der kalten Hand über das Gesicht, das ganz feucht war von ihren Tränen. Sie vermisste ihren Vater so sehr, auch wenn er in ihren Gedanken nur noch ein Schatten ohne Gesicht war.

Reiß dich zusammen!, ermahnte sie sich selbst. Ihr Blick fiel auf den Holzeimer neben sich, in dem sonst Wasser war. Jetzt war er leer. Finia nahm ihn mit sich und machte sich auf den Weg zum Brunnen, der auf der anderen Seite des Dorfes lag.

Auf ihrem Weg merkte Finia gar nicht, dass es bereits dunkel wurde und das Schneetreiben dichter. Am Marktplatz, der am Fuße des Kathedralenhügels lag, herrschte bereits Nacht und in den Fenstern des Gasthauses und den anderen Gebäuden brannte Licht. Flackernd fiel es heraus auf die dunklen Straßen.

Finia fröstelte und beschleunigte ihre Schritte, der Eimer schlug ihr gegen die Beine. Niemand war in dieser kalten Nacht unterwegs, in der irgendetwas anderes war als sonst. Etwas lag in der Luft, das Finia zittern ließ.

Endlich tauchte vor Finia der schmale Brunnen auf. Eine knorrige Straßenlaterne ließ ihr Licht auf ihn und Finia herabfallen. Hastig zerrte Finia an dem Seil und hievte den Eimer des Brunnens herauf, japste unter dem Gewicht des gefrorenen Wassers. Schwappend füllte es ihren eigenen Eimer und lief Finia über die Hände.

So schnell es ihr die zusätzliche Last ermöglichte, hetzte Finia den schnellsten Weg zurück durch die finsteren Gassen. Das wenige Licht aus den Häusern ließ ihren Schatten zittrig vor ihr her tanzen.

In einer dunklen Gasse blieb Finia stehen. Vor ihr an der nächsten Ecke standen zwei düstere Gestalten im Halbschatten einer Straßenlaterne. Durch das dichte Schneetreiben waren sie kaum klar zu erkennen und einzig ihre silbrigen Umhänge stachen aus allem hervor.

Finia brauchte nicht lange zu überlegen, ob sie die beiden kannte. Sie kamen nicht aus Elinas und wohl auch nicht aus Liriana, ihre Stimmen waren gedämpft. „Ich glaube, niemand hat etwas bemerkt“, meinte der linke von ihnen und lachte hämisch auf. „Was für dumme Bauern… Merken nicht einmal, dass man einen von ihnen ermordet hat!“

Ermordet?

„Brüll noch weiter herum und sie werden es doch noch merken“, ermahnte ihn der rechte. „Dieser Dracos hat uns lang genug an der Nase herumgeführt!“

„Reg dich nicht auf“, sagte der andere wieder. „Wir haben ihn gewarnt… So oft haben wir ihn gewarnt, dass es ihm irgendwann schlecht bekommen wird, wenn er sich weiter in unsere Angelegenheiten einmischt…“

„Mit den Silberfüchsen ist halt nicht zu spaßen!“

„Du sagst es.“

Mit diesen Worten wandten sie sich um und ihre Blicke fielen auf Finia. Wie erstarrt stand sie da von dem, was sie mit angehört hatte.

Die Fremden starrten sie an. „Hey!“, rief einer von ihnen, Finia wusste nicht wer, ihre Gesichter lagen verborgen unter ihren Kapuzen. „Kleine, was suchst du so spät noch auf der Straße? Solltest du nicht längst Zuhause bei Mami und Papi sein?“

Er lachte.