DEATH DNA - Markus Heitz - E-Book

DEATH DNA E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

"Wer einen Fluss überquert, muss die eine Seite verlassen", heißt es auf Trauerkarten.
Aber was geschieht mit Menschen, die zwischen den ultimativen Ufern von Tod und Leben unentwegt wechseln?

Alex, der durch einen Unfall seine Beine und einen Arm einbüßte, meldet sich aus Verzweiflung bei dem geheimen Forschungsschiff "Cheiron". Für illegale Experimente zur Schmerzlinderung. Seine letzte Hoffnung.
Aber schon die Fahrt mit dem Zubringerboot wird zu einem Horrortrip für ihn und Probandin Lilou, die vor Jahren ihr Augenlicht verloren hat: Schreie, zuckende Leichensäcke und Unerklärliches inmitten eines Sturms lassen Alex und Lilou an ihrem Verstand zweifeln.
Und nicht nur das.
An Bord der "Cheiron" erfahren sie, dass die Forschungen einen gravierenden Haken haben: Um Fortschritte zu erzielen, müssen sie sterben. Wieder und wieder.
Noch dazu lösen die Experimente nicht immer steuerbare Kräfte aus. Dann häufen sich unheimliche Vor- und Todesfälle an Bord…
Bevor Lilou und Alex der Sache nachgehen können, wird die “Cheiron” durch Unbekannte aufgebracht. In letzter Sekunde gelingt es den beiden, an Land zu fliehen.
Doch für Lilou und Alex ist klar: Sie müssen das entführte Wissenschaftsteam sowie die Probanden finden und befreien. Ihr eigenes Überleben hängt davon ab.
Aber wie?
Zum Glück zeigen sich unerwartete Verbündete – kann man ihnen vertrauen?.
Derweil werden die fürchterlichen Death DNA Experimente in einem Fjord in Norwegen von den Entführern insgeheim fortgesetzt. Planlos. Brutal und rücksichtslos. Mit fatalen Folgen…

„Der Feuerteufel“ trifft auf „Flatliners“ & „Hollow Man“, „The Boys“ auf „Fantastic Four“ & „Mit allen Mitteln“.
Basierend auf einem realwissenschaftlichen Ansatz.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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KAPITEL 1

„Und schließlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht: dem Tod zu entrinnen.“

J. R. R. Tolkien (1892–1973)

Gegenwart, Sommer, Frankfurt (Oder)

„Machen Sie es ab! Machen Sie das scheiß Ding ab!“, schrie Alex und wippte in seinem Rollstuhl hektisch vor und zurück, als leide er unter einer besonders aggressiven Form von Hospitalismus. „Das brennt am Stumpf wie die Hölle!“

Jennifer, die Orthopädiemechanikerin mit der blonden Irokesenfrisur, kniete schräg vor dem fast gleichaltrigen jungen Mann und wechselte mit dem versierten Reha-Helfer Manuel einen flüchtigen Blick.

Keiner der beiden rührte sich.

Sie kannten Alex’ Reaktion zu Genüge und versuchten es mit Abwarten.

Mal wieder. „Ich hab gesagt: Weg damit!“ Mit seiner verbliebenen Hand riss er an den Befestigungsvorrichtungen, die am rechten Oberschenkelrest saßen, bis sich die Prothese vom bandagierten Stumpf löste.

Sogleich ließen das Feuer und das Nadelstichstakkato im empfindlichen Gewebe nach.

Erleichtert fiel er gegen die Lehne. Der Rollstuhl vibrierte unter dem Einschlag des massigen Körpers. „Die passt nicht.“

„Die passt perfekt“, widersprach Jennifer und nahm das künstliche Bein beinahe liebevoll an sich, während sie sich erhob. Der helle Iro der Zwanzigjährigen wackelte dabei leicht wie zum Protest gegen die Anschuldigung. Es hatte sie Stunden gekostet, den Beinersatz anzupassen, das wusste Alex. Sie deutete auf die Zahlenkolonnen und detaillierten Fotos seiner Extremitätenreste. „Ich hab alles ausgemessen. Genauestens.“

„Einen Scheiß passt die perfekt!“, stieß Alex aus und suchte Manuels Blick, um sich bei dem Mittfünfziger Beistand zu holen. Der stand neben der Orthopädiemechanikerin, die Hände gleichmütig in den Taschen der weißen Pflegerkleidung. Der Herzschlag beruhigte sich langsam, die Schmerzen verebbten. „Wäre der Stumpf sonst entzündet? Das liegt doch mit Sicherheit an den Anproben?“

„Er ist nicht entzündet, Herr Weller“, gab Manuel freundlich, aber bestimmt zurück, dessen Haarlook zwischen den 90ern und den 2000ern hängengeblieben war.

Alex sah ihm an, was er dachte: Auch wenn es tragisch war, wenn Menschen Anfang zwanzig Körperteile verloren, durften auch sie sich nicht alles herausnehmen. Manuel hatte dies als „unnötige Zickereien, die überwiegend von Frustration und Hilflosigkeit herrühren“ beschrieben. Diese Einstellung schien sich nicht geändert zu haben.

„Weder der Oberschenkel noch der linke Unterschenkel noch der rechte Unterarm sind entzündet“, betonte Manuel nachdrücklich. „Ich habe extra Ihre Krankenakte gesichtet. Alles ist perfekt verheilt. Und Ihre Blutwerte sind wie –“

„Soll das heißen, ich bilde mir die ganze Scheiße nur ein?“, brüllte Alex sogleich und rupfte an seinem dunklen AC/DC-Bandshirt herum. Die passenden schwarzen Shorts hatte er zur Anprobe hochgestreift. „Ich spür das doch! Der Anschluss ist zu eng. Und sitzt so schief wie ich in diesem fucking Rolli!“

„Herr Weller, bitte. Sie sind doch im Zuge der Behandlung über Phantom- und Stumpfschmerzen …“, setzte Manuel in bewährtem Patientenberuhigungston an.

„Jaja, schon gut.“ Alex legte die linke Hand an den Joystick der Rollstuhlsteuerung, um raus aus dem Anpassungszimmer zu kommen. Ihr könnt mich beide mal. Er hatte die Schnauze voll. „Ich will ein anderes Modell“, rief er wütend. „Und zwar eins, das passt!“

„Die haben alle gepasst“, erwiderte Jennifer eingeschnappt. „Mehr kann ich Ihnen nicht bieten, Herr Weller.“

Alex bretterte hinaus aus der kleinen Werkstatt und auf den Gang der Rehaklinik Good Moves, in der er seit drei Wochen wohnte.

Oder, wie er sagte, sein nutzloses Dasein fristete.

Knapp verfehlte er ein stehendes Krankenbett, surrte am Essenswagen und zwei Pflegekräften vorbei und kurvte zum Fahrstuhl, vor dem zwei andere warteten.

„Aus dem Weg“, blaffte der Braunhaarige unterwegs in jedwede Richtung. „Ich muss scheißen. Weg. Zur Seite, ey! Ich kack euch zu, wenn das zu lange dauert.“ Er drängelte sich an den Wartenden vorbei in den Lift.

Dort hämmerte Alex auf die Taste für den 4. Stock und das Tür-schließen-Symbol, ohne noch jemanden einsteigen zu lassen.

Kaum hatten sich die Türen geschlossen, schrie er seinen Frust aus ganzer Lunge heraus und drosch mit der Linken mehrmals gegen die Kabinenwand, während die Fahrt endlich aufwärts ging.

Die Schmerzen in den Knöcheln und der Handwurzel ignorierte er, die neuerlichen Abschürfungen nahm er in Kauf.

Der Tag brachte ihm zu viele Rückschläge.

Wie der Tag zuvor.

Und die davor.

Es verlangte nach einem Ventil.

Das Rumpeln seiner Faustschläge hallte im Aufzug, dröhnte und krachte im Schacht – und katapultierte ihn gedanklich zurück in die Nacht vor einem Dreivierteljahr, als er mit knappen einhundertzwanzig Sachen auf seiner Hayabusa 1300 gegen einen Lastwagen geknallt war.

Der Zweiundvierzigtonner hatte den Zusammenstoß mit dem Supersportmotorrad gewonnen.

Alex Weller, zweiundzwanzig Jahre, nicht dumm, gutaussehend und durchtrainiert, flog dreißig Meter weit durch die Luft. Dann schlitterte er unter der Leitplanke hindurch, deren Bodenverankerung seinen rechten Unterarm, den linken Unterschenkel und sein rechtes Bein so schwer verletzte, dass man in der Unfallchirurgie keine Wahl gehabt hatte.

In seinem Nacken saßen seitdem Titannägel, die zwei angebrochene Wirbel zusammenhielten. Für alle Ewigkeiten.

Das Rumpeln seiner Hiebe im Fahrstuhl brachte vor Alex’ geistiges Auge die Eindrücke jenes Aufpralls, die er so gerne vergessen würde.

Die Kurve, die er seit zehn Jahren mit Leichtigkeit nahm;

den Lastwagen, der sie geschnitten hatte, um mit dem Doppelanhänger besser manövrieren zu können;

die Aufschrift FEINE BRENNSTOFFE ALLER ART, die sich unauslöschlich in sein Gedächtnis brannte;

die Geruchsmischung aus Gummiabrieb, Blut, rohem Fleisch, Holz und gemähtem Gras.

Ich will mein altes Leben zurück. Schluchzend sackte Alex im Rollstuhl zusammen. Meinen Arm und meine Beine zurück.

Der Fahrstuhl hielt an, die Türen glitten auf.

Alex benötigte mehrere Anläufe, bis er den elektrischen Rollstuhl ächzend und fluchend aus der Kabine manövriert hatte. Seine geschundene Hand tat weh, alte Schürfwunden waren aufgeplatzt und brannten.

Schweißnass rollte Alex ins Zimmer 4.2. Er riss das Fenster auf und ließ die warme Sommerluft rein.

Wütend auf alles und jeden starrte er gegen die Balkonbrüstung, die den Horizont auf seiner Augenhöhe durchschnitt: oben Himmel, unten grauer Beton, kein Übergang.

Halbiert. Wie ich mich fühle. Alex versuchte erst gar nicht, über den Rand zu schauen, um den herrlichen Wald zu betrachten, der die Rehaklinik umschloss. Zwei grüne Tannenwipfel, mehr gönnte ihm die Balustrade nicht.

„Herr Weller?“, erklang die Stimme von Doktorin Şahan sanft hinter ihm.

Er fuhr sich über das verschwitzte Gesicht und spürte die Reste von Tränen auf seinen Wangen, wischte sie in die kurzen Haare. „Sie haben nicht geklopft.“ Wann genau er geweint hatte, wusste er nicht. Es musste im Fahrstuhl passiert sein. Das Salz brannte in den offenen Hautstellen seiner Hand.

„Die Tür stand offen.“ Dr. Şahan kam näher, während Alex sich mit dem Rollstuhl zur Psychologin umdrehte. Sie hielt ein Klemmbrett in der Rechten, auf dem mehrere Blätter Papier hafteten. Lange, schwarze Locken fielen auf den weißen Kittel und die helle Bluse darunter. Sie war zweiundfünfzig und die unangefochtene Leiterin des Teams in Good Moves. „Ich habe schon gehört, dass die Anprobe keinen Erfolg brachte.“

„Sie war scheiße.“ Der Spiegel zeigte Alex in der ganzen Deutlichkeit, die er hasste. Ein dicklicher Rumpf in Shirt und Trainingsanzug, daran zu wenige Gliedmaßen und darauf ein sinnloser Kopf. Von seinem trainierten Körper war nichts mehr übrig. Die Muskeln waren unter dem Speck zusammen mit der Lebensfreude verschwunden. „So scheiße wie die zuvor.“

Dr. Şahan lächelte schwach und setzte sich auf das Bett, neben dem ein elektrischer Sitzlift stand. Sie roch schwach nach Rosen und Knoblauch. Immer.

„Ich habe die Maße der Prothese betrachtet. Sie sind perfekt auf Sie abgestimmt, Herr Weller. Es ist nicht Jennifers Schuld.“ Sie blickte ihn aus dunklen Augen auffordernd an, damit er sich erklärte. Das Klemmbrett landete neben ihr auf der Decke.

„Meine vielleicht?“, schnarrte Alex und deutete mit der Linken an sich herab, als stünde er in einem TV-Shoppingkanal zum Verkauf.

Jemand musste Schuld haben.

Der Lastwagenfahrer, die Kurve, die Straßenmeisterei wegen der Leitplanken, die Notfallchirurgen, die gegnerische Versicherung, die aufgrund seiner überhöhten Geschwindigkeit und dem THC im Blut nicht zahlen wollte.

Sie alle trugen Schuld.

„Wir sprachen doch bereits in den Therapiesitzungen darüber. Phantomschmerzen und Phantomgliedmaßen, Stumpfschmerzen. Überempfindlichkeit der Nervenenden“, tadelte Dr. Şahan. „Ich dachte, wir hätten Fortschritte gemacht, damit Sie mit den Prothesen …“ Sie stockte und suchte nach den passenden Worten, um die Zeitbombe Alex Weller nicht durch eine unbedachte Formulierung zur Explosion zu bringen.

Er schaute sie lauernd an. „… ein normales Leben führen?“

„Am Leben teilnehmen können“, wich Dr. Şahan aus.

„An welchem Leben?“, spie Alex aus. „Was soll ein Krüppel wie ich schon machen? Ich bin zweiundzwanzig und kann mit dem einen Arm nicht mal Kugelschreiber montieren. Fuck!“

Dr. Şahan behielt das Lächeln auf ihrem Gesicht. „Sie sind kein Krüppel, Herr Weller. Sie sind ein Versehrter.“

„Klar, man kann es freundlicher ausdrücken.“ Alex hob die Hand mit den Blutspuren an den Knöcheln. „Mir bleibt immer noch die Triangel. Die kann ich prima spielen. Und wenn ich sie am Rollstuhl befestige, rolle ich dabei über die Bühne. Mit Pyros dran. Am besten, ich verbrenne mich dabei selbst, als Teil der Show. Dann ist die Scheiße durch.“

„Ihre Band wird sich was einfallen lassen, um Sie mit auf Tour zu nehmen“, beschwichtigte Dr. Şahan. Als hätte die eine Ahnung!

„Als Schlagzeuger StickRa, der ich war, sicher nicht. Maskottchen Stickar, höchstens. Oder als Mitleidsmerchverkäufer.“ Alex wies auf den aufgeklappten Laptop, der auf dem Schreibtisch stand. „Gestern kam die Mail vom Management rein. Tha RawXtarZ gehen mit dem scheiß Studiodrummer auf Tour. Sie haben einen neuen StickRa. Mit zwei Beinen und zwei Armen. Ich bin raus.“

„Das stand so in der Nachricht?“ Dr. Şahan klang zweifelnd und ein wenig bemitleidend.

„Zwischen den Zeilen. Die Jungs sind nett zu mir, aber unser Manager hat mich abgeschrieben – wie die Plattenfirma. Da mache ich mir nichts vor.“ Alex atmete lange ein und aus. „Hauen Sie’s raus. Ich weiß, dass Sie gekommen sind, um mir wegen Jennifer und Manuel eine Standpauke zu halten.“

Dr. Şahan schürzte die schimmernden Lippen. „Nein.“

„Sondern? Und warum sonst Ihr betroffenes Gesicht?“

Sie nahm das Klemmbrett mit den vielen Blättern daraufhin von der Bettdecke. Ihrer Miene nach hasste sie, was sie ihm eröffnen musste. „Ich möchte Sie darauf vorbereiten, dass wir Sie morgen entlassen.“

„Aber …“

„Der Antrag auf Verlängerung der Reha wurde von Ihrer Krankenkasse nicht bewilligt, Herr Weller.“

Alles Rebellische, alles Trotzige fiel in Alex zusammen. „Wie stellen die dummen Arschlöcher sich das vor? Meine Prothesen passen nicht, und ich soll nach Hause? Fuck it! Ich dachte, eine Reha macht man so lange, bis man mit den beschissenen Dingern umgehen kann?“, tobte er und fühlte sich seltsam kraftlos dabei. Ein warmer Wind statt eines heißen Hurricanes.

„Es tut mir wirklich sehr leid. Sie haben das Maximum an Tagen erhalten. Mehr wird die Versicherung ohne eine Begutachtung durch den medizinischen Dienst und einen externen Vertrauensarzt wohl nicht zahlen, trotz meiner Berichte über Ihre Komplikationen.“ Dr. Şahan klappte die Blätter schnell hin und her, als eine nutzlose Geste ihrer Suche nach Alternativen. „Man ist der Meinung, dass Sie zuerst … ein Fall für die Psychologie und weniger für die Reha sind, Herr Weller.“

Alex fühlte Hilflosigkeit und Empörung zugleich. „Aber meine Wohnung ist noch nicht behindertengerecht umgebaut“, sagte er matt. Wieso machte man ihm das bisschen Dasein so schwer? Man stieß ihn hinaus in die Welt, ohne angemessene Vorbereitung. Ohne alles – und ohne Beine. „Wie … wie soll ich denn so zurechtkommen?“

Dr. Şahan blätterte weiter, weil ihr nichts Besseres einfiel. Das leise Geräusch des Papiers wirkte plötzlich beruhigend. „Herr Weller, morgen begleitet Sie zunächst eine Pflegekraft, die Sie für zwei Stunden –“

„Zwei Stunden?“, brach es aus Alex heraus. „Fuck. Ich bin am Arsch. Der Behördenkram überfordert mich jetzt schon.“ Sein Schwitzen nahm zu. „Und … es müssen noch eine Million Anträge gestellt werden, bei denen ich nicht weiß, wie.“

„Ich empfehle Ihnen, einen Fachanwalt und parallel einen Sozialverband zu kontaktieren. Die wissen, wie man rasch helfen kann. Bis die juristischen Mühlen in Schwung kommen, das dauert erfahrungsgemäß.“ Dr. Şahan sah ihn nachdenklich an.

Wollte sie ihn beschützen oder beflügeln? Alex wusste es nicht.

„Das tut mir leid, Herr Weller.“

„Scheiße“, murmelte er vor sich hin und rieb sich grob durch die Haare; sein rechter Armstumpf zuckte mit, als bewegte er die verschwundene Hand. „Das kostet alles Geld. So viel Geld! Das … Das hab ich doch nicht. Nicht mal mit Crowdfunding käme so eine Summe zusammen.“ Alex wendete seinen Rollstuhl und sah zum halbierten Horizont, wo die Sonne hinter dem Beton versank.

Vier Stockwerke bis zum Asphalt. Die Suizidgedanken, stets im Hintergrund lauernd, schlichen sich näher. Knappe zwölf Meter sollten reichen.

„Ich hätte noch einen Vorschlag, Herr Weller“, sprach Dr. Şahan zögerlich hinter ihm. Sie hatte sich fürs Beflügeln entschieden. „Ich war so frei, Ihre Berichte an einen befreundeten Kollegen zu schicken, der sich spezialisiert hat. Auf Problemfälle.“

Alex reagierte nicht gleich. Er ließ den Rollstuhl summend über die Rampe aus Legosteinen, deren Buntheit gute Laune bescheren sollte, auf den Balkon fahren.

Die Betonbrüstung hatte den Sonnenball schon verschluckt. Die zwei einsamen Wipfel ragten ein wenig darüber, wie ausgefranste Antennen, die keine Aufgabe mehr besaßen. Die übrige Welt blieb hinter dem tristen Beton verschwunden.

„Dieser Kollege diente lange Zeit bei der US-Armee in Kriegsgebieten und kennt sich mit Amputationen aus wie sonst keiner“, erklärte Dr. Şahan und fand mit jedem Wort hörbar mehr Mut, ihm den Vorschlag zu unterbreiten. „Er arbeitet mit Rückenmarksstimulation, Spiegeltherapie und Virtual Reality, medikamentös begleitet von Antidepressiva und Neuroleptika. Zusammen mit Biofeedback und Hypnose –“

„Ich habe kein Geld“, unterbrach Alex ihre Auflistung, die für ihn wie Blabla klang.

Er stellte sich vor, wie es wohl wäre, vier Stockwerke tief zu fallen und mit dem Aufschlag auf dem warmen Asphalt frei zu sein. Von Schmerzen. Von Demütigungen. Von Sorgen. Von dem beschissenen Leben, das er ab jetzt führte, bis an sein bitteres Ende. Dieses Ende ließe sich auch beschleunigen.

„Kann ich knicken“, betonte er.

„Mein Kollege bringt experimentelle Methoden zum Einsatz, die keine offizielle Zulassung haben“, fuhr Dr. Şahan vorsichtig fort. Ffffrt, machten die Blätter auf ihrem Klemmbrett, als sie mit den gepflegten Fingern darüber rieb, sie aufbog und abwärts gleiten ließ. „Es ist ein Geben und Nehmen. Verstehen Sie?“

Ffffrt, ffffrt.

Alex horchte auf. „Sie wollen sagen, ich wäre ein Versuchskaninchen?“

„Seine Ergebnisse sind beeindruckend“, sprach sie weiter. „Er ist immer auf der Suche nach Probanden mit Komplikationen. Es wird Sie keinen Cent kosten, Herr Weller. Er kann Ihnen helfen, die … Schmerzen in den Stümpfen loszuwerden. Damit ließen sich endlich Prothesen tragen. Das wäre ein entscheidender Schritt für ein besseres Leben.“

Auf diese Weise formuliert, ließ sich dagegen nichts einwenden.

„Macht er auch etwas gegen die Phantomgliedmaßen?“ Alex rieb sich über den rechten Unterarmstumpf, der knapp unterhalb des Ellbogengelenks endete.

Manchmal fühlte er seinen kompletten Arm, konnte ihn bewegen, wollte mit den Fingern nach etwas greifen und sich mit der Hand abstützen – und fiel dann voll auf die Fresse. Nur weil er seinen Körper gelegentlich vollends spürte, bedeutete es nicht, dass er da war.

„Das gehört zur Therapie, ja.“

Alex hatte die Unsicherheit in Dr. Şahans Stimme am Anfang genau bemerkt. „Wie viele sind bei den Eingriffen und Therapien Ihres Freundes gestorben?“

„Sie haben eine Wahrscheinlichkeit von achtzig Prozent auf eine signifikante Verbesserung Ihres Zustands.“

Alex lachte laut auf. Natürlich musste sie es positiv formulieren. Dr. Şahan hatte eine Aufgabe, und diese umfasste das Wohlergehen ihrer Schutzbefohlenen, die ansonsten Opfer der tiefen Verzweiflung wurden.

Zwanzig Prozent Ausfallquote, resümierte er daraus für sich. Kein Wunder, dass es illegal war, was der ominöse Arzt tat. Entweder Alex verreckte bei der Behandlung – oder es wurde besser.

Erträglicher.

Befreiter.

So oder so, er betrachtete das Resultat als Gewinn. Auch wenn er starb.

„Scheiß drauf.“ Alex wendete den E-Rollstuhl wie einen elektrischen Bullen, ohne sich aus dem Sattel werfen zu lassen. „Ich bin dabei.“

***

KAPITEL 2

Gegenwart, Sommer, Nordsee, ca. 15 Seemeilen nordwestlich von Helgoland

Alex fuhr mit dem elektrischen Rollstuhl über das Deck des Versorgungsschiffs Seute Deern II, das sich durch die leichten Wellen der Nordsee schob. Gegen die Böen trug er einen schwarzen Hoodie von AC/DC und gleichfarbige Glanztrainingshosen.

Das Schwanken war hier oben kaum spürbar. Das Meer verhielt sich ruhig, auch wenn die Wolkenwand aus dem Westen etwas anderes für die kommenden Stunden verhieß. Der Wind hatte bereits aufgefrischt, ein Sturm stand ihnen bevor.

Alex hatte gehofft, an Bord des Forschungsschiffs Cheiron zu sein, bevor das Unwetter losbrach.

Ganz geheuer war ihm die Sache nicht. Doch das dauerhafte Gefühl, überhaupt gar nichts mehr im Leben verlieren zu können, überwog und dämpfte das Unwohlsein.

Als man Alex am Kai von Cuxhaven an Bord der Seute Deern II gebracht hatte, wurde er von Mik Kreysler empfangen.

Dieser stellte sich als Bordpsychologe der Cheiron vor und übernahm das Einchecken der medizinischen Passagiere.

Kreysler, ein leicht apathisch wirkender Mittvierziger mit Halbglatze und einem Hang zu schlechtsitzender, belangloser Kleidung, versprach ihm, dass sämtliche Fragen nach seiner Ankunft auf dem Schiff beantwortet werden würden. Aufgrund der Geheimhaltung sei das nicht eher möglich.

Außer Alex kämen zwei weitere Menschen in den Genuss der neuen Therapie- und Operationstechniken, deutete Kreysler an, ohne deren Namen zu nennen oder sie einander vorzustellen. Alex war überzeugt, dass der Bordpsychologe selbst psychologische Hilfe brauchte.

Nach einem halbstündigen Anamnesegespräch, bei dem die Berichte und Werte von Alex’ Krankenakte durchgegangen wurden, verschwand Kreysler unter Deck und ward fortan nicht mehr gesehen.

Zu seiner Erleichterung fühlte sich Alex nicht seekrank, obwohl das Versorgungsschiff spürbar über die allmählich wachsenden Wogen ritt. Er kurvte in seinem E-Rollstuhl um kleine und große Container, die Nachschub und Fracht für die Cheiron fassten – von Treibstoff über Nahrung bis hin zu medizinischem Gerät und Laborgütern.

Gelegentlich musste Alex Umwege nehmen, wenn dicke Kabel und Ketten das Weiterkommen für die Räder seines Gefährts verunmöglichten.

Dabei passierte er einen Matrosen, der eine Angel ins Meer hielt. Im Fangbottich lagen bereits mehrere tote Fische; sogar ein Aal, erschlagen und ausgeweidet. Zum Schutz vor Möwen befand sich ein durchsichtiger Deckel darüber.

An einer Lastenwinde hing kopfüber ein knapp vier Meter langer Hai, sehr schmaler Körper, kleine Brustflossen. Zusammen mit der spitzen Schnauze hatte er die perfekte hydrodynamische Struktur für die Jagd unter Wasser. Aus den Kiemen rann frisches Blut, die großen runden Augen schon blind.

„Ist ein Mako. Makrelenhai. Aus Versehen angelockt“, sagte der Matrose stolz, ohne die Angelschnur außer Acht zu lassen. In Vorbereitung auf den Sturm trug er Ölzeug und die obligatorische Schwimmweste. „Vorhin mit der Winde rausgezogen. Sind eher selten bei uns. Das wird eine leckere Fischsuppe. Gibt jede Menge Haisteaks. Kann dir eins abgeben, wenn du magst, Junge.“

Alex betrachtete das große Tier, wie es am Haken pendelte und sich dabei um die eigene Achse drehte. An der Oberseite zeigte die Färbung eine Mischung aus Grau und Blau, an den Seiten wurde sie heller, bis sie an der Bauchseite in Weiß überging. Die dreieckigen Zähne, die aus dem geöffneten Maul herausstanden, waren beeindruckend. „Nein, danke. Fisch ist nicht so meins.“

Mitleid schlich sich in die Augen des Anglers.

Alex hasste diesen bedauernden Blick. Weil er ihn täglich in seinem Elend, seinem Denken bestärkte, ein Krüppel zu sein. Ein Fleischbrocken auf Rädern.

Zwei Meter weiter stand eine dunkelhäutige Frau an der Reling, der Wind spielte mit ihren langen Haaren. Sie trug einen rosafarbenen Jogginganzug, rote Schirmmütze und eine Sonnenbrille. Blond, etwa in seinem Alter.

Alex richtete sich ein Stück auf, die Augen auf sie geheftet. Ist sie eine Patientin? Kein Crewmitglied der Seute Deern II würde so etwas tragen. Langsam fuhr er mit seinem Rollstuhl näher.

„Schöner Tag heute, was?“, sprach er auf Deutsch.

„Ja. Wird aber nicht lange so bleiben. Ich hoffe, wir sind auf der Cheiron, bevor der Sturm richtig losgeht“, antwortete sie mit einem französischen Akzent, ohne sich zu ihm zu drehen. Stattdessen stützte sie die Unterarme auf die Reling und machte einen Katzenbuckel, drückte den schlanken Rücken anschließend nach unten durch. „Ich bin so was von verspannt. Die lange Fahrt nach Cuxhaven, wissen Sie?“

„Dann sind Sie auch von Professor Katō aufgenommen worden! Cool. Ja, ich bin auch schon ein paar Stunden unterwegs. Aber was tut man nicht alles, um sich besser zu fühlen?“ Alex war zwiegespalten.

Einerseits freute er sich, eine Leidensgenossin gefunden zu haben, andererseits fürchtete er, dass sie erschrak, wenn sie ihn als Rumpf mit Kopf und einem Arm sah. Ihn, den Freak. Er wünschte, sie möge sich niemals umdrehen.

„Ich bin Alex. Sie sind aus Frankreich?“

„Mein Akzent hat mich wohl verraten. Ja, bin ich. Aus der Haute-Provence. Gréoux-les-Bains. Kleines Dorf in der Nähe von Aix-en-Provence.“

Das war die nächste Überraschung: Er kannte den Ort und die zugehörige Ritterburg.

„Tolle Gegend! Da bin ich früher mit dem Motorrad oft unterwegs gewesen.“ Die Erinnerung war ebenso schön wie schmerzhaft. Weil er keine Hayabusa mehr hatte – und hätte er sie noch, könnte er sie nicht steuern.

„Bon. Dann könnten wir Französisch sprechen! Mein Name ist Lilou Berkouch.“

„Lieber nicht. Meine Kenntnisse sind total eingerostet.“

„Gut, dann will ich Sie nicht quälen.“ Sie lachte hinreißend. „Wann fahren Sie wieder in die Haute-Provence? Ich beneide Sie, mit der Maschine durch meine Heimat cruisen zu können. Ehrlich!“

Alex glaubte, Lilou wolle ihn verarschen, ihn auflaufen und abblitzen lassen – und zwar auf die grausamste Weise. Schon bereute er, sie angesprochen zu haben.

„Sobald ich den E-Rolli in ein Motorrad umgebaut habe, klar“, sagte er im Versuch, seine Gefühle in einem Scherz zu bündeln.

Lilou drehte sich um. Ein ansprechendes Gesicht – übersät von zahlreichen Narben, die an Grenzen auf einer Landkarte erinnerten. Trotz ihres dunklen Teints war sie knallrot, was durch die wehenden blonden Haare noch mehr betont wurde.

„Merde! Das tut mir leid, Ihren Rollstuhl habe ich nicht gehört. Der Wind hat die Fahrgeräusche geschluckt.“ Lilou sprach über ihn hinweg und orientierte sich neu, in ihrer Stimme lag Scham. „Entschuldigen Sie vielmals. Es war nicht meine Absicht, Sie zu beleidigen.“

Sie ist blind! Alex wusste nicht, ob er heulen oder lachen sollte. „Oh, scheiße. Und ich habe nicht geschnallt, dass …“ Er beließ es bei seiner Andeutung. Dann entschied er sich für Gelächter. „Meine Fresse. Die Peinlichkeiten haben wir damit schon mal erledigt. Wie wäre es mit dem Du?“

Lilou stimmte in seine Heiterkeit ein und positionierte sich ihm gegenüber, eine Hand ließ sie am Geländer. „Angenommen.“ Ihre Rechte streckte sich ihm entgegen, die er mit der Linken ergriff. „Also ein Querschnittsgelähmter und eine Blinde.“

„Nicht ganz.“ Alex erklärte im Schnelldurchlauf, was ihm Leitplanken, Lastwagen und Unfallchirurgie genommen hatten. „Und du? Durch eine Glasscheibe gefallen? Völlig blind oder ein Rest von Sehkraft?“

„Völlig blind.“ Die junge Französin schnitt eine Grimasse. „Ich tappe von einem Fettnapf in den nächsten, n’est-ce pas?“

„Du kannst es ja nicht sehen, mach dir deswegen keinen Kopf.“ Alex fühlte sich bei ihr mit jedem Atemzug wohler. Was nicht zuletzt daran lag, dass sie ihn nicht sehen konnte. Niemals sehen würde. „Habe ich recht?“

„Mit was?“

„Glasscheibe?“ Ihm kam der Gedanke zu spät, dass es ihr unangenehm sein könnte, auf ihre Versehrtheit angesprochen zu werden. „Ich meine, du musst nicht antworten, nur wenn es dir nichts ausmacht! Fuck, daran hätte ich denken müssen. Sollte ich –“

„Nein. Das ist schon in Ordnung. Dann herrscht immerhin Gleichstand.“ Lilou versuchte sich an einem Lächeln, und die Narben auf ihrem Gesicht bewegten sich mit. Sie sah aus, als hätte Frankenstein mit dem talentiertesten Schönheitschirurg der Welt gemeinsam ein Antlitz erschaffen. „Ich war Physik- und Chemielehrerin an einem Lycée … Gymnasium. Zwei Schüler wollten mir einen harmlosen Streich spielen. Et voilà. Große Teile meines Gesichts und des Unterkiefers sind mit Titan neu aufgebaut worden.“ Sie berührte den Rahmen der Sonnenbrille. „Den Anblick erspare ich dir. Die Höhlen sind leer.“

„Phantomschmerzen?“

Lilou nickte, streifte einige blonde Strähnen hinters Ohr, die sich im Gestell und im Mundwinkel verfangen hatten. „Und Phantomaugen. Manchmal fühle ich sie, bewege sie, zwinkere und blinzele, obwohl da gar nichts mehr ist. Verrückt, oder?“

„Nein. Kenne ich. Von meinen Beinen und meinem Arm.“ Da sie als Lehrerin tätig war, musste Lilou älter sein als er selbst, doch sie wirkte nicht so.

Die Französin lächelte bitter. „Nicht mal Tränen habe ich mehr. Hat sich erledigt, die Kanäle sind für immer verschlossen. Ein Vorteil, würden manche wohl sagen.“

Alex fühlte sich plötzlich unfassbar mit ihr verbunden. Sie ist perfekt.

Sofort meldete sich sein Verstand und schalt ihn einen Narren.

Es war eine Sache, dass ihn Lilou nicht sah. Aber sie vermochte alles zu ertasten und zu erfassen, was er ihr nicht bieten konnte. Nicht mal einen verdammten Körper.

Durch die Seute Deern II ging ein Schlag, das Schiff krängte leicht zur Seite.

Gischt sprühte über die Bordwand, überschüttete die beiden Menschen mit einem kaltsalzigen Guss. Der vier Meter lange Makrelenhai pendelte heftiger an der Winde.

Lilou quietschte auf und lachte, Alex wischte sich die brennenden Tropfen aus seinen Augen.

Der Matrose fluchte und holte rasch seine Angel ein. „Gehen Sie beide besser zurück unter Deck. Der Sturm ist weiter draußen bereits im Gange, die Wellen werden nur höher. Wird bald ungemütlich hier oben.“ Er betrachtete zuerst die Französin, danach Alex mit diesem Blick, als wollte er ihnen sagen: für beschädigte Typen wie euch doppelt und dreifach.

Durch das Neigen des Schiffs war die Box mit den Fischen verrutscht, der Deckel hatte sich schon gelöst.

Ein armlanger Dorsch sprang aus der Kiste und zappelte mit schnappendem Maul an Deck.

Nervenreflexe blieben eine Weile nach dem Tod von Lebewesen erhalten, insofern dachte sich Alex zunächst nichts dabei.

Bis der komplette Inhalt der Box sich schlagartig regte und krümmte.

Alex wollte seinen Augen nicht trauen: Noch bevor der Matrose die Box geschlossen bekam, krochen, wanden und sprangen die Fische um ihn, Lilou und den Rollstuhl herum.

„Was ist das denn für eine Scheiße?“, rief er erschrocken.

Der ausgeweidete Dorsch biss in den Vorderreifen und ließ nicht mehr los. Alex spürte die Erschütterung über den Rahmen. Für einen toten Fisch hatte er erstaunlich viel Kraft. Und sie erlahmte nicht.

Der Matrose brüllte laut auf, als ein Thun seinen Unterarm schnappte und die Zähne hineinschlug. Er riss den Fisch umgehend ab, Fetzen von Kleidung und Armfleisch mit ihm, und warf ihn über die Bordwand.

„Was passiert denn gerade?“, fragte Lilou unsicher nach. „Habe ich das Zappeln von Fischen gehört?“

Alex konnte nicht antworten.

Seine Blicke blieben auf die Tiere gerichtet, ohne Innereien und mit eingeschlagenen Schädeln, die sich überaus lebendig verhielten. Teils schleiften sie noch das Gekröse hinter sich her, die blutigen Kiemen und Mäuler arbeiteten wie verrückt.

Der Matrose im Ölzeug fegte und trat die Kadaver mit dem Fuß durch einen Wasserausguss. „Zum Teufel mit euch!“, rief er und hielt sich die blutige Armbisswunde. „So eine Scheiße. Was ist in die gefahren?“ Er raffte die Angelausrüstung und die leere Kiste an sich. „Unter Deck“, knurrte er die beiden Passagiere an. „Das wird noch rauer.“

Ein Rumpeln erklang aus dem Inneren eines Frachtcontainers, keine drei Meter entfernt. Gleich darauf krachte etwas Schweres gegen die Stahlwand, in der sich eine Ausbuchtung bildete. Das gewölbte Material zeigte Risse, hielt jedoch stand.

„Und was ist das jetzt?“ Lilou tastete nach der Reling und krallte sich daran fest. „Hat sich irgendwo Ladung durch die Welle gelöst? Es klang so …“

Die Wogen schwappten heftiger gegen die Seute Deern II. Gischt stob in die Höhe und ging nieder auf die Menschen an Deck.

Spürbar änderte das Versorgungsschiff seinen Kurs. Der Motor orgelte, und schwarze Rauchwolken schossen aus den Auspuffrohren gen Himmel, der sich bedrohlich dunkel verfärbte.

„Nimm die Griffe des Rollis“, wies Alex seine neue Bekanntschaft an und führte ihre Rechte zum Rollstuhl. „Ich bringe dich rein.“

Der Matrose hastete vor ihnen übers Deck – als plötzlich der pendelnde Mako zuschnappte und seine Dreieckszähne in die Schulter des Mannes schlug. Sofort rüttelte er ihn mit dem Kopf hin und her, die Zähne sägten sich durch Haut, Fleisch und Knochen.

Wie eine Puppe wurde der robuste Matrose von dem Hai mit den toten Augen umhergeschleudert und über Bord geworfen.

Der Raubfisch hatte ein Loch aus der Schulter gebissen, kaute kopfüber und schlang den Happen hinab. Das Blut lief in Strömen aus Maul und Kiemen. Die Szene würde Alex für immer verfolgen.

Kurz darauf wich die Kraft aus dem Körper; die Kiefer öffneten sich und ließen zermatschte Fleischknochenbrocken auf das rotgefärbte Deck fallen.

„Was geschieht da?“, rief Lilou aufgeregt und furchtsam zugleich. „Was frisst da wen?“

Das glaubt mir keiner. Alex beschleunigte den elektrischen Rollstuhl, sodass Lilou hinter ihm stolpernd zu laufen begann, um die rettenden Griffe nicht loszulassen. Niemand. Gar niemand!

***

KAPITEL 3

„Nicht alles, was totgeschwiegen wird, lebt.“

Karl Kraus (1874–1936),

österr. Schriftsteller

Gegenwart, Sommer, Nordsee, ca. 16 Seemeilen nordwestlich von Helgoland

Die Seute Deern II senkte den Bug spürbar nach unten, geistesgegenwärtig arretierte Alex die Bremsen, sonst wäre er wie ein Geschoss quer durch die winzige Messe gerollt und gegen die Wand geknallt. „Fuck! Das war knapp.“

Das Unwetter hatte an Kraft gewonnen, die Nordsee schäumte und wogte wütend.

Er und Lilou waren die Einzigen. Die Essensausgabe hatte geschlossen. Lediglich ein paar Snacks standen noch zur Verfügung, um den Hunger zu stillen.

Das reichte natürlich hinten und vorne nicht. Eine offene Coladose klemmte im Tisch in einer schwingenden Halterung und glich die Schiffsbewegungen aus, aber das letzte Schokoküchlein rutschte über die glatte Oberfläche davon.

In letzter Sekunde schnellte Lilous freie Hand nach vorne und fing das Gebäckstück auf. Sie hatte das leise Schleifen gehört; in der Linken hielt sie eine Spucktüte.

„Wie kannst du bei dem Seegang essen?“, sprach sie angestrengt und bemüht, sich nicht direkt zu übergeben.

„Mit dem Mund.“ Alex grinste und nahm ihr das Küchlein ab, um genussvoll hineinzubeißen.

Die Seute Deern II richtete sich mit dem nächsten Wogenkamm auf, sodass er an die Lehne seines Rollstuhls gepresst wurde. Die Zentrifugalkräfte machten das Essen so schwer wie bei einer Achterbahnfahrt.

Alex verschmierte sich die Mundwinkel mit Schokocreme und verschluckte sich fast an dem Bissen. Erneut war er froh, dass die Französin nichts sah – und empfand leichte Schuldgefühle bei dem Gedanken.

„Wir hätten in den Kabinen bleiben sollen.“ Lilou stieß leise auf, was ganz niedlich klang, und klammerte sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. Die Kotztüte wurde zerknautscht. „Ich werde auf dem Rückweg über meine eigenen Füße fallen und mir den Hals brechen.“

Alex hätte gerne angeboten, vorauszufahren und sie zu leiten, wie er es vor zwei Stunden getan hatte. Doch der heftige Seegang würde ihn auf dem Weg aus dem Rollstuhl schütteln, und das wollte er ihr nicht gestehen.

Faktisch saßen sie in der Messe fest. Auch das wollte er ihr nicht sagen.

Der Krüppel und die Blinde. Das perfekte Paar, aber nur bei schönem Wetter und idealer Umgebung.

Nach dem Zwischenfall an Deck mit den lebendigen toten Fischen hatte die Seute Deern II ihren Kurs geändert und war eine Stunde lang konzentrische Kreise gefahren, um den über Bord gegangenen Matrosen zu finden, bevor der Sturm an Kraft gewann.

Gefunden wurde allerdings nichts.

Nicht mal ein Kleidungsstück.

Der Verlust musste im Logbuch notiert werden. Die Stimmung an Bord sank tiefer als eine beschwerte Wasserleiche.

Während der Suche sprach Kreysler in bester Psychologenmanier mit Alex und Lilou, um zu ergründen, was da draußen passiert war.

Was da draußen wirklich passiert war.

Denn die Geschichte von den lebendigen toten Fischen und dem beißwütigen Makrelenhai fand weder beim Therapeuten noch beim Kapitän Anklang.

Da die Kameraaufzeichnungen keinerlei Aufschluss gaben und Alex als einziger Augenzeuge zurückblieb, bezweifelte jeder seinen Bericht. Kreysler vermutete eine nervöse Überspannung oder eine falsche Medikamentendosierung, die zu Sinnestäuschungen geführt haben musste. Bei beiden.

Als Alex merkte, dass er und Lilou knapp davor waren, den Stempel versehrt & verrückt in die Krankenakte gedrückt zu bekommen, revidierte er seine Aussagen und schwenkte auf die Lösung des Therapeuten ein. Man einigte sich schließlich darauf, dass der Hai nicht gänzlich tot gewesen sei.

Durch die Suche nach dem Crewmitglied hatte sich die Reise zur Cheiron verzögert. Die Seute Deern II steckte nun mitten im Sturm und kämpfte sich durch die wütende See.

Dem Kapitän zufolge sei die Windstärke keine Gefahr, sondern vielmehr ein Stresstest für die Verankerung von Containern und Fracht, der die Aufmerksamkeit der ganzen Mannschaft verlangte.

„Ich kann deine Gedanken hören“, sagte Lilou leidend, die Spucktüte weiter zur Hand.

„Ach ja? Und? Wie lauten sie?“

„Dass du nicht verstehst, was an Deck mit dem Mann geschehen ist“, sagte sie ihm auf den Kopf zu. „Ich verstehe es auch nicht. Was ich gehört habe, passt zu deiner Geschichte. Das macht die Ereignisse noch … unrealer.“

Alex setzte zu einer Erwiderung an, als eine brabbelnde Gestalt im Rhythmus der zornigen See in die Messe gewankt kam.

Sie entpuppte sich als älterer Mann im Pyjama und einem hellgrauen Morgenmantel, dem die schütteren, weiß-gelblichen Haare verstrubbelt um den Kopf standen. Hinter ihm schleiften ein Urinbeutel samt Katheter sowie zwei abgerissene Infusionsleitungen über den Boden.

„Wir bekommen Besuch“, sagte Alex verwundert. „Das wird wohl der dritte Patient sein.“

„Hab ich gehört. Und er spricht Spanisch.“

„Was sagt er?“

Lilou lauschte angestrengt. „Er will wissen, wo er ist und warum die Welt schwankt.“

Der Mann, der um die sechzig sein musste, blieb breitbeinig in dem kleinen Raum stehen und glich die Schwankungen der Seute Deern II mit seinem Körper aus, als wäre es das Einfachste der Welt. Mit aufgerissenen Augen sah er sich um, die Blicke wanderten über alles hinweg.

„Die Pupillen sind riesig“, verkündete Alex und fühlte Unwohlsein in sich aufsteigen. „Ich glaube, dem hat man Beruhigungsmittel reingepfiffen, die ihre Wirkung zu schnell verloren haben.“

„Siehst du ein Bordtelefon, mit dem wir den Kapitän oder Kreysler anrufen können?“ Lilou war bleich und hielt sich am Tisch fest. „Jemand muss kommen und den Mann abholen, bevor er stürzt und sich verletzt.“

„Das ist schwierig.“ Sobald Alex die Bremsen löste und auch nur versuchte, zum Telefon an der Wand zu gelangen, würde er aus dem Rollstuhl fallen und wie ein Wurm in der Messe umherrollen.

Doch dass der Mann einen Urinbeutel und die Infusionsleitungen hinter sich herzog, verschärfte die Situation. Von den Fingerspitzen des Neuankömmlings fielen vereinzelt Blutstropfen, die rote Flecken auf dem Fußboden hinterließen. Sie mussten von den gelegten Zugängen stammen, aus denen die Nadeln heraushingen. Die Ärmel des Morgenmantels färbten sich an den Armbeugen dunkel.

„Frag ihn, wer er ist und ob er auch Englisch spricht“, bat Alex.

Lilou musste aufpassen, um sich nicht mitten im Satz zu übergeben.

Der Mann nickte wie in Trance. „Ich bin Héctor. Warum schwankt die Welt?“

„Das ist ein Schiff, Héctor“, antwortete Lilou bedächtig. „Wir sind auf dem Weg zur Cheiron von Professor Katō. Es ist stürmisch. Was du spürst, sind die Wellen.“

„Wellen?“ Héctors Stimme klang zittrig, die Finger bebten und verteilten die Blutströpfchen um ihn, am Morgenmantel und am Pyjama. „Wieso schlägt die Erde Wellen?“

„Wir sind auf dem Meer“, betonte Lilou. „Nordsee.“

Seine faltige Stirn runzelte sich. „Wie komme ich denn aufs Meer? Ich hasse das Meer. Ich … ich fürchte das Meer!“ Langsam hob er die gespreizten Finger und betrachtete sie, sah das rinnende, flüssige Rot auf der Haut. „Ich … ich bin verletzt“, stammelte er entsetzt, und sein Blick klarte sich auf. „Ich blute! Dios mío! Das Meer hat mich geschnitten! Es will mich töten!“

Für Alex klang das nach einer schweren Psychose. „Ich glaube, Kreysler hatte ihn für die Überfahrt ruhiggestellt“, sagte er zu Lilou. „Das Sedativum hat zu früh seine Wirkung verloren.“

„Wo sind meine Freunde?“ Héctor bemerkte die Leitungen in seinen Armen und riss sie brüllend heraus. „Wieso hat das Meer das gemacht?! Was will es denn noch von mir?“ Das Blut rann schneller aus den frischen Wunden, die unter der Kleidung lagen. „Meine Freunde waren eben noch hier!“ Verzweifelt wimmerte er und brach wie ein Kind in Tränen aus.

Die Seute Deern II tauchte tief in die Wogen ein und schnellte wie ein Korken nach oben.

Die Einrichtung der Messe klirrte und schepperte, doch Héctor balancierte die Bewegungen gekonnt aus.

„Wir müssen ihm helfen“, sagte Lilou. „Kannst du ihn irgendwie zu uns an den Tisch lotsen? Wenn er sitzt, ist es für ihn sicherer.“

„Ich versuche, ob ich –“

Ein gellender Schrei unterbrach ihn und hallte aus dem Gang wider.

Lilou fuhr erschrocken zusammen. „Was … was war das?“

„Fuck. Das ist nicht gut“, raunte Alex. In dem Laut hatte der Tod gelegen.

„Wo sind meine Freunde?“, jammerte Héctor weiter. „Sie müssen mich vom Meer retten! Das Meer!“ Verzweifelt raufte er sich die weißgelben Haare, riss sie büschelweise vom Kopf. Als er die Strähnen zwischen den Fingern bemerkte, entfuhr ihm ein irres Kichern. „Das … das kann nicht sein. Nein, das kann niemals sein!“ Er warf das Haar angewidert von sich. „Das … das war das Meer!“

Eine Matrosin in einem grellgelben Wetteranzug stolperte in den Raum, brachte den Geruch von Meerwasser mit. Auf der Schwelle sackte sie zusammen und hob ein Funkgerät vors Gesicht.

„Ich habe Perez gefunden! Er ist nicht über Bord, sondern in der Messe“, gab sie stockend durch und versuchte, sich am Leergutregal in die Höhe zu ziehen. „Schnell! Ich weiß nicht, wie lange ich …“ Ihre Finger rutschten ab und sie fiel auf den Boden, wo sie regungslos liegen blieb.

„Was geht hier vor?“ Lilou drehte den Kopf und sondierte, um die Geräusche besser hören zu können.

„Ich weiß es nicht …“ Alex starrte auf die Blutlache, die sich um die Frau ausbreitete. In der Rückseite ihres Ölanzugs klaffte ein riesiges Loch, Fleischlappen hingen heraus und gaben den Blick auf die Wirbelsäule frei. „Ach du heilige Scheiße!“

Unvermittelt änderte sich das Verhalten der Seute Deern II. Sie begann sich um die eigene Achse zu drehen und unter dem Einschlag der Wellen heftig nach links und rechts zu kränken – alles, was nicht befestigt war, flog durch die Messe.

Nur Héctor glich die Schwankungen aus, als hätte er niemals etwas anderes getan. Dafür, dass er das Meer fürchtete, kannte er dessen Bewegungen ziemlich gut. Es hatte etwas Surreales, wie er sich vor und zurück lehnte, ohne ins Straucheln oder Rutschen zu kommen.

„Das ist nicht normal!“ Furchtsam quietschte Lilou und glitt unter den Tisch. Sie klammerte sich an den verschraubten Standfuß, während die Neigung zunehmend stärker wurde, bevor das Schiff zurückschnellte und sich in die andere Richtung bog. „Das Ruder muss gebrochen sein!“

Alex konnte nicht antworten. Er hatte zu viel damit zu tun, seine Balance zu halten, damit er im Rollstuhl blieb. Läge er auf dem Boden, wäre er schlichtweg verloren. Lilou würde ihm nicht helfen können, genauso wenig wie seine Stümpfe.

Ein weiterer Schrei gellte zu ihnen herein, dieses Mal deutlich näher.

Dumpfe Schläge dröhnten gegen die Wände, Metall hämmerte auf Metall.

Über den Gang hasteten Schritte, die auf die Messe zielten; klirrendes Glas mischte sich unter das Chaos.

---ENDE DER LESEPROBE---