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Heike van Hoorn

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Beschreibung

Ein glücklich verheirateter Kommissar und eine bullige Lokalreporterin, die sich an seine Fersen heftet, sind das neue Dreamteam des Küstenkrimis!

Der reiche Bauer Tadeus de Vries wird ermordet aufgefunden. Und fast jeder könnte der Täter sein, denn der alte de Vries hat sein Leben lang die Menschen um sich herum gedemütigt und misshandelt. Kein einfacher Fall für Stephan Möllenkamp, den neuen Hauptkommissar der Kripo Leer. Doch er hat nicht nur seine patente Frau Maike an seiner Seite, sondern auch die resolute Lokalreporterin Gertrud Boekhoff ...

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Seitenzahl: 485

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Danksagung

Prolog

Donnerstag, 28. Oktober 1999

Einen Tag zuvor

Freitag, 29. Oktober 1999

1946, im Frühjahr, irgendwo auf dem Fehn

Samstag, 30. Oktober 1999

Sonntag, 31. Oktober 1999

Mai 1946, ein Gulfhof im Rheiderland

Montag, 1. November 1999

Hochsommer 1946, ein Gulfhof im Rheiderland

Dienstag, 2. November 1999

Hochsommer 1946, Bunderhammrich im Rheiderland

Dienstag, 2. November 1999, abends

Hochsommer 1946, Bunderhammrich im Rheiderland

Mittwoch, 3. November 1999

Herbst 1954, Moordorf bei Aurich

Donnerstag, 4. November 1999

Herbst 1955, Moordorf bei Aurich

Freitag, 5. November 1999

16./17. Februar 1962, Pogum am Deich

Samstag, 6. November 1999

September 1998, Pogum

Sonntag, 7. November 1999

Anfang Oktober 1999

Montag, 8. November 1999

Dienstag, 9. November 1999

Mittwoch, 10. November 1999

Die nächsten Tage

Epilog

26. Dezember 2004, Ban Nam Khem, Thailand

Über dieses Buch

Ein glücklich verheirateter Kommissar und eine bullige Lokalreporterin, die sich an seine Fersen heftet, sind das neue Dreamteam des Küstenkrimis!

Der reiche Bauer Tadeus de Vries wird ermordet aufgefunden. Und fast jeder könnte der Täter sein, denn der alte de Vries hat sein Leben lang die Menschen um sich herum gedemütigt und misshandelt. Kein einfacher Fall für Stephan Möllenkamp, den neuen Hauptkommissar der Kripo Leer. Doch er hat nicht nur seine patente Frau Meike an seiner Seite, sondern auch die resolute Lokalreporterin Gertrud Boekhoff …

Über die Autorin

Dr. Heike van Hoorn wurde 1971 als älteste von drei Schwestern im ostfriesischen Leer geboren. Die promovierte Historikerin war u.a. Redenschreiberin des Hessischen Ministerpräsidenten, Kommunikationschefin des Flughafenverbandes ADV und ist heute Geschäftsführerin des Deutschen Verkehrsforums. Van Hoorn ist verheiratet und lebt mit Mann und Kindern in Berlin.

Heike van Hoorn

Deichfürst

Ostfriesland-Krimi

beTHRILLED

Digitale Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Dieses Werk wurde vermittelt durch die agentur literatur Gudrun Hebel.

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat/Projektmanagement: Rebecca Schaarschmidt

Covergestaltung: Chrissie Salz unter Verwendung von Motiven © iStock.com//Antagain, © Janis Smits/Shutterstock, © Michal Sanca/Shutterstock, © Olha Rohulya/Shutterstock, © schankz/Shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Ochsenfurt

ISBN 978-3-7325-4471-4

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Alois, Ella und Jan

Danksagung

Ich danke meinen Eltern für Ihr konstruktives Feedback und die kritische Durchsicht. Meine Mutter hat mit viel Wissen und Akribie regionalhistorische Fakten überprüft und die plattdeutschen Passagen korrigiert. Polizeidirektor Johannes Lind, Leiter der Polizeiinspektion Leer, sowie Christian Groeneveld und Annika Zempel, Pressesprecher, haben meine Fragen beantwortet und viel Hintergrundwissen beigesteuert. Trotzdem kommen im Roman Geschehnisse vor, die in der wirklichen Polizeiarbeit so nicht denkbar wären. Das fällt in den Bereich literarische Fiktion. Ich danke auch meinem Mann, Alois Kösters, dessen Lachen beim Lesen meines Manuskripts letztendlich entscheidend war, mich um eine Veröffentlichung zu bemühen.

Prolog

Donnerstag, 28. Oktober 1999

Der Westwind wehte kräftig heran, als der Alte das Haus wie immer ohne ein Wort verließ. Er ließ die schwere Haustür hinter sich ins Schloss fallen, sodass die eingesetzten Glasscheiben klirrten, und setzte sich seine schwarze Prinz-Heinrich-Mütze auf den Kopf. Mit schweren Schritten ging er über die geschotterte Auffahrt und öffnete das grüne Scheunentor. Er stieg in den silberfarbenen E-Klasse-Mercedes und startete die Maschine. Zufrieden lauschte er auf das Schnurren der 220 PS. Er hatte nie etwas anderes gefahren als Mercedes. Und er hatte immer bessere Wagen gehabt als die anderen Bauern. Er konnte es sich leisten.

Es war dunkel. Er fuhr von Bunderhammrich aus Richtung Ditzumerverlaat und bog dann rechts ab nach Hatzumerfehn. Er sollte bald mal wieder für ein paar Tage wegfahren. Bis zum nächsten Treffen mit den alten Kameraden waren es noch ein paar Monate hin. Das war zu lange. Er konnte nicht jeden Tag die verhuschte graue Maus ertragen, mit der er seit gefühlten hundert Jahren verheiratet war. Immer mal wieder hatte er darüber nachgedacht, sie zu verlassen. Aber es gab ja auch andere Möglichkeiten der Zerstreuung.

Für heute Abend musste ein ausgiebiger Besuch in seiner Stammkneipe reichen. Er war guter Stimmung. Die Arbeiten am Emssperrwerk gingen weiter und er war entschlossen, die Niederlage der Ökofraktion angemessen zu feiern. Er würde ein Bier trinken auf den BUND, eins auf den NABU, eins auf die Bürgerinitiative »Wir für die Ems« und so weiter. Wie er sie alle hasste! Er fuhr die langen, dunklen Straßen über den Fehn entlang und erreichte Hatzum, wo er neben dem »Schwarzen Ross« parkte. Er trat ein, räusperte sich und zog die Mütze von seinem vollen weißen Haar. Er verzog das hagere Gesicht zu einem strahlenden Lächeln, das seine immer noch makellosen Zähne entblößte. Das Lächeln war für Käthi, die mit energischem Schritt ihre Kneipe durchmaß und Biergläser verteilte. Er wusste, sie dachte immer noch daran, wie er sie auf dem Sofa in der Gaststube genommen hatte, als sie noch jung und knackig gewesen war. Sicher war es das beste Erlebnis, das sie je gehabt hatte. Auf dem niedrigen Sofa an der Wand war es passiert. Jetzt begegnete sie ihm kühl, womit sie zweifellos ihre Emotionen verbarg. Er setzte sich an die Theke und betrachtete die Nichtsnutze, die sonst noch in der Gaststätte hockten.

Er bestellte ein Bier und einen Schnaps und unterhielt sich mit Hajo Kromminga, einem vermögenden Bauern aus der Gegend. Kromminga hasste ihn, das wusste er. Alle hassten ihn, und er genoss es. Er ließ sich in die Atmosphäre des Abends fallen und fühlte sich so sicher, wie er sich immer gefühlt hatte. Er betrank sich immer gepflegt. Um die Rückfahrt in seinem Auto machte er sich keine Gedanken. Tadeus de Vries wurde nicht angehalten, geschweige denn mit einem Bußgeld belangt.

Er konnte den Schatten, der sich auf dem Parkplatz neben der Gaststätte bewegte, nicht sehen. Er bemerkte auch nicht das fahle Gesicht draußen vor der kleinen Scheibe des Sprossenfensters, das seitlich auf den Parkplatz ging. Nicht die schmalen grauen Augen, die ihn beobachteten. Und selbst wenn, es hätte ihn nicht weiter beunruhigt.

Einen Tag zuvor

Als Gertrud Boekhoff gegen sieben Uhr abends die Tür zum »Kneipchen« in Weener öffnete, schlug ihr warme, verräucherte Luft entgegen. Das Klacken der Billardkugeln aus dem Vorraum mischte sich mit dem Raunen der Unterhaltung und dem Gemurmel aus dem Fernseher in der Ecke zu einem beruhigenden Geräuschteppich.

In der Mitte der Gaststätte erblickte sie Willm, eigentlich Wilhelm Kröger, an seinem gewohnten Platz hinter der Theke, von wo aus er den besten Überblick hatte. Willm wusste gern Bescheid. Er sah, wer gerade an irgendeinem der Tische mit der Freundin des besten Freundes anbandelte. Er registrierte, wenn Pärchen leise tuschelnd in Streit gerieten und Mädchen mit blonden Dauerwellen an seiner Theke vorbei- und hinausstürmten, bevor ihnen Sekunden später ein hilfloser junger Mann hinterhereilte. Willm wusste die Halbwertzeit jeder einzelnen Romanze vorherzusagen, die in seiner Kneipe begann und nicht selten auch hier ihr Ende fand. Sein einziges Zugeständnis an den Zeitgeist im »Kneipchen« war ein Fernseher, den er oben in der Ecke aufgehängt hatte. Er mochte das bei McDonald’s oder sonst wo gesehen haben, nur ließ er statt Viva oder MTV das Dritte laufen, sodass seine Gäste keine hippe Musik, sondern die »Landpartie« zu sehen bekamen. Aber das störte niemanden und Gertrud am allerwenigsten.

»Moin Willm. Was gibt’s Neues?«

»Moin Gertrud. Sie haben die Baustelle wieder freigegeben.«

Gertrud wuchtete ihre 85 Kilo auf einen Thekenhocker. Als Kind hatten ihre Eltern sie »Gerdi« genannt. Aber als sie in die Pubertät kam, hörte das auf. Sie sah irgendwann nicht mehr aus wie ein Mädchen, das man »Gerdi« nannte. Weil sie nicht damit rechnete, dass sich jemals ein Junge für sie interessieren würde, verlegte Gertrud sich darauf, den Kumpeltyp zu geben. Sie trug ihr aschblondes Haar kurz geschnitten, kleidete sich in Jeans, Turnschuhe und weit geschnittene Sweatshirts und gewöhnte sich einen rauen Umgangston an. Mit 15 fuhr sie ein selbst frisiertes Moped, und die Jungs fanden sie patent. Wer wusste schon, dass sie abends in ihr Kopfkissen weinte, wenn eine ihrer früheren Freundinnen mit wippendem Pferdeschwanz den neuen Freund im Dorf ausführte? Ihre Wochenenden verbrachte Gertrud auf dem Fußballplatz. Sie schrieb die Spielberichte für das »Rheiderländer Tagblatt«, eine winzige Gazette, die die größeren Zeitungsverlage vergessen hatten aufzukaufen. Im Volontariat wurde ihr klar, dass sie sich für Sport nicht wirklich interessierte, und so landete sie am Ende in der Lokalredaktion. Weil das »Blattje«, wie es bei seinen Lesern hieß, nicht morgens, sondern mittags erschien, ging sie um sieben zur Arbeit, um Berichte von Veranstaltungen des Vorabends zu schreiben. Mittags machte sie eine Pause von zwei oder drei Stunden, und nachmittags absolvierte sie Termine. Nach der Arbeit ging Gertrud meist noch auf ein Bier zu Willm, um all die wichtigen Neuigkeiten in Erfahrung zu bringen, die nie über einen dpa-Ticker in die Redaktion gelangten. Was die Rheiderländer interessierte, erfuhr man hier.

Die Meldung, die gerade eben im Fernsehen verlesen wurde, hatte sie allerdings schon gehört: »Der in einer Eilentscheidung vom November letzten Jahres verfügte Baustopp für das Sperrwerk in der Ems ist heute aufgehoben worden. Das Verwaltungsgericht Oldenburg wies jetzt den von Umweltverbänden erhobenen Einspruch gegen das Vorhaben zurück. Bereits am Mittag wurden die Bauarbeiten am Sperrwerk wieder aufgenommen.«

»Willm! Geef mi dorup noch' Kruiden«, rief der junge Mann mit Halbglatze, neben dem sich Gertrud gerade auf dem Hocker an der Theke niedergelassen hatte. Sie kannte ihn vom Sehen und wusste, dass er bei der Meyer Werft in Papenburg arbeitete. Umgehend stand das Schnapsglas mit der braunen Flüssigkeit neben seinem Bier.

»Dann gratulier ich auch, Dieter. Dein Job ist gesichert, nun kannst du bauen und heiraten«, grinste Willm. »Was ist denn euer nächstes Projekt bei Meyer?«

»Ein Luxusliner, zweihundertachtzig Meter lang und achtunddreißig Meter breit. Über acht Meter Tiefgang. Auftrag kommt aus Griechenland. So’n Ding hast du noch nie gesehen. Über tausend Kabinen, fünf Swimmingpools, fünfzehn Decks, Einkaufsgalerie, Marmorböden … Was du willst.« Der junge Mann hatte die Stimme gesenkt, als sei die ganze Kneipe voller chinesischer Industriespione. »Hab ich jedenfalls gehört, dass wir den bauen sollen. Noch nichts Offizielles. Wir kriegen den aber erst raus, wenn das Sperrwerk fertig ist.«

Das Vorhaben, an der Ems zwischen Nendorp und Gandersum ein Sperrwerk zu bauen, das den Schutz der Küste gegen Sturmfluten verbessern sollte, hatte die Rheiderländer in zwei feindliche Lager geteilt: Die Gegner argwöhnten, dass es eigentlich nur darum ging, immer größere Kreuzfahrtschiffe von der Meyer Werft in Papenburg durch das aufgestaute Emswasser ins offene Meer überführen zu können, während die Existenz der Ditzumer Krabbenfischer durch die ökologischen Schäden in Gefahr geraten würde. Die Befürworter verwiesen auf zehntausend Arbeitsplätze, die von dem Projekt abhingen. Nachdem die Gegner vor Gericht einen Etappensieg errungen hatten, waren die Arbeiten erst einmal stillgelegt worden.

Willm hatte sich nie anmerken lassen, ob er für oder gegen das Sperrwerk war. Seine Kneipe wurde ebenso von NABU-Aktivisten wie von Arbeitern der Meyer Werft frequentiert, weshalb es ihm offenbar klüger erschien, es sich mit keiner Seite zu verscherzen. Gertrud erinnerte sich, dass es einmal im »Kneipchen« zu einer Rangelei gekommen war, als zwei Meyer-Arbeiter ihre Wut über den Baustopp an drei feixenden Gymnasiasten ausgelassen hatten.

Ohne dass sie etwas hätte sagen müssen, stellte Willm Gertrud ein Jever hin. »Tja, dann geht’s ja nun wohl weiter. Bin gespannt, ob es jetzt ruhiger zugeht als noch vor einem Jahr.«

»So 'nen kleinen, blutigen Zusammenstoß zwischen den verfeindeten Lagern könnten wir als Aufmacher gut gebrauchen. Aber ich schätze eher, dass die Ökofraktion noch irgendeinen seltenen Wattwurm in der Ems aussetzt, um ihn anschließend medienwirksam zu entdecken und den Bau wieder aufzuhalten«, sagte Gertrud. Sie war eher Befürworterin des Emssperrwerks, aber in erster Linie eben Lokalredakteurin auf der Suche nach einer kleinen Sensation zwischen der Kür der Milchkuh des Jahres und der Prämierung der größten Sonnenblume des Rheiderlandes.

»Dann sullen de Ökofuzzis beter uppassen, dat se nich mit’n Boßelkugel an’t Bein in’t Dullart unnergahn!«, rief Dieter, dessen gerötete Wangen und aggressiv glitzernde Augen darauf schließen ließen, dass er schon einige Gläser des scharfen Kräuterschnapses auf seinen Sieg getrunken hatte.

»So eine Meldung würde es sogar bis auf die Regionalseite schaffen«, bemerkte Gertrud, und Willm hinter dem Tresen kicherte heiser.

Freitag, 29. Oktober 1999

145, 150, 155. Schon fing das verdammte Ding wieder an zu piepsen. Keuchend drückte Stephan Möllenkamp auf die Knöpfe seiner Pulsuhr. Er hasste es, wenn sich die Spaziergänger mit ihren Hunden nach ihm umdrehten. Er drosselte das Tempo und trabte langsam über den Deich bei Bingum. Es reichte schon, dass die alten Männer mit den Schirmmützen, die ihre Fahrräder neben sich herschoben, ihm durch Blicke zu verstehen gaben, was sie vom Laufsport hielten.

Kaum hatte sein Puls sich etwas beruhigt, packte Möllenkamp die Lust, einfach bis Nendorp weiterzulaufen, einen Blick auf die Baustelle des Emssperrwerks zu werfen und lässig wieder zurückzujoggen. Hin und zurück ergab das eine gute Halbmarathon-Strecke, genau das Ziel, das er sich fürs Frühjahr vorgenommen hatte. Die riesige Baustelle faszinierte ihn. Nachdem dort fast ein Jahr lang nichts vorangegangen war, wurde seit vorgestern wieder gearbeitet. Er zog das Tempo wieder an und stellte sich vor, wie die kleine Speckrolle, die sich um seine Taille gelegt hatte, Gramm für Gramm schmolz und sich seine Beine in stahlharte Muskelpakete verwandelten.

Eine heftige Böe wehte ihm ins Gesicht. Er merkte, wie seine Beine klamm wurden. Obwohl es für die Jahreszeit zu warm war, überlief ihn ein Frösteln. Bis Nendorp und zurück würde er es nicht mehr im Hellen schaffen, also beschloss er, umzukehren.

Als er nach Leerort einbog, erblickte er seine Frau schon von weitem. Ihre rotblonden, kurzen Haare leuchteten ihm entgegen. Meike stand in Jeans und einem alten Troyer, den sie ihm abgeluchst hatte, im Vorgarten, den Rechen wie eine Hellebarde in der Hand. Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Ganz plötzlich drehte sie sich um und verschwand im Haus.

Einen Augenblick später wusste Möllenkamp, warum. Hinter einer Säuleneibe, die den Eingang des Nachbarhauses beschützte, trat ein alter Mann hervor. Das wenige Resthaar fiel ihm strähnig in den Nacken, ein Holzfällerhemd hing lottrig über seine schwarze Trainingshose. In Schlappen schlurfte er den Gehweg entlang, drehte dann nach rechts und steuerte auf Möllenkamps Haustür zu. Dabei versuchte er, durch das Küchenfenster zu sehen. Möllenkamp drosselte sein Tempo und beobachtete, was der Nachbar als nächstes tun würde. Im Geiste sah er seine Frau mit einem Fleischermesser in der Hand hinter der Haustür lauern. Sobald der Nachbar das Küchenfenster erreichte und mit dem Finger dagegen klopfte, wie es seine Gewohnheit war, würde sie die Tür aufreißen, sich auf ihn stürzen und ihn niedermetzeln. Doch der alte Mann kam nicht bis zum Küchenfenster. Auf halbem Wege drehte er um, schlurfte zurück zu seinem Haus, schüttete den Abfall aus einer Plastiktüte in die Mülltonne und faltete sie dann zusammen. Es half nichts, Möllenkamp musste sich auf eine Begegnung mit Herrn Müller vorbereiten, wenn er nicht ewig auf der Stelle treten wollte.

»Moin, Herr Möllenkamp, na wo kommen Sie denn her?«, fragte ihn der alte Herr in unterwürfigem Tonfall. Vor Müller hatte man die Möllenkamps bereits gewarnt, als sie vor einem Vierteljahr von Hannover hierher gezogen waren. Meike hatte zum Schuljahresbeginn eine Stelle als Studienrätin für die Fächer Deutsch und Latein am Teletta-Groß-Gymnasium angetreten, und er hatte die Leitung des Fachkommissariats 1 für Kapitaldelikte bei der Polizeiinspektion Leer übernommen. Ein glücklicher Zufall, den Meike als Fügung auslegte, um ihm damit den Umzug aus der Großstadt in dieses Provinznest schmackhaft zu machen. Nun, immerhin hatte es für ihn einen Karrieresprung bedeutet und da konnte man Zugeständnisse an den Wohnsitz machen.

Die gepflegte Siedlung und das schmucke Reihenhäuschen hatten ihnen gefallen, und mit Müller würden sie schon fertig werden.

Dachte er.

»Ich habe ja früher auch viel Sport getrieben, aber heute geht es nicht mehr wegen der Beine«, redete Müller immer weiter. »Ach, da hab ich ja letzte Nacht wieder solche Schmerzen gehabt, und meine Frau erst …«

Frau Müller war angeblich schwer krank. Allerdings reichten die Angaben, die Herr Müller über ihre Gebrechen machte, vom Herzinfarkt über Krebs und Thrombosen bis hin zum Zucker, sodass Möllenkamp zu dem Schluss gekommen war, dass Frau Müller vermutlich gar nichts fehlte. Außer im Kopf, denn eine Frau mit klarem Verstand konnte es unmöglich bei diesem Menschen aushalten.

»Aber das Wetter ist ja auch wieder so schlecht geworden … Geht es Ihrer Frau gut? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.« Möllenkamp, der inzwischen mächtig fror, gelang es, die Endlosschleife des Nachbarn mit einem »Wird schon wieder besser werden« und einem abrupten Abgang zu stoppen. Er kam sich dabei wie ein Flüchtiger vor, während Müller auf dem Weg stehen blieb und darüber grübeln mochte, ob sich die Aussage auf das Wetter, den Zustand seiner Beine oder die Gesundheit seiner Frau bezog.

»Na, du Supercop, hattest du dein Handy wieder nicht mit? Es hat hier mehrmals geklingelt, aber ich hab’s nicht gefunden«, empfing ihn seine Frau. Sie reckte sich und küsste ihn auf den Mund.

»Warum hast du denn auf das Rendezvous mit Herrn Müller verzichtet?«, entgegnete Möllenkamp, während er sich mit einem Küchenhandtuch die dunklen Haare trockenrubbelte. Er machte sich auf den Weg ins Arbeitszimmer, wo er sein Handy vermutete. »Er hat dich schon sehr vermisst. Aus seiner Frage habe ich herausgehört, dass er den leisen Verdacht hegt, ich könnte dich umgebracht und im Garten vergraben haben.«

»Das wäre ihm kaum entgangen«, konterte Meike. »Außerdem dürfte er einem Kriminalkommissar ruhig eine raffiniertere Entsorgungsmethode für seine Frau zutrauen.«

»Kriminalhauptkommissar bitte. So viel Zeit muss sein.«

Wo war nur das verdammte Handy?

Er fand es in seiner Sporttasche. Vier Anrufe von der Dienststelle und dann noch zwei von seinem Kollegen Johann Abram verhießen nichts Gutes. Er rief bei Johann an.

»Mist, da hätte ich ja doch gleich weiterlaufen können«, brummte er, als er in die Küche zurückkam.

***

Als Stephan Möllenkamp die Baustelle des Emssperrwerks erreichte, war es bereits ganz dunkel, und es regnete inzwischen heftig. Er parkte seinen alten Escort neben der silbernen Passatlimousine von Johann Abram. Bereits beim Aussteigen bemerkte er, dass er weder an Gummistiefel noch an einen Schirm gedacht hatte. Möllenkamp warf einen Blick in Abrams Wagen, der - regelmäßig gewaschen und aufgeräumt - in seinem Kofferraum immer eine Klappbox mit Schirm und Gummistiefeln vorhielt. Richtig, da war die Kiste, Schirm und Gummistiefel fehlten. Aber er sah beides, zusammen mit einem gelben Friesennerz, an Abram, der von weitem auf ihn zukam. »Warmduscher« knurrte Möllenkamp und wäre zur Strafe fast ausgerutscht, als er sich unter das rot-weiße Absperrband ducken wollte.

»Stephan, pass up«, hörte er die Stimme seines Kollegen. »Das musst du aber auch noch lernen, wie man sich für die Arbeit hier richtig anzieht. Vielleicht waren Turnschuhe ja gut in Hannover, aber hier solltest du dir wirklich ein paar wasserfeste Schuhe besorgen.« Und während er ihn am Arm packte, fügte Abram hinzu: »Mir reicht schon der eine, den wir hier aus dem Schlamm ausbuddeln müssen.«

Möllenkamp fühlte sich bevormundet, daher stieg leichter Unmut in ihm auf. »Verrätst du mir vielleicht, was ihr hier eigentlich gefunden habt? Aus deinem Spruch auf der Mailbox bin ich nicht besonders schlau geworden. Ich hoffe, da ist nicht bloß ein Baggerfahrer besoffen von seinem Bock gefallen.«

Abram blieb ungerührt. »Das könnte natürlich sein. Er hat es dann aber auch noch geschafft, sich in eine Kiste zu legen, die Kiste von außen zuzunageln und sich anschließend im Aushub für die Straßenfundamente einzugraben.«

Möllenkamp starrte ihn an. Abrams Humor tauchte so plötzlich auf wie das Ungeheuer vom Loch Ness und verschwand auch genauso schnell wieder.

»Schau es dir selber an.« Schweigend stapften beide Männer über die Baustelle zwischen schweren Baggern hindurch, dorthin, wo eine Aufschüttung den späteren Zuweg zur Sperrwerksbrücke bilden sollte. Möllenkamps neue Turnschuhe, die tief in den Schlamm einsanken, gaben schmatzende Geräusche von sich.

Vor ihnen öffnete sich eine Szene wie auf einer Theaterbühne. Erhellt wurde sie von Scheinwerfern, deren Lichtkegel den schräg herabwehenden Regen sichtbar machten. Sie beleuchteten eine metertiefe Grube, in der Menschen in weißen Overalls arbeiteten, während Polizei- und Rettungswagen als schwarze Schatten die äußere Begrenzung darstellten. Die zuckenden Blitze der Fotoapparate, die knappen Anweisungen, die sich die Kriminaltechniker zuriefen, verdichteten sich zu dem Eindruck, hier sei eine kultische Handlung im Gange.

Unten in der Grube beugten sich die Kollegen von der Kriminaltechnik über eine längliche Holzkiste, deren Deckel man aufgebrochen hatte. In Möllenkamp stieg Beklommenheit auf – wie immer, wenn er sich einer Leiche näherte. In der Geisterbahn hatte er sich als kleiner Junge immer die Hände vors Gesicht gehalten und dann ganz vorsichtig durch die Finger gelinst, um sich gegen das Erschrecken zu wappnen. Als junger Kriminalbeamter in Hannover hatte er sich das abgewöhnen müssen, doch das Geisterbahngefühl war geblieben. Er stieg eine Leiter bis auf den Grund der Grube hinab und zwang sich, in die Kiste zu sehen. Darin lag ein alter Mann, die Augen geschlossen, die Arme seitlich am Körper, in dunklem Anzug und weißem Hemd. Er sah aus, wie für seine Beerdigung zurechtgemacht. Auf den ersten Blick waren keine Anzeichen von Gewaltanwendung erkennbar. Es war, als sei er friedlich entschlafen. Aber das passte nicht zu diesem Fundort und der zusammengezimmerten Kiste, in der man vielleicht einen Hund verscharrt haben würde, aber gewiss keinen Menschen.

»Wer ist es?«

»Keine Papiere dabei«, sagte Abram, »Aber wenn er aus der Gegend kommt, wird es nicht lange dauern.«

»Wie lange tot?«

»Nur ein paar Stunden, sagt der Doktor. Genaueres wissen wir noch nicht. Todesursache auch noch nicht. Möglicherweise ein Hämatom, das er hier seitlich am Kopf hat.« Er deutete auf eine Stelle über dem Ohr.

Möllenkamp wandte seine Aufmerksamkeit der Holzkiste zu. Billiges Nadelholz, vergraben im Sand am Boden der Baugrube.

»Wie wurde er gefunden?«

»Eigentlich sollte auf diese Sandschicht in der Grube heute eine Kleischicht aufgetragen werden. Aber kurzfristig kam die Anweisung, die Grube noch tiefer auszuheben. Dabei ist ein Baggerfahrer dann auf die Kiste gestoßen.«

Möllenkamp wollte sich schon abwenden, da fielen ihm die Ränder der Kiste in die Augen. Er bückte sich und fuhr mit der Hand über die Kanten, wo der Deckel aufgelegen hatte. Dann strich er auch innen an den Fugen entlang. Als er wieder aufstand, hatte er eine schwarze, klebrige Masse an den Fingern.

»Was ist das?«

»Das? Ja, das hat die Spusi auch schon eingesammelt. Sieht so aus, als hätte der Täter die Fugen mit Teer oder sowas abgedichtet.«

Möllenkamp runzelte die Stirn. Warum machte man denn sowas?

»Wer hat ihn gefunden?«

»Da drüben, der Pole. Wir haben schon versucht, ihn zu befragen. Kannst du vergessen. Der spricht kein Deutsch.«

Möllenkamp drehte sich um und sah in einiger Entfernung vier Bauarbeiter wie Ölgötzen reglos nebeneinanderstehen. Wie sich herausstellte, waren es zwei Deutsche und zwei Polen.

»Wir haben die Namen aufgenommen: Jerzy Legas, Lech Kufel, Herbert Klatt, Harm Kruse. Der ist der Vorarbeiter.«

»Welcher?«

»Kruse. Neben dem Alten da drüben.«

Möllenkamp ging hinüber: »Guten Abend zusammen.« Zu dem einen Polen gewandt: »Sie haben also die Leiche entdeckt?«

Eifriges Nicken.

»Können Sie uns beschreiben, wie genau Sie auf diese Kiste gestoßen sind?«

Schweigen.

»Der kann kein Deutsch«, knurrte sein Kollege, der schätzungsweise kurz vor der Rente stand, »das haben die Beamten auch schon versucht.« Dabei blickte er die beiden Polen finster an und spuckte aus.

Möllenkamp fragte sich, wie man auf einer solchen Baustelle miteinander arbeiten konnte, wenn es keine gemeinsame Sprache zur Verständigung gab. Es würde vermutlich das gleiche Ende nehmen wie mit dem Turmbau zu Babel. Er wandte sich dem anderen Polen zu.

Dieser hob abwehrend die Hände: »Ich nix gesehen. Habe gearbeitet an andere Stelle drüben.« Er streckte den Finger ins Nirgendwo.

Der vierte Bauarbeiter meldete sich zu Wort: »Ich bin Harm Kruse, der Vorarbeiter. Der Lech hat mit sein' Bagger die Kiste ausgegraben. Wir haben sie so gelassen, wie sie war, weil wir ja nicht wussten, was drin ist.« Pause. »Hätte ja auch ein Sperrwerksgegner 'ne Bombe versteckt haben können. Wir haben ja schon viel erlebt hier mit den Spinnern. Aber so 'ne Schweinerei, Mann, nee. Wer tut so was?«

Möllenkamp befragte die Männer, so gut es ging. Da der eine Pole den anderen dolmetschte, verzichtete er darauf, ihn mit in die Inspektion zu nehmen und einen Übersetzer zu bestellen. Es genügte fürs erste, die Personalien zu haben.

»Kennt jemand von Ihnen den Toten?«, fragte er zum Schluss. Alle schüttelten den Kopf. Möllenkamp hatte es erwartet.

***

Möllenkamp und Abram hatten gerade die Baustelle verlassen, als eine dunkle Limousine mit quietschenden Reifen vor ihnen an der Straße hielt. LER-ES-1.

»Der Landrat«, stöhnte Abram.

»Was will der denn hier? Und woher weiß der schon Bescheid?«

»War doch klar, dass unser Chef seinen Golfpartner zügig informiert«, raunte ihnen ein Kriminaltechniker im Vorübergehen zu.

Enno Saathoff sprang aus dem Auto. Schlagartig war die Stimmung explosiv. »Verflucht nochmal! Ich will sofort wissen, was hier passiert ist. Jetzt will ich aber auch mal sehen, dass Ihr das Pack richtig hart rannehmt. Ich lass mir diese Baustelle nicht wieder kaputtmachen. Morgen wird hier weitergearbeitet, verstanden?«

Möllenkamp und Abram wechselten Blicke. »Moin, Herr Landrat. Haben Sie einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?«

Saathoff schnappte nach Luft. »Wollt ihr mich auf den Arm nehmen? Für alles, was hier auf der Baustelle schiefgeht, sind doch bloß diese Öko-Terroristen verantwortlich. Die schrecken vor nichts zurück. Erst der Sprengsatz bei Meyer, dann legen sie hier die Arbeit jahrelang lahm und nun ein Toter. Fahrt doch mal nach Weener, da werdet ihr schon fündig!« Ein Finger bohrte sich in Abrams Ostfriesennerz. »Und morgen wird hier weitergearbeitet!«, brüllte er und sprang wieder in sein Auto.

»Wow, was für ein Auftritt«, sagte Möllenkamp. »Wollte er nicht eigentlich wissen, was hier passiert ist?«

»Anscheinend weiß er genug, um sich sein Urteil zu bilden. Vielleicht war es ihm auch zu ungemütlich hier draußen. Letztlich ist er ja seine Botschaft an uns losgeworden: Wir sind auf jeden Fall verantwortlich – egal wofür.«

»Was meint er damit, dass wir nach Weener fahren sollen?«

Abram seufzte. »Er meint die Bürgerinitiative ›Wir für die Ems‹. Die hat dort ihr Büro. Die Leute haben in der Vergangenheit schon eine Menge Ärger gemacht – oder na ja, je nach Perspektive …«

»Aber Mord?«

»Ich glaub’s nicht, aber wir müssen jeder Spur nachgehen. Und solange wir nicht einmal wissen, wer der Tote ist, haben wir ja nicht allzu viele Ansatzpunkte. Aber da werden wir uns mal morgen drum kümmern. Vielleicht wissen wir dann auch mehr über das Opfer.«

Die beiden Kollegen standen vor ihren Autos. Möllenkamp sah zu, wie Johann Abram seine Stiefel und den Ostfriesennerz auszog, umsichtig den Schmutz abwischte und die Sachen in der Klappbox verstaute. Die beiden verabschiedeten sich. Sie würden sich morgen in der Inspektion wiedersehen. Mord kannte kein Wochenende. Abram würde jetzt nach Hause fahren, zu seiner Frau und den zwei Kindern. Wahrscheinlich würde er seiner Frau erzählen, was passiert war. Dann würde sein Sohn ihn nach neuen Turnschuhen fragen, und seine kleine Tochter würde erzählen, was für eine Laterne sie im Kindergarten für das Martinilaufen bastelte. Und dann würde der Schrecken langsam verschwinden.

Möllenkamp stand im Regen und schaute den Rücklichtern von Abrams Auto nach. In ihm breitete sich eine wohlige Melancholie aus. Er dachte an Meike und an das Glück, das er gehabt hatte. Wenn er gleich nach Hause käme, würde sie in einem alten Trainingsanzug auf dem Sofa sitzen, mit einer Decke auf den Knien. Sie würde ihm zuhören. Und er würde sich sicher fühlen. Aber ein wenig Traurigkeit über das, was er gesehen hatte, würde zurückbleiben. Er hatte sich immer noch nicht an die technische Kälte gewöhnt, mit der in seinem Beruf das Ende eines Lebens, vieler Leben behandelt wurde.

Möllenkamps Gedankengänge wurden abrupt gestoppt durch einen roten Polo, der direkt vor ihm hielt. Heraus stieg eine große, stämmige Frau mit groben Gesichtszügen, eine Kamera um den Hals. Jetzt nicht noch die Presse!

»Moin«, sagte sie knapp. »Wissen Sie, wer mir was sagen kann zu dem, was hier passiert ist?«

»Das Beste haben Sie verpasst«, antwortete er gereizt. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Gertrud Boekhoff, Rheiderländer Tagblatt. Und wer sind Sie, wenn die Frage gestattet ist?«

Die war ja unverschämt!

»Kriminalhauptkommissar Stephan Möllenkamp. Kripo Leer. Ihre Kollegen vom ›Ostfriesen Kurier‹ sind schon wieder weg.«

Sie schnaubte. »Mein Handy war leer, als Ihre Leute angerufen haben. Ich hab’s nicht gleich gemerkt. Wissen Sie schon, wer’s ist?«

»Nein. Ein alter Mann, so um die achtzig.« Er ging widerwillig mit ihr noch einmal auf die Baustelle, damit sie noch ein paar Fotos vom Fundort und den arbeitenden Kriminaltechnikern machen konnte. Das Opfer war bereits auf dem Weg in die Pathologie.

»War der Landrat schon da?«, fragte sie, als sie wieder an der Straße ankamen.

»Woher wissen Sie das?«

»Geraten. Das Sperrwerk ist ein Politikum.« Sie sah ihn an und grinste. »War nicht schön, was?«

Er wusste nicht genau, ob sie jetzt anfing, ihm richtig auf die Nerven zu gehen oder ob sie ihm langsam sympathisch wurde. Er schwieg.

»Na dann … werd ich mal wieder fahren.« Sie ging auf ihr Auto zu, und während sie ihren großen Körper in den kleinen Polo wuchtete, sagte sie leichthin: »Ich glaube, ich habe eine Ahnung, wer’s ist.«

»Was?«

»Na, der Tote.«

Jetzt war er doch genervt. Wollte diese Pressetante ihn auf den Arm nehmen? »Hören sie, wenn sie eine Idee haben, wer es sein könnte, dann sind sie verpflichtet, der Polizei das mitzuteilen.«

Sie sah ihn an. »Ich glaube, es könnte der alte de Vries sein.«

»Wer ist das? Und warum glauben Sie das? Wir haben alle Vermisstenmeldungen überprüft, es ist niemand dieses Alters gemeldet, zumindest nicht aus der Region. Lebt er allein?«

»Sie kennen sich hier im Rheiderland nicht aus, oder?«

Er zuckte die Achseln.

»Wissen Sie was? Wenn Sie noch etwas Zeit haben, dann gehen wir auf ein Bier ins ›Schwarze Ross‹, das ist nicht weit von hier. Dann erzähle ich Ihnen, wer de Vries ist. Und wenn er’s am Ende nicht ist, kennen Sie trotzdem eine bedeutende Person des Rheiderlandes. Wer weiß, wofür Sie’s noch mal brauchen können.«

Eigentlich wollte er nicht. Er hatte beschlossen, dass die Frau ihm auf die Nerven ging. Aber jetzt hinderte ihn die Neugier doch daran, nach Hause zu fahren. Er nickte. »Ein Bier könnte ich jetzt ganz gut gebrauchen.«

***

Die Gaststätte sah aus, als hätte jemand sein Wohnzimmer fürs Publikum geöffnet. Am Ende des notdürftig beleuchteten Raums stand ein altes Ostfriesensofa an der Wand, davor ein viel zu hoher Esstisch mit vier weiteren Stühlen. Insgesamt sieben ältere Männer saßen vor Bier und Korn um den Tisch herum, wobei die drei auf dem Sofa kaum mit dem Kinn über die Tischplatte ragten. Über dem Sofa hing ein kolorierter Druck, der den Gefallenen des Ersten Weltkriegs gewidmet war. Mit schwarzer Schnörkelschrift hatte jemand fünf Namen hineingepinselt. Die Wand neben der Theke war mit Zeitungsausschnitten gepflastert, die sich offenbar alle um eine Sturmflut drehten.

Möllenkamps Begleiterin war hier bestens bekannt, und die Herren am Tisch verlangten sofort einen Bericht über das Geschehen auf der Sperrwerksbaustelle. Souverän, wenn auch leicht schroff, verwies die Redakteurin auf die nächste Ausgabe des »Blattje« und steuerte einen winzigen Tisch in einer anderen Ecke der Kneipe an.

Als sie sich gesetzt hatten, sagte sie: »Ich hätte daran denken sollen, dass heute hier der Ortsbeirat von Hatzum tagt. Tut mir leid, dass ich Sie nicht vorgestellt habe, aber dann hätten wir keine Ruhe mehr zum Reden gehabt. Die hätten sie ausgequetscht wie eine Zitrone.«

Zwei Stunden und mehrere Jever-Pils später wusste Möllenkamp, dass die Lokalreporterin ihm doch sympathisch, der alte Tadeus de Vries ein Riesenarschloch und die Auseinandersetzung um das Emssperrwerk von größerer Brisanz war, als er gedacht hatte. In dem muffigen Wohnzimmer sitzend spürte er, wie sich eine ganz und gar angenehme Wärme in ihm ausbreitete und ein wohliger Nebel ihn umfing. Die Frau, deren Gesicht ihn entfernt an eine Bulldogge erinnerte, saß vor ihm und es kam ihm so vor, als würde er sie schon seit Jahren kennen.

Die Geschichten über Tadeus de Vries tropften in sein Hirn wie Honig auf ein Frühstücksbrötchen. De Vries war ein wohlhabender Polderbauer. Ein Mann, der es Zeit seines Lebens verstanden hatte, seinen Vorteil zu nutzen und der dabei auf andere keine Rücksicht nahm. Er hatte sich mit Investitionen in Windkraftanlagen und mit dem Verkauf von Land für Windparks und für den Sperrwerksbau eine goldene Nase verdient. Dabei sei nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen. De Vries hatte zu den vehementesten Sperrwerk-Befürwortern gehört, die das Rheiderland aufzubieten hatte. Auch im Privaten war nichts Positives über ihn zu berichten. Er hatte seine Frau ständig betrogen und seine Kinder drangsaliert.

»Seine Frau hat es sich abgewöhnt, ihn als vermisst zu melden, wenn er wieder für ein paar Tage verschwunden ist. Die Demütigung, die Anzeige zurückziehen zu müssen, weil er von allein wieder auftauchte und von den scharfen Weibern auf Sankt Pauli schwärmte, hat sie sich lieber erspart. Aber ich hab gestern gerüchteweise gehört, dass er wieder mal weg sein soll.«

»Aber der Mann, den wir gefunden haben, ist bestimmt über achtzig!«

»Der Typ ist aktiv wie ein Fünfzigjähriger. Es kommt nicht drauf an, ob er wirklich irgendwo noch einen draufmacht. Es zählt nur, dass man es ihm zutraut. Und es wundert sich einfach keiner, wenn er wieder mal verschwindet, weil es schon so oft vorgekommen ist. Die Vorstellung, dass ihm was passiert sein könnte, kommt den Leuten gar nicht in den Sinn. Seine Tochter hat mal zu meiner Friseurin gesagt: De geit neit doot, de musst du doottrappeln.«

»Was heißt das?« Möllenkamp hatte sich ins ostfriesische Platt bisher noch nicht richtig hineingehört.

»Der stirbt nicht, den muss du tottreten.«

»Hmm, wenn ich das richtig sehe, dann gibt es eine Menge Kandidaten, die über seinen Tod nicht gerade traurig wären. Aber glauben Sie wirklich, dass ihn die Sperrwerksgegner oder Leute von der Bürgerinitiative ermordet haben könnten?«

Gertrud überlegte. Während der nun schon Jahre andauernden Auseinandersetzung um das Sperrwerk hatte es schon alles Mögliche gegeben: Demonstrationen, Schlägereien, zerstochene Autoreifen, sogar vergiftete Katzen. Auch Morddrohungen waren dabei gewesen – per Brief oder auf dem Anrufbeantworter von Eko Ekhoff, dem Betriebsratsvorsitzenden der Meyer Werft. Aber ein Mord? Andererseits hatte sich die Szene über die Zeit verändert, war gewaltbereiter geworden. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich seufzend. »Lassen Sie uns lieber zuerst herausfinden, ob der Tote wirklich de Vries ist. Vielleicht stoßen wir dann auch auf das Motiv.«

Möllenkamp hatte inzwischen eine große Müdigkeit erfasst. Das fünfte Jever vor sich, konnte er kaum noch die Augen offenhalten. Nur dunkel registrierte er, dass Gertrud »uns« und »wir« gesagt hatte. »Ich heiße übrigens Stephan«, brachte er mit belegter Stimme heraus.

1946, im Frühjahr, irgendwo auf dem Fehn

»Hee, du kleine Ratte! Gib das sofort wieder her. Na, warte. Wenn ich dich erwische, dann häng ich dich an den nächsten Baum! Wir haben schon viel zu viele von euch verlausten Polacken durchgefüttert!«

Schnelle Schritte nähern sich ihrem Versteck und sie spürt, wie etwas Warmes sich keuchend neben sie fallen lässt.

»Hey Marion. Hier, nimm.« Er streckt ihr seine Hand entgegen, in der er ein großes Entenei hält. Vorsichtig zieht er ein zweites Ei aus seiner Hosentasche. Geschickt macht er oben und unten ein Loch und schlürft es gierig aus. Sie starrt ihn an.

»Bist du verrückt, hier auf dem Hof etwas zu klauen? Wenn der Bauer uns findet, dann können wir was erleben.«

Er funkelt sie an. Dann verzieht sich sein mageres Gesicht zu einem Grinsen. »Der kommt hier nicht hoch. Is’n Krüppel. Dem fehlt das linke Bein bis zum Knie und der rechte Arm. Er war nicht mal schnell genug, um zu sehen, wo ich hin bin.«

Sie seufzt. »Glaubst du, er kommt nicht von selbst drauf, dass wir auf seinem Heuboden sind? Das hast du großartig gemacht. Jetzt müssen wir wieder fort.« Sie sieht Trotz und Enttäuschung in seinem Blick.

Dann schiebt sich das Bild von Großmutter Albrechtsdorf davor, wie sie ein rohes Ei in ein halbes Glas Rotwein schlägt und Zucker darauf schüttet. Geschlagen ergibt das Ganze eine ziemlich eklig aussehende, schaumige Flüssigkeit, und sie trinkt das Zeug nur, weil Oma gesagt hat, davon werde sie ein wunderschönes Mädchen mit starken Zähnen und glänzendem Haar. Und weil Wein darin ist, den die Kinder zu Hause nicht bekommen. Oh Gott, was würde sie jetzt für ein Glas davon aus Großmutters Hand geben. Sie nimmt das Ei und saugt ebenfalls hungrig seinen Inhalt aus. »Danke für das Ei«, sagt sie versöhnlich.

»Ich versteh' nicht, dass wir hier Hunger haben müssen. In Mariental hast du gesagt, dass wir nach Ostfriesland gehen, weil es hier genug zu essen gibt.«

Er schaut sie vorwurfsvoll an, erwartet, dass sie ihm sagt, was sie tun werden. Sie weiß es doch auch nicht. Aber sie ist seine ältere Schwester und hat die Verantwortung, seit Mutter tot ist.

Weitere Bilder pulsieren heran. Sie hat diese Bilder weggedrängt, weggestopft, wie Bettzeug in eine viel zu kleine Truhe. Aber der Deckel steht immer ein Stück offen und es lugt ein Stück hervor. Und wenn sie den Deckel öffnet, dann quillt das Federbett heraus und quillt und quillt und füllt den ganzen Raum aus, bis es sie zu ersticken droht. Darum drückt sie den Deckel immer, wenn er ein wenig aufspringt, zu, drückt die Erinnerungen weg. Aber manchmal gelingt es ihr nicht.

Jetzt etwa, jetzt geht es nicht weg. Sie ist wieder dort, auf dem Weg zum Frischen Haff. Der Frost kriecht durch die Strohschütten auf dem Wagen. Es war Tante Helene, die sie mitgenommen hat, nachdem sie, ohne sich noch einmal umzudrehen, mit dem Bruder an der Hand von zu Hause fortgegangen ist. Nur fort, nur fort. Marion geht neben dem Wagen. Helenes zwei Kühe sind hinten festgebunden. Sie hört das Schnauben hinter sich. Vorn haben die Pferde alle Mühe, die Last zu ziehen. Ihr kleiner Bruder liegt unter der Plane. Er keucht. Er fiebert. Ob er es schafft? Für ihn muss sie es schaffen.

Dann, mitten auf der Straße, der Panzer. Ein Rotarmist fuchtelt mit den Armen, fünf Uhren am Handgelenk. »Fahren Wald«, ruft er, »Hier nix gutt.«

Tante Helene reißt die Pferde herum, die anderen Frauen im Treck tun das gleiche. Doch schon tauchen aus dem Nichts schwankende, graue Gestalten auf, greifen in die Zügel. Sie zwingen die wenigen Männer und Jungen von den Wagen und treiben sie fort. Maschinengewehrsalven sind zu hören.

Marion klettert eilig in den Karren. Sie wirft sich auf ihren Bruder, presst ihr Gesicht in das Stroh. Tante Helene schreit gellend. Da ist eine Faust unter der Plane, unerbittlich zerrt sie sie hervor. Ein breites, kaukasisches Gesicht sieht sie an. Nicht unfreundlich. Ihr Blick wandert hinab an den zerschlissenen Kleidern, der halb herunterhängenden Hose. Er hat sich offenbar nicht einmal die Mühe gemacht, sie nach der letzten – ihr Kopf will das passende Wort nicht hergeben – nach dem letzten Mal wieder hochzuziehen.

Sie weiß nicht, was am meisten schmerzt: der Rotarmist, die beißende Kälte oder der Gedanke an Gustav. Sie haben sich geküsst, mehr nicht. Ihm hat sie verweigert, was der Russe sich einfach nimmt. Gustav liegt irgendwo zerquetscht in einem Graben, den er mit einem Klappspaten zusammen mit anderen Kindern und Greisen ausgehoben hat. Ein russischer Panzer, einer der ersten, hat ihn überrollt.

Sie hört wieder die Schreie, die Schüsse. Aber am schlimmsten ist die Stille danach. Nicht auszuhalten. Irgendwie sind sie und ihr Bruder davongekommen. Sie weiß nicht, wie. Nur, dass das Jahr nach diesem Winter ihr irgendwie verloren gegangen ist.

Sie müssen über die Oder gegangen sein. Wann? Tante Helene ist an Typhus gestorben. Wo war das? Noch in Pommern, oder schon in Ludwigslust? Irgendwann müssen sie mit dem Zug in Mariental angekommen sein. Sie weiß, dass sie dort waren, aber sie erinnert sich nicht. Es ist unwirklich geworden.

Wirklich ist nur ihr Bruder. Und das dumpfe Gefühl: nach Westen, so weit wie möglich nach Westen. Weg von den Russen, von den Polen, von dem Stöhnen und Schreien, weg vom Elend und Tod. Und jetzt? Viel weiter geht es nicht.

»Komm«, sagt sie, »suchen wir uns eine andere Unterkunft. Wir gehen auf die Polder. Die Bauern dort sollen sehr reich sein. Wir werden arbeiten und genug zu essen haben.«

Samstag, 30. Oktober 1999

Möllenkamp fuhr verkatert mit dem Fahrrad in die Polizeiinspektion. Er wollte vor der Besprechung den Bericht der Kriminaltechnik gelesen haben. Ein Obduktionsbericht lag zu diesem Zeitpunkt sicher noch nicht vor. Anders als Landrat Saathoff hielt er nichts davon, über Motive oder mögliche Täter zu spekulieren, ohne dass er die grundlegenden Fakten über Tatort und Opfer kannte. Bei der morgendlichen Zeitungslektüre auf der Toilette hatte er festgestellt, dass der »Ostfriesen Kurier« schon ein Interview mit dem Landrat zum Mord enthielt, in dem dieser seine nicht gerade neutrale Sicht der Dinge zum Besten gegeben hatte.

Um den Fall des Toten von der Sperrwerksbaustelle würde sich eine Mordkommission kümmern, die von Stephan Möllenkamp als Leiter des Fachkommissariats 1 geführt wurde. Insgesamt arbeiteten im Ersten Fachkommissariat etwa zwanzig Ermittler an der Aufklärung von Kapitaldelikten, zu denen neben Mord und Totschlag auch Sexual- und Betäubungsmitteldelikte, Brandstiftungen und Vermisstenfälle zählten. Besonders viel passierte an Wochenenden. Möllenkamps Kollege Wilfried Bleeker, ein Mann mit einem ausgeprägten Hang zum Zynismus, hatte deshalb dafür plädiert, die Geschäfte sonntags zu öffnen, dann würden nicht so viele Verbrechen passieren: »Wenn die Leute sich langweilen, saufen sie und kommen auf dumme Gedanken.«

Bleeker saß schon im Lageraum, als Möllenkamp hereinkam. Auch er sah aus, als hätte er am Freitagabend zu viel getrunken und wieder einmal Kette geraucht. Mit seinen nach hinten gegelten dunklen Haaren, der ausgemergelten Gestalt in den immer schwarzen Anzügen mit weißem Hemd und dem Siegelring an seiner rechten Hand, erinnerte er Möllenkamp an einen Mafioso. Diese halbseidene Aura, verbunden mit einem provokanten Grinsen, das sich nach einigen Bieren noch verstärkte, führte gelegentlich dazu, dass er in Schwierigkeiten geriet.

Johann Abram und Anja Hinrichs traten fast gleichzeitig durch die Tür. Während Abram, ausgeglichen wie immer, den anwesenden Kollegen ein freundliches »Moin« zurief, verhieß Anjas Gesicht nichts Gutes. Ihre Mundwinkel zeigten nach unten, und über ihre Lippen kam kein Ton. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und begann, ihre blondierten Haare nach hinten zu streichen. Anja war eine gut aussehende Frau von Anfang vierzig. Doch ihre Launen jagten den Kollegen Angst und Schrecken ein. Möllenkamp hatte sie bisher gewähren lassen, weil er die Dinge erst einmal beobachten wollte und – uneingestanden – wohl auch, weil er sich seiner Autorität als Leiter des Fachkommissariats noch nicht ganz sicher war. Ihm schwante, dass er bald andere Saiten aufziehen musste, zumal Anja ihre Launen in letzter Zeit bevorzugt an Edda Sieverts, der Assistentin des FK 1, abreagierte. Die hatte neben Johann Abram Schutz gesucht. Anjas Gesichtsausdruck schien heute einen gewissen Abstand anzuraten.

Augenzwinkernd schob Edda Sieverts dafür ihrem Nachbarn einen Tupperware-Katalog zu: »Für Ihre Frau. Die findet da bestimmt noch was Schönes. Soll sich einfach an mich wenden, wenn sie was bestellen will.«

Abram grinste ebenso verschwörerisch zurück und schob ihr den Katalog wieder hin. »Frau Sieverts, Sie wissen doch: Wir haben für so teure Haushaltssachen gar kein Geld. Wir müssen unsere Dosen bei Aldi kaufen.« Bevor Edda Sieverts Gelegenheit bekam, Abram von den Vorzügen der Produkte zu überzeugen, räusperte sich Möllenkamp.

Als er gerade anfangen wollte, fand sich noch Thomas Hinterkötter ein. Der stellvertretende Leiter der Polizeiinspektion Leer-Emden und Chef des Zentralen Kriminaldienstes pflegte am Wochenende normalerweise sein Golf-Handicap zu verbessern. Dieser Fall aber, das hatte Möllenkamp der Auftritt des Landrats gelehrt, hatte eindeutig eine politische Dimension, die in den Augen des Chefs strenge Aufsicht erforderte. Nichts, was ihnen die Arbeit leichter machte.

Hinterkötter war Westfale. Er lachte gern und laut, und man konnte ihn leicht für gutmütig halten, was er nicht war. Anja Hinrichs war des Öfteren mit ihm aneinandergeraten, weil Hinterkötter auf ihre feministischen Ansichten gewöhnlich mit beißendem Spott reagierte. Dafür wartete sie jetzt schon sehr lange auf ihre Beförderung und argwöhnte vermutlich zu Recht, dass dies mit dem mangelnden Engagement Hinterkötters zu tun hatte.

Heute Morgen ist er wieder an der Endkontrolle vorbeigeflutscht, dachte Möllenkamp, als er ihn ansah. Hinterkötter trug seine Lieblingskombination: graue Hose, schwarzes Hemd, auberginefarbenen Zweireiher mit Goldknöpfen, dazu eine Krawatte, auf der Mäuse mit Käsestückchen tanzten. Möllenkamp konnte sich nicht vorstellen, dass Meike ihn in so einem Aufzug irgendwo hätte hingehen lassen. Aber anscheinend hatte Hinterkötters Frau mit dem gemeinsamen Sohn genug zu tun und konnte sich nicht auch noch um die modischen Entgleisungen ihres Mannes kümmern.

»Guten Morgen«, begann Möllenkamp. »tut mir leid, dass ich euch um euer wohlverdientes Wochenende bringe. Aber wir haben leider einen traurigen Grund für unser heutiges Treffen.« Er informierte die Kollegen über die Geschehnisse des vergangenen Tages. Als er zur Identität des Opfers kam, zögerte er ein wenig, wie weit er über seine Recherchen ins Detail gehen sollte, entschied sich dann für die Kurzform: »Ich habe einen Hinweis erhalten, dass es sich hierbei um den 84-jährigen Tadeus de Vries aus Bunderhammrich handeln könnte. Wir werden das schnellstmöglich klären.«

»Wir können wohl sicher sein, dass es sich um ein politisches Motiv handelt«, fiel Hinterkötter ihm ins Wort. »Opfer und Tatort lassen keinen Zweifel zu. Tadeus de Vries war ein entschiedener Befürworter des Sperrwerk-Projekts.«

Anja Hinrichs widersprach: »So einen Aufwand treibt nur jemand, der das Opfer persönlich gehasst haben muss. Ich würde von einer Beziehungstat ausgehen.«

»Dann war es bestimmt seine Frau!«, krähte Edda Sieverts.

»Die Frau ist mindestens achtzig«, erwiderte Anja Hinrichs genervt. »Und die soll ihren Alten zu Klump gehauen und in einem selbstgebastelten Sarg auf der Baustelle vergraben haben? Und wie hat sie das wohl geschafft?!«

»Trotzdem: Einen einfachen Raubüberfall oder Totschlag im Affekt würde man so nicht inszenieren«, hielt Johann Abram mit ruhiger Stimme fest.

»Vielleicht war’s ja auch eine andere Frau. Muss ja nicht seine eigene gewesen sein … Man hört ja so einiges über diesen de Vries. Außerdem soll er früher ein ziemlich übler Nazi gewesen sein.« Wilfried Bleeker ließ seinen Satz bedeutungsvoll ausklingen, während er auf einem Streichholz kaute und seine manikürten Fingernägel betrachtete.

Woher weiß er das alles, fragte sich Möllenkamp, der immer wieder verblüfft war, über welche Informationen Bleeker verfügte. Wahrscheinlich sollte er sich nachts auch öfter in Kneipen und zwielichtigen Etablissements herumtreiben. Das könnte ihm wertvolle Informationen für seine Arbeit liefern. Dann fiel ihm ein, dass der gestrige Abend mit Gertrud Boekhoff diese Kriterien durchaus erfüllte und schließlich auch nicht ergebnislos gewesen war. Obwohl: Sicher war ja noch keineswegs, dass es sich tatsächlich um Tadeus de Vries handelte.

Mit diesem Hinweis versuchte er denn auch, die gedanklichen Ausschweifungen seiner Kollegen zu drosseln.

Noch einmal meldete sich Edda Sieverts zu Wort, diesmal weniger unbedacht: »Egal, ob es seine Frau war oder sonst jemand, der ihn hasste, die eigentliche Frage ist doch: Wie haben sie oder er den Sarg mit dem Mann drin überhaupt auf die Baustelle gekriegt?«

Hinterkötter starrte Edda mit offenem Mund an. Dass eine Sekretärin das entscheidende Problem so scharfsinnig auf den Punkt brachte, passte eindeutig nicht in sein Weltbild.

»Tatsächlich könnten es zwei oder mehr Täter gewesen sein«, nahm Möllenkamp den Faden auf.

»Moment«, rief Anja, offensichtlich entschlossen, sich nicht von Sieverts die Butter vom Brot nehmen zu lassen. »Ein einzelner Täter kann durchaus den Sarg zuerst platziert und dann das Opfer hineingelegt haben. Dafür braucht er doch höchstens eine Schubkarre oder so etwas. Es ist also sehr wohl möglich, dass der Sarg vorher auf die Baustelle geschafft wurde und erst später die Leiche dort hineingelegt wurde. Seine Frau allerdings«, und hier wandte sie sich mit überlegenem Lächeln Edda zu, »wird das kaum alleine geschafft haben.«

Abram nahm den Faden auf: »Angenommen, Anja hat mit ihrer Vermutung recht: Wo auf der Baustelle könnte der Täter so eine Kiste denn versteckt haben? Kann uns denn der Erkennungsdienst dazu noch nichts sagen?«

»Bislang ist der KT-Bericht eher mager«, räumte Möllenkamp ein. »Es gibt auf der Baustelle dermaßen viele Spuren, dass man da kaum etwas findet, was man zweifelsfrei mit diesem Mord in Verbindung bringen könnte. Schließlich sind da den ganzen Tag über schon Bagger und andere Fahrzeuge herumgefahren, bis der Sarg überhaupt entdeckt wurde. Den Rest hat der Regen erledigt. Allerdings ist der Bauwagen offenbar aufgebrochen worden. Aber ob das bedeutet, dass dort die Kiste oder das Holz aufbewahrt worden ist, wissen wir noch nicht. Und ob wir daraus schließen können, dass der Täter allein war, auch nicht. Wir müssen abwarten, welche Spuren im Bauwagen identifiziert werden können.«

»Wie lange stand der Bauwagen denn schon da«, fragte Anja, die sich anscheinend beruhigt hatte. »Die Arbeiten auf der Baustelle sind ja überhaupt erst am Mittwoch wiederaufgenommen worden, also einen Tag, bevor der Mann dort vergraben worden ist.«

»Guter Punkt«, sagte Möllenkamp. Er hatte schon eine ganze Reihe von Stichworten wie »Beziehungstat«, »politisches Motiv«, »ein/mehrere Täter«, »Tatvorlauf« und »Bauwagen« auf gelbe Pappkärtchen geschrieben, die er nun an die Pinnwand heftete, sortiert nach den Kategorien »Motiv« und »Tathergang«. Er hatte sich das bei Meike abgeschaut, die in ihrem Unterricht häufig den Moderationskoffer verwendete. Ihm diente es allerdings weniger dazu, die Kollegen durch Methodenwechsel bei Laune zu halten, vielmehr wollte er Informationen, Aufgabenverteilung und Theorien geordnet und für alle nachvollziehbar an einem Ort sammeln.

Mit den Theorien waren sie für heute erst einmal durch, weitere Spekulationen würde sie nur in das Reich der Phantasie führen, fand Möllenkamp. Aber es gab Routineaufgaben, die zum Standardrepertoire der Polizeiarbeit gehörten, und die verteilte er jetzt.

»Anja, bitte frage noch einmal bei den Kollegen vom Fachkommissariat 5 nach, ob sie schon Genaueres über die Materialien sagen können, also das Holz, die Nägel, den Leim, oder was immer da verwendet worden ist. Ach so, am Sarg befand sich eine merkwürdige schwarze Paste mit Fasern. Vielleicht wissen sie schon, was das ist und wo der Täter die Sachen herhat. Und frag auch noch einmal nach, ob es Anzeichen dafür gibt, dass die Kiste im Bauwagen deponiert wurde und wie lange der Bauwagen dort schon stand.« Anjas Miene war finster wie immer, aber sie nickte.

»Wilfried, bitte nimm dir noch einmal die Bauarbeiter auf der Baustelle vor, die die Leiche entdeckt haben. Besorg dir dazu einen Dolmetscher für die Polen.« Bleeker grinste.

Möllenkamp und seinem Kollegen Abram stand die unangenehmste Aufgabe bevor: Sie mussten nach Bunderhee fahren und dort einer alten Frau mitteilen, dass ihr Ehemann möglicherweise ermordet worden war. Und wenn es nicht Tadeus de Vries war, dann standen sie wieder am Anfang.

***

Die Reifen knirschten über den Schotterweg, als Möllenkamp und Abram zu dem herrschaftlichen Anwesen der de Vries in Bunderhammrich hinauffuhren. Hinter dem Wohnhaus mit den hohen Fenstern erstreckte sich ein großes Wirtschaftsgebäude mit einem grünen Hoftor, über dem ein Sandstein mit der Jahreszahl »1912« eingelassen war. Wie viele Gulfhöfe des Rheiderlandes war auch dieser von einem Wassergraben umgeben, der von Trauerweiden und ausladenden Wacholderbüschen gesäumt wurde. Eine Weißdornhecke grenzte das Grundstück zur Straße hin ab. Wasser und Dornen machten den Gulfhof zur Burg des Polderfürsten, mit der er den Feinden trotzte.

Das Anwesen wirkte unbewohnt. Nichts regte sich hinter den Gardinen, kein Laut war zu hören. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie auf ihr Klingeln hin langsame Schritte vernahmen. Als hinter der Scheibe der Tür schließlich ein kleines graues Gesicht erschien, zückte Möllenkamp seinen Ausweis. »Moin. Stephan Möllenkamp und Johann Abram von der Kriminalpolizei Leer. Sind Sie Gretchen de Vries?«

»Was wollen Sie?«, kam es mit brüchiger Stimme von irgendwo aus dem winzigen Körper.

»Frau de Vries, wir haben gehört, dass Ihr Mann seit etwa zwei Tagen verschwunden sein soll. Wir haben Grund zu der Annahme …«

»Mein Mann ist nicht verschwunden. Gehen Sie.«

Möllenkamp blickte Abram an, der nun übernahm: »Wenn Ihr Mann nicht verschwunden ist, dann entschuldigen Sie bitte die Störung. In diesem Fall müssten wir aber dennoch kurz mit ihm sprechen.«

»Mein Mann ist verreist.«

»Wie lange? Können Sie uns sagen, wo wir ihn erreichen können.«

Die Frau schwieg.

»Frau de Vries. Es geht um einen Mordfall. Wenn Sie uns nicht sagen, wo Ihr Mann ist, dann müssen wir ihn vorladen lassen. Und Sie auch.«

Resignation malte sich auf dem runzligen Gesicht. »Kommen Sie herein.«

Die Eingangshalle strahlte eine altmodische Gediegenheit aus. Es roch nach altem Holz. Die Frau führte sie in ein Wohnzimmer, in dem um einen geschnitzten Esstisch mit bestickter Tischdecke herum sechs Stühle aus dunklem Holz standen. Ein antiker Nussbaumsekretär, Samtvorhänge, Brokattapeten und eine Polstergruppe, deren teure Bezüge mit Schutzdecken über den Armlehnen versehen waren, verstärkten, zusammen mit einer unangenehm kühlen Raumtemperatur, den musealen Eindruck dieses ungastlichen Zimmers.

»Bitte, setzen Sie sich.«

»Frau de Vries, Sie sagten, Ihr Mann sei verreist. Können Sie uns sagen, wo er sich zurzeit aufhält?«, versuchte es Möllenkamp erneut.

»Nein.«

Möllenkamp blickte die alte Frau erwartungsvoll an. Doch sie hatte anscheinend nicht die Absicht, mehr zu sagen. Ihr Gesicht war unbewegt.

»Seit wann ist Ihr Mann denn verreist?«

»Ich glaube, seit Donnerstag.«

»Aber Sie wissen es nicht genau?«

»Nein.«

»Könnte es auch früher oder später gewesen sein?«

»Am Donnerstag habe ich ihn noch gesehen. Warum wollen Sie das alles wissen?«

Möllenkamp und Abram blickten einander an.

Abram wagte sich behutsam vor: »Frau de Vries, wir haben auf dem Gelände der Sperrwerksbaustelle eine männliche Leiche gefunden. Das Alter würde etwa auf Ihren Mann passen. Aber natürlich bedeutet das gar nichts, vor allem, wenn Sie sicher sind, dass er nur verreist …«

»Wer hat Ihnen das erzählt?«, unterbrach sie barsch.

»Was?«

»Dass es mein Mann sein soll.«

»Jemand hat uns einen Hinweis gegeben.«

»Wo kann ich ihn identifizieren?«

Beide Polizisten waren zu überrascht, um weitere Fragen zu stellen. »Sie können mit uns zur Gerichtsmedizin fahren, wenn Sie den Verdacht haben, es könnte Ihr Mann sein.«

»Warten Sie hier. Ich ziehe mir etwas über.«

Als Gretchen de Vries zurückkam, war sie in einen altmodischen Mantel mit Pelzkragen gekleidet, der bestimmt einmal sehr teuer gewesen war. Aus ihrer Miene war immer noch keine Regung abzulesen. In der Eingangshalle war es Möllenkamp, als höre er hinten aus dem Stall schwach das Bellen eines Hundes. Er drehte den Kopf dahin, wo ein dunkler Gang nach hinten zum Wirtschaftsgebäude führte. Ein Rascheln. Er blinzelte. »Wohnt noch jemand im Haus?«

»Nein«, sagte die Frau, »nur mein Mann und ich.«

Abram blickte ihn fragend an, als er dennoch stehen blieb und sich noch einmal umdrehte. Obwohl es regnete und der Wind stürmisch blies, kam es ihm draußen wärmer vor als drinnen. Er entspannte sich. Während Abram den Wagen vom Hof lenkte und die alte Frau klein wie ein Kind hinten auf der Rückbank kauerte, blickte Möllenkamp nachdenklich zu dem Hof zurück, der so verlassen dalag, als habe niemand je darin gewohnt.

»Können wir noch einen kleinen Umweg über Hatzum machen?«, fragte er dann unvermittelt.

»Ja, warum«, fragte Abram mit einem raschen Seitenblick.

Möllenkamp versuchte möglichst unbeteiligt zu klingen: »Mein Auto abholen. Das steht noch vorm Schwarzen Ross.«

***

Am frühen Nachmittag standen Möllenkamp und Abram am Untersuchungstisch von Dr. Jörg Schlüter im Gerichtsmedizinischen Institut in Oldenburg. Frau de Vries hatte ihren Mann mit derselben Emotionslosigkeit identifiziert, die sie auch zuvor gezeigt hatte. Es gab anscheinend keine Gefühlsregungen, zu denen diese Frau fähig war. Über die Identifizierung hinaus war die Ehefrau des Ermordeten keine große Hilfe: Zum Verbleib des Wagens, mit dem er am Donnerstag weggefahren und der seitdem verschwunden war, konnte sie keine Angaben machen. Er hatte das Haus morgens verlassen, war erst gegen Abend zurückgekehrt, hatte nach einem kurzen Abendbrot den Wagen aus der Garage geholt und sich dann auf den Weg gemacht. Sie konnte weder sagen, wohin er gefahren war noch was er den ganzen Tag über gemacht hatte. Zu möglichen Motiven für seine Ermordung schwieg sie.

Nach dem Termin hatte eine Polizeistreife Frau de Vries wieder nach Hause zurückgefahren. Bei dem Gedanken, dass sie nun allein in dieses Museum zurückkehren würde, fröstelte Möllenkamp.

»Okay, jetzt haben wir’s amtlich. Aber woran genau ist er denn nun gestorben«, hörte er Abram fragen. »War das Hämatom an seinem Kopf die Todesursache?«

Wie merkwürdig, dachte Möllenkamp, nicht einmal das hat seine Frau wissen wollen. Erwartungsvoll blickte er den dunkelhaarigen Pathologen mit der runden Intellektuellenbrille an. Doch der meist gut gelaunte Schlüter war heute ernst.

»Nein, daran ist er nicht gestorben. Die Kopfverletzung, die ihm vermutlich mit einem Kantholz zugefügt wurde, hat ihn höchstens für eine Weile betäubt. Wahrscheinlich war er bewusstlos, als er in die Kiste gelegt wurde.« Der Gerichtsmediziner hob eine Hand des Toten hoch: »Definitiv hat er versucht, sich aus seinem Sarg zu befreien. Es gibt an seinen Händen eindeutige Verletzungen, die darauf hindeuten. Zum Beispiel hier die Holzsplitter unter den Fingernägeln, aber auch Abschürfungen an den Fingerknöcheln. Muss ziemlich wehgetan haben.« Schlüter blickte die beiden Ermittler an.

Eine Weile sagte niemand etwas. Die Vorstellung von dem verzweifelten Kampf des alten Mannes um sein Leben machte sie beklommen. Dabei hatte er in seinem Holzsarg auf der Baustelle scheinbar so friedlich dagelegen. Schließlich räusperte sich Möllenkamp: »Wie lange hat es gedauert?«

»Ich würde sagen, maximal sechs bis acht Stunden. Dann ist er erstickt. Als ihr ihn gefunden habt, war er schätzungsweise acht bis zehn Stunden tot. Die Totenstarre hatte sich noch nicht gelöst. Genau kann ich das aber noch nicht sagen, weil ich nichts über innere Verletzungen weiß oder über das, was er zu sich genommen hat. Vielleicht wurde ihm ja auch etwas eingeflößt.«

»Wann kriegen wir die anderen Ergebnisse?«

»Schätze, am Montag weiß ich Genaueres.«

Gefangen in einer Holzkiste, eingegraben in der Erde! Abram starrte vor sich hin. Nach einer Weile sagte er: »Ich kriege Atemnot, wenn ich daran denke, in so einem Sarg zu liegen. Eines weiß ich sicher: Wenn es soweit ist, lass ich mich einäschern.«

»Du leidest unter Taphephobie«, sagte Schlüter. »Das ist die Furcht, lebendig begraben zu werden.« Er blickte auf, und ein schwaches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Der Dichter Hans Christian Andersen hatte neben seinem Bett immer einen Zettel liegen, auf dem stand: ›Ich bin nur scheintot!‹ Er hatte panische Angst davor, lebendig begraben zu werden. Als er dann wirklich tot war, mussten ihm vor seiner Beerdigung die Pulsadern durchschnitten werden. So hatte er es verfügt. Kam früher gar nicht so selten vor, dass jemand scheintot beerdigt wurde. Für den Fall gab es eine Schnur im Sarg, mit der der Scheintote eine Glocke läuten konnte, falls er aufwachte. Oder ein Totenhorn, das er blasen konnte. Na ja, aber das alles war wohl nicht im Sinne desjenigen, der unser Opfer hier in diese Kiste gesperrt hat. Offensichtlich hat er ihn ja gerade deshalb an diesem Ort begraben, weil er sicher sein konnte, dass man ihn hier niemals mehr lebend finden würde.«

»Gibt es eigentlich Anzeichen eines Kampfes«, fragte Möllenkamp.

»Ich habe keine gefunden.«