Was die Nacht verschweigt - Louise Doughty - E-Book
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Was die Nacht verschweigt E-Book

Louise Doughty

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Beschreibung

Zwei Tote auf dem Bahnsteig. Eine toxische Beziehung. Und eine dunkle Wahrheit, die nicht ans Licht kommen darf …

Nachts um vier, an einem eisigen Novembermorgen, ist der Bahnhof von Peterborough menschenleer. Während alle schlafen, steht ein Mann verzweifelt an Gleis 7. Sein Vorhaben ist eindeutig – in wenigen Minuten rast hier ein Güterzug vorbei. Was der Mann nicht weiß: Er ist nicht allein. Lisa Evans beobachtet ihn, doch sie kann ihn nicht mehr von seiner Entscheidung abbringen. Der Vorfall bringt nicht nur Lisa, sondern auch den Polizisten Lockhart dazu, sich näher mit den Geschehnissen auf diesem Gleis zu beschäftigen. Denn kann es purer Zufall sein, dass mehrere Menschen innerhalb von nur 18 Monaten genau an der gleichen Stelle sterben? Die Suche nach der Wahrheit wird zu einem nervenaufreibenden Puzzlespiel …

Vielschichtig, atemberaubend spannend, psychologisch durchdacht: Die englische Bestsellerautorin Louise Doughty erzählt auch in ihrem neuesten Roman auf faszinierende Weise von den Abgründen menschlicher Beziehungen.

»Louise Doughty ist eine brillante Erzählerin, die weiß, wie sie Hochspannung erzeugt.« The Times

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Seitenzahl: 613

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Louise Doughty, geboren 1963, schreibt Romane, Hörspiele und unterrichtet Kreatives Schreiben. Ihre Bücher erscheinen in 30 Ländern, wurden für renommierte Preise ausgezeichnet und nominiert (u. a. Dagger Award, Orange Prize) und verfilmt. Die britische Autorin und Journalistin lebt mit ihrer Familie in London.

Was die Nacht verschweigt in der Presse:

»Doughty seziert gekonnt die Abgründe menschlicher Beziehungen.« Evening Standard

»Unglaublich berührend und packend.« Sunday Express

»Ein faszinierender psychologischer Thriller.« Daily Express

»Louise Doughty ist eine brillante Erzählerin, die weiß, wie sie Hochspannung erzeugt.« The Times

Außerdem von Louise Doughty lieferbar:

Ein Schritt zu weit

Dunkle Wasser

LOUISE DOUGHTY

WAS DIENACHT VERSCHWEIGT

ROMAN

Aus dem Englischen von Astrid Arz

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Platform 7 bei Faber & Faber, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Copyright © 2019 der Originalausgabe by Louise Doughty Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Christine Gerstacker Umschlaggestaltung: www.buerosued.de Umschlagabbildung: plainpicture / David Carreno Hansen /www.buerosued.de Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 978-3-641-26441-3V001www.penguin-verlag.de

für Andrea Levy

Your body is a star,

Unto my thought.

But stars are not too far

And can be caught –

Small pools their prisons are.

Dein Leib scheint wie ein Stern

Auf meine Gedanken.

Doch Sterne sind nicht so fern

Und lassen sich fangen –

Kleine Teiche schließen sie ein.

Song, Isaac Rosenberg

ERSTER TEIL

1

Es ist vier Uhr morgens. Der Bahnhof ist leer, doch ich bin nicht allein. Ich bin nie allein.

Es gibt die anderen und jetzt auch den Mann.

Außer mir hat ihn bislang noch niemand gesehen.

Um diese Zeit der Finsternis liegen alle sieben Bahnsteige im nüchternen Schein der Notbeleuchtung. Hin und wieder, wenn ein Güterzug durchfährt, ertönen ein lang gezogenes Kreischen und Rattern; dann kehrt wieder Stille ein, nur unterbrochen von ein paar sich kabbelnden Tauben auf Bahnsteig fünf.

Unten zwischen Gleis zwei und drei schnürt ein einsamer Fuchs, klein und seidenglatt, am Gleis entlang. Er hält an, wittert mit erhobener Schnauze die eisige Luft und springt lässig und geschmeidig auf Bahnsteig zwei. Als er eine Laterne streift, leuchtet sein Fell kurz rotbraun auf, ehe er wieder im Dunkeln untertaucht.

Zwei Leute vom Reinigungspersonal in grellorangen Hosen und Jacken ziehen von Bahnsteig zu Bahnsteig, sehen nach dem Rechten, bevor die ersten Pendler eintreffen. Im Büro der Bereitschaftsteamleitung schlürfen der Kundendienstmanager und ein Wachmann ihren Tee, während sie auf die Monitore der Videoüberwachung starren. So leer der Bahnhof von Peterborough nachts auch sein mag, schläft er doch nie, nicht richtig. Der letzte Zug nach London fährt erst um 23.47 Uhr, aber wenn man nach Edinburgh will, muss man allerspätestens einen um 20.16 Uhr erwischen. Richtung Osten geht es um 21.18 Uhr nach Stansted, nach Westen um 21.59 Uhr nach Birmingham. Der Bahnhof von Peterborough hockt in Englands Mitte wie eine Spinne im Netz, und genau wie eine Spinne registriert er jede Bewegung, auch wenn er noch so reglos zu verharren scheint.

Da der Frühzug nach London um 3.25 Uhr abgeht, ist der Bahnhof nur gut drei Stunden für Reisende geschlossen. Der Kundendienstmitarbeiter hat nach dem letzten Zug Feierabend, nur der Manager schiebt die ganze Nacht Dienst. Häufig hält ein Güterzug zum Fahrerwechsel an Gleis sieben – rückseitig ist dem Bahnhof ein Betriebshof angegliedert. Fracht wird natürlich rund um die Uhr auf der Schiene befördert.

Der Wachmann, der in dieser einen Nacht Dienst hat, heißt Dalmar. Er ist äußerst gewissenhaft. Seine Hauptaufgabe ist es, dem Kundendienstmanager zu assistieren, doch er muss den Bahnhof auch alle zwei Stunden auf verdächtige Objekte hin abgehen: jeden der sieben Bahnsteige, die Wartebereiche und Toiletten. Auch wenn Dalmar noch nie etwas Verdächtiges gefunden hat, hat er das GUT-Prinzip (Glasklar? Unbemerkt? Typisch?) verinnerlicht. Dalmar ist aus Somalia; Großbritannien hat ihm vor zwölf Jahren Asyl gewährt, und in seinen Träumen wird er von den Bomben verfolgt, die er nie finden wird. Er ist stolz darauf, dass es zu seinen Aufgaben zählt, die britischen Bürger vor Sprengstoffattentaten zu bewahren, auch wenn sie wohl genau ebensolche noch am ehesten von ihm erwarten. Manchmal wünscht er sich, er würde etwas entdecken, um sich für sein Asyl erkenntlich zu zeigen, doch das ist ein so schlimmer Wunsch, dass er ihn sich gleich wieder verbietet. Und was passieren würde, wenn etwas versteckt wäre und er es nicht fände, ist zu schrecklich, als dass er auch nur daran denken könnte. Sich vor etwas fürchten und es zugleich herbeiwünschen: Macht ihn das kreuzunglücklich oder zum glücklichsten, lebendigsten Menschen überhaupt?

In dieser einen Nacht ist Dalmar gut drauf. Er hat soeben den Securitycheck beendet, jedes Kästchen auf dem Papier abgehakt und das Klemmbrett an seinen Nagel im Teamleitungsbüro auf Bahnsteig eins zurückgehängt. Jetzt plaudert er mit dem aktuellen Kundendienstmanager, dem kleinen, gemütlichen Tom. Dalmar überlegt, sich um eine Ausbildung für den Kundenservice zu bewerben. Schon vor seiner Auswanderung konnte er sehr gut Englisch; jetzt spricht er absolut fließend, hat aber noch Hemmungen. Tom hat ihn dazu ermutigt. »Fang im Zugverkehr an, Dalmar«, sagt er immer, »auf jeden Fall auf der Schiene, in den Zügen ist viel mehr los. Fünf Jahre, dann lässt du dich in einen Bahnhof versetzen. Man verdient gut, mit Zulagen und allem.«

Beim Reden trinken Tom und Dalmar Tee aus Maxi-Tassen. Zwischendurch blicken sie, unbewusst abwechselnd, auf die Videoüberwachung, das neue System, das rund um die Uhr neun verschiedene Bahnhofsbereiche erfasst, alle in Vollfarbe HD auf einem großen Flachbildschirm. Tom interessiert sich besonders für die Fahrradstellplätze: Immer in den Monaten vor Weihnachten geht die Diebstahlrate durch die Decke. Tom ist selbst Radfahrer und hat Mitleid mit den Bestohlenen. Nichts macht ihm mehr Spaß, als loszustürzen und einen zu stellen, der sich mit Bolzenschneider an einem Fahrradschloss zu schaffen macht, auch wenn er einfach in der Dienststelle der British Transport Police, der Bahnpolizei, auf der anderen Straßenseite anrufen und es denen überlassen könnte.

Heute Abend ist es allerdings ruhig: kein Fahrraddieb, noch keine Betrunkenen – es ist erst Dienstag. Mit Betrunkenen ist normalerweise ab Donnerstag zu rechnen, wenn sie die frühen Morgenzüge nach Hause nehmen. Sie kommen allein oder zu zweit, Männer und Frauen, zu dünn angezogen und bibbernd, direkt aus Peterboroughs schicksten Nachtclubs. Entweder Arm in Arm oder einander anrempelnd, torkeln sie auf die Bahnsteige. Unweigerlich knickt irgendwann einer klappmesserartig in der Hüfte ab, geht in Haarnadelform und erbricht platschend ganze Pfützen mitten auf den Bahnsteig. Zum Glück ist das das Problem der Reinigungsleute. Im Winter muss Tom allerdings auch schon mal Schnee schippen und Streusand ausbringen; wenn direkt vor dem morgendlichen Stoßverkehr ein Schneesturm loslegt, bleibt ihm nichts anderes übrig. Seiner Meinung nach könnten die Bahnsteige von Peterborough wirklich eine Überdachung vertragen.

Wenn es nicht die Betrunkenen sind, sind es die mit den psychischen Problemen. In letzter Zeit hat es ein paar Vorfälle mit einer Frau mittleren Alters gegeben, die der Bahnpolizei bekannt ist, offensichtlich eine schlaflose Irre, die sich im Bahnhof herumtreibt, sobald er aufmacht, und die frühen Pendler belästigt. In braunem Mantel über bodenlangem Nachthemd und Gummistiefeln stapft sie umher und tippt sich mit zwei Fingern in einer »Hast du mal ’ne Kippe«-Geste an die Lippen, wenig aussichtsreich, wenn man bedenkt, dass Rauchen in Bahnhöfen seit 2007 verboten ist. Gelegentlich springt ein Obdachloser über den Sicherheitszaun – es ist nicht schwer, in den Bahnhof einzudringen –, aber Tom bemerkt ihre Silhouetten meistens auf dem Überwachungsmonitor, noch bevor sie auf dem Bahnsteig landen, stürzt raus und brüllt über die Gleise, dass er die Bahnpolizei holt, wenn sie nicht durch den Hauptausgang verschwinden. Da gibt es nie Ärger. Bei richtiger Eiseskälte kann es vorkommen, dass Tom ein Auge zudrückt – solange er die Gestalt auf dem Monitor erkennt – und sie eine Zeit lang in einem Wartehäuschen unterkriechen lässt, bis sie der diensthabende Wachmann entdeckt. Er weiß, das sollte er nicht tun, aber in manchen Nächten bringt er es einfach nicht übers Herz.

Heute Nacht passiert allerdings nichts von alledem. Es herrscht Ruhe. Das einzig Interessante auf den Überwachungsvideos ist der Fuchs, der den Bahnhof nach allem Müll absucht, in dem sich ein Krümel zu fressen finden könnte, wobei er in der Ecke des einen Kamerabilds verschwindet und wie durch Zauberhand in einem anderen wiederauftaucht.

Tom und Dalmar, ins Gespräch über Dalmars berufliche Zukunft vertieft, werfen nur ab und an einen Blick auf die Bildschirme – so kommt es, dass sie weder den Fuchs noch den Mann sehen. Nur ich, die ich mich aus purer Langeweile im Büro herumdrücke und ihnen zuhöre, sehe den Mann in den Bahnhof kommen und die Treppe zur Fußgängerüberführung mit Zugang zu den Gleisen ansteuern. Ich weiß auf Anhieb, wo er hinwill: zu Gleis sieben.

Bahnsteig sieben ist neu. Er wurde anscheinend vor vier Jahren gebaut – die Mitarbeiter reden immer noch davon, wie störend sich das auf den Betrieb auswirkte. Man hätte doch meinen können, der Bahnhof von Peterborough sei groß genug gewesen – aber nein, die mussten sich natürlich beweisen und anbauen, noch zwei Bahnsteige dort, wo mal das alte Gütergleis und das Abstellgleis für Flugaschetransporte gewesen waren. Dieser Teil des Bahnhofs ist am weitesten vom Eingang, vom Büro der Bereitschaftsteamleitung und dem Kunden-Infostand entfernt. Selbst wenn dem Mann die Bezeichnungen diverser Stellen der Bahnhofsverwaltung nicht geläufig sind, weiß er doch, dass er auf Bahnsteig sieben am weitesten weg vom Bahnhofspersonal ist. Der Haupteingang öffnet sich um drei Uhr morgens für die Handvoll Fahrgäste, die den ersten Zug Richtung Süden nehmen – hauptsächlich Zugpersonal auf dem Weg zur Arbeit –, und zwar von Gleis eins. Um diese Zeit gibt es für niemanden einen vernünftigen Grund, sich in der Gegend von Gleis sieben aufzuhalten. Hier fährt der erste Personenzug um 6.10 Uhr nach Birmingham New Street. Wenn er den nehmen will, ist er verdammt früh dran.

Als ich ihn finde, sitzt er auf der Metallbank etwa auf Dreiviertelhöhe des Bahnsteigs, der entfernten Bank, die der Zugangsrampe am nächsten liegt, der ruhigste Teil des ganzen Bahnhofs. Er führt ins Nirgendwo, man sucht ihn nur auf, wenn man dort sein will – oder nirgends.

Er ist um die sechzig, ein kräftiger, hünenhafter Mann, das sehe ich ihm selbst im Sitzen an. Mittlerweile habe ich Übung darin, den Körperbau von Leuten abzuschätzen, ihre Maße und ihr Gewicht mit meinem gemächlichen Blick zu taxieren. Er trägt eine dicke, altmodische Jacke, früher sagte man Donkeyjacke dazu, dunkelblau mit Lederbesatz. Nie ganz so warm wie erhofft, diese Jacken, und seine gebückte Haltung lässt vermuten, dass sie ihm auf die Schultern drückt, als stünde sie für alles Schwere in seinem Leben, das ihn belastet.

Aber warum sollte schließlich irgendwer fröhlich aussehen, der an einem stockfinsteren, eiskalten Novembermorgen im Bahnhof von Peterborough am Ende von Bahnsteig sieben auf einer Metallbank sitzt?

Ich beobachte ihn noch ein wenig. Er hockt vollkommen still auf der Bank, mit Blick auf die Gleise. Seine schwarze Wollmütze hat er über beide Ohren gezogen, einen meergrünen Schal um die untere Gesichtspartie geschlungen. Mit hochgezogenen Schultern hat er die Hände so in die Taschen gesteckt, dass die Ellenbogen zu beiden Seiten spitzwinklig abstehen. Man sieht es ihnen nicht immer an. Man sollte meinen, dass ich sie mit meinem Überblick aus meilenweiter Entfernung herauspicken könnte. Nicht unbedingt – auf Bahnhöfen treiben sich die unterschiedlichsten Typen herum. Neben Krankenhauswarteräumen und Arbeitsämtern gehören sie zu den wenigen Orten, an denen jemand stundenlang sitzen kann, ohne zum Weitergehen aufgefordert zu werden. Jeder wartet dort auf etwas: Das Etwas kommt, das Etwas geht, wie Ebbe und Flut – warum sollte eine Einzelperson auf einer Bank irgendwem auffallen? Manchmal haben sie eine Tüte auf dem Boden abgestellt, oder sie spielen an ihrem Handy herum. Dass dieser hier weder Tüte noch Handy hat, bestärkt mich erst recht in der Annahme, was er vorhat.

Selbst wenn ich mich vor ihn begebe, sehe ich nicht sein ganzes Gesicht, nur das Stück zwischen den Rändern von Schal und Mütze. Er hat eine großporige Knollennase und wässrige Augen. Mit ausdruckslosem Gesicht starrt er vor sich hin – doch was nach Verzweiflung oder Verstörtheit aussieht, könnte einfach eine körperliche Reaktion auf die Kälte sein. Ich beobachte ihn minutenlang. An seinem Gebaren ändert sich nichts. Er hat einen ziemlich glasigen Blick – daher weiß ich es sicher, und dieses Wissen fühlt sich bleiern an.

Ich schaue mich um. Er wird Tom und Dalmar auffallen oder vielleicht jemandem vom Putzpersonal. Seit ich erkannt habe, was für einer er ist, sticht er für mich heraus wie ein bunter Hund.

Aber der hier ist ein Schlauer, der vorausdenkt. Er hat sich Gleis sieben ausgesucht. Dort gibt es keinen Kiosk – der Snackwagen kommt erst in zwei Stunden in den Warteraum, und die Bank, die er genommen hat, wird von der geschlossenen Seite des Wartehäuschens verdeckt. Ob er das wohl weiß, es ausgespäht hat, vielleicht auf einem Erkundungsgang? Auf Bahnsteig sieben herrscht gähnende Leere. Die Sozialwohnungsbauten, die jenseits von Brachland und Schrottplatz herüberschauen, sind dunkel, mit zugezogenen Vorhängen. Daneben liegt der riesige Hof des Gebrauchtwagenhändlers, doch jetzt, mitten in der Nacht, sind die Türgitter der Lagerhalle herabgelassen. Weit und breit ist keiner da; niemand hätte einen Grund, ihn zu sehen. Diese kalte Bank, dieser Bahnsteig haben nur auf ihn gewartet. Er ist nicht der Erste, der das denkt.

An der Mauer der Zugangsrampe hängt eine Überwachungskamera – am äußersten Ende des Bahnsteigs, neben dem roten Signallicht, genau auf die Bank ausgerichtet, auf der der Mann sitzt. Ich sehe nach, ob das Licht an ist: Ja, sie ist eingeschaltet, aber entweder sind Tom und Dalmar weiter ins Gespräch vertieft, oder Dalmar dreht noch eine Runde, und Tom spielt Scrabble auf seinem Handy, wie auch sonst manchmal, wenn Dalmar auf Kontrollgang ist. Seine Erfahrung mit Dalmars Gewissenhaftigkeit wiegt ihn in trügerischer Sicherheit.

Ich fixiere den Mann: immer noch dieser wässrige starre Blick. Sieh dich um, denke ich, schau auf. Sieh genau hin. Dann siehst du den kleinen Vogel auf der Dachkante des Toilettenhäuschens, der still ist, aber in Erwartung der Morgenröte mit den Flügeln schlägt, auch wenn es bis dahin noch lange zu dauern scheint, was auch stimmt. Mit einem Aufblicken könntest du bemerken, dass sich der Himmel weit hinter den Sozialblöcken darauf vorbereitet – auch wenn die Dunkelheit noch nicht weicht, dünnt sie aus, und, schau nur, sie harrt des Lichts, das da kommen wird. Nicht Licht siehst du dann, sondern die Möglichkeit von Licht. Und dir wird klar: Wie finster auch immer die Nacht war, es gibt stets einen neuen Tag.

Wenn ich doch nur sprechen könnte, zumindest flüstern. Dann könnte ich diesem Mann ins Ohr zischeln: Glaub mir, du hast etwas Furchtbares vor – wie furchtbar, geht dir erst auf, wenn du das Gleichgewicht verlierst und es kein Zurück mehr gibt. Dann werden sie dir in den Sinn kommen, die Menschen in deinem Leben, ihre Gesichter, und in diesem letzten verhängnisvollen Moment merkst du, dass es ein entsetzlicher Fehler ist, das Allerschlimmste, was du überhaupt tun konntest. Also, eins ist gewiss – genau in der Sekunde, in der deine Füße den Bahnsteig verlassen haben, wirst du es dir anders überlegen.

Ich stehe direkt vor ihm – kann er meine Anwesenheit nicht spüren? Du musst schon an mir vorbei, denke ich, voll und ganz darauf konzentriert, dass er die Macht meiner Gedanken zu spüren bekommt. Normalerweise sehe ich den Leuten an, was sie denken oder spüren, doch als ich in diese wässrigen Augen blicke, ist ihre Teilnahmslosigkeit erschreckend: Er denkt oder fühlt überhaupt nichts. Sein Entschluss steht fest. Und dann kommt es zu seiner ersten Bewegung: Mit beiden Händen zieht er sich die Oberkante des Schals über die Nase und den Mantelkragen etwas höher um den Schal. Du mummelst dich noch ein gegen Kälte?, will ich ihn anschreien. Herrgott noch mal, in einer Minute wirst du gar nichts mehr spüren.

Er steht von der Bank auf und wendet den Kopf ein wenig nach links. Er hat etwas Entferntes gehört. Es ist sein Schicksal; noch weit weg, donnert es bereits auf ihn zu: ein Güterzug. Güterzüge sind furchtbar: grausam, schwer, endlos – bei langsamer Fahrt sieht es aus, als brauchten sie Stunden, um den Bahnhof zu passieren. Wenn die Lokomotive schon längst außer Sicht ist, scheint das andere Ende immer noch meilenweit entfernt zu sein. Man kann kaum glauben, dass da jemals ein Lokführer im Führerstand war.

Der Mann stapft etwa einen Meter vor, bis er nahe an der Bahnsteigkante steht, über den Blindenleitstreifen aus gerilltem Gummi hinaus, über die gelbe Linie. Ich weiche zurück, bleibe aber zwischen ihm und dem Gleis. Jetzt sind wir einander gegenüber. Wie ein Gehbehinderter schlurft er zentimeterweise vor, aber ich weiß ja, dass keine Körperbehinderung hinter dem Unwillen seines Körpers steckt, sich der Kante weiter zu nähern. Sein Körper weiß besser als sein Geist, wie entsetzlich das ist; er will ihn schreiend zur Vernunft bringen. Warum hört er nicht auf ihn? Jede Faser spannt sich an, um vor dem Abgrund zurückzuweichen.

Jetzt schwankt der Mann etwas. Immer noch sind nur seine Augen zu sehen, die groß und blass sind, tränenglänzend. Warum hat ihn noch niemand bemerkt? Ich sehe mich im Bahnhof um, als könnte ich meine Gedanken so laut und panikartig werden lassen, dass sie Dalmar oder Tom herbeirufen, und dabei höre ich den Zug näher kommen – und auch er hört es. Ich sehe mich wieder nach ihm um, und er hält den Kopf so, dass er nach links das Gleis entlangsieht, und wir hören beide den donnernden, polternden Güterzug immer näher kommen, den Lärm, und sehen die beiden leuchtend gelben kreisrunden Scheiben seiner Spitzenlichter, weit weg und geisterhaft, an den Rändern verschwommen, aber innen fest, drohend, wie sie im Dunkeln auf uns zurasen.

Ich höre einen Schrei aus der Richtung der alten Bahnsteige, drehe mich um und sehe Dalmar jenseits der Gleise auf Bahnsteig fünf. Endlich. Der Mann steht mit dem Rücken zu ihm, doch Dalmar hat ihn entdeckt und kann sehen, dass er viel näher als erlaubt an der Kante von Bahnsteig sieben steht. Armer Dalmar. Er steht wie festgewurzelt da. Er ist dichter an der Rampe als an der Treppe und muss wissen, dass die Zeit nicht reicht, um die Überführung zu nehmen, rauf-, rüber- und wieder runterzurennen, bevor der Güterzug einfährt. Bestimmt hat er mit seinem Funkgerät Tom verständigt, einen Nothaltauftrag abzusetzen, aber ich höre das Grollen des Güterzugs lauter und lauter werden – es ist ein schneller, voll beladener Zug auf der Durchfahrt –, wer weiß, ob ihn das Nothaltsignal rechtzeitig aufhalten oder ob der Lokführer ihn abbremsen könnte? Tom wird den Ruf mit zitternden Händen absetzen. Ist diesem Mann nicht klar, was er den beiden antut, von seiner eigenen Familie ganz zu schweigen?

Aus lauter Verzweiflung hält sich Dalmar beide Hände trichterförmig an den Mund und brüllt: »Hallo! Sir! Sir, Sie da drüben!«

Der Mann dreht sich nicht um.

Dalmar schwingt die Arme hin und her, schiebt den Mann pantomimisch von der Bahnsteigkante. Er legt die Hände wieder an den Mund und ruft erneut: »Hey! Sir, Sie da drüben!« Ich höre das verzweifelte Keuchen in seiner Stimme, wie gebrochen sein Zuruf endet, und stelle mir vor, wie er später bei der amtlichen Untersuchung schildert, dass er quer über die Gleise gerufen hat, weil es ihm die einzige Möglichkeit schien, den Mann auf sich aufmerksam zu machen, nur um von Schuldgefühlen zerfressen zu werden, die Tat des Mannes damit ausgelöst zu haben. Was nicht zutrifft. Ich habe bislang drei Männer gesehen, die kurz davor waren – und in letzter Minute einen Rückzieher gemacht haben. Dieser ist anders; nicht ansprechbar von Gefühlen und Gedanken. Sein Entschluss steht fest.

Ich drehe mich wieder zu ihm um, als eben der Zug auf uns zudonnert, die kalte Luft mit seinem wuchtigen Stahlgehäuse und seinem Getöse erfüllt, mit seinen grauen Schotterhaufen in rostroten Containern. Der Mann kippt in unnatürlich steifer Haltung vornüber, wie ein gefällter Baum. Ohne auch nur das mindeste Schwanken hält er sich vollkommen gerade, stürzt durch mich hindurch aufs Gleis, genau bei Einfahrt des Zuges. Die Schwerkraft erfasst ihn. Im Fall rudert er nicht mal mit einem Arm.

2

Tut es weh, tot zu sein? Natürlich nicht. Man spürt weder Hunger noch Kälte, wird niemals müde – doch körperlos sein fühlt sich an wie betäubt sein. Am besten kann ich es so erklären: Kennst du diesen Zustand, wenn du mitten in der Nacht aufwachst, zur Toilette musst, aufstehst und durch den Flur gehst? Wenn du wach bist, aber nicht richtig wach. Dein Körper reagiert automatisch, und du verschwendest keinen Gedanken daran, während du die Tür zum Bad aufschiebst. Manchmal kannst du dich nicht mal mehr dran erinnern, bis die Person, mit der du das Bett teilst, am Morgen grummelt: Du hast mich letzte Nacht wach gemacht, als du aufgestanden bist. Ich hab ewig gebraucht, um wieder einzuschlafen. Und du sagst: Echt? Ich bin nachts aufgestanden? Ganz sicher? Dieses Gefühl, dieser Zustand wie in Trance, wach, aber nicht ganz wach, so sieht es bei mir aus.

Wenn man kein fest umrissenes Ich mehr hat, wird einem erst klar, an was für ein plumpes, forderndes Ding man gefesselt war: all diese Bedürfnisse, wie schwer sie ins Gewicht fielen. Das Schlimme ist, dass die tranceartige Verfassung auch meine Gedanken umfasst. Ich kann mich nicht erinnern, wer ich war. Ein Mensch mit Gedächtnisverlust würde vielleicht sagen: Ich will nur wissen, wer ich bin – ich weiß, wer ich bin, ich bin ein Gespenst, unsichtbar und stumm, nichts als Bewusstsein. Ich will wissen, wer ich war.

Neulich habe ich eine Mutter gesehen, die vor ihrem Kind kniete, während sie auf Bahnsteig drei warteten: eine grauhaarige Frau, das Kind ein kleines Mädchen um die drei in dunkelblauem Dufflecoat mit Knebelverschlüssen aus Holzimitat. Die kniende Mutter zog dem Kind die Strickmütze etwas tiefer in die Stirn und steckte ihm den Pony drunter. Die Kleine hielt ganz still, während ihre Mutter diese winzige überflüssige Geste vollführte, und lächelte dann – ein selbstzufriedenes Lächeln, wie ich fand: das Lächeln eines Kindes, das sich geliebt und geborgen weiß, weil seine Mutter mit Bestimmtheit ihm gehört.

Die Mutter gab dem Kind ein Küsschen auf die Nase, bevor sie aufstand, und ich erkannte plötzlich etwas wieder, wie wenn man mit einer Taschenlampe in einen Tunnel leuchtet. In dem Alter wurde ich geliebt. Ich hatte einen Pony, als ich klein war. Meine Mutter kürzte ihn mir immer, indem sie mir die Haare zwischen zwei Fingern von der Stirn abhielt und dann ganz langsam und vorsichtig an der Außenkante ihrer Finger entlangschnitt. Danach ließ sie die Stirnfransen los, sagte »mach die Augen zu« und schnitt alles Überstehende nach. Schließlich spitzte sie den Mund und hauchte mir auf Stirn, Augen und Nase, um die kleinen losen Härchen wegzupusten.

Wenn man keinen Körper hat, ist die Zeit nicht mehr gleichmäßig oder beständig: Sie dehnt und verbiegt sich, faltet sich zusammen. Aus einem Augenblick, in dem man jemanden einen Bahnsteig entlanggehen sieht, wird ein Jahrzehnt. Zwei Jahre vergehen wie im Flug. Es ist ein bisschen, wie auf eine elektronische Anzeigetafel zu schauen: Manchmal starrt man gefühlte Stunden die Buchstaben und Zahlen an, die den Zug symbolisieren, auf den man wartet, und nichts passiert. Dann wieder scheint die Anzeige von zwanzig Minuten bis zur Einfahrt des Zuges direkt zu der Ankündigung umzuspringen, dass er in zwei Minuten kommt, jetzt aber dalli. So ist mein ganzes Leben. Leben – das Wort gebrauche ich im weitesten Sinne. Meine ganze Zeit träfe es eher. Ich habe kein Leben mehr – nur Zeit.

Letzte Woche wurden die Uhren zurückgestellt. Eine verlorene Stunde; eine gewonnene Stunde – wenn wir die Stunde im Frühjahr verlieren, wird von uns erwartet, dass wir uns auf den Sommer freuen: die längeren Abende, Vogelgesang und all das, aber eine verlorene Stunde ist eine ganze Stunde, die fehlt. Was, wenn man in dieser Stunde den Lottoschein gekauft hätte, der einem das Leben verwandelt hätte, oder seiner einzig wahren Liebe begegnet wäre? Was, wenn es die Stunde war, in der man die beste Entscheidung seines Lebens getroffen hätte? Diese Stunde kriegt man nie wieder, sie ist weg – wenn man sechsundneunzig Jahre alt wird, hat man ganze vier Tage verloren. Die Stunde, die man im Winter dazugewinnt, ist nicht die verlorene Frühjahrsstunde, die wiederkehrt. Diese Stunde ist kein Geschenk. Sondern die Zeit bricht auf, sie schwillt an und klafft auseinander, weit genug, dass alles Mögliche rauskriecht. Am nächsten Tag überfällt einen um fünf Uhr nachmittags die Dunkelheit, und es fühlt sich jäh an, selbst wenn man damit gerechnet hat. Schon treiben Dinge ihr Unwesen, die zuvor nicht da waren, und vor einem erstreckt sich der lange britische Winter. Von da an wird es nur immer dunkler. Und um vier Uhr morgens ist es am allerdunkelsten.

Sie lassen nicht mal den 6.10-Uhr-Zug nach Birmingham ausfallen. So läuft das nicht.

Sobald Tom die Meldung an das Notfallmanagement durchgegeben hat, wird der Zugverkehr angehalten. Als Nächstes ruft er die Bahnpolizei im kleinen Backsteinbau neben dem Parkhaus an, weil er sie kennt und ihre Durchwahlnummer hat. Sie sind keine Minute vom Bahnhofshaupteingang entfernt.

In dieser Nacht ist der einzige Wachhabende Police Constable Lockhart (Vater aus dem schottischen Midlothian, Mutter aus Southall, London). Sein Sergeant, der zuvor da war, ist um drei Uhr morgens gegangen, sodass PC Lockhart bis zum Eintreffen der Morgenschicht um sieben allein ist. Um diese Zeit passiert normalerweise sehr wenig, also macht er, was alle Polizisten tun, wenn kein Sergeant oder Inspector in der Nähe ist: die Füße auf den Schreibtisch hoch und den Kopf an die Rückenlehne legen. Er hat die Augen geschlossen, umfasst eine Tasse Instantkaffee mit beiden Händen, hat sie auf seiner Schutzweste abgestellt. Er denkt an eine junge Frau, Veena, die mit seinem Cousin Randeep in Leicester verlobt und, wie er findet, die schönste Frau ist, die er je gesehen hat. Sie ist Zahnarzthelferin, und obwohl er sie nie bei der Arbeit erlebt hat, stellt er sie sich immerzu in ihrem weißen Kittel vor. In seinen Träumen ist der Kittel immer makellos sauber, und das lange glänzende Haar fällt ihr wasserfallartig über Rücken und Schultern. Um vier Uhr an diesem einen Morgen denkt er an Veena in ihrem weißen Kittel, fragt sich, ob er sie ewig lieben wird, und wenn ja, wie peinlich das wäre, weil er dazu verdammt ist, ihr auch noch in Jahrzehnten auf Familienfeiern zu begegnen.

Dann klingelt das Telefon, und es ist Tom, der atemlos in den Hörer keucht: »Wer ist da? Wer ist dran? Peter?« Peter Barker ist der Inspector, ein alter Freund von Tom. Die beiden spielen in einer Ukulele-Band.

»Nein, ich bin’s, Akash«, sagt PC Lockhart, auch wenn er die Stimme am anderen Ende der Leitung nicht erkennt – Tom kennt er nur vom Sehen. »PC Lockhart, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Schienensuizid auf Gleis sieben«, sagt Tom.

PC Lockhart richtet sich kerzengerade in seinem Stuhl auf und knallt die Kaffeetasse so schwungvoll hin, dass der Inhalt auf seinen Schreibtisch überschwappt. »Haben Sie es der Leitstelle gemeldet?«

»Ja.«

»Gut, okay, bin schon unterwegs«, sagt Lockhart.

Blitzartig stürmt er aus seinem Büro und rennt über den Bahnhofsvorplatz. Tom wartet an den Bahnsteigsperren auf ihn, das Gesicht maskenhaft verzerrt vor Panik.

Im Vorbeirennen sagt Lockhart: »Bahnhof schließen, sofort!«

Tom nickt.

Lockhart rennt zur Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal. Beim Überqueren der Fußgängerbrücke spricht er in sein Funkgerät und erfährt, dass Kollegen aus Milton Keynes und Nottingham unterwegs sind – die Truppe aus Nottingham war gerade irgendwo zwischen Corby Glen und Market Deeping, warum auch immer, braucht also nicht lange, aber die Kollegen aus Cambridgeshire werden trotzdem zuerst vor Ort sein. Während er die Treppenstufen zu Bahnsteig sieben hinunterhastet, streift er sich die Gummihandschuhe über.

Der Bahnsteig ist leer, und er entdeckt Dalmar nicht gleich, doch dann sieht er ihn am anderen Ende knien, nicht weit von der Zugangsrampe. Er hat sich beide Hände krampfhaft vor den Mund geschlagen, aber beim Näherkommen hört Lockhart ihn etwas murmeln, vielleicht ein Gebet oder eine Reihe von Entsetzensrufen. Er wiegt sich etwas hin und her. Der junge Polizist geht zu dem Wachmann hinüber und legt ihm eine Hand auf die Schulter. Er weiß nicht, wie er heißt. Er beugt sich runter und sagt: »Schon gut, Kumpel, Hilfe ist unterwegs, ist ja schon gut.« Komisch, dass er Kumpel zu ihm gesagt hat, denkt er später, wo der Mann bestimmt zehn Jahre älter ist als er; ein bisschen anmaßend von ihm. Er wollte ihn nur trösten.

Er schaut nach rechts die Gleise hoch, in die Midland-Dunkelheit, die den Güterzug verschluckt hat. Irgendwo weiter weg wird er hoffentlich zum Stehen gekommen sein, obwohl es einer mit hundert Stundenkilometern und voller Ladung war, der könnte meilenweit gekommen sein – falls der Lokführer den Suizid überhaupt bemerkt und sofort abgebremst hat. Lockhart braucht unbedingt so rasch wie möglich die Aussage des Fahrers.

»Haben Sie es beobachtet?«, sagt er sanft zu Dalmar, und der nickt wortlos. »War irgendwer sonst in der Nähe, auf dem Bahnsteig, drumherum?«, fragt Lockhart, und Dalmar schüttelt den Kopf, immer noch stumm, die Hände immer noch krampfhaft vor den Mund geschlagen, die Augen schwimmen in Tränen. Der Mann steht unter Schock, denkt Lockhart; seine vollständige Aussage kann er später aufnehmen. Dann blickt Lockhart aufs Gleis runter und sieht, was Dalmar sieht.

Die Polizeieinheit aus Cambridgeshire trifft mit Taschenlampen ein und leuchtet damit nach unten, links, rechts, oben und wieder nach unten. Lockhart behält einen von ihnen da und schickt die anderen beiden los, um Tom beim Absichern des Bahnhofs zu helfen, auch wenn nur eine Handvoll Leute abgewimmelt werden muss. Die ersten Sanitäter vom Rettungsdienst sind zur Stelle, können aber auch nicht viel machen. Die neunzig Minuten haben angefangen – so viel Zeit gibt die Bahn der British Transport Police, um die Leichenteile so vom Gleis zu schaffen, dass der Zugverkehr wieder aufgenommen werden kann. Ihre Spezialisten vom Reinigungsdienst sind unterwegs.

Lockhart wartet, dass die aus Nottingham mit dem Leichensack eintreffen. Es sind zwei Polizisten und ein Sergeant, und er war noch nie so dankbar, einen höherrangigen Vorgesetzten vor sich zu haben. Der Sergeant springt sofort aufs Gleis runter und sagt: »Runter mit Ihnen, Junge, schon okay, ich sag Ihnen, was zu tun ist. Erst kommen die großen Teile dran. Haben Sie das schon mal gemacht?«

Lockhart schüttelt den Kopf. Der Sergeant lächelt ihm onkelhaft zu. »Atmen Sie durch den Mund. Halten Sie sich in meiner Nähe. Wir arbeiten zusammen. Ich heb die schweren Teile, Sie halten den Sack für mich auf, okay? Wenn wir fertig sind, schicken wir die beiden hier damit das Gleis lang.«

Als sie den Leichensack beladen haben und die anderen beiden Polizisten damit das Gleis entlang aufgebrochen sind, die Taschenlampen unterwegs von einer zur anderen Seite schwenkend, klettern er und der freundliche Sergeant wieder auf Bahnsteig sieben hoch und warten auf das Reinigungsteam.

»Haben Sie irgendeine Ahnung, wie er da unten hingeraten ist?«, fragt der Sergeant. »Ist er vom Bahnsteig gesprungen, oder war er schon im Gleisbett?«

PC Lockhart schüttelt den Kopf. »Es ist kein Problem, von dort drüben reinzukommen«, mit einem Arm zeigt er auf den Güterbahnhof, »aber er kann auch einfach vorne reinspaziert sein. Auf den Überwachungsvideos wird es drauf sein.«

Das Funkgerät des Sergeants knistert. Er hält es sich ans Ohr und sagt dann: »Sie haben den Lokführer.«

Das Spezialreinigungsteam besteht aus zwei Männern in wasserdichten orangen Jacken mit weißen Gesichtsmasken und schwarzen Gummistiefeln. Als sie ins Gleisbett steigen, knackt es wieder im Funkgerät des Sergeants, und er sagt zu Lockhart, dass die Polizisten aus Nottingham mit dem Leichensack am Eingang warten. Sie gehen zu zweit hinüber, packen zu viert jeder an einem Griff an, gehen nach rechts aus dem Bahnhof raus und bis ans andere Ende des Parkplatzes. So sind sie außer Sichtweite etwaiger Pendler, die vielleicht einen frühen Zug nehmen möchten – die Leute suchen sich immer die Stellplätze, die dem Bahnhof am nächsten sind.

Lockhart hat noch nie einen Leichensack getragen. Im Unterschied zu einer Tragbahre ist er wackelig. Am anderen Ende des Parkplatzes setzen sie ihn auf dem Boden ab und warten auf den kleinen schwarzen Transporter des Bestattungsinstituts Dignity. Der Sergeant ruft im Empfang des städtischen Krankenhauses von Peterborough an, um sicherzustellen, dass Träger da sein werden, wenn Dignity ankommt, um den Leichensack zu übernehmen und in die Pathologie zu bringen.

Bis jetzt hat Lockhart sich sehr gut gehalten, aber während sie in der Eiseskälte warten, merkt er, dass ihm auf einmal die Knie schlottern, und sagt sich: Jetzt bloß nicht schlappmachen. Mit gerade mal vierundzwanzig, davon zweieinhalb Dienstjahre, war er noch nie einer der Tapfersten, konnte wenig mit dem Galgenhumor anfangen, der unter den meisten Kollegen ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt – aber er wird es doch sicher schaffen, aufrecht stehen zu bleiben und nicht vor den anderen in die Knie zu sacken?

Der Sergeant – dessen Name Lockhart entgangen ist – beendet den Anruf im Krankenhaus und sagt nach einem Blick auf ihn: »Machen Sie, dass Sie zurückkommen, Junge, wir übernehmen ab hier. Bestimmt haben Sie genug anderes zu tun.« Lockhart wendet sich ab, ohne ihnen die Hand zu geben oder zu danken, denn sie sollen nicht spitzkriegen, dass er sich jetzt, da die akute Aufregung vorbei ist, kaum noch auf den Beinen halten kann. Auf dem Rückweg zum Bahnhof zieht er die eisige Nachtluft in langen Atemzügen in die Lunge, aber langsam, stolz, dass er weder umgekippt ist noch sich übergeben musste; dass er nicht geweint hat.

Als die ersten Fahrgäste zum 6.10-Uhr-Zug nach Birmingham New Street eintreffen, ist der Bahnhof wieder geöffnet. Etwa fünfzehn Leute erwarten den Zug auf Bahnsteig sieben. Nur einer von ihnen, einer stellvertretenden Kundendienstleiterin unterwegs zu einem überregionalen Gesundheits- und Sicherheitsinfo-Gruppentreffen in Leicester, fällt auf, dass der Bahnsteigboden frisch abgespritzt ist und entlang der Schienen Sand gestreut wurde.

PC Lockhart steht in der unaufgeräumten Küche seiner Dienststelle und macht sich noch einen Kaffee, diesmal aber voll drei gehäufter Teelöffel Zucker, als einer von der Nottingham-Truppe anklopft, eintritt und Lockhart einen kleinen durchsichtigen Plastik-Asservatenbeutel reicht, darin ein von einem linierten Notizblock gerissener beschrifteter Zettel. »Der Chef sagt, das hier soll bei Ihnen bleiben, für den zuständigen Untersuchungsrichter«, sagt er. »Als wir die Schienen abgegangen sind, war da der Mantel, hatte sich um ein Vorderrad gewickelt. Wir haben ihn abgeschnitten. Das hier war in der linken Tasche. Sonst nichts, kein Ausweis. Wir haben gesucht und nichts gefunden.«

Der Kollege aus Nottingham geht. Lockhart legt das Plastiktütchen auf die Arbeitsplatte und streicht es glatt. Er kann die Schrift auf dem Zettel durch die Tüte lesen. Blauer Kuli, ziemlich ordentlich. Das ist so ein Zettel, der bei der gerichtlichen Untersuchung eine Rolle spielen wird. Falls sich kein Angehöriger zur Bestätigung findet, wird ein Schriftsachverständiger bezeugen, dass die Schrift mit einem Einkaufszettel übereinstimmt, der in der Wohnung des Mannes gefunden wurde, und der Text allem Anschein nach nicht unter Zwang zu Papier kam.

Auf dem Zettel steht: Das hier und alles andere tut mir sehr leid. Bitte kümmert euch um Mutton, denn er ist ein guter Hund und besser als sein Herrchen. Vorsicht mit Zucker, nicht mal Bananen sind okay. Ich möchte, dass mein Besitz an den Tierärztlichen Dienst für Bedürftige geht, nicht an den Oxfam

PC Lockhart starrt auf den Zettel. Hinter Oxfam fehlt der Punkt, und er fragt sich, ob die Nachricht unvollständig ist. An den Oxfam-Laden? Rührend, dass der Mann an seinen Hund gedacht hat. Dann also weder Frau noch Kinder. Damit fühlt sich Lockhart schon ein klein wenig besser.

Trotzdem darf er keine voreiligen Schlüsse ziehen; zuallererst muss er versuchen, möglichst rasch etwaige nahe Angehörige ausfindig zu machen, damit sie verständigt werden können. Und die Überwachungsvideos aus dem Bahnhofsbereich gleich auswerten. Wenn der Mann den Vordereingang genommen hat, muss es eine deutliche Aufnahme seines Gesichts beim Reinkommen geben. In der Pathologie werden sie dem Leichnam die Fingerabdrücke nehmen – er hat genug gesehen, um zu wissen, dass es in diesem Fall zumindest möglich sein wird –, doch wer weiß, ob es einen Treffer geben wird. Die DNA werden sie auch testen und per toxikologischem Befund zu klären versuchen, ob der Mann Alkohol oder irgendwelche illegalen Substanzen im Blut hatte, aber manchmal geht das nicht. Wenn nicht genügend Körperflüssigkeit für einen Test vorhanden ist.

Ich überlasse es PC Lockhart, Eintragungen in seinen Notizblock zu machen, die erledigten Aufgaben zu protokollieren und die anstehenden aufzulisten, und begebe mich zurück zum Bahnhof.

Der Lokführer ist im Büro der Bereitschaftsteamleitung. Er ist ein sehr kleiner älterer Herr, vermutlich kurz vor der Rente, der einen zerbrechlichen Eindruck macht. Er brabbelt drauflos – erst später, denke ich, wird ihm einfallen, dass er es fast ohne einen solchen Vorfall durch all seine Dienstjahre geschafft hätte. Er erzählt dem engelsgeduldigen Tom, der zu jedem seiner Sätze nickt, seine Geschichte. »Man weiß nicht, was es ist«, wiederholt er ständig. »Man weiß es einfach nicht, oder? Man weiß es nicht. Könnte alles Mögliche sein, ein runtergefallenes Stück Dach oder, oder Beton. Oder ein Hund oder sonst was. Man denkt sich nicht, dass es, na ja, ein Mensch sein könnte, also da denkt man gar nicht dran. Es geht so schnell, man weiß nicht, was es ist.«

Dalmar sitzt bei den beiden. Bisher hat er noch nichts gesagt, sich nur an seiner Tasse Tee festgehalten. Der Zugführer ist jetzt für alle die Hauptperson, doch er weiß, wenn der erst mal abgefertigt und nach Hause gebracht ist, wird sich die Aufmerksamkeit ihm zuwenden. Er dürfte auch nach Hause gehen, wenn er wollte, aber es kommt ihm nicht richtig vor, darum zu bitten. Erst vor zwei Stunden war ein Mann im Bahnhof, der nie mehr nach Hause gehen wird.

Während er dem Lokführer zuhört und Tom beim Nicken zusieht, wird Dalmar plötzlich schlecht, so als wäre es im Büro sehr heiß geworden und alles darin ins Schwanken geraten. In seinem Kopf wimmeln die Gedanken – das letzte Mal, als ihm so etwas passiert ist, war er gerade aus dem Bahnhof raus gewesen. Er hatte eine Magen-Darm-Grippe gehabt und erst kurz zuvor die Erlaubnis erhalten, früher Schluss zu machen. Was ist nur los mit ihm? Letztes Mal war er zwar nicht Augenzeuge, aber trotzdem hat er das Gefühl, dass etwas an ihm Katastrophen anzieht, so als wäre er eine Gefahr für andere. Man weiß nicht, was es ist. Genau das hat er früher auch mal gedacht. Damals, als er einen Kopf auf dem Wasser treiben sah, wie er sich immer weiter entfernte, immer weniger wie etwas Menschliches und immer mehr wie ein Gegenstand aussah. Doch es war kein Gegenstand, sondern der Kopf einer Frau, die rief. Wann genau hört ein Mensch auf, ein Mensch zu sein, und wird zu einem unbelebten Gegenstand? Die meisten Leute meinen, der Punkt sei erreicht, wenn der Tod eintritt, doch Dalmar weiß, dass es nötigenfalls lange vorher passieren kann, damit andere Leute den Anblick ertragen. Plötzlich wirft Dalmar heftig seinen Kopf hin und her, und Tom und der Lokführer unterbrechen sich und blicken zu ihm rüber.

Er steht auf. Die Metallbeine des Stuhls scharren über den Boden. »Entschuldigung, ich muss mal kurz raus.«

Draußen wendet er sich nach rechts und geht die paar Schritte auf Bahnsteig eins bis zur Treppe. Er bleibt stehen, eine Hand am Geländer, wie jemand, der Gleichgewichtsstörungen hat, dreht sich dann um und lässt sich auf die dritte Stufe von unten sinken. Die Handgelenke auf die Knie gestützt, die Hände herabhängend, lässt er den Kopf sacken. Nach und nach treffen Fahrgäste ein, die von den Vorfällen der Nacht nichts ahnen. Im Lauf der nächsten Stunde wird es hell, und die Hauptstoßzeit beginnt. Die Kollegen werden sich natürlich untereinander verständigen, und man wird auf ihn zukommen und von ihm hören wollen, was passiert ist. Die Frauen werden ihn mitfühlend ansehen, die Männer ihm auf die Schulter klopfen. Melissa, die Bahnhofsvorsteherin, wird ihn in ihr Büro bitten und behutsam und verständnisvoll fragen, ob er sich freinehmen möchte oder professionelle Hilfe braucht. Alle werden freundlich zu ihm sein.

Dalmar ist nicht auf Freundlichkeit aus. Er will nur auf der Treppe sitzen. In seinem Bestreben, nicht an den Mann zu denken, ist ihm etwas anderes eingefallen, an das er nicht denken will: die Bootsfahrt, der hohe Seegang, die unartikulierten Rufe der Frau. Während das Boot weitertrieb, waren ihre Schreie immer noch zu hören, ihr Kopf ein kleiner werdender Ball, dann nur noch ein Punkt, schließlich ganz weg. Doch Dalmar kam es so vor, als hörte er die Schreie immer noch von weit her übers Meer hallen, lauter als das Klatschen des Wassers gegen den fragilen Bootsrumpf, selbst als das große Schiff längsseits aufragte und sie hochgehievt wurden. Selbst als sie auf dem großen Schiff weiterfuhren, wo die mächtigen Motoren im Maschinenraum das Deck unter seinen Füßen vibrieren ließen und die Frau längst außer Sicht war. Die Leute schreien um ihr Leben, jede Faser ihres Seins verlangt danach. So ist der Mensch nun mal beschaffen, sich danach zu verzehren, mit beiden Händen daran zu klammern, selbst wenn es einem zwischen den Fingern zerrinnt.

Eine Weiße in Hosenanzug mit Regenmantel darüber steigt die Treppe hoch und wirft im Vorbeigehen einen ganz kurzen Blick auf Dalmar, als fragte sie sich, wieso ein Wachmann eigentlich hier herumsitzt, wo der doch weiß Gott genug anderes zu tun hat. Zwölf Jahre lang hat sich Dalmar alle erdenkliche Mühe gegeben, in diesem Land unsichtbar zu sein, doch in dem Moment ist es ihm egal, wie viele Fahrgäste ihn auf der Treppe sitzen sehen oder ihn, so wie sonst üblich, einfach übersehen. Er denkt an die Sinnlosigkeit und Verschwendung: all die Leute, die er im Lauf der Jahre gekannt hat, die alles dafür gegeben hätten, am Leben zu bleiben; die Frau, ihre Schreie, selbst als der Punkt ihres Kopfes hinter den Wellenkämmen außer Sicht war. Warum sollte irgendwer freiwillig sein Leben hergeben? Was für eine Sünde. Was für eine Verschwendung.

Dalmars breite Schultern heben und senken sich einmal heftig. Er weint tränenlos. Seine Tränen hat er vor vielen Jahren aufgebraucht, doch die Trauer in ihm hebt und senkt immer noch seine Brust, schnürt ihm die Kehle zusammen. Er schließt die Augen und kneift sich mit Daumen und Zeigefinger einer Hand in den Nasenrücken, um die Tränen einzudämmen, die fließen würden, wenn sie könnten. Er ist froh, dass er aus dem Büro gegangen ist, bevor das hier passiert ist. Was für eine Verschwendung!

Ich sitze neben Dalmar auf der Treppenstufe, und wenn ich könnte, würde ich auch weinen, aber um ihn, nicht um den Mann. Mit dem kann ich kein Mitleid empfinden, so verzweifelt und ausweglos seine Lage auch gewesen sein muss, dafür nimmt Dalmar mich zu sehr mit – das restliche Bahnpersonal natürlich auch, doch etwas in Dalmar weckt in mir eine Sehnsucht, den Wunsch, ihm Sicherheit zu geben, im Wissen, dass ich das Gleiche von ihm erwarten kann: diesem großen sanften Mann, der aus mir unbegreiflichen Gründen so streng mit sich selbst ist.

Und so warten wir nebeneinander auf die nahende Morgendämmerung: ein Gespenst, das keiner sehen kann, und ein Wachmann, der zumeist übersehen wird.

3

Ich lasse Dalmar auf der Treppe zurück und begebe mich durch die Bahnsteigsperren und einmal quer durch die Bahnhofshalle nach draußen. Der Nachthimmel hellt auf, wandelt sich von Dunkelblau mit Wolkenfetzen in ein blasses, schmuddeliges Grau, die Schichten weniger scharf umrissen, Wolken und Hintergrund ineinander übergehend. Auch die Straßenlaternen, die in der Schwärze der Nacht so dottergelb leuchten, verblassen, verlieren an Leuchtkraft. Die Nacht ist klar konturiert, die Morgendämmerung unscharf. Warum sagen wir, dass der Tag anbricht und die Nacht heraufzieht? Tageslicht zieht ebenso herauf, so kommt es mir jedenfalls an diesem Morgen vor: Der Tag rafft sich auf, unwillig und diesig-trüb.

Draußen vor dem Bahnhof warten drei Taxis in einer Reihe, mit laufendem Motor, damit sich die Fahrer warm halten. Am Kreisverkehr hinter dem Taxistand hat sich vor dem Pendlerparkplatz eine Autoschlange gebildet. Hinter mir plärren die sich wiederholenden Zugansagen. Etwa zwanzig Fahrgäste warten in der kleinen Halle, die erhobenen Gesichter den elektronischen Anzeigetafeln zugewandt. Eine Gruppe Jungen in weinroten Blazern auf dem Schulweg verlässt quasselnd den Bahnhof, und etwas an ihrem Anblick stupst ebenso wie die Mutter mit Kind meine Erinnerung an – doch im nächsten Moment ist das schon wieder vorbei. Der Tag legt an Geschwindigkeit zu, während der Himmel aufklart, bis irgendwann gegen acht Uhr der Punkt erreicht ist, da sich alle miteinander, so ungern auch immer, damit abfinden müssen, dass sie wach sind.

Was für eine Beleidigung dieser stinknormale Tagesanbruch ist – niemand hier weiß, dass ein Mensch gestorben ist. Sie werden später davon erfahren, aus den sozialen Medien, den Fernsehnachrichten oder dem Peterborough Telegraph, »Vertrauenswürdige Nachrichten seit 1948«. Doch vorerst schreitet der Morgen ganz wie gewohnt voran.

Ich finde heraus, wie es nach mir gewesen sein muss.

Melissa trifft kurz vor acht ein. Sie ist früh dran, wurde bestimmt zu Hause benachrichtigt. Um vier Uhr morgens werden sie sie nicht angerufen haben, das wäre sinnlos gewesen, aber wahrscheinlich frühmorgens, sobald sie aufgestanden sein konnte. Melissa ist die Bahnhofsvorsteherin, der Oberboss, könnte man sagen. Sie ist so eine junge Frau, welche die Männer einer bestimmten Generation als niedliches Mädel bezeichnen würden, obwohl sie Mitte dreißig ist. Sie hat mit achtzehn bei der Bahn angefangen, das habe ich sie einmal zu Tom sagen gehört; genau wie er im Kundendienst (auch wenn sie ihm verschwiegen hat, dass sie von klein auf eine Überfliegerin war und studiert hätte, wenn die Parkinson-Erkrankung ihres Vaters nicht gewesen wäre). Sie ist zierlich, pfiffig, Respekt einflößend. Die Männer gesetzten Alters im Bahnhof, manche gut einen Kopf größer als sie, würden alles für sie tun.

Mit klappernden Absätzen kommt sie in ihrem dunkelblauen Wollmantel angestiefelt, das blonde Haar zu einem adretten Pferdeschwanz gebunden, einen dicken Schal um den Hals gewickelt. Sie nickt den beiden Angestellten am Infostand zu; natürlich hat es sich herumgesprochen, und alle sind heute Morgen ernst, statt wie sonst zu scherzen und zu lächeln. Auf Bahnsteig eins wendet sie sich mit einer eleganten Linksdrehung ihrem Büro zu, das hinter dem Bäckereistand der West Cornwall Pasty Company versteckt ist.

Drinnen wickelt sich Melissa den Schal vom Hals – das dauert, weil er sehr lang und mehrfach um ihren Hals gewunden ist wie eine Python. Ihre Mutter hat ihn ihr letztes Weihnachten gestrickt und ihr dieses Jahr passende Pulswärmer versprochen. Sie hängt den Mantel auf und zieht ihre rote Außendienstjacke über. Zuerst will sie mit den Mitarbeitern reden, sich davon überzeugen, dass bei ihnen alles in Ordnung ist, dann zu Gleis sieben gehen und sich umschauen. Hauptsächlich, um zu überprüfen, dass nichts mehr von dem nächtlichen Vorfall zu sehen ist, aber auch als eine Geste, eine Art letzte Ehrerweisung von ihrer Seite. Es ist das Mindeste, was sie für ihre Mitarbeiter tun kann, ein paar Minuten dort zu stehen und sich auszumalen, wie es für sie gewesen sein muss.

Das letzte Mal, als so etwas passiert ist, kamen die Eltern später an, mit vor Elend verquollenen Gesichtern, klammerten sich an einen kleinen Strauß Rosen, weiß und rosa, hübsch und geschmackvoll, den sie am Bahnsteigende niederlegen wollten. Sie waren mit ihrer Trauerbegleiterin gekommen, einer unerfahrenen Polizistin, die noch nie mit einem Schienensuizid zu tun gehabt hatte. Melissa musste die drei in ihr kleines Büro mitnehmen, wo es nicht einmal Sitzgelegenheiten für alle gab. Sie schafften es, einen Extrastuhl reinzuquetschen, damit beide Eltern Platz nehmen konnten, dann hatte sich Melissa auf die Schreibtischkante gehockt, während die Trauerbegleiterin an der Tür lehnte. Letztere übernahm das Reden, während die Eltern zustimmend nickten. Sie verstünden alle, dass es nicht unproblematisch sei, sagte sie. Sie wollten nichts Auffälliges – keinen ausladenden Kranz, keine Plüschtiere oder Botschaften –, sie wollten ihrer Tochter nur an der Stelle, wo sie gestorben war, die letzte Ehre erweisen.

Melissa ließ die Trauerbegleiterin ausreden und sagte dann ruhig und leise, dass es nicht infrage käme, so leid es ihr tue. Jedes Gedenken, und sei es auch nur das Niederlegen von Blumen auf dem Bahnsteig, sei wegen der Gefahr von Nachahmungstaten ausgeschlossen. »Selbst die Presse muss mit ihrer Berichterstattung zurückhaltend sein«, sagte sie. »Wir weisen sie ständig darauf hin, wie sensibel das ist. Auch die Fernsehsender mit ihren Spielfilmen und so weiter. Es gibt Richtlinien. Es tut mir furchtbar leid.« Ihren Ärger auf die Trauerbegleiterin, die sich in der Sache nicht zuerst an sie gewandt, sondern den Eltern falsche Hoffnungen gemacht hatte, was möglich sein könnte, schluckte sie runter.

Es war ein mühsames Gespräch gewesen. Die Eltern hatten es mit ihrem Verständnis nur noch schlimmer gemacht, hatten langsam genickt, und der Schmerz stand ihnen in die maskenhaft starren Gesichter geschrieben. »Natürlich …«, hatte der Vater heiser flüsternd erwidert, sich dann geräuspert und deutlicher weitergeredet: »Natürlich. Ja. Das verstehen wir.« Die Trauerbegleiterin hatte Melissa über ihre Köpfe hinweg einen bösen Blick zugeworfen.

Und dann, als wäre alles nicht schon schlimm genug für sie gewesen, hatten die beiden den Bahnhof verlassen müssen, den Strauß immer noch bei sich. Als sie fort waren, konnte Melissa den Gedanken nicht abschütteln, was sie wohl damit machen würden, wenn sie nach Hause kamen, die Blumen in eine Vase stellen oder wegwerfen. Noch lange danach machte sie sich Vorwürfe, dass sie keine Kompromisslösung vorgeschlagen hatte – etwa die Blumen am Infostand abzugeben, irgendwo, wo es in Ordnung und normal wäre, Blumen zu haben.

Ich hatte Eltern. Sie sind zum Bahnhof gekommen.

Melissa streicht sich das Haar glatt, zieht den Pferdeschwanz aus der Jacke und macht sich seufzend bereit, in die Kälte hinauszutreten. Das war damals ungewöhnlich, eine junge Frau in ihrem Alter. Sie hofft wirklich, dass dieser Mann besser in die Statistik passt. Traurig, aber wahr: Die älteren Männer, nun ja, haben oft niemanden. Da kommt fast nie wer.

Trotz ihrer relativen Jugend seit bald zwanzig Jahren im Dienst hat Melissa schon alles nur Erdenkliche erlebt. Einmal der Mitarbeiter, der sich bei Biggleswade auf die Schienen legte, nachdem er wegen Alkoholproblemen entlassen worden war; dann der Mann, der in Newark von der Brücke sprang und nach der Oberleitung griff – der überlebte, trotz, wie es beschönigend hieß, lebensverändernder Verletzungen. Eine Woche darauf war Melissa hier in Peterborough gerade noch rechtzeitig aus ihrem Büro gekommen, um sechs junge Frauen einer Junggesellinnenabschiedsparty auf Bahnsteig eins torkeln zu sehen, die einen Zug nach London erwischen wollten; zwei von ihnen hielten Bündel pinkfarbener Heliumballons an sehr langen Schnüren fest. »Holen Sie die Ballons sofort runter!«, rief sie ihnen zu, so laut, dass sich die anderen Fahrgäste und Kollegen auf dem Bahnsteig zu ihr umdrehten. Sie stiefelte auf die Frauen zu und wandte sich an die werdende Braut, die ein pinkes Satin-Cocktailkleid mit weißem Schleier und lila Doc Martens trug. »Was glauben Sie, woraus die Dinger bestehen?«, fuhr Melissa sie an. »Aluminium! Das ist Metall! Metall leitet Strom!«

Als sie sich abwandte, hörte sie die jungen Frauen kichern und dann eine von ihnen laut sagen: »Die Scheiß-Spaßpolizei ist hinter uns her, Mädels.« Womit sie Melissa provozieren wollte, sich umzudrehen und sie zurechtzuweisen. Die jungen Frauen lachten alle aufgesetzt, wiehernd, und Melissa ging in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich. Da saß sie an ihrem Schreibtisch, den Kopf in den Händen, und dachte an den Augenblick, als der junge Mann von der Brücke in Newark gesprungen war, direkt vor ihr, mit weit aufgerissenem Mund, während er mit einer Hand nach dem Oberleitungsdraht gegriffen hatte. Der Blitz; die schockierten Gesichter der Leute, die unten auf dem Bahnsteig warteten; wie eine ältere Dame zu ihr gesagt hatte, während der Krankenwagen vom Bahnhof losfuhr: »Der junge Mann kommt doch wieder auf die Beine, oder? Warum haben Sie ihn nicht aufgehalten?«

Sanitäter, Polizisten, Feuerwehrleute – sicher, die haben häufiger mit Notfällen zu tun, aber bei Eisenbahnern kommt es auch vor, und eine halbe Stunde später müssen sie einem Erste-Klasse-Passagier erklären, wie leid es ihnen tut, dass sein Wunschmenü im Speisewagen ausgegangen ist. Manchmal fragt sich Melissa, warum sie nicht einfach die Stewardessenausbildung gemacht hat. Fluggäste stellen wenigstens einen Zusammenhang zwischen ihrer Wahl der Beförderungsart und plötzlichem Tod her.

Melissa will gerade gehen – hat sogar schon die Hand nach der Türklinke ausgestreckt –, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelt. Wider besseres Wissen geht sie ran und bereut es umgehend.

»Melissa! Was für ein Glück, dass ich dich erwische …«

Simon. Er arbeitet bei einer regionalen Nachrichten-Website, ist der Sohn eines Stadtrats und kommt gerne vor dem Peterborough Telegraph an Neuigkeiten ran. In der Oberstufe war Melissa mal acht Monate lang mit ihm zusammen. Seither macht er auf alte Freundschaft, und sosehr sie sich auch müht, ihm schonend beizubringen, dass sie ihn nicht leiden kann, ist es ihr einfach nie ganz gelungen, ihn abzuschütteln.

»Simon, ich hab heute Vormittag viel um die Ohren …«

»Ich weiß, hab davon gehört, leg nicht auf. Als Aufhänger stell ich mir vor: Zweite Leiche in zwei Jahren auf Gleis sieben. Wann greift die Bahndirektion endlich ein? Was meinst du? Eigentlich sind es anderthalb Jahre, aber zwei kommt in Suchabfragen besser.«

»Bin ich die Bahndirektion?«

»Wem der Schuh passt, Süße.«

»Simon, wende dich an die Pressestelle.« Melissa legt auf.

Wie genau sollten sie »eingreifen«? Sie tun schon alles, was sie können. Sie haben Überwachungskameras, Bahnsteigsperren. Früher sind die Leute von der Crescent Bridge gesprungen, bevor an beiden Enden Metallplatten angebracht wurden, aber wenn es sich jemand in den Kopf gesetzt hat, ist die Person nicht davon abzubringen, das weiß jeder. Das Schienennetz lässt sich nicht abschotten. Wenn man die Bahnhöfe absichert und auf jedem Bahnsteig Wachpersonal postiert, würden die Leute einfach ins offene Gelände rauswandern, machen sie ja ohnehin schon. Melissa versucht vergeblich, keine feindseligen Gefühle gegen den Mann aufkommen zu lassen, der es letzte Nacht getan hat. Sie weiß, dass Fachleute, Behörden, andere Leute an die Trauer und Qual denken würden, die den Mann zu etwas so Furchtbarem getrieben haben, aber es liegt in ihrer Verantwortung, an die Trauer und Qual ihrer Mitarbeiter und all der anderen zu denken, die sie kennt, die hinter ihm aufräumen müssen.

Zweite Leichein zwei Jahren. Stimmt schon, Gleis sieben wird vom Pech verfolgt, aber so eine Schlagzeile unterstellt rundheraus, dass es zum alljährlichen Ereignis würde. Eine Verzerrung der Tatsachen. Simons Website – sie kann sich nicht mal an den Namen erinnern – wird vom örtlichen Gewerbe unterstützt und finanziert sich durch eine Klickrate, die für Werbung ausreicht, und sie weiß, dass die Artikel darauf auch schon mal in den RSS-Feeds erscheinen. Jedenfalls wird zwischen den beiden Todesfällen wohl kaum eine Verbindung bestehen, und zwei in anderthalb Jahren dürften statistisch nicht weiter ins Gewicht fallen.

Natürlich liegt sie richtig damit, dass zwischen den beiden Todesfällen keine Verbindung besteht; das kann ich mit Sicherheit sagen, denn der erste davon war ich, und ich glaube nicht, dass ich den Mann nach mir schon mal irgendwo gesehen habe – jedenfalls klingelt da nichts bei mir, so wie zuvor, als ich die Mutter mit ihrem Kind oder die Schuljungen in ihren weinroten Blazern sah.

Und doch habe ich ein komisches Gefühl, während ich Melissa beobachte, ihre Absätze über Bahnsteig eins klappern höre und sie im Teamleitungsbüro verschwinden sehe, und frage mich, ob der Mann und ich durch irgendein Ereignis oder eine Beziehung miteinander verknüpft sind, die ich vergessen habe. Warum sonst sollte mich sein Selbstmord so mitnehmen? Nur weil er mich auf etwas stößt, an das ich lieber nicht denken möchte: meinen Tod? Erst jetzt habe ich aus Melissas Erinnerung erfahren, dass meine Eltern in ihrem Büro sehr still dasaßen, während sie ihnen behutsam und taktvoll erklärte, warum sie keine Blumen auf dem Bahnsteig ablegen durften. Ich habe sie kurz durch ihre Augen gesehen. Ich würde mich so gerne selbst an meine Eltern erinnern: Sie sahen wie nette Leute aus, alle beide.

Melissa betritt das Teamleitungsbüro, aber die Kollegen von der Nachtschicht sind schon weg. Sie wird sie am Spätnachmittag zu Hause anrufen – jetzt nicht, falls sie schlafen. Sie wird bald ihre reguläre Einsatz-Nachbesprechung bekommen. Sie geht die Treppe hoch, um sich auf Bahnsteig sieben umzusehen. Auf halbem Weg über die Brücke hält sie ein Fahrgast an, grauhaarig, im Anzug, und beschwert sich: »Wissen Sie, wie langsam der Aufzug ist? Da verpasst man glatt seinen Zug, wenn man auf den wartet! Können Sie nicht Ihrem Chef Bescheid sagen, dass er was dagegen unternimmt?«

Sie entgegnet: »Das tut mir sehr leid, Sir, wir werden uns der Sache annehmen. Hoffentlich kriegen wir das in Kürze behoben.« Der Mann, der seinem Ärger Luft gemacht hat, geht mit großen Schritten weiter. Er sieht kräftig und gesund aus und hat nicht einmal Gepäck dabei. Unterm Strich kommt es ihr unwahrscheinlich vor, dass er den Aufzug wirklich gebraucht hat; bestimmt hat er sich mehr über seine eigene Faulheit geärgert als über die Fahrstuhlmechanik im Bahnhof von Peterborough.

Als Melissa die Treppe zu Bahnsteig sieben runtergeht, merkt sie, dass sie langsamer wird. Nicht dass es noch etwas zu sehen gäbe – nein, sie verspürt inneren Widerstand dagegen, sich ihren eigenen Fantasiebildern zu stellen. Im Lauf der Jahre hat sie genug zu sehen bekommen, um sich im Geiste ziemlich anschauliche Vorstellungen machen zu können.

Am Ende von Bahnsteig sieben steht PC Akash Lockhart und starrt aufs Gleis hinab. Melissa geht auf ihn zu. Sie mag Lockhart; er sieht ziemlich gut aus, der große schlanke Typ, bisschen ernst. Sie hat gehört, wie ihn die anderen Polizisten aufziehen, weil er ein Online-Masterstudium in Kriminalistik und Einsatzleitung drüben in Leicester absolviert. Ihr war nicht klar, dass man einen Masterabschluss in diversen Aspekten der Polizeiarbeit ablegen kann, aber offensichtlich geht es.

Während sie näher kommt, nickt er ihr zu, was sie mit einem Nicken erwidert. Sie stehen nicht weit von der Zugangsrampe, ein Stück abseits der meisten Fahrgäste, die auf den 8.24-Uhr-Zug nach Liverpool Lime Street warten. Eine oder zwei Minuten stehen sie so da und sehen nach unten, zeitweilig vereint in respektvollem Schweigen.

»Hatten Sie gestern Nacht Dienst?«, fragt Melissa schließlich.

In dem Moment ertönt das laute, langsame Kreischen eines Güterzugs hinter ihnen auf Gleis sechs, und Lockhart wartet mit der Antwort. Es dauert, bis der Güterzug durchgefahren ist und wieder Ruhe einkehrt; dann sagt er: »Ja, genau.«

»Sollten Sie dann jetzt nicht weg sein?«, erwidert sie. Sie stehen immer noch nebeneinander, starren immer noch nach unten, als könnte das Gleisbett, das Stück Boden zwischen den Schienen, Antworten bereithalten.

»Doch, wahrscheinlich schon«, antwortet er.

Sie bleiben noch etwas nebeneinanderstehen, dann sagt Lockhart: »Sie wissen sicher von der Frau, die letztes Jahr hier gestorben ist?«

Gott, du nicht auch, denkt Melissa.

»Bisschen vor meiner Zeit, aber hat sich irgendwer mal … na ja, das angesehen, also wo sie herkam, wer sie war?«

»Natürlich«, sagt Melissa. Ist das sein Ernst? Natürlich hat man sich das angesehen. Es gab eine Untersuchung. Was meint er?

»Ich mein bloß, es ist halt, sie war nicht die typische Kandidatin, oder?«, sagt er. Sein Masterstudium ist beim Modul über Viktimologie angekommen, Opferforschung. »Junge Frauen nehmen normalerweise Tabletten und neigen weniger zu Spontantaten. Irgendwie eine komische Todesart für eine wie sie.«

»Bei ihr waren psychische Probleme bekannt, es war zu Vorfällen mit Polizeieinsatz gekommen, und es gab einen Abschiedsbrief.« Ihr ist nicht ganz klar, was dieser Lockhart denn noch will.

Offenbar weiß er es selbst nicht so genau. Er nimmt die Mütze ab, kratzt sich am Hinterkopf, setzt sie wieder auf. Bewegt ein wenig die Schultern, als würde es ihn unter der Schutzweste jucken. Vielleicht ist er bloß müde. »Ja, stimmt schon«, sagt er. »Aber ich mein ja bloß: Es war nicht so ganz das Übliche, mehr nicht.«

Melissa zuckt die Schultern. »Die eine so, die andere so, nehme ich an.« Sie merkt selbst, wie herzlos sich das anhört, und bereut es, kennt Lockhart aber nicht gut genug, um es vor ihm zurückzunehmen. Soll er sie eben für kaltschnäuzig halten.

Lockhart wendet sich ab. »Tja, ich sollte mir besser meine Notizen ansehen. War ’ne lange Nacht.«

Melissa und ich sehen ihm nach. Normalerweise hat Lockhart einen beschwingten, zwanglosen Gang, den eines jungen Mannes, der sich wohl in seiner Haut fühlt und der noch an Pflicht und Gerechtigkeit glaubt – kaum vorstellbar, dass er jemals ein zynischer Sergeant oder Inspector wird: Er ist einer dieser jungen Männer, die aussehen, als kämen sie nie in ein gesetzteres Alter. Aber heute schleppt er sich den Bahnsteig entlang zurück – nur die Bezeichnung »schleppend« trifft auf seinen Gang zu. Es war wirklich eine sehr lange Nacht.

Leyla