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Was ist schlimmer? Gejagt zu werden oder niemals gefunden zu werden?
Heather Berriman, genannt Bird, ist eine Frau auf der Flucht. Gerade noch war sie in einer Besprechung in ihrem Büro in Birmingham – und in der nächsten Minute muss sie ihren Job, ihr Zuhause, ihr Leben hinter sich lassen. Es ist der Tag gekommen, mit dem sie gerechnet und auf den sie sich vorbereitet hatte. Aber nichts konnte sie auf das vorbereiten, was als Nächstes passieren würde.
Während Bird versucht herauszufinden, wer hinter ihr her ist, muss sie sich entscheiden, wem sie noch vertrauen kann.
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Seitenzahl: 518
Veröffentlichungsjahr: 2025
Louise Doughty
Deckname: Bird
Thriller
Aus dem Englischen von Astrid Arz
Herausgegeben von Thomas Wörtche
Suhrkamp
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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel A Bird in Winter bei Faber & Faber Ltd., London
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des suhrkamp taschenbuchs 5494.
Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025© Louise Doughty, 2023
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagfotos: Mark Owen/Trevillion Images (Frau im Wald), FinePic® (Kratzer)
eISBN 978-3-518-78238-5
www.suhrkamp.de
Für Ruby
(alias Jill Dawson)
für alles
Schnee ist ein eigenes weißes Wort;
Nicht Frost noch Eis
Sehnen Knospe oder Vogel fort
Um Winters Preis.
Isaac Rosenberg, On Receiving News of the War
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
1. Teil
1
2
3
4
5
6
7
8
2. Teil
9
10
11
12
13
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15
16
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18
19
20
3. Teil
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29
30
Danksagung
Zitatnachweis
Informationen zum Buch
Deckname: Bird
Und das Morgengrauen ist, meine ich, die Stunde, zu welcher der Paria ausgeht … Das ist die Stunde des Gesetzlosen, des Verfolgten, des Verdammten, denn kein Mensch, der je geboren, könnte umhin, draußen in der freien Natur, wenn gleich die Sonne aufgeht, wenigstens einen Schatten der Hoffnung zu verspüren.
Geoffrey Household: Einzelgänger, männlich(Deutsch von Michel Bodmer)
Die Wahrheit liegt im Auge der Betrachterin. Alaska. Erst wenn ich das Bild in seiner Gesamtheit betrachtet und alle Details entziffert habe, werde ich wissen, was wirklich geschehen ist: Ich werde wissen, was mich in die Flucht getrieben hat. Wenn ich nur lange genug das Bild betrachte, werde ich früher oder später darauf kommen.
Und dies ist das Bild.
Alaska ist ein Eckraum mit zwei Außenwänden und bodentiefen Fenstern, in dem es immer kalt ist. Daher der Name Alaska. Das Glas ist natürlich einseitig verspiegelt – von der Straße aus sieht man lediglich dunkelblaue Wandflächen. Mitten in Alaska steht ein großer ovaler Glastisch mit verchromten Beinen. Um den Tisch sind ein Dutzend Stühle gruppiert, auch verchromt, mit weißen Kunstlederpolstern. Außer Tisch und Stühlen gibt es weiter keine Möbel in dem Raum. Die Farbe der kahlen Wände ist vom denkbar hellsten Blassgrau.
Ich sitze mittig an einer der Tischseiten, mit dem Rücken zur Tür. Kieron, unser Chef, steht am hohen Fenster und blickt über die Dächer der Stadt hinweg. Unsere Gebäudeseite ist von der New Street und dem Bullring abgewandt, er sieht also über den Rathausparkplatz, die A38 und das neue Gewerbegebiet, in das sich unser kleiner Verein unauffällig einfügt. Der schwere Himmel über Birmingham ist wolkenverhangen, so dicke weiße Wolken, dass sie wie eine feste Materie aussehen, undurchdringlich.
Ich beobachte Kieron. Er steht mit dem Rücken zu mir, aber etwas diagonal – ich kann sein Gesicht im Halbprofil sehen und warte auf irgendeine Regung, vielleicht ein Zucken seines Kiefermuskels, das mir verrät, was er denkt oder fühlt, doch er verharrt reglos. Er hebt seine Kaffeetasse von der Untertasse, um sich einen Schluck zu genehmigen, doch sein Rumpf hält so still, dass es mir vorkommt, als würde sich sein Arm selbständig bewegen, als wäre er ein Zinnsoldat mit künstlichen Gelenken – gefühllos, roboterhaft. Mörder gibt es schließlich in den unterschiedlichsten Formen und Größen – mal tragen sie Uniform, mal cremeweiße Hemden.
Carmella sitzt mir gegenüber, mit dem Rücken zu Kieron, den Blick mit konzentriertem Gesichtsausdruck auf die Papiere vor ihr gesenkt. Am unteren Tischende sitzen James, Samuel und Kit auf einem Haufen wie Spatzen auf einem Ast. Schließlich sind sie noch Grünschnäbel, wohl keiner von ihnen über fünfunddreißig. Sie rücken gern zusammen, wenn es Probleme gibt: In der Gruppe fühlen sie sich sicherer.
Wir haben alle Kaffeetassen vor uns, und in der Tischmitte steht ein Teller mit Gebäck, noch unberührt, bis auf ein Croissant, das Carmella sich vor Kurzem genommen und wieder zurückgelegt hat, nachdem sie sich das abgerissene Ende in den Mund gesteckt und ein paar Blätterteigkrümel auf dem Tisch verteilt hat. Sie und ich haben uns immer bemüht, in Meetings verschiedener Meinung zu sein, ein Pakt, den wir am ersten Tag geschlossen haben, an dem wir zusammen Alaska betraten und sie sich zu mir vorbeugte und allen Ernstes flüsterte: »Achte drauf, dass wir einander nicht immer zustimmen, damit die Jungs nicht sagen, dass wir das Gespräch dominieren.« Ich weiß, dass es ein taktischer Fehler wäre, Carmella in die Augen zu sehen, wenn Kieron voll loslegt.
Genau jetzt würde ich aber wirklich gern ihren Blick abfangen. Ich möchte wissen, was sie von dem hält, was uns soeben verkündet wurde – doch sie starrt eisern auf ihre Unterlagen, obwohl wir doch alle wissen, dass die Papiere gerade unwichtig geworden sind. Den drei Jungs am Tischende bleibt offenbar die Luft weg. Wir alle sind sprachlos.
Während ich so dasitze und Kierons Ansage sacken lasse, geht er zum Tisch zurück und stellt seine Tasse mit Untertasse wieder auf die Glasplatte. Er wendet sich Carmella zu und legt ihr die linke Hand locker auf die Schulter, und in dem Moment – mehr war nicht drin, wie mir später aufgeht – richtet sie ihren Blick auf mich, wobei sie sich so angestrengt einen neutralen Gesichtsausdruck bewahrt, dass sie mir ihre Gedanken nicht deutlicher vermitteln könnte. Ich spüre, wie ich aufstehe, und währenddessen denke, vielmehr berechne ich Folgendes: Bis zu den Aufzügen sind es keine dreißig Schritte.
Mein Vater litt unter Schlafstörungen. Wenn ich nachts wach wurde, hörte ich ihn umhertapern – wir bewohnten ein bröckelndes altes Haus. Man konnte kaum einen Schritt tun, ohne dass eine Bodendiele knarzte. Ich weiß noch, wie ich eines Nachts aus dem Bett schlüpfte und auf den oberen Flur raustappte. Ich wusste, dass mein Vater irgendwo im Haus war, auf und ab ging, und verspürte den Wunsch, ihn zu trösten.
Damals muss ich wohl so um die fünf gewesen sein – meine kleinen Brüder waren noch Babys und schliefen in Kinderbettchen im Elternschlafzimmer. Ich blieb vor der offenen Tür stehen und spähte rein. Meine Mutter lag leise schnarchend auf dem Rücken. Die Bettchen der Kleinen standen nebeneinander unter dem Fenster. Ich konnte ihre Umrisse sehen, kleine Hügel wie Nacktschnecken, still. Die Vorhänge meiner Eltern waren dünn, und das Zimmer wurde vom Mond beschienen. Ihre blaue Tagesdecke aus Plüsch war zerwühlt und verrutscht. Meine Mutter lag halb frei, ein kräftiges Bein bloß und ihr Nachthemd bis zur Hüfte hochgerutscht. Wenn ich ein mutigeres Kind gewesen wäre, wäre ich an ihre Bettseite gegangen und hätte sie zugedeckt, aber ich zog mich von der Schwelle zurück und ging durch den Flur meinen Vater suchen. Ich war so klein, so leicht, dass die Bodendielen unter mir nicht knarzten.
Ich fand meinen Vater am anderen Ende des Flurs, seine Silhouette vor einem Fenster, das auf unseren weitläufigen, verwilderten Garten hinausging. Er rauchte und blickte auf den struppigen Rasen, die Hecke, die Felder dahinter. Unser Haus war das letzte in unserer Straße vor freiem Feld – Jahrhundertwende, hohe Schiebefenster, die winters in ihren Rahmen klapperten. 1940 hatte ein Bomben-Irrläufer den Rest der Straße weggefegt, der danach mit modernen Backstein-Doppelhäusern und Bungalows neu bebaut worden war. Unser Haus war als einziges Überbleibsel aus der Vorkriegszeit stehen geblieben, im wahrsten Sinne des Wortes freistehend.
Ich weiß noch, dass ich dachte: Er ist einsam.
Er drehte sich zu mir um, als ich näher kam. »Bird«, sagte er. Solange ich zurückdenken konnte, nannte er mich Bird, Vogel. »Wieso bist du nicht im Bett?«, fragte er zerstreut, als würde er eine Antwort weder wollen noch erwarten, wandte den Blick wieder Richtung Garten, hob das Kinn und legte den Kopf in den Nacken, um eine feine Rauchsäule Richtung Decke zu pusten.
Ich stand in meinem langen Baumwollnachthemd neben ihm, den Kopf an seine Hüfte geschmiegt. Er legte mir die linke Hand auf den Scheitel und strich mir übers Haar, mit festem Druck nach unten, als wäre ich eine Katze. So standen wir eine Weile da, mein Vater und ich, und verständigten uns ohne Worte.
»Was guckst du dir an?«, fragte ich schließlich.
Er neigte den Kopf zu mir runter und flüsterte: »Den Mond …«
Ich spähte aus dem Fenster in den Himmel. »Wo ist er?«, fragte ich. Aus meiner Perspektive war kein Mond in Sicht.
»Ach, der ist immer da, Bird«, erwiderte er. »Auch wenn man ihn nicht sehen kann, ist er doch immer da.« Seine Zigarette war heruntergebrannt, und er betrachtete die glühende Spitze zwischen seinen Fingern. »Der Mond folgt einem, wohin man auch geht. Mal ist er dick und rund, mal nur eine Sichel, und dann wieder kann man ihn wegen der Wolkendecke gar nicht sehen, aber er ist trotzdem da.« Bei ihm hörte sich der Mond wie ein Suchscheinwerfer an, dem man nie entkam.
Mein fünfjähriges Ich verstand noch nicht, dass die Gedanken und überhaupt das Leben meiner Eltern auch unabhängig von mir existierten, auch jenseits der Grenzen meiner Welt. Trotzdem begriff ich genug, um zu merken, dass mein Vater vor etwas dort draußen im Dunkeln Angst hatte – oder davor, dass etwas ans Licht kam.
Offenbar verstehen wir bis zum Alter von zwei Jahren nicht, dass unsere Eltern woanders weiterexistieren, wenn sie aus dem Zimmer gehen. Einem Baby kommt es so vor, als hätte sich die Bezugsperson, von der sein Leben abhängt, in Luft aufgelöst. Kein Wunder, dass Säuglinge ständig schreien. Das ist keine Unart, sondern existenzielle Verzweiflung.
Mit etwa acht Jahren ging mir auf, dass mein Vater ein Lügner war.
»Ich fahre nach Frankreich, Bird«, erklärte er eines Tages vollmundig, »soll ich dir etwas Käse mitbringen?«
»Ich hätte gern eine Puppe in Landestracht«, erwiderte ich in ernsthaftem, respektvollem Tonfall, der meiner Erfahrung nach am besten bei meinem Vater anschlug. Damals besaß ich ein Buch, ein großes bebildertes Buch nach der Art eines Kinderlexikons, das Landestrachten der Welt hieß. Ich konnte stundenlang auf dem Bauch auf meinem Bett liegen und es durchblättern, mir vorstellen, ich wäre Mila aus der Schweiz mit einer weißen Schürze mit rotem Kreuz vorne drauf oder Kakalina aus Hawaii mit einer Blumenkette (Kakalina hatte zwar ein schöneres Outfit, aber Mila einen Hund). Ich sehnte mich nach einer eigenen Sammlung, hatte mir schon ausgemalt, wie ich sie auf dem Regalbrett über meinem Bett aufstellen würde. Vorerst besaß ich bloß eine Holländerin mit Holzpantinen und steifen blonden Strohzöpfen.
Mein Vater lachte wie über einen Witz. »Mit einer Zwiebelkette um den Hals, Streifenshirt und Baskenmütze?«
Na ja, wenn sie das dort tragen …
Er war über drei Wochen fort. Als er wiederkam, wartete ich darauf, dass er eine Puppe aus dem Hut zauberte. Ich rechnete nicht gleich damit, als er zur Tür hereinkam – meine Brüder und meine Mutter waren auch noch da, und natürlich konnte er nicht jedem von uns ein Geschenk mitbringen, aber ich war doch immerhin sein Liebling …
Erst drei oder vier Tage nach seiner Rückkehr hatte ich an einem Sonntagvormittag Gelegenheit, ihn allein zu sprechen. Meine Mutter hatte meine frommen kleinen Brüder in die Kirche mitgenommen – mein Vater und ich waren beide Atheisten; das hatten wir so besprochen. Ich wartete, bis die Luft rein war, und ging dann zu ihm, wo er im vorderen Wohnzimmer saß, dem Raum, der früher der Salon gewesen wäre. Er hatte vor etwa einem Jahr mit Rauchen aufgehört, aber in diesem Teil des Hauses hielt sich immer noch eine leichte Grundnote von Zigarettenasche, und in meiner Erinnerung hatte das Licht aus dem Erkerfenster etwas leicht Dunstiges.
Er saß in seinem Lieblingssessel und las die Zeitung. Zu jener Zeit waren Zeitungen noch so groß, dass Männer in Sesseln sie hochhalten und dahinter verschwinden konnten – da stand ich also vor meinem Vater und redete mit der Zeitung. An dem Tag lautete die Schlagzeile ALDERMASTON MARSCH KURZ VOR LONDON, über einem Foto von Männern mit Mänteln und Hüten vor einer Menschenmenge, die Plakate und Transparente hochhielt.
»Dad«, setzte ich an, in einer Silbe ausgesprochen, dann nochmal zweisilbig: »Da-ad …«
»Ja-ha …«, murmelte er hinter seiner Zeitung.
»Wie war’s in Frankreich?« Ich wählte einen sanften Einstieg, indem ich Interesse an seiner Reise bekundete.
Er ließ die Zeitung sinken. Der Aldermaston-Marsch, was auch immer das sein mochte, sackte beim Ablegen auf seinem Schoß in sich zusammen. »Frankreich?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich.
Einen kurzen, aber verräterischen Moment lang setzte er eine verständnislose Miene auf. »Ach so, Frankreich, ja, Frankreich, ja, danke, Frankreich war großartig.« Er hielt die Zeitung wieder hoch und redete dahinter weiter. »Deine Mum kommt gleich wieder, Bird, sei ein braves Mädchen.«
Ich ging mit finsterer Miene aus dem Zimmer. Mein Vater ist ein Lügner. Er war überhaupt nicht in Frankreich. Es war meiner Erinnerung nach das erste, aber bei Weitem nicht das letzte Mal, dass er mich unterschätzte.
»Dein Vater ist im Krankenhaus.« Der Anruf meiner Mutter an einem Dienstagnachmittag war ungewöhnlich – normalerweise redeten wir sonntags miteinander. Ich war fünfunddreißig. Mein Vater sollte vor meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr sterben. Dein Vater ist im Krankenhaus. Später würde ich diesen Satz meiner Mutter etwas sonderbar finden, so als handelte es sich bei dem Mann im Krankenhaus in erster Linie um meinen Angehörigen. Vielleicht wollte sie mir zugestehen, dass es eine Sache war, seinen Mann zu verlieren, aber seinen Vater nochmal etwas ganz anderes. »Ich hab deine Brüder angerufen. Louis meint, dass er es morgen hierher schafft.«
Mein Vater hatte an dem Morgen einen Schlaganfall gehabt, fuhr sie fort, einen kleinen, nahmen sie an. Er hatte sich über den Mülleimer gebückt, und als er sich aufrichtete, hatte er geschwankt und sich mit einer Hand an der Küchenarbeitsplatte festgehalten. »Ich sehe auf einmal ganz verschwommen«, hatte er gesagt.
Sie half ihm auf einen Küchenstuhl, und sie hätten den Vorfall beide damit abgetan, dass er sich zu schnell aufgerichtet hatte, wäre ihr nicht aufgefallen, dass er den linken Fuß nachzog, als sie ihm auf den Stuhl half.
Das CT bestätigte später, dass es ein leichter Schlaganfall gewesen war – aber so verlief das oft: der Mini-Schlaganfall als Vorbote, als Schuss vor den Bug. Der große fällt einen hinterher, so auch bei meinem Vater.
Sie sagte mir, in welchem Krankenhaus er lag – ich kannte es nicht, aber als ich nachschaute, sah ich, dass es auf der richtigen Seite von Coventry lag, sodass ich von London hinfahren und mitten am Abend ankommen konnte.
Dann sagte sie etwas, das mich verwirrte: »Er liegt auf Station C3. Es ist die Psychiatrie.«
Erst auf der Fahrt zum Krankenhaus rief ich mir das ganze vergangene Jahr ins Gedächtnis und machte mir klar, wie stark mein Vater abgebaut und wie meine Mutter das vor mir verborgen hatte. Auf meine vielbeschäftige, abgelenkte Art hatte ich schon bemerkt, dass er bei meinen Besuchen oft geistesabwesend oder unaufmerksam war – manchmal schlief er im Sessel, dann wieder hieß es, er »ruht sich oben etwas aus«. Aber jetzt erinnerte ich mich an diese seltsame Leere in seinem Blick, wenn er mich bei der Begrüßung betrachtete, wie er mich minutenlang nur ansah, bis plötzlich etwas an mir – eine vertraute Geste oder Redewendung – seinem Gedächtnis auf die Sprünge half und er lächelnd sagte: »Bird! Wie geht’s dir?«
Das hier hat sich schon länger angebahnt, dachte ich, während ich auf den Krankenhausparkplatz einbog, auch wenn ich mir da noch nicht eindeutig sicher war, was das hier eigentlich bedeutete. Ich war noch nicht beunruhigt genug, um an die Tragweite zu denken. Während ich im Dunkeln über den Parkplatz ging, der schwarze Asphalt glänzend vom Regen, herrschte in meinem Kopf der Ärger darüber vor, dass meine Mutter mir nicht schon längst von der Verfassung meines Vaters berichtet hatte.
Ich hatte die beiden seit drei Monaten nicht mehr besucht und war nicht vorbereitet auf die Veränderungen, die ich jetzt an ihm wahrnahm: die unordentlichen Bartstoppeln, die eingefallenen Wangen, der argwöhnische Blick aus großen dunklen Augen. An seiner Zimmertür musste ich mich kurz sammeln, während meine Mutter vom Stuhl neben seinem Bett aufstand und sagte: »Setz dich ein wenig zu ihm, ich geh nur mal rasch zur Toilette.«
Ihr Gesicht wirkte abgespannt, und mich überkamen kurz Schuldgefühle – offensichtlich hatten sie es viel schwerer gehabt, als sie sich anmerken ließen, während ich so ganz in meiner Arbeit aufgegangen war, das Universum zu retten.
Mein Vater starrte reglos vor sich hin. Wenn die offenen Augen nicht gewesen wären, hätte ich gedacht, er würde schlafen. »Geh und hol dir einen Kaffee, ein Sandwich«, sagte ich zu ihr, den Blick noch auf ihn gerichtet. »Du kannst mich auf neuesten Stand bringen, wenn du wiederkommst.« Sie nickte, kam auf mich zu und drückte mich kurz, beide Handflächen an meinen Rücken gepresst, gleich viel Dankbarkeit und Zuneigung in der Umarmung.
»Ich komm bald wieder«, sagte sie leise und zog die Tür hinter sich zu.
Ich saß am Bett meines Vaters und nahm seine Hand, und er wandte mir den Kopf zu und sah mich aus wässrigen, nicht wiedererkennenden Augen an, ehe er sich wieder abwandte. Weil mich sein Blick aufgewühlt hatte, sah ich mir seine Hand an, die grünen Venenknoten unter der Haut, die langen dunklen Haare an jedem Finger. Ich sah, dass seine Fingernägel akkurat geschnitten waren, und wunderte mich, dass er noch die Geistesgegenwart dafür besessen, aber zugleich die Fähigkeit eingebüßt hatte, sich richtig zu rasieren. Ich dachte über seine Körperpflege nach, und weil ich noch nicht um ihn trauern konnte – dafür schien es noch zu früh zu sein, es kam mir ungehörig vor –, trauerte ich stattdessen seiner verlorenen Eitelkeit nach und allem, wofür das stand.
»Es ist so …« Seine Stimme klang erstaunlich klar und deutlich. »Es ist so …«, wiederholte er.
Ich sah ihn an, doch er erwiderte meinen Blick nicht, sondern sah vor sich hin. Er war wieder verstummt, als hätte er bereits gesagt, wie es war. Dann setzte er erneut an.
»Wenn sich D467 nicht binnen zwölf Stunden zurückmeldet, müssen wir alle unsere Leute in Kenntnis setzen.« Und, nach der nächsten Pause: »Bratislava.«
Meine Mutter würde nicht lange wegbleiben, das wusste ich. Mobilfunktelefone, wie wir damals dazu sagten, waren noch etwas Ungewöhnliches – komische Vorstellung jetzt, aber wenn man in der Öffentlichkeit eins hervorzog, fragten einen die Leute, wozu man so etwas besaß. Als ich aus dem Zimmer ging, sah ich mich auf dem Gang um, ehe ich meins aus der Handtasche nahm. Es war zehn Uhr abends und keiner da. Sie hatten Dad in das am weitesten von der Stationsleitung entfernte Krankenzimmer gelegt. Ich blickte den ganzen Flur entlang auf die lange Reihe immer kleiner werdender Wände und Türen. Die gelblichen Leuchtröhren an der Decke über mir summten leise. Davon abgesehen war da nichts, niemand, nur die grauen und eierschalenfarbenen Flächen eines leeren Krankenhausflurs.
Ich zögerte. Ich wusste, dass ich den Bereitschaftsdienst anrufen sollte, aber mein erster Impuls war, mich bei Richard Semple zu melden, dem ehemaligen Protegé meines Vaters. Ich fürchtete um die Verletzlichkeit meines Vaters und wollte, dass sich jemand, der ihn kannte und mochte, dieser Sache annahm. Aber dann hielt ich mich doch an das Protokoll, wählte, nannte den Code, gefolgt von meinen Identifikationsangaben, und erreichte eine diensthabende Beamtin. »Ich muss mit jemandem über meinen Vater sprechen, Robert Berriman«, sagte ich. »Er ist pensioniert und wurde vor Kurzem ins Newland Krankenhaus eingewiesen, ein paar Meilen südwestlich von Coventry. Er hatte einen Schlaganfall, aber ich nehme auch an, dass er im Demenz-Frühstadium ist, und er redet.«
Die Frau im Bereitschaftsdienst befragte mich nach weiteren Einzelheiten und sagte dann: »Bleiben Sie kurz dran.« Während sie meine Angaben ins System eingab, hörte ich ihre Tastatur klappern, Pause, weiterklappern.
Beim Warten blickte ich immer noch den Gang auf und ab. Hoffentlich dauerte es nicht lange – ich wollte nicht von meiner Mutter gesehen werden, wie ich vor dem Zimmer stand.
Wenig später meldete sich die Bereitschaftsbeamtin mit den Worten zurück: »Danke für Ihren Anruf, wir sind im Bilde.«
Nachdem ich aufgelegt hatte, blieb ich kurz auf dem grau-gelben Flur stehen, betrachtete ihn in voller leerer Länge, horchte auf das leise Summen der Neonröhren und ein rhythmisches Klicken. Eine kleine Motte war irgendwo da drin gefangen.
Als ich meine obligatorische psychologische Beurteilung für den Service absolvierte, war der Psychiater ein älterer weißer Herr mit Bart. »Stellen Sie sich vor, Sie zeigen mir ein typisches Familienfoto aus Ihrer Kindheit«, sagte er, »und beschreiben es mir: Wer ist drauf zu sehen, wer sitzt in welchem Verhältnis zu wem?«
Da sah ich uns als Familie vor mir, wie wir abends Fernsehen schauten. Wir hatten ein großes Schwarz-Weiß-Gerät in einer Mahagonischrankwand in der Zimmerecke. Auf diesem Bild drückte meine Mutter meine Brüder auf dem Sofa an sich, während die beiden sich gegenseitig wetteifernde Blicke zuwarfen; mein Vater saß mit konzentrierter Miene auf seinem Sessel. Immer mal wieder ärgerte er sich über die fehlerhafte Wortwahl eines Moderators oder einer Ansagerin und korrigierte die Betreffenden laut. Ich saß im Schneidersitz auf dem Teppichboden und stellte mich fernsehend, während ich aus den Augenwinkeln meinen Vater und die kleine zusammengeschweißte Einheit aus meiner Mutter und den Brüdern beobachtete. Klarsichtig, so dachte ich im späteren Leben an mich selbst zurück, eine, der nichts entging.
Auf diesem Bild waren Timothy und Louis etwa drei. Tim war drall und selbstzufrieden, ein robuster Brocken von einem Kind – schon damals war erkennbar, dass er mal gut in Sport und der Schrecken des Spielplatzes sein würde. Später im Leben ging er in die Versicherungsbranche und machte massenhaft Geld in einer obskuren Sparte, die mir ein ewiges Rätsel blieb, irgendwas mit Handelsschifffahrt. Er zog nach San Diego und heiratete eine Amerikanerin, die mich – mit dem zerstreuten Gebaren einer Person, die sich nicht richtig an meinen Namen erinnern konnte – immer nur Süße nannte. Louis war der Schwächling, dünner und blasser als Tim, hatte ein besonders enges Verhältnis zu unserer Mutter und war ein sehr, sehr stilles Kind. Über weite Teile seiner Kindheit gab es, im Sprachgebrauch jener Zeit, Sorgen, er wäre »ein bisschen zurückgeblieben«, aber getestet wurde er nie. Später zog er nach Madrid, um eine Linguistik-Professur anzutreten. Offenbar ist er eine ziemliche Koryphäe auf seinem Gebiet.
In dem Alter waren beide Zwillinge ganz verrückt nach unserer Mutter, klammerten sich an sie und konkurrierten um ihre Aufmerksamkeit. Wenn wir abends zusammen fernsahen – für gewöhnlich die Dokumentarfilme, auf denen mein Vater bestand –, kuschelten sie sich beidseitig in ihren Pyjamas an sie und wurden in die üppigen Täler ihres Oberkörpers und der weichen Oberarme gedrückt. Louis lutschte am Daumen, und Tim zwirbelte das Haar hinter seinem rechten Ohr um einen Finger. Dann zog sie sie fest an sich und verkündete fröhlich: »Wie gut, dass ich zwei Arme habe.«
»Wir waren eine sehr liebevolle Familie«, antwortete ich, »ich hatte eine behütete Kindheit, glücklich. Völlig normal.«
Der bärtige Doktor schwieg kurz und sagte dann leise: »Danach habe ich nicht gefragt.«
Einmal fragte ich meine Mutter, ob es ihr etwas ausgemacht habe, dass ihr Ehemann nie von seiner Arbeit erzählte, dass er immer mal wieder verschwand und es in unserem Haus still wurde. Damals war ich Anfang dreißig und ein knappes Jahr in dem Beruf – mir war schleierhaft, wie irgendwer, ob Mann oder Frau, ihn mit einem normalen Familienleben vereinbaren konnte. Ich war neugierig.
Für einen Samstag im März war es ungewöhnlich warm. Ich war am Vorabend angekommen und wollte bis Sonntagvormittag bleiben. Für mich war das immer noch ein »Nachhausekommen am Wochenende«. Dad hatte sich ein Jahr zuvor pensionieren lassen, mit sechzig, obwohl er natürlich schon vor zehn Jahren aus dem aktiven Dienst abgezogen worden war. Er hatte Glück, dass sie ihn noch ein weiteres Jahrzehnt in der Verwaltung unterbringen konnten, aber es war doch zu früh für ihn gewesen. Er war ruhelos, immer noch körperlich fit und stark, und verschwand weiterhin ganze Tage am Stück aus unklarer Ursache – manchmal fragte ich mich, ob er eine späte Affäre hatte, obwohl ich mir jetzt im Nachhinein sage, er konnte wohl einfach nur nicht von der Gewohnheit lassen. Geheimnisvoll sein macht schließlich süchtig – es stellt uns in den Mittelpunkt des Geschehens.
Mum sagte, er ginge jeden Tag auf einen langen Spaziergang, zu den Läden im Zentrum oder zum War Memorial Park, angeblich um in Form zu bleiben, aber ich vermute, dass er es einfach nicht den ganzen Tag zu Hause aushielt. Jetzt, im Nachhinein, macht es mich traurig. In unserer Branche bleibt man lebenslang, was man ist. Die Vorstellung, aufzuhören, musste sich für ihn wie eine Art Tod angefühlt haben, und all sein Verschwinden und Sich-körperlich-fit-Halten auf der Welt nichts weiter als Aufschieben – und wie sich herausstellen sollte, lag er damit natürlich richtig. Er konnte die Gewitterwolken am Horizont erahnen und fürchtete sich vor ihnen.
Er hatte sich entgegen den Einwänden meiner Mutter zu einem Spaziergang in die Stadt aufgemacht, etwas Tee in einer Thermoskanne und ein Stück Früchtekuchen in Butterbrotpapier eingesteckt – wir sollten nicht mit dem Mittagessen auf ihn warten. Ich freute mich insgeheim. Ich redete gern mit meinem Vater, und ich redete gern mit meiner Mutter, hatte aber ganz unterschiedliche Beziehungen zu beiden: Wir redeten über verschiedene Themen, verwendeten sogar andere Ausdrücke. Wenn wir alle zusammen waren, nahmen wir unsere Zuflucht zu Smalltalk, der Lingua franca einer jeden Familie.
Sein Aufbruch erinnerte mich daran, wie ich jedes Mal, wenn Dad aus dem Haus ging, damit gerechnet hatte, dass seine Erklärung dafür unwahr sein könnte.
Ich sprach das Thema beiläufig an, als meine Mutter uns am Samstag einen Sonntagsbraten auftischte, weil ich am nächsten Tag nach dem Frühstück losfahren musste. Nachdem wir darüber geredet hatten, dass Dad rausgegangen war, konnte ich ganz unverfänglich einwerfen: »Hat es dir je was ausgemacht, dass er viel unterwegs war, meine ich? Wegen seiner Arbeit.«
Meine Mutter kam aus einer Frauengeneration, der man antrainiert hatte, dass ihnen alles Mögliche nichts ausmachte – doch da gab es schon noch einen Unterschied zwischen sich unbeeindruckt geben und sich tatsächlich nichts draus machen. Wir haben schon so viel von dem vergessen, was für Frauen ihres Alters selbstverständlich war: mit der Heirat die eigene Berufstätigkeit aufgeben, weder einen eigenen Pass noch ein Bankkonto haben, keine Hypothek ausgestellt bekommen. Wie ähnlich Frauen damals aussehen sollten – Dauerwelle, Glockenröcke, Kopftücher – und wie einig sich die Männer waren, dass Frauen alle miteinander so oder so waren, allesamt eine homogene Masse, die den lieben langen Tag ein und dasselbe fühlte und dachte.
Zu jener Zeit ging es vielen ihrer Freundinnen schlechter als ihr. Ich erinnerte mich sehr gut an das vorstädtische Coventry der fünfziger und sechziger Jahre. Joy Kendall von gegenüber konnte samstags nicht aus dem Haus gehen, ohne dass ihr Mann mit angehobenem Unterarm im Erkerfenster stand, mit starrem Blick auf sein Handgelenk. Traf sie auch nur eine Minute später als ihre geschätzte Rückkehrzeit ein, stellte er sich in die Haustür, während sie die Straße raufkam, und man konnte von gegenüber hören, wie er sie anbrüllte. Mrs Carlton aus der Zweiundfünfzig hatte einen Mann, der mit der städtischen Bibliothekarin schlief. Meine Mutter musste bloß unauffällig sein und sich nicht beklagen – jedenfalls soweit ich es wusste.
Als ich sie also fragte: »Hat es dir nichts ausgemacht?«, und sie ihr übliches verträumtes Lächeln aufsetzte, erwartete ich von ihr die Antwort: »Nein, eigentlich nicht …«
Stattdessen sagte sie, während sie mir Kartoffeln auftat: »Na ja, nur ein einziges Mal.«
Ich wartete, was nun kommen würde.
Nachdem sie mir aufgetan hatte, hob sie ein Kartoffeltrio von der Schüssel und hielt es ein Weilchen über ihren Teller, ehe sie den Löffel in Schräglage brachte, um es runterrutschen zu lassen – im Frühling mochte sie schon immer neue Kartoffeln, mit Butter und Schnittlauch aus dem Garten, mit der Küchenschere feingeschnitten. Damals war sie Mitte fünfzig, aber ihre Haare blieben immer graumeliert, wurden nie ganz weiß. Mit neunundsiebzig sollte sie in ihrem Bett an einem Aortenaneurysma sterben.
Sie griff zu ihrer Serviette und betupfte damit ihre Lippen, obwohl sie noch nichts gegessen hatte. Sie schaute auf ihren Teller hinunter. »Das war an unserem ersten Morgen als Ehepaar. Wir frühstückten im Hotel, und er schenkte mir etwas Kakao ein und sagte, ich müsse ihm eins versprechen.« Sie griff zu ihrem Besteck und legte es wieder ab. »Ich hab mir gedacht, er würde gleich so was sagen wie, du weißt schon, versprich mir ewige Treue, oder – weiß auch nicht. Ich merkte, dass es ihm ernst war, na ja, vielleicht ging es ja so in die Richtung, falls ich mal körperbehindert werde, musst du mir ein Kissen aufs Gesicht drücken – er hatte einen Horror davor, irgendwie entmündigt oder eingesperrt zu sein, das weißt du bestimmt noch …«
Diese Geschichte war jetzt schon länger als das meiste, was meine Mutter mir je aus ihrem Leben erzählt hatte. Ich hielt den Atem an.
»Stattdessen sagte er zu mir, sobald wir ins Haus eingezogen sind, musst du eine Tasche packen, keinen Koffer, sondern eine Einkaufstasche, etwas, was du nehmen würdest, wenn du bloß einen Tagesausflug mit einer Freundin machst. Da muss eine Wechselgarnitur Kleider und etwas Geld in einem Umschlag drin sein, den ich dir geben werde. Wenn ich weg bin, oder auch bloß tagsüber bei der Arbeit, und ich rufe dich an und sage, kannst du uns Rindfleisch-Nieren-Pastete zum Abendessen machen, ich hatte schon ewig keine mehr und hab richtigen Jieper drauf, falls ich das je sagen sollte, dann antwortest du, ja, aber dann muss ich erst einkaufen gehen, und gehst und holst die Tasche und verlässt sofort das Haus. Sofort, ich meine, du ziehst nur Schuhe und Mantel an und bist weg …«
Sie schob mit der Gabel eine Kartoffel auf ihrem Teller hin und her, griff dann zum Messer und schnitt sie in zwei Hälften, immer noch ohne davon zu essen. »Also als Erstes hab ich natürlich gesagt, wo soll ich hingehen? Und er wieder, wenn du die Tasche gepackt hast, zeig sie mir, und dann einigen wir uns darauf, wo das Geld versteckt sein soll. Wahrscheinlich kommt noch ein zweiter Umschlag dazu, mit Anweisungen. Wenn nicht, gehst du zum Bahnhof, auf der Hauptstraße, nicht die Abkürzung nehmen, und setzt dich in den Warteraum und wartest auf Anweisungen. Achte drauf, dass andere Leute da sind. Wenn niemand sonst im Warteraum ist, setzt du dich draußen auf eine Bank.«
Ich wollte ihr Fragen stellen, wusste aber, wenn ich zu neugierig wirkte, würde sie das verschrecken. Wenn meine Mutter irgendwie von sich selbst erzählte, wurde sie zum kleinen scheuen Reh. Es war wichtig, sie nicht aufzuscheuchen. Ich griff zur Gabel und stocherte an einem Stück Lammbraten auf meinem Teller herum – sie hatte mir die knusprigen Stücke vom Rand gegeben, weil sie wusste, dass ich die mochte.
»Natürlich«, fuhr sie fort, »fiel es mir da wie Schuppen von den Augen. Ich glaube, ich hatte es schon immer gewusst, aber es machte mir doch was aus, dass er es mir nicht vorher gesagt hatte. Er hat es mir erst erzählt, als ich seine Frau war, und ich hab mir gedacht, das würde bedeuten, er hätte mir nicht genügend vertraut, um es mir vor unserer Heirat zu verraten, als ob ich ihm deswegen weglaufen könnte oder so, als hätte er nicht geglaubt, dass ich trotzdem bei ihm bleiben würde.«
Sie schaute auf ihren Teller hinab, nahm das Besteck in beide Hände und begann das Lammfleisch in kleine Stücke zu schneiden. »Also hab ich zu ihm gesagt, warum erzählst du mir das erst jetzt, an unserem ersten Morgen als Ehepaar? Und er hat gesagt«, bei der Erinnerung musste sie ein wenig lächeln, »er hat gesagt, na ja, ich hab gedacht, es wär vielleicht nicht so angebracht, mich am Altar runterzubeugen und es dir ins Ohr zu flüstern.«
Mittlerweile aßen wir beide, hatten das Kunststück zuwege gebracht, damit anzufangen, ohne das Gespräch abzuwürgen.
»Und was war, als wir auf die Welt kamen?«, fragte ich.
»Ach, als du so etwa drei, vier Monate alt warst, hat er mich gefragt: Du erinnerst dich doch an unser Gespräch, nicht wahr? Mehr brauchte er nicht zu sagen. Wir wussten beide, welches Gespräch gemeint war. Als ihr ganz klein wart, war es kein Problem. Ich hab einfach eine Wickeltasche gepackt, niemand hätte es gewundert, wenn ich mit so einer rumgelaufen wäre. Als ihr älter wurdet, war es natürlich schwieriger, zu wissen, was reinmusste, weil ich ja nie wusste, für wie lange es war, und natürlich hat der Platz kaum gereicht, als ihr zu dritt wart.«
»Habt ihr je wieder drüber geredet?«
»Das war nicht nötig«, sagte sie stirnrunzelnd, als habe sie auf einen zähen Fleischbrocken gebissen. Sie schluckte energisch runter. »Etwa einmal im Jahr hab ich mir die Tasche angesehen und ein bisschen was am Inhalt geändert: ein kleines Buch oder ein paar Buntstifte, um euch beschäftigen zu können, Unterwäsche, all so was. Ich konnte nur raten.« Sie hielt inne und warf mir einen irgendwie amüsierten Blick zu. »Es ist nie wirklich dazu gekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass es besonders wahrscheinlich war – es ging mehr darum, dass dein Vater ruhig schlafen konnte.«
Mir fiel ein, wie mein Vater auf einer Kiesauffahrt vor unserem Haus bestanden hatte, damit man morgens immer hörte, wenn der Briefträger kam. Und wie er jeden Abend vor dem Schlafengehen mindestens zwei Runden durchs ganze Haus gedreht hatte, alle Türen abgeschlossen, sämtliche Elektrostecker rausgezogen und dann nochmal überprüft hatte, ob die Türen wirklich fest verschlossen waren. Ich dachte an das ausufernde Schweigen, das unser Familienleben wie ein großer, breiter, träge dahinströmender Fluss mit sich geführt hatte, wie wir uns alle einfach auf diesem Fluss des Schweigens hatten treiben lassen.
»Die Soße ist ja schon kalt geworden«, sagte meine Mutter, während sie eine Hand seitlich an die Sauciere legte. Die Sauciere meiner Mutter – weißes Porzellan mit Goldrand – sah so hübsch aus, die große weiße Zunge zum Ausgießen der Soße, wie ein von der Zeit glattgeschliffener Felsvorsprung unter einem Wasserfall. »Soll ich sie kurz in der Mikrowelle aufwärmen?«
Und daher nehme ich an, dass ich es schon immer im Blut hatte, das Weglaufen, meine ich – vielleicht weniger das Rennen an sich als das Warten aufs Losrennen –, die Fähigkeit, jeden Tag in dem Bewusstsein zu leben, sofort aufbrechen zu können. Wenn man damit aufwächst, kommt es einem nur noch wie eine Konstante vor, etwas, das zu einem gehört, wie ein leichtes Asthma oder eine Allergie gegen Meeresfrüchte. Es bestimmt nicht das Leben, man ist sich nur immerzu niedrigschwellig dessen bewusst, befindet sich in einem instinktiven Wachsamkeitsmodus, ohne groß darüber nachzudenken.
Und dann, eines Tages, passiert etwas, und während man mit einem Teil seiner selbst in der jeweiligen Situation verharrt, in der man da gerade ist – etwa in einem Meeting mit vier oder fünf Kollegen in einem Büro namens Alaska mit einem Glastisch, übersät mit den Krümeln halb aufgegessener Gebäckstücke –, läuft der andere Teil innerlich heiß, der Atem wird rau in der Kehle, und man denkt bereits: Wenn ich an den Aufzügen bin und eine Tür auf Knopfdruck aufgeht, komme ich damit am schnellsten ins Erdgeschoss, aber wenn beide Aufzüge in einem anderen Stockwerk feststecken, muss ich die Treppe nehmen, um kostbare Sekunden einzusparen.
Von Alaska aus sind es keine dreißig Schritte bis zu den Aufzügen – ich gehe rasch, aber ruhig und zähle: dreiundzwanzig. Der Flur vor unseren Büros ist leer. Ein Glück, denke ich, denn als ich in der Sitzung Kieron beobachtet habe, war eine meiner Sorgen: Sie könnten schon draußen sein. Hierher unterwegs werden sie aber schon sein. Während ich auf den Abwärts-Knopf drücke, stelle ich mir ein Grüppchen durchschnittlich aussehender Männer in Anzügen an den Lifttüren im Erdgeschoss vor, die den Aufwärtsknopf betätigen. Das Besondere an dem Department of Standards, oder DOS, ist, dass es mit den am harmlosesten wirkenden Leuten besetzt ist, die einem je unterkommen werden – so als würden sie in unscheinbarem Aussehen trainiert. Wenn einem jemand von denen über den Weg liefe, würde man die Person für eine auf der mittleren Managementebene einer Bausparkasse an der Hauptstraße halten oder vielleicht für einen Erdkundelehrer.
Die Aufzugtüren gehen sofort auf – es ist früher Nachmittag, und der Lift ist leer. Während er abwärtsfährt, spüre ich den Sog von unten, als würde mich die Schwerkraft anziehen. Meine Ohren fallen zu, oder fühlt es sich nur so an? Und meine Haarwurzeln kribbeln. Ich atme tief durch die Nase und sage mir, dass das alles bloß psychosomatisch ist. Auf dem Weg nach unten hält der Lift dreimal an und sammelt jedes Mal eine Einzelperson auf: eine Frau mit pinker Haarsträhne und großer randloser Brille, einen großen Blonden und einen Jüngling mit Hakennase. Ich registriere nacheinander jedes einzelne ihrer besonderen Merkmale, ohne sie direkt anzusehen. Ich bin bereits hyperwachsam und finde dabei seltsamerweise auch noch Zeit, von mir selbst beeindruckt zu sein.
Drüben in Alaska, dort oben in der sechzehnten Etage, wird es nach meinem plötzlichen Abgang zu einer kurzen Schweigepause gekommen sein, man wird einander Blicke zugeworfen haben, und während der Abwärtsfahrt versuche ich mir auszumalen, was jetzt geschieht. Das Meeting wird noch ein wenig weitergehen – es dauert bestimmt etwas, bis sie merken, dass ich nicht wiederkomme. James stellt gerne kenntnisreiche Fragen, so formuliert, dass es sich anhört, als wisse er vermutlich die Antwort, wolle aber dazulernen. Gut möglich, dass er mir entscheidende Sekunden verschafft.
Wir sind unten angekommen. Die Aufzugtüren öffnen sich zischend … und ich sehe sofort, dass niemand im Eingangsbereich wartet. Die Zugangssperren zur Lobby sind diese eckzahnförmigen festen Plastikdreiecke, beidseitig an breiten Metallpfosten befestigt. Um reinzukommen, braucht man seinen Ausweis, aber am Ausgang funktionieren sie automatisch: Die Sperren öffnen sich, wenn man näher kommt, und schnappen hinter einem wieder zu. Beim Durchrauschen hebe ich eine Hand zum Gruß an den Pförtner. Heute steht Dennis am Schalter, beleibt und beruhigend in seiner schicken Uniform. Er erwidert meinen Gruß. Unsere Abschiedsgesten kommen mir vor wie in Zeitlupe, als würde das Heben und Senken unserer Hände all meine Arbeitsjahre umschließen, meinen Aufstieg durch die Ränge, um Kierons Stellvertreterin zu werden, samt meinem raschen Abstieg in – wohin? Das kann ich derzeit noch nicht sagen. Mit diesem knappen Handzeichen verabschiede ich mich von über zwei Jahrzehnten in meinem Beruf und noch einer Menge anderem dazu.
Und dann bin ich plötzlich draußen, ohne mich bewusst ans Anstoßen der Drehtür zu erinnern, und stehe auf den breiten flachen Stufen zum Platz, hole einmal tief Luft und gehe los. Ein Gefühl ist das, als wäre ich gerade an einem heißen Tag in einen Fluss gesprungen: ein Schock, aber erfrischend. Solange ich weiterschwimme, komme ich klar.
Es sind acht Minuten zu Fuß von meiner Arbeit bis zum Laden. Ich bin den Weg oft gegangen und weiß, wie ich mich durch die Seitenstraßen schlage, um an möglichst wenig Überwachungskameras vorbeizukommen. Ich laufe auf Autopilot. Wenn ich überhaupt über das, was ich tue, nachdenke, dann nur, um mich selbst zu meiner gründlichen Vorbereitung zu beglückwünschen.
Ein älterer Herr steht an der Ladentheke – das muss wohl der Onkel sein; er war ein paarmal mit Adil im Laden, als ich reinkam, aber jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal allein im Verkauf.
»Hallo«, sage ich, »ich bin Sue, das sind meine Sachen da hinten.« Dabei zeige ich Richtung Lagerraum.
Er sieht mich unverwandt aus klaren Augen an. Ich zeige nochmal nach hinten, und er nickt einmal kurz und dreht sich um.
Ich gehe mit ihm nach hinten. Die Tür zum Lagerraum steht offen, aber weil der zu vollgestellt ist mit Regalen, als dass wir beide reinpassen würden, weicht der Onkel zurück, um mich durchzulassen, während er auf der Schwelle stehen bleibt, mich beobachtet und sich ab und zu über die Schulter umsieht, falls ein anderer Kunde den Laden betreten sollte.
Ich gehe rein und hebe die Reisetasche auf, zuunterst in einem Regal, in dem Pappkartons mit Heißen Tassen ordentlich aufgereiht sind: Pilzcremesuppe, Hühnersuppe, Tomatensuppe mit Basilikum.
»Danke«, sage ich zu ihm, als ich gehe.
Vor mir ragt die Beton-Scheußlichkeit der New Street auf, die sich angeblich den Rang des schlimmsten Bahnhofs im ganzen Land mit der Liverpool Lime Street und East Croydon teilt und die bald Stein für Stein abgerissen und neu gebaut werden soll. Drinnen steuere ich das Reisezentrum an – da ist wenig los, es gibt vier besetzte Schalter und nur drei Kunden. Ich schlendere lässig an den leeren Platz und bitte den trägen Mann dahinter mit leiser Stimme um ein Ticket für eine einfache Fahrt nach London. Gegen Barzahlung. Ich brauche nicht in die linke obere Ecke zu schauen, um die auf mich gerichtete Überwachungskamera zu sehen, weil ich meine Hausaufgaben gemacht habe und genau weiß, wo sämtliche Kameras in diesem Reisezentrum sind. Wieder draußen in der Bahnhofshalle, stelle ich mich unter die breite Tafel mit den Abfahrtzeiten und verrenke mir den Hals wie alle anderen andächtigen Passagiere. Ein Zug nach Euston fährt in sieben Minuten. Und steht schon zum Einstieg bereit. Perfekt.
Auf Bahnsteig fünf steige ich durch die Tür direkt hinter der Ersten Klasse ein und gehe durch die Waggons, bis ich einen Zweisitzer entgegen der Fahrtrichtung in Nähe der Gepäckablage gefunden habe. Im Handumdrehen habe ich meine zwei Handys gezückt und in die schmale Lücke zwischen Sitzpolster und Wand gesteckt. Dann stehe ich auf und gehe auf direktem Wege ins WC hinter dem Waggon.
Drinnen drehe ich den Absperrriegel um, und er rastet mit zufriedenstellendem Klacken ein. Ich packe die Reisetasche auf den WC-Deckel, zerre am kaputten Reißverschluss und hole einen leichten Regenmantel, Turnschuhe, Leggings und eine Strickmütze raus. Ich ziehe meinen Rock aus und die Leggings über meine Strumpfhose, falte den Rock zusammen und stecke ihn mit meinen Blockabsatz-Pumps und dem schicken taillierten Blazer in die Tasche. Jetzt werde ich eine ganze Weile keine Business-Outfits mehr brauchen, aber das eine hier behalte ich doch, nur für alle Fälle. Ich schlüpfe in den Regenmantel und ziehe den Reißverschluss zu, stopfe meine Haare in die Mütze. In unter einer Minute bin ich nicht wiederzuerkennen, es sei denn, man käme an eine Nahaufnahme meines Gesichts. Vor dem Klo wende ich mich in Richtung Lokomotive um und gehe durch den Zug nach vorn. Es ist relativ wenig los, auf einen belegten Sitz kommen drei freie. Gleich darauf bin ich aus dem vordersten Zugteil wieder auf den Bahnsteig ausgestiegen.
Der nächste Zug nach Glasgow fährt in zwölf Minuten. In aller Ruhe gehe ich darauf zu. Zwei Polizisten stehen an den Bahnsteigsperren und plaudern mit einem Schaffner. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass sie entspannt dastehen – einer stützt den Ellenbogen auf eine Sperre, der andere hat seine Mütze abgenommen.
Trotzdem, als ich erst wieder im Zug nach Glasgow sitze – erneut auf einem Zweiersitz in Gepäckablagen- und Toilettennähe, der Stelle, wo es am unwahrscheinlichsten ist, dass sich jemand neben mich setzen wird – schaue ich auf meine Uhr und staune über die ewig lange Zeit, die elf Minuten, die vor der Abfahrt des Zuges noch vergehen müssen.
Endlich schließen die Zugtüren mit gebührender Schwere und Feierlichkeit. Im Kontrast dazu tönt die Pfeife hoch und nicht unangenehm schrill. Der Zug setzt sich in Bewegung, aber langsam, wie ein alter Mann mit müden Knochen. In der New Street Station sind alle Gleise unterirdisch, und während der Zug vorankriecht, blicke ich aus dem Fenster auf eine hohe schwarze, mit grünem Moos bewachsene Wand, eine Gefängniswand, das Licht darüber in weiter Ferne, und dann kommen wir in einen stockdunklen Tunnel, und der Zug fährt immer noch so langsam, mit quietschenden, knirschenden Rädern. Erst als wir am anderen Ende des Tunnels rauskommen, nimmt er Fahrt auf. End-lich, end-lich denke ich im Takt der rollenden Räder. Kieron mag wegen mir schon angerufen haben, aber meine Vorbereitungen waren gründlich. Flavia, ich komme. Der tief in uns vergrabene Gedanke – schließlich machen wir alles aus zweierlei Gründen: der Absicht, und der wahren Absicht.
Plötzlich ist da ein Himmel in hellstem Blau, und dicke grüne Bäume, und die graue Metalleinzäunung am Rande der Gleise, während sich die Räder immer schneller drehen, und schon sind wir draußen in der freien Landschaft, rasen vorbei an Lagerhäusern unter tief dahinjagenden Wolken, und niemand außer mir weiß, was ich vorhabe und wohin ich fahre: was für ein heimlicher, hochfliegender Gedanke. Ich rase aus meinem Leben. Ich hab’s getan. Ich bin weg.
Alles geht glatt, bis wir nach Carlisle kommen. Ich bin keine dreizehn Kilometer mehr von der schottischen Grenze entfernt, da läuft es aus dem Ruder.
Wir sind noch nicht lange aus Oxenholme raus. Ich habe aus dem Fenster auf den Lake District gesehen und mir gewünscht, dass ich nicht in einem Zug stecken, sondern zu Fuß durch die Wildnis wandern würde – wäre so eine Flucht nicht viel spannender? Überleg dir gut, was du dir wünschst, wie man so sagt.
Wir sind irgendwo hinter der Stadtgrenze zum Halten gekommen, weit genug draußen, dass sich zu beiden Seiten des Zugs freies Feld erstreckt. Der Himmel ist immer noch blassblau, aber wenn ich aus dem linken Fenster nach vorn schaue, sehe ich geballte dunkelnde Wolken, die sich zusammenschieben wie ein Infanterieregiment vor dem Angriff. Ich rutsche zum Sitz am Gang rüber, um durch den Zug schauen zu können, und sehe einen Schaffner einen Waggon weiter vorn. Mit strahlendem Lächeln bittet er die Fahrgäste um Ticket und BahnCard, bitte, während er die Sitzreihen seitlich anrempelt, als würde der Zug noch fahren, und über seine eigene Comedyshow lacht. Ich habe ein gültiges Ticket, vor sechs Wochen gekauft, aber er ist der Typ, der zum Plaudern mit Kunden stehen bleibt, was mich nervös macht. Ich stehe auf, nehme meine Reisetasche und gehe nach hinten durch bis zum letzten Waggon. Derweil fährt der Zug wieder an, und einen Sekundenbruchteil lang habe ich den Eindruck, mich nicht vom Fleck zu rühren, obwohl wir Geschwindigkeit aufnehmen.
Im letzten Waggon entdecke ich am hinteren Ende ein paar Sitze um einen Tisch, die leer aussehen. Erst als ich mich etwas schwerfällig auf einen Sitz plumpsen lasse, sehe ich, dass mir schräg gegenüber eine Frau Mitte dreißig mit Kleinkind auf dem Schoß sitzt, gegen die Fahrtrichtung, neben sich ein etwa sechsjähriges Kind, das sich daumenlutschend an ihre Schulter lehnt.
Erschreckt von meiner plötzlichen Ankunft, starrt die Mutter mich böse an, und ich sehe, dass sie auf einer Wange einen blauen Fleck hat, nicht ganz von pudrigem Make-up verdeckt. Er ist schmal und halbmondförmig unter einem Auge und schon lila-grünlich mit Stich ins Gelbe, an den Rändern verschwommen, so wie der Mond manchmal am Rand unscharf aussehen kann. Die Stelle muss wehgetan haben, bevor sie sich verfärbt hat, denke ich. Jetzt, da die Schwellung abgeklungen ist, wird der Schmerz nachlassen, vielleicht so weit, dass sie kurz überrascht ist, wenn sie sich im Spiegel sieht. Oder sie könnte auch so an blaue Flecken gewöhnt sein, dass sie sie nie ganz vergisst. Wenn ein Mensch viel geschlagen wird, hängt seine Sicherheit davon ab, dass er nie vergisst.
Wir sehen uns in die Augen, und da erst merke ich, was sie mir nur zu deutlich herüberbringt – der blaue Fleck, ihr versteckter Sitzplatz im Zug, der stille, glasige Blick des Kindes –: Sie sieht etwas in mir, und ich möchte mich schon fast vorbeugen und leise sagen: Es ist nicht, was Sie denken. Meine Situation ist eine andere. Die Gemeinsamkeit, die Sie da zwischen uns entdeckt haben, ist ein Trugschluss.
Sie wirft mir einen kühlen Blick zu, ehe sie das Gesicht zum Fenster dreht. Ich weiß nicht, was mir unangenehmer ist, dass ich sie oder sie mich gesehen hat, aber ich stehe wieder von meinem Platz auf, nehme meine Reisetasche und steuere den Ein- und Ausstiegsbereich ganz am Ende des Zuges an, einen Leerraum, den niemand betreten wird. Ich verspüre das überwältigende Bedürfnis, tätig zu werden.
Ich hole mein Wegwerfhandy aus der Manteltasche, schalte es ein und wähle, während der Zug wieder Fahrt aufnimmt und wir bald donnernd auf Carlisle zurasen.
Nach viermal Klingeln geht jemand ran. »Stuart«, sage ich, »Sophie Lester. Wir haben im Mai miteinander telefoniert.«
Nach kurzer Pause sagt er: »Ah ja, Sophie, aber klar, natürlich!«
Ich würde gerade noch rechtzeitig anrufen, sagt er. Ende September sei meine letzte Möglichkeit. Danach werde das Wetter zu schlecht für die Überfahrt sein.
Wir haben Ende August – Ende September bedeutet für mich, vier Wochen zu überbrücken, und in einer idealen Welt wäre ich in wenigen Tagen außer Landes.
»Vorher haben Sie nichts?«
»Sorry, die nächste ist ausgebucht, und mehr geht nicht, so viele Verrückte gibt es nun auch wieder nicht!« Er bricht in schallendes Lachen aus.
Ich überschlage es rasch im Kopf – ich habe immer gewusst, ich würde mindestens ein paar Tage untertauchen müssen, und hatte alles Nötige dabei. Es ist keine Katastrophe, nur ein Aufschub. Ich überlege, Stuart zu bestechen, damit er einen der letzten Teilnehmer von seiner Passagierliste streicht, aber das könnte Verdacht erregen, was ich mir nicht leisten kann. »Kein Problem, solange Sie dann definitiv übersetzen.«
»Na klar, muss wohl, ich hab schließlich einen Kredit abzubezahlen! Hahahaha!«
Nach ein paar obligatorischen Nettigkeiten verabschiede ich mich von Stuart, lege auf und überdenke meine Pläne. Vier Wochen. Ich werde meine Route umleiten müssen, mir bei jedem Halt Zeit lassen – ein Zickzackkurs wäre gut und machbar. Ich habe in den letzten Wochen so oft über meinen amtlichen Landvermessungskarten von Schottland gebrütet, dass ich praktisch das ganze Land auswendig im Kopf habe. Das wird mir sicherlich zugutekommen: Es sollte meine nächsten Entscheidungen wie zufällig aussehen lassen.
Ich muss Vikram eine Nachricht schreiben, denke ich, und den Code verwenden, auf den wir uns vorab geeinigt haben.
Und genau da, als ich im hinteren Ausstiegsbereich des Zuges stehe, der sich Carlisle nähert, und meinem Notar schreiben will, passiert etwas richtig Schlimmes – so schlimm, dass ich erst meine Gedanken sortieren muss, um mir Klarheit darüber zu verschaffen, wie schlimm es ist.
Das Handy in meiner Hand vibriert.
Der einzige Anruf, den ich je mit diesem Telefon gemacht habe, galt Stuart, dem Jachtkapitän, gerade eben, mit unterdrückter Nummer. Niemand hat diese Nummer. Es ist ein unbekannter Anrufer.
Ich halte mir das Handy ans Ohr.
»Heather …« Seine Stimme ist leise, fast ein Murmeln. »Handys im Zug nach London, bisschen zu offensichtlich. Dahin wirste wohl eher nicht unterwegs sein.«
Ich sage nichts. Ich wüsste gern, wo er ist, ob wieder in seinem Eckbüro oder noch in Alaska am Fenster, mit Blick auf Birmingham, nachdem er alle anderen rausgeschickt hat.
»Schon okay …«, sagt er. Klingt seine Stimme leicht belegt? Ich versuche dahinterzukommen, ob er sich ängstlich anhört. »Sie wissen schon, dass du nicht nach London fährst, also ist das hier …«
Ich lege auf und schalte das Handy aus. Dann bleibe ich kurz stehen, wo ich bin, kaue innen auf meinen Wangen und sehe der Tatsache ins Gesicht, dass ich längst nicht so schlau war, wie ich dachte.
Er hat nicht wir gesagt. Sondern sie. Das sind – möglicherweise – extrem schlechte Nachrichten.
Der Zug fährt in Carlisle ein. Ich steige aus, schultere die Reisetasche. Ich werfe keinen Blick in den Zug, habe aber das Gefühl, dass die Frau mit den zwei Kindern mir nachsieht, als ich an ihr vorbeigehe.
Der Bahnhof von Carlisle ist hübscher als erwartet: gewölbtes Glasdach, schmiedeeiserne Gitter, Sandstein. Das beruhigt mich ein wenig, als ich dem Ausgang zustrebe, in normalem Schritttempo, um keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Als ich die Zugangssperren erreiche, gehen zwei Männer in Freizeithosen und Pullis, einer mit Fischgrätmuster-Mantel drüber, der andere mit Regenjacke, rasch und mit ernster Miene auf mich zu. Mit neutralem Gesichtsausdruck zeige ich dem Kontrolleur mein Ticket, während ich die Männer aus den Augenwinkeln beobachte. Am anderen Ende der Sperren steht noch ein Kontrolleur neben einem offenen Durchgang, und sie halten ihm kurz und unauffällig ihre Dienstmarken hin, ohne das Schritttempo zu verlangsamen. Weil ich es nicht riskieren kann, mich umzuschauen, weiß ich nicht, ob sie den Zug ansteuern, aus dem ich gerade gestiegen bin, oder aus einem anderen Grund hier sind. Ich muss irgendwo anhalten und mich sammeln, möchte dafür aber weiter weg vom Bahnhof sein.
Ich marschiere drauflos in Richtung Stadt, so mein Eindruck, vorbei an einer Kirche und zwei stattlichen runden Türmen, die aussehen wie die Türme in einem alten hölzernen Schachspiel, das wir mal hatten. Beim Vorübergehen halte ich nicht an, mein Blick fällt nur auf eine Tafel, auf der etwas von einer Zitadelle steht, und ich denke, na bitte, da hast du deine Zitadelle, alles wird gut. Kieron hat deine Handys also schon abgehört – den Verdacht hattest du sowieso. Das Wegwerfhandy ist zu alt für GPS-Tracking, aber dass er die Nummer hat, ist eine äußerst bedenkliche Entwicklung.
Ich gehe eine Straße entlang, die English Street heißt, was mir wie ein schlechter Witz vorkommt, wo ich doch jetzt schon fast an der schottischen Grenze sein könnte, wenn ich im Zug geblieben wäre. Vielleicht war ich voreilig – oder der Zug steckt noch im Bahnhof von Carlisle fest, während diese Beamten in Zivil auf der Suche nach mir sämtliche Waggons abgrasen.
Ich gehe durch eine Fußgängerzone und sehe, dass am Ende ein Altbau mit breiter Vortreppe steht, deren Stufen zu einer Touristeninformation führen, und einem Café darunter. Ich überlege, ob ich es riskieren kann, mir einen Stadtplan vom Ort zu holen, und entscheide mich dagegen – aber ich kann im Café sitzen, das groß und weitläufig ist, mit Plätzen drinnen und draußen und gutem Blick durch die gesamte Fußgängerzone.
Er hat nicht wir gesagt, sondern sie.
Wir nennen es den Rundumblick.
Einer der Gastredner in unserem Beschattungskurs beim Training war achtundsiebzig – eine Bohnenstange von einem Mann, blass und drahtig, weißhaarig, im Auftreten so cool wie ein Glas Eiswasser – er war in Jeans zum Vortrag erschienen. Ein Mann von Ende siebzig in Jeans, das fanden wir spitze. Seine Redeweise klang ein wenig nach vornehm-akzentfreiem Amerikanisch. Obwohl er ein älterer, freundlicher Herr war, hatte er doch auch etwas sexuell Aufgeladenes an sich, ein leichtes Knistern entstand im Raum, eine Art erotische Ausstrahlung wie ein Funksignal von einem Planeten in einer weit entfernten Galaxie.
An jenem Vormittag war er da, um eine PowerPoint-Präsentation diverser Fälle abzuliefern, mit denen er befasst gewesen war. Solche Vorträge hörten wir öfter, historische Beispiele erfolgreicher Operationen, und manchmal auch fehlgeschlagener: alles, was schiefgehen konnte und tatsächlich schiefgegangen war. Bei diesen Vorträgen lernten wir aus jenen Operationen, von denen die Öffentlichkeit nie erfährt – wie es bei vereitelten terroristischen Anschlägen zuging, warum und wie bei bestimmten Demonstrationen wertvolle Informationen gesammelt wurden.
Und manchmal erfuhren wir von den Fehlschlägen, den wahren Gründen, warum sechs, vierzehn oder zweiunddreißig Menschen ihr Leben lassen mussten, obwohl niemand hätte sterben sollen. Die Männer und Frauen, die diese Vorträge hielten, hatten etwas Gequältes an sich, wirkten manchmal zerknirscht, gelegentlich mit Trotz durchsetzt. Allesamt wie der »Ancient Mariner«, der Alte Seemann, in Coleridges Ballade.
Der Mann am Rednerpult vor uns war vor seinem Ruhestand als verantwortlicher Einsatzleiter mit besonderem Augenmerk auf Kontakte zwischen den befreundeten Mächten – den CAZAB-Staaten – tätig gewesen. Er war selbst draußen im aktiven Einsatz gewesen und hatte dann Agenten im aktiven Einsatz direkt geführt. Er hatte die ganze Welt bereist – sie im Geheimen regiert. Wir waren Wachs in seinen Händen.
Als die Fragestunde drankam, näherten wir uns rasch der Sache, die uns am meisten interessierte: Wie ist es, Sie zu sein? Dieser Mann war in jahrzehntelanger Tätigkeit, für die wir uns gerade ausbilden ließen, erfolgreich aufgestiegen. Er hatte das Leben gelebt und war heil am anderen Ende rausgekommen. Ein blasser, knochiger Vorbote – er war, was aus uns werden würde, wenn alles nach Plan verlief.
Einer meiner Mit-Anwärter, Ahmed, unheimlich intelligent und prädestiniert für einen rasanten Aufstieg, meldete sich und fragte: »Aber fehlt Ihnen der aktive Einsatz nicht? Ist das zivile Leben nicht ein bisschen langweilig?«
Das dachten wir natürlich alle. Dieser Mann da vor uns mochte ein Veteran sein, aber er war am Ende seiner Reise angelangt, nur noch eine Hülle. Wir hingegen waren heiße Schmetterlingspuppen im vollen Saft, die es kaum erwarten konnten, aus ihrem Ausbildungs-Kokon zu schlüpfen.
Unser Gastredner runzelte die Stirn. »Langweilig? Das zivile Leben?« Er hockte mit einer Gesäßhälfte auf der Tischkante vor unserer Klasse, hob beide Hände und ließ sie in seinen Schoß sinken. »Junger Mann, nichts könnte faszinierender sein. Jedes Zimmer, das man betritt, jedes Restaurant oder Café, jede Straße, durch die man schlendert. Das wird man nie los, wissen Sie. Den Rundumblick. Die Gewohnheit verlässt einen nicht. Und irgendwann, tja, da sagt man sich, da geht einem endlich auf: Ich suche nicht mehr nach den Schurken, das ist nicht mehr mein Job. Ich halte nicht mehr Ausschau nach der Bedrohung. Und da wird einem klar, dass man diese Fähigkeit dazu verwenden kann, sich Leute einfach nur aus reinem Interesse anzusehen, und man denkt sich, wie erstaunlich die Menschheit insgesamt ist. Die alte Dame dort, der Schuljunge hier – man betrachtet sie und sieht ihnen ihr ganzes Leben an und denkt sich, mein Gott, was für ein Geschenk Gott uns gemacht hat, uns Menschen meine ich, dass wir so … vielfältig sind. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Gedicht kennen …«
Bei der Erwähnung Gottes verdrehten die Atheisten im Raum, wohl die überwiegende Mehrzahl, innerlich die Augen. Ich dachte selbstgefällig, die haben alle den Bezug auf Louis MacNeice nicht mitbekommen – anders als ich, denn meine Mutter war Englischlehrerin. Die Schulstreberin in mir stellte sich schon vor, wie sie dem ehrgeizigen Ahmed in der Pause eins auswischen und ihm über einen Plastikbecher mit Kaffee hinweg sagen würde: »Ach, du kennst das Gedicht nicht? Schnee. Das ist toll«, und vielleicht dazu noch einen Vers aufsagen: »Ich schäle und teile / Eine Mandarine …«
»Die Sache ist die«, sagte unser Gastredner, und etwas an seinem Tonfall ließ uns aufhorchen. Sein lässiges Auftreten war verflogen, mit einem Mal lagen Leidenschaft und Dringlichkeit in seiner Stimme. »Die Sache ist die, alle werden Ihnen von den Schattenseiten erzählen, was für Denkmuster man ausbildet, wie man sein ganzes Leben lang mit Vorsicht und Verfolgungswahn leben wird und dass es einen manchmal total fertigmachen kann, die Einsamkeit, weil man sich seinen nächsten Angehörigen nicht richtig anvertrauen kann, aber was einem niemand sagt, ist dies: Es ist ein Geschenk. Ihr Leben lang ist es, als hätten Sie einen Röntgenblick in die Seelen der Menschen, Sie durchleuchten die Leute auf eine Art, die Zivilisten einfach nie antrainiert wurde, und es ist fantastisch. Es ist ein Geschenk.«
Hinter mir saß eine kräftige Frau, Charlotte. Sie und ich waren die Ältesten in der Klasse – die meisten dort waren in ihren Zwanzigern rekrutiert worden. Ich war nach der Armee und einer gewissen Zeit in einem Bürojob in der City da; sie war Quereinsteigerin, vorher Polizei-Detective, weshalb sie sich uns anderen für etwas überlegen hielt. Ich hörte, wie sie vor sich hin murmelte: »Na, der hält sich wohl für Mr Obercool …«, und wollte mich umdrehen und sagen: »Halt deine verdammte Schnauze.«
Rundumblick. Natürlich kann sich jede Person ohne die geringste Ausbildung umsehen, wenn sie einen Raum betritt; der Trick ist der, es zu tun, ohne dass es irgendwer bemerkt.
Im Café sind acht Leute. Drei Frauen sitzen um den Tisch neben der Tür, in T-Shirts, Caprihosen und festem Schuhwerk – bestimmt ein Grüppchen, das sich regelmäßig zum Wandern und Kaffeetrinken trifft –, rühren mit Löffelchen in ihren Tassen und unterhalten sich leise. Keine von ihnen sieht sich nach mir um, als ich reinkomme. Ein älterer Herr mit Hörgerät hockt allein an einem Nebentisch und liest in einer Gratiszeitung, die kalten Reste einer Tasse Tee neben sich, mit feuchten Lippen und irgendwie schwammigem Gesichtsausdruck.