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Der vierte Fall für Kriminalkommissar Stephan Möllenkamp und die Lokaljournalistin Gertrud Boekhoff
Ein Mord erschüttert die Küste: Ein bekannter Unternehmer liegt erschossen am Fuße einer gigantischen Lenin-Statue. Sofort nehmen Kommissar Stephan Möllenkamp und sein Team die Ermittlungen auf. Offenbar erhielt das Opfer Drohbriefe und war in Konflikt mit einer Motorradgang geraten. Doch die Journalistin Getrud Boekhoff bringt eine überraschende Wendung in den Fall: Ihr Vater erkennt den Mann - damals hatte er einen anderen Namen. Wer war der Tote wirklich? Und wer wollte seinen Tod?
Heike van Hoorns packende Küstenkrimi-Reihe geht weiter! Für alle Fans von Eva Almstädt, Nina Ohlandt und Sabine Weiß.
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»Die Autorin versteht es auf eine beeindruckende Art und Weise den Leser bei der Stange zu halten. Bravo!« (Magazin Köllefornia über »Nebelschuld«)
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Prolog
Mittwoch, 10. Oktober 2001
Bunderhee, gegen Abend
Einige Tage zuvor
Mittwoch, 10. Oktober 2001
Bunde, am Abend
Mord und Anschlag
Donnerstag, 11. Oktober 2001
Gemeinde Oldambt, Niederlande, am Vormittag
Polizeiinspektion Leer, gegen Mittag
Zur gleichen Zeit in Weener
Polizeiinspektion Leer
Bunderhee, früher Nachmittag
Gerichtsmedizinisches Institut Groningen, Niederlande, am Nachmittag
Polizeiinspektion Leer, zur gleichen Zeit
Bunderhee, später Nachmittag
Esklum, am Abend
Weener, zur gleichen Zeit
Verschwundene
Freitag, 12. Oktober 2001
Polizeiinspektion Leer, am Morgen
Kreiskrankenhaus Leer, früher Nachmittag
Bunderhee, zur gleichen Zeit
Kreiskrankenhaus Leer, früher Nachmittag
Leer, zur gleichen Zeit
Kreiskrankenhaus Leer
Nieuw-Beerta, Niederlande, am Nachmittag
Kreiskrankenhaus Leer
Polizeiinspektion Leer, am Nachmittag
Polizeiinspektion Leer, am Nachmittag
Campingplatz Bingum bei Leer, am Nachmittag
Polizeiinspektion Leer, zur gleichen Zeit
Finsterwolde, später Nachmittag
Holtland, später Nachmittag
Holthusen, gegen Abend
Esklum, gegen Abend
Weener, später Abend
Bunde, in der Nacht
Auf einem Boot auf der Leda, in der Nacht
Neuansatz
Samstag, 13. Oktober 2001
Polizeiinspektion Leer, am Morgen
Esklum, am Vormittag
Holthusen, zur gleichen Zeit
Fluchthelfer
April 1940
Nieuw-Beerta, am Abend
Samstag, 13. Oktober 2001
Holtland, am Morgen
Leer, zur gleichen Zeit
Bunderhee, am Vormittag
Nieuw-Beerta, zur gleichen Zeit
Polizeiinspektion Leer, später Vormittag
Weener, am Mittag
Holtland, gegen Mittag
Weener, zur gleichen Zeit
Bunde, früher Nachmittag
Campingplatz Bingum bei Leer, früher Nachmittag
Esklum, am Nachmittag
Holtland, zur gleichen Zeit
Finsterwolde, am Nachmittag
Winschoten, zur gleichen Zeit
Bunde, früher Abend
Charlottenpolder, früher Abend
Leer, zur gleichen Zeit
Charlottenpolder, am Abend
Charlottenpolder, am Abend
Polizeiinspektion Leer, am Abend
Seeschleuse Leer, zur gleichen Zeit
Kreiskrankenhaus Leer, am Abend
Polizeiinspektion Leer, zur gleichen Zeit
Winschoten, am Abend
Polizeiinspektion Leer, zur gleichen Zeit
Seeschleuse Leer, am Abend
Zwanzig Minuten früher
Leer, später Abend
Sonntag, 14. Oktober 2001
An verschiedenen Orten
Nieuw-Beerta, am Morgen
Montag, 15. Oktober 2001
Leer, am Vormittag
Epilog
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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Ein Mord erschüttert die Küste: Ein bekannter Unternehmer liegt erschossen am Fuße einer gigantischen Lenin-Statue. Sofort nehmen Kommissar Stephan Möllenkamp und sein Team die Ermittlungen auf. Offenbar erhielt das Opfer Drohbriefe und war in Konflikt mit einer Motorradgang geraten. Doch die Journalistin Getrud Boekhoff bringt eine überraschende Wendung in den Fall: Ihr Vater erkennt den Mann – damals hatte er einen anderen Namen. Wer war der Tote wirklich? Und wer wollte seinen Tod?
Der vierte Fall für Kriminalkommissar Stephan Möllenkamp und die Lokaljournalistin Gertrud Boekhoff.
Heike van Hoorn
Flutrache
Ostfriesland-Krimi
Er steht auf der Terrasse und sieht über die Wiesen und Äcker nach Westen. Jetzt, so kurz vor seinem Abschied, muss er daran denken, wie er das erste Mal hergekommen ist und sofort wieder weg wollte. In einem klapprigen Peugeot, der ein Vermögen gekostet hatte, fuhr er durch die Gegend, in der er sich ansiedeln würde. Die Äcker waren schwarz, die Straßenbäume gekrümmt, die Wiesen vom Wind zerzaust. Rote Backsteinhäuser standen in Reih und Glied an der Straße, Gardinen verschlossen die Fenster undurchdringlich. Das passte zu den Menschen, die sich die allergrößte Mühe gaben, ihr Interesse für die Angelegenheiten anderer nicht zu zeigen. Nirgendwo hat er sich jemals so beobachtet gefühlt wie hier, bei seiner wichtigsten Mission.
Dann ist er hängen geblieben, hat ein Mädchen kennengelernt, ein Haus gekauft, das Auto ausgetauscht – nicht in dieser Reihenfolge – und die Mission war immer noch nicht zu Ende. Und dann war da noch das Unternehmen, das schlecht lief. Das Mädchen fing an, von Kindern zu sprechen, und ihm fiel ein, dass er noch ein Leben vor sich hat. Ein Leben, das er anders gestalten will. Also hat er Vorkehrungen getroffen, hat alles vorbereitet. Und morgen wird sein neues Leben beginnen. Ohne sie.
Eine Zeitenwende. Die Menschen haben es ja mit den Zeitenwenden. Er sieht in den Himmel, an dem die Sonne allmählich in rosa-gelb-orange Streifen zerfließt, das Licht aus den Kuhweiden saugt, die darüber bald dunkelgrün, dann schwarz werden. Im Fernsehen reden sie wieder davon. Vielleicht ist es so, vielleicht passiert gerade eine, vielleicht auch nicht. Vielleicht spricht in hundert Jahren keiner mehr über ein paar Flugzeuge, die in Hochhäuser geflogen sind.
Er nimmt einen Schluck Wodka und zündet sich eine Zigarette an. Die Rauchwolke wird vom Wind sofort verweht. Er schiebt die Terrassentür hinter sich zu, damit der Rauch nicht ins Wohnzimmer dringt. Annemieke mag das nicht, und den Gefallen kann er ihr noch tun.
Bei der letzten Zeitenwende vor zwei Jahren sollten alle Computer der Welt den Geist aufgeben und danach die Welt untergehen. Oder davor. Oder gleichzeitig. Aber die Welt ist nicht untergegangen und schon gar nicht am 1. 1. 2000, weil die Volltrottel nicht rechnen konnten. Und auch nicht am 1. 1. 2001.
1989 hieß die Zeitenwende noch Wendezeit und die alten Männer in Ost-Berlin jammerten, jetzt wäre alles vorbei. Das Einzige, was vorbei war, war der untaugliche Versuch, die Ausbreitung des Kapitalismus zu stoppen, indem man ein bürokratisches Monstrum erschuf, das von einer Reihe sklerotischer Dummköpfe beherrscht wurde. Gott sei Dank.
Noch einen Schluck Wodka. Lars lässt ihn genussvoll die Kehle hinunterrinnen und zieht dann an seiner Zigarette, die vorne rot aufglimmt und schnell wieder dunkel und dann zu Asche wird. So wie der real existierende Sozialismus. Er muss grinsen, weil ihm der Vergleich gefällt. Demnächst wird er keinen Wodka mehr trinken, und wenn, dann nur als Bloody Mary.
Er hebt das Glas und prostet dem Himmel zu. Auf die Zeitenwende. Auch die bärtigen Kameltreiber in den Flugzeugen haben versucht, den Siegeszug des Kapitalismus aufzuhalten – mit noch blöderen Ideen. Es ist beinahe lachhaft. Jetzt wird ein Krieg kommen und dann vielleicht noch einer. Am Ende wird das Kapital in den Händen weniger sich vermehrt haben und die Armen sind wieder einmal ärmer.
Aber zu denen wird er nicht gehören.
Über der Weite des Hammrichs breiten sich dort, wo die Sonne vor Kurzem untergegangen ist, rote Streifen aus. Es wird morgen regnen, aber das stört ihn nicht mehr. Da, wo er hingeht, ist der Regen warm und die Sonne reichlich. Er hat alles vorbereitet und spürt nur eine leichte Unruhe, vielleicht ein bisschen Lampenfieber, dem er damit begegnet, dass er sein Glas mit großer Sorgfalt in die Spülmaschine räumt, den Verschluss der Wodkaflasche kontrolliert, ob er auch zu ist, und sich vor dem Spiegel noch einmal ausführlich die Haare glatt streicht. Er nimmt das Flugticket aus der Brusttasche seines Oberhemdes, faltet es auseinander und betrachtet es eine Weile: CUN steht als Flugziel darauf, das steht für Aeropuerto Internacional de Cancún. Ein leichter Schauer der Vorfreude läuft ihm über den Rücken. Er faltet das Ticket wieder zusammen, steckt es in die Brusttasche zurück und klopft noch zweimal mit der Hand darauf, wie um es zu sichern.
Er hat seinen Koffer schon aus dem Obergeschoss geholt, als es an der Tür klingelt.
Lars sieht auf die Uhr. Es ist zu früh, der Wagen erst für später bestellt. Annemieke ist heute und morgen bei ihrer Fortbildung in Groningen. In seinem Bauch schiebt sich die Unruhe aus ihrer Ecke wie ein ungezogener Hund. Er drängt sie zurück, indem er seine Bewegungen verlangsamt und dann zur Tür geht. Vor der Milchglasscheibe der Haustür hat der Bewegungsmelder das Licht ausgelöst. Er sieht einen Schatten, der ihm bekannt vorkommt. Der Hund in seinem Bauch kriecht langsam wieder aus seiner Ecke hervor.
Er steht vor der Scheibe, der Schatten dahinter. Wenn er ein Besucher wäre, hätte er längst ein weiteres Mal geklingelt. Lars scheucht den Hund in die hinterste Ecke seines Bauches zurück. Er wird den Besuch schnell loswerden müssen. Er wird sagen, dass er zur Arbeit muss. Mit dem Fuß schiebt er den Koffer in die Garderobennische. Dann öffnet er die Tür.
»Du ...«, sagt er, dann sieht er die Mündung der Waffe und hört die vertraute Stimme, die ihn in unvertrautem Ton auffordert, mitzukommen. Er ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass er jetzt den Mund halten muss. Darum folgt er schweigend und denkt nur kurz daran, dass er sein Feuerzeug vergessen hat. Auf dem Weg zum Auto stolpert er über seine offenen Schuhbänder. »Darf ich?«, fragt er, beugt sich vor und macht mit ruhigen Bewegungen zwei Schleifen. Die Unruhe sitzt erstaunlicherweise wieder in ihrer Ecke. Sein Gehirn hat auf Krisenmodus umgeschaltet.
***
Im Auto ist es heiß, die Heizlüftung läuft auf vollen Touren. Er liegt, mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Rücksitz des Wagens und kann kaum atmen. Das Panzerband vor seinem Mund zieht schmerzhaft an der Haut, sobald er seinen Kopf bewegt, über den sein Entführer einen Kartoffelsack gezogen hat. Auch seine Füße stecken in einem Kartoffelsack. Zusätzlich ist eine Decke über ihn gebreitet. Das alles ist beängstigend schnell gegangen, erst jetzt hat er die Möglichkeit, seine Lage zu überdenken, soweit es die Hitze zulässt.
Er liegt mit dem Kopf hinter dem Beifahrersitz, vermutlich will der Fahrer ihn besser im Blick behalten. Durch das Sackgewebe kann Lars nicht sehen, ob er ihn wirklich beobachtet. Vorsichtig hebt er den Kopf an. Keine Reaktion.
Er ahnt, dass der Wagen auf dem Weg zur Grenze ist. Jetzt am Abend ist wenig Verkehr, das Auto wird kaum beachtet werden. Hinter der Grenze ist erst recht nichts mehr los. Wenn er versuchen will, Aufmerksamkeit zu erregen, dann muss er es in Bunde versuchen. Das ist seine einzige Chance.
Aber zuerst muss er in eine günstigere Position kommen.
Wie in Zeitlupe zieht er die Beine ein Stück an, hält inne, zieht die Beine noch weiter an, bis er wie ein Embryo daliegt. Er atmet ruhig und tief, soweit der Kartoffelsack es zulässt. Panik würde ihn in Atemnot bringen. Solche Situationen hat er trainiert, auch wenn es lange her ist.
Er versucht sich darauf zu konzentrieren, wo genau er sich befindet. Als der Wagen in eine scharfe Linkskurve biegt, weiß er, dass dies der Bunder Kirchring sein muss. Gleich werden sie an eine Kreuzung kommen, wo sie bei einem Möbelgeschäft nach rechts abbiegen und sich dem Ortskern nähern werden.
Er hat nicht mehr viel Zeit.
Vorsichtig dreht er die linke Schulter nach vorn und schiebt die linke Pobacke etwas nach oben, damit er seine Füße anheben kann. Es ist das gefährlichste Manöver. Er hält kurz inne und spürt, dass er seine Bauchmuskeln besser hätte trainieren müssen. Er muss das unbedingt nachholen. Falls er hier lebend rauskommt.
Jetzt sind sie an der Kreuzung angekommen, der Wagen biegt rechts ab. In wenigen Augenblicken werden sie die Bunder Blinke passieren, die Hauptkreuzung im Ort. Wenn überhaupt um diese Zeit noch jemand unterwegs ist, den er auf sich aufmerksam machen kann, dann dort im Ortskern.
Lars spannt den Körper an, schiebt seine Füße in dem Kartoffelsack in die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen und stößt sie so hart er kann nach vorne.
Ein Schrei. Ein Fluch. Lars tritt noch einmal nach und versucht gleichzeitig, den Kabelbinder um seine Füße zu zerreißen. Der abrupte Ruck, der ihn mit dem Kopf gegen den Beifahrersitz schleudert, stoppt seine Bemühungen. Der Wagen ist gegen irgendetwas geprallt. Die Plastikschnüre graben sich tief in seine Handgelenke. Er keucht und ringt nach Luft, weil sich der grobe Stoff des Kartoffelsacks gegen sein Gesicht und seine Nase presst. Er schüttelt sich, um wieder atmen zu können, doch er hat sich mit dem Oberkörper im Fußraum der Hinterbank verkeilt, sodass sein Kopf nach unten hängt, was ihm das Atmen noch schwerer macht.
Vom Fahrersitz hört er Flüche und hektisches Hantieren mit der Gangschaltung. Der Motor heult auf, und der Wagen macht einen Satz nach hinten.
Dann ... von draußen eine Stimme! Jemand ruft dem Fahrer etwas zu. Da ist jemand, der ihn jeden Augenblick sehen oder hören wird! Lars strampelt so wild mit den zusammengebundenen Füßen, wie er nur kann. Dabei versucht er sich auf den Rücken zu drehen, damit er den Oberkörper anheben kann. Der Sack scheuert über seine Gesichtshaut. Er versucht durch den verschlossenen Mund zu schreien und dabei den Sack vom Kopf zu schieben.
»Mmmh! Mmmh!« Es klingt dumpf. Er ist einfach zu leise. Es wird nicht funktionieren. Lars strampelt verzweifelt.
Von vorne zischt ihm der Fahrer zu, er solle still sein. Dann wird die Fahrertür aufgerissen.
Seine Hände in den Silikonhandschuhen sind ruhig, als er die sieben Briefumschläge vor sich auf dem Tisch bereitlegt. Sechs Adressen stehen darauf, kein Absender. Die Adressen sind sorgfältig und in Druckbuchstaben mit der Hand geschrieben, mit der linken, damit kein Schriftvergleich ihn überführen kann. Die Briefe sind bereits ordentlich gefaltet, jetzt steckt er sie in die Umschläge. Einen Brief in jeden Umschlag.
Dann nimmt er einen kleinen Pingellöffel und dreht das Glas auf, in dem er das Pulver aufbewahrt. Das Pulver ist weiß mit schwarzen Einsprengseln. Er nimmt einen gehäuften Löffel voll und schüttet ihn in den ersten Umschlag, dann den nächsten Löffel in den nächsten Umschlag und so weiter. Es ist nicht so viel, dass man von außen merkt, dass Pulver in dem Umschlag ist. Es ist aber auch nicht so wenig, dass es nicht auffallen würde, sobald man den computergeschriebenen Brief herauszieht.
Er taucht den Finger in ein Wasserglas und benetzt die gummierte Linie auf den Briefumschlägen. Dann drückt er die Lasche auf die Umschläge, einen nach dem anderen.
Aufmerksam betrachtet er sein Werk, dann holt er eine Tasche und legt die Briefe hinein. Er nimmt die blaue Duschhaube ab und rollt sich die Handschuhe von den Händen.
Er ballt die Fäuste, das zieht die Haut über den Händen glatt, sodass sie beinahe jung wirken. Wenn er die Finger wieder gerade macht, sieht die Haut aus wie die eines alten Elefanten. Das Grundglied des rechten Ringfingers wirkt schmaler, dort, wo so viele Jahre der Ring seinen Platz hatte.
Er betrachtet den siebten Umschlag, den er zwar beschriftet hat, aber nicht abschicken wird. Den hebt er sich für den finalen Schlag auf.
Er richtet den Blick auf die Flagge an der Wand, ein Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Er wird Chaos stiften. Chaos schwächt das System und bereitet den Weg für die Befreiung.
Ein Blick nach draußen. An dem einsamen Baum an der Straße zerrt der Wind. Es wird langsam dämmrig. Es ist Zeit, die Briefe zum Postkasten zu bringen.
In dem Moment, als sich die Fahrertür öffnet, nimmt Lars alle seine Kräfte zusammen. Er schreit, er hämmert seine zusammengebundenen Füße auf die Mittelkonsole. Er schlägt seinen Oberkörper gegen die Rücklehne in der Hoffnung, das Auto zum Wackeln zu bringen.
Sein Entführer ist aus dem Wagen gestiegen und hat sich in die Fahrertür gestellt.
»Hast den Stromkasten ja ganz schön lädiert. Glück gehabt, dass ich gerade zufällig vorbeigekommen bin«, sagt eine Stimme, die von irgendwo über dem Autodach zu kommen scheint. Lars kennt die Stimme. Sie gehört Helmut Heienga von der Polizeistation Weener. Nicht gerade sein bester Freund, denn Heienga hat grundsätzlich etwas gegen private Sicherheitsdienste, aber immerhin: Die Polizei steht direkt vor dem Wagen, aus dem er unbedingt hinauswill.
Doch nun tritt der Mann in der Fahrertür einen Schritt vor, schließt die Tür mit einem Klacken und umrundet mit dem Polizisten das Fahrzeug, um sich den Schaden vorne zu besehen.
»Wie is'n das überhaupt passiert?«, hört Lars dumpf von draußen, nun schon weiter weg.
Von der Antwort kann er nur das Wort »Katze« verstehen.
»Ha, ha«, lacht Heienga. »Das fette Vieh von Venema! Die hättste ruhig erledigen können.«
Lars wirft sich verzweifelt vor und zurück und brüllt durch den Sack.
»Hast du 'n Ferkel bei dir im Auto?« Die Stimme kommt nun wieder näher.
Lars strampelt weiter. Ihm wird schlecht vor Atemnot. Aber das ist seine einzige Chance. Es kann doch nicht sein, dass der Mann ihn nicht sieht! Dass er nichts bemerkt!
Dann hört er etwas aufs Autodach knallen, laut und hart. Das Knallen geht in ein Prasseln über, als würde jemand mit einem Schrotgewehr auf das Fahrzeug schießen. Es ist ohrenbetäubend.
»Scheiße!«, schimpft der Polizist dumpf. »Als wenn der Regen nicht schon reicht. Pass auf, du fährst jetzt nach Hause, aber vorsichtig! Ich überleg mir was. Hast du eigentlich noch Kaninchen?«
Die Fahrertür wird aufgerissen und wieder zugeschlagen, der Wagen gestartet und vorsichtig rückwärts vom Bürgersteig gelenkt. Währenddessen donnert der Hagel auf das Autodach und Lars tobt auf dem Rücksitz herum. Doch die Kabelbinder halten, ebenso der Kartoffelsack auf seinem Kopf.
Warum hat der Polizist nicht reagiert? Er muss doch etwas gesehen haben! Hat er Verdacht geschöpft, aber nichts unternommen, um ihn, Lars, nicht zu gefährden? Wird er jetzt Hilfe holen? Ihnen folgen?
Lars denkt nach: Es mag gegen acht Uhr abends sein. Draußen ist es dunkel. Der Polizist hat ihn nicht gesehen.
Er bekommt immer noch keine Luft, der Nacken tut ihm vom Aufprall weh, und die Kabelbinder haben seine Gelenke aufgescheuert.
Lars hört auf zu strampeln. Es ist zu spät. Er hat es vermasselt.
Roswitha Smit saß vorne im Bus neben dem Fahrer und knetete ihre Hände. Seit 20 Jahren schon fuhr sie die Internationale Dollard Route mit Bustouristen. Sie besuchte mit ihren Gästen die Kunsthalle in Emden, den Ditzumer Fischereihafen, die Ennemaburg in Midwolda und die hängenden Küchen von Appingedam, ging mit ihnen in heimeligen Gaststätten Matjes essen und zum Abschluss in den prächtigen Garten von Rika van Delden. Das Rheiderland dies- und jenseits der Grenze war Roswitha vertraut wie die Tasche ihrer Outdoorjacke.
Jetzt aber hatte sie ihre sonstige Sicherheit verloren. Hinter ihr saßen 15 Männer und Frauen vom Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen, die eine Tagestour gebucht hatten, bei der Roswitha den Ausdruck »zu Ihrer Rechten sehen Sie« unter keinen Umständen benutzen durfte. Das machte ihr Angst.
»Wir fahren jetzt durch die Gemeinde Oldambt. Um uns herum breitet sich bis zum Horizont eine weite, flache Landschaft aus. Weil das gesamte Gebiet unter dem Meeresspiegel liegt, ist die Entwässerung besonders wichtig. Darum durchziehen Gräben und Sieltiefs die Gegend. Ein paar Meere hier laden zum Wassersport ein. Weil der Kleiboden sehr fruchtbar ist, nennt man diese Gegend auch die Kornkammer der Niederlande.« Roswitha dachte daran, dass es um Farben ging: »Jetzt im Oktober ist der Weizen abgeerntet. Darum sind um uns herum die Felder beige-gelb und voller Stoppeln. Auf den Weideflächen können Sie viele Grau- und Silberreiher sehen ...«
Der Seitenblick von Heinz, dem Busfahrer, genügte.
»Eh, also, hm ja«, stotterte Roswitha. »Der Weizen hat die Bauern hier sehr reich gemacht. Diesen Reichtum wollten sie auch zeigen. Wir fahren gerade an einem prächtigen Bauernhof vorbei, dessen Vorderhaus wie ein Schloss aussieht. Stuck über den Fenstern, ein kunstvoll verziertes schmiedeeisernes Balkongeländer und ein Löwe über dem Portal waren Ausdruck des Selbstbewusstseins der Bauern. Wichtig war auch ein repräsentativer Garten. Darum sind die Höfe von großen Bäumen umgeben und mit verschlungenen Wegen und Wasserspielen durchzogen. Jeder Hof ist ein Schmuckstück für sich.«
Sie war zu Hause jede Station durchgegangen und hatte versucht in Worte zu fassen, was sie anderen Touristen einfach zeigen konnte. Hermann hatte gefragt, warum sie sich das in ihrem Alter überhaupt noch antue, Christa könnte doch auch eine solche Tour übernehmen. Aber Hermann hatte immer etwas dagegen, weil er wollte, dass sie bei ihm zu Hause blieb.
»Kannst du nicht was einbauen, was sie anfassen oder riechen können?«, hatte er dann doch vorgeschlagen.
Na ja, Rika van Deldens Garten konnte man riechen und anfassen, aber sonst?
Sie schielte seitwärts auf Heinz, dessen Miene nicht verriet, ob sie ihre Sache gut machte oder nicht. Sie beschloss aufzustehen und sich zu der Reisegruppe zu drehen, obwohl die meisten ihrer Gäste sie nicht sehen konnten – mit Ausnahme von Frau Wilbers, die beim Sehbehindertenverband im Büro arbeitete, und den Begleitpersonen.
»Ich habe gelesen, den Landarbeitern ging es nicht so gut«, rief ein Mann aus der vorletzten Reihe, der zu Strickpullover und Jeans ein Che-Guevara-Barett trug, das er auch im Bus nicht ablegte.
»Das stimmt leider«, sagte Roswitha. »Der Reichtum stieg einigen Bauern zu Kopf. Es gab welche, die verstreuten den Lohn für ihre Arbeiter auf dem Hof, sodass die Knechte auf den Knien ihr Geld zusammenklauben mussten. Im Winter saßen die Landarbeiter arbeitslos zu Hause und wussten nicht, wovon sie ihre Familien ernähren sollten. Die Lebensumstände waren erbärmlich. In diesem Elend gedieh die Idee vom Sozialismus. Bis heute sind in Oldambt Kommunisten im Gemeinderat vertreten, in den 80er-Jahren gab es hier die einzige kommunistische Bürgermeisterin der Niederlande. Übrigens heißt die Straße, auf der wir gerade fahren, Hammer-und-Sichel-Weg.«
Überraschte Ausrufe und vereinzeltes Lachen zeigten Roswitha, dass sie ihre Gruppe wieder im Griff hatte.
»Schade, dass es nichts genutzt hat«, meinte Che Guevara bedauernd.
»Wolfi, hör auf mit dem Politisieren!«, rief eine resolute Frau mit großer, schwarzer Sonnenbrille. »Sonst fängt Rolf gleich auch wieder an, und dann ist es mit dem Spaß vorbei.«
Roswitha versuchte auszumachen, wer Rolf sein könnte, vermochte es aber nicht.
»Gleich erreichen wir noch ein besonderes Highlight, verkündete sie und blickte den Busfahrer neben sich triumphierend an. Der nickte.
***
»Was ist das denn?!!! Is ja 'n Ding. Der?! Hier!?« Die Ausrufe kamen von Frau Wilbers und den Begleitern und führten zu einer gewissen Unruhe unter den nicht sehenden Teilnehmern der Reisegruppe.
Vor ihnen erhob sich am Feldrand eine riesenhafte, im Gegenlicht finstere Gestalt im flatternden Mantel, einen Arm weit nach oben ausgestreckt, die Hand offen, als wollte sie den Besucher einladen. Die Büsche ringsumher gaben der Figur einen dunklen Rahmen, dahinter erstreckte sich die endlose Weite der Polderlandschaft, in der Grün und Gelb ein großflächiges Flickenmuster bildeten, das nur selten durch kleinere Baumgruppen um die vereinzelten Höfe unterbrochen wurde.
Roswithas Blick glitt zurück zur Statue und wanderte in das Gesicht, das sie schon oft betrachtet hatte: die buschigen Augenbrauen, den strengen Bart, die tiefen Augenhöhlen. Es hatte etwas so Einschüchterndes an sich, dass man sich diesem Mann, wenn er lebendig gewesen wäre, nur katzbuckelnd hätte nähern mögen. Die Hand, die nicht ausgestreckt war, hielt das Revers des Mantels umklammert. Wie Napoleon, dachte sie. Und mit seinen eins fünfundsechzig war er sogar noch kleiner gewesen als der Franzose. Und zehn Zentimeter kleiner als Marx und Trotzki. Für einen Mann mit seinem Selbstbild sicher schwierig.
Die Unruhe hinter ihr nahm zu und Roswitha drehte sich um: »Von dem Mann, dessen Denkmal vor uns über die Felder ragt, stammt der berühmte Satz ›Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes‹.«
»Lenin!«, schrie Che Guevara von hinten begeistert.
»Genau. Vor uns erhebt sich neun Meter hoch Wladimir Iljitsch Lenin, der Vater des Sowjetkommunismus. Er musste vor dem russischen Zarenregime ins Schweizer Exil fliehen und kam 1917 mithilfe der deutschen Regierung heimlich wieder nach Russland zurück. Die von ihm angeführte Oktoberrevolution führte dazu, dass das Russische Reich kapitulierte und die Deutschen frohlockten, denn ihr Plan war aufgegangen ...«
»Das haben sie drei Jahrzehnte später bitter bereut!«, rief ein Mann im Popelineblouson von hinten.
»Wenn die Revolution auch in Deutschland stattgefunden hätte, hätte es keinen Adolf und keinen Krieg gegeben«, bellte Che Guevara zurück.
»Stalin war doch noch viel schlimmer!« Der Mann im Blouson war jetzt richtig aufgebracht.
Die Frau mit der schwarzen Sonnenbrille rief beide zur Ordnung. »Rolf und Wolfi, jetzt reißt euch mal zusammen. Wollt ihr allen die Laune verderben?« Aber Rolf und Wolfi hatten sich ineinander verbissen und fuhren fort, sich gegenseitig die Verbrechen von Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus vorzuhalten. Roswitha versuchte sich Gehör zu verschaffen: »Wir parken jetzt, steigen dann einmal aus und Sie können die Statue gerne anfassen, während ich Ihnen erzähle, wie unser Lenin hier in den Norden der Niederlande gekommen ist.«
Rita setzte sich wieder vorne neben den Busfahrer.
»Guck mal da«, sagte Heinz und deutete aus dem Vorderfenster.
Eine Gestalt kauerte zu Lenins Füßen. Sie lehnte gegen den Sockel, die Beine ausgestreckt, der Kopf hing auf der Brust. Die Haltung kam Roswitha komisch vor. »Lass mich zuerst aussteigen«, bat sie den Busfahrer.
Der Mann bewegte sich nicht, als sie beklommen auf ihn zuging. Irgendetwas stimmte hier nicht. Nicht mit dem Mann vor ihr, und nicht mit dem Bus hinter ihr, aus dem sie aufgeregtes Stimmengemurmel hörte. Je näher sie kam, umso schneller ging ihr Puls. Der Mann trug dunkle Kleidung. Er hatte blondes Haar, von dem der Wind einzelne Strähnen bewegte.
Den dunklen Fleck auf dem Pullover sah Roswitha erst, als sie schon dicht vor ihm stand. »Hallo, geht es Ihnen gut?«, fragte sie überflüssigerweise. Der dunkle Fleck war Blut, das aus einem Loch in der Stirn des Mannes getropft war.
»Oh Gott! Er ist tot!«, kreischte hinter ihr Frau Wilbers, die ihr aus der offenen Bustür heraus gefolgt war.
»Natürlich ist er tot. Er liegt in diesem gläsernen Sarg auf dem Roten Platz, wo die Idioten immer noch hinpilgern«, ertönte hinter Wilbers die Stimme von Rolf, der ebenfalls gerade den Bus verließ.
Roswitha fuhr herum. Abwehrend hob sie die Hände, obwohl das nur Frau Wilbers sehen konnte. »Stopp!«, rief sie entschlossen. »Niemand verlässt den Bus.«
Während sie genau im Auge behielt, wie ihre Gäste maulend wieder in den Bus stiegen, raunte Roswitha dem Busfahrer zu, dass die Reiseplanung sich nun ändere: Die Gruppe würde den Garten in Oostwold früher als geplant erreichen und dort neben einer sachkundigen Gartenführung auch Kaffee und Kuchen bekommen, sie selbst aber werde vor Ort auf Polizei und Notarzt warten.
Sie war erleichtert, als der Bus losgefahren war. Nun hatte sie Gelegenheit, sich die Sache näher anzusehen. Sie war nicht bange. Ihre Kindheit hatte sie auf dem Bauernhof verbracht und war dem Tod dort oft genug begegnet. Diesem Mann hatte jemand in die Stirn geschossen. Da der Mann keine verbundenen Augen hatte, hatte er womöglich seinen Mörder vor sich gesehen. Dieser wiederum hatte ihn vermutlich absichtlich so hingesetzt.
Roswitha ließ ihre Augen nach oben zu Lenin wandern. Aber der sah starr geradeaus, hatte Größeres im Blick, anstatt sich mit der einzelnen kleinen Kreatur hier unten zu befassen. Das, so war Roswitha überzeugt, war regelmäßig das Problem männlicher Gesellschaftsentwürfe – und der Grund für ihr Scheitern.
Kriminalhauptkommissar Stephan Möllenkamp, Leiter des Fachkommissariats I der Polizeiinspektion Leer, las vor, was auf dem Fax stand, das soeben aus dem Gerät gekommen war. »Lars Kröger heißt der Mann. Aufgesetzter Schuss in die Stirn. Kaliber wahrscheinlich 9 Millimeter. Todeszeitpunkt zwischen 21 und 23 Uhr. Das Opfer ist um die 40 Jahre alt, männlich, blond. Auffällige Abschürfungen an Hand- und Fußgelenken, wahrscheinlich Kabelbinder. Mögliche Überreste von Substanzen muss die toxikologische Untersuchung ergeben. Besondere Merkmale: keine.«
»Na ja, das würde ich nicht sagen.« Johann Abram hielt das Fax in der einen Hand, das Foto in der anderen und legte den Kopf schief, während er es betrachtete. »Hier, Stephan, guck mal. Ein Ohr steht viel weiter ab als das andere.«
Stephan Möllenkamp nahm seinem Kollegen das Foto aus der Hand. Ein Durchschnittsgesicht, wenn da nicht die unterschiedlichen Ohren wären. »Warum ist das unser Fall?«, fragte er. »Die Holländer haben ihn doch gefunden.«
»Guck hier, er ist in Bunderhee gemeldet.«
»Hatte er Papiere bei sich?«
»Einen Personalausweis im Portemonnaie. Wie es sein muss.«
»Was war sonst im Portemonnaie?«
Abram blickte auf sein Fax. »Geld. Etwa 300 DM.«
»Nicht wenig, aber im normalen Rahmen«, meinte Möllenkamp.
»Raubmord war's jedenfalls nicht«, sagte Abram.
»Ist er in unserer Kartei?«
»Nein.«
»Bei den Holländern?«
»Weiß ich noch nicht. Der Kollege ...«, Abram zog einen Notizzettel aus seiner Jeanstasche und sah drauf, »... Wim Verbeek kommt gleich vorbei.«
***
Wim Verbeek war, wie es sich für einen Niederländer gehörte, mit dem Campingbus vorgefahren, wie Stephan Möllenkamp bei einem Blick aus dem Fenster feststellte. Den zarten Hinweis des diensthabenden Beamten am Empfang, dass das Rauchen im Gebäude nicht gestattet sei, hatte er geflissentlich ignoriert und stand nun mit seiner erkalteten Pfeife im Mund vor den beiden Beamten und drückte ihnen auf das schmerzhafteste die Hand.
»Ich bin sehr froh, dass wir uns mal kennenlernen«, sagte er. »Schon lange wollte ich Kontakt aufnehmen, aber man kommt ja zu nichts. Und dann muss erst wieder einer tot sein, bevor man es doch tut, eh?« Er lachte herzhaft und klopfte Johann Abram kräftig auf die Schulter. Der ließ das ungerührt über sich ergehen und lächelte freundlich. »Wo fahren Sie denn am liebsten zum Campen hin?«, fragte er und nickte mit dem Kopf zum Fenster.
»Oh nee«, sagte Verbeek, »ich fahr im Urlaub nicht zum Campen. Ich finde das nicht erholsam. Den Bus hat uns mein Schwiegervater überlassen, weil er selbst zu alt ist, um damit noch zu fahren. Und mein Auto ist kaputt, darum hab ich den Campingbus genommen. Ich hab mich noch nicht getraut, meiner Frau zu sagen, dass ich damit nicht in Urlaub fahren will.«
Möllenkamp nickte verständnisvoll. Camping war auch nicht seins. Aber Johann Abram war anderer Meinung: »Sie sollten es versuchen. Es macht wirklich Spaß, vor allem mit Kindern. Und es ist auch nicht so teuer wie ein Hotel. Man muss sich nur gut vorbereiten, dann ist es eine tolle Sache.«
Verbeek winkte ab. »Ich will mich aber nicht gut vorbereiten. Ich will auch keine Wäscheleine mit in die Ferien nehmen und auf dem Campingplatz durch den Regenmatsch zu den Toiletten laufen, die ich mit hundert anderen teilen muss.« Er schüttelte sich. »Die ganze Welt denkt, wir Holländer campen so gerne, weil wir so geizig sind. Ich glaube aber, es hängt mit unserem Calvinismus zusammen. Wir wollen sogar in den Ferien arbeiten. Kochen, putzen, Wäsche waschen. Das sitzt drin.«
Möllenkamp wusste nicht, ob das scherzhaft gemeint war. Er deutete auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie einen Kaffee?« Johann Abram holte von nebenan einen weiteren Stuhl herbei und Verbeek berichtete.
Lars Kröger sei von einer Reisebusgruppe gefunden worden, die sich das Lenin-Denkmal auf Leo Bakkers Acker habe ansehen wollen. Bakker? Ja, das sei ein Speditionsunternehmer aus Finsterwolde, der habe die Statue vor Jahren irgendwo in Ostdeutschland gekauft, wo man sie abreißen wollte. Viele Zeugen gebe es aber dennoch nicht, weil fast alle Personen in dem Bus blind gewesen seien. Verbeek lachte vergnügt auf, als er das erzählte. Dann wurde er wieder ernst.
»Es sieht so aus, als wenn das Opfer an diesem Ort erschossen wurde. Aber er ist nach seiner Ermordung so hingesetzt worden, wie wir ihn angetroffen haben. Nach der Untersuchung wissen wir mehr. Noch kennen wir die Waffe nicht, die benutzt wurde. Es war vermutlich eine 9 Millimeter.« Er kratzte sich am Kopf. »Wir arbeiten noch daran.«
»Wir gehen eigentlich davon aus, dass das Opfer in Oldenburg obduziert wird«, sagte Möllenkamp, der daran dachte, dass Schlüter ihm den Kopf abreißen würde, wenn er den Mann nicht persönlich aufschneiden durfte. Aber Verbeek hob abwehrend die Hand. »Nee, nee, das ist geregelt. Die lokalen Behörden sind zuständig, also wir.«
»Aber der Mann ist Deutscher«, versuchte es Möllenkamp noch mal.
»Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass ihr den Mann obduziert und wir dabei sein dürfen«, schlug Abram vor.
Wim Verbeek nickte. »Machen wir so.«
Die Tür flog ohne Vorwarnung auf. Herein stürmte Thomas Hinterkötter. Sein Gesicht war sehr rot und er atmete schwer. Er hatte in jüngster Zeit zugenommen und die Knöpfe seines Oberhemds waren zum Zerreißen gespannt. Wie man hörte, spielte er nicht mehr so häufig wie früher mit Landrat Enno Saathoff Golf.
»Kommen Sie in zwei Minuten in mein Büro! Es ist sehr wichtig.«
Die Tür fiel zu. Hinterkötter hatte den Gast keines Blickes gewürdigt.
»Ja«, sagte Verbeek ungerührt, »wir waren ja so weit fertig. Wenn ich etwas Neues höre, melde ich mich wieder. Die Obduktion findet heute Nachmittag in Groningen statt.«
Das Familienfoto auf ihrem Schreibtisch in der Redaktion des Rheiderländer Tagblatts war nicht gerade ein klassisches: Ein grauhaariger Mann mit Nickelbrille hielt ein etwa vierjähriges Mädchen mit schwarzen Haaren und mandelförmigen Augen im Arm, das ebenso skeptisch in die Kamera schaute wie die stämmige Frau mit dem aschblonden Haar, die hinter den beiden stand und deren Gesichtszüge entfernt an eine Bulldogge erinnerten. Allein der Mann mit der Nickelbrille und den stahlblauen Augen schien die Skepsis der beiden anderen nicht zu bemerken und strahlte glücklich in die Linse.
In diesem Foto steckten mehrere kleine Sensationen: dass Gertrud es geschafft hatte, noch einen Mann zu finden, lange nachdem sie die Klinken des Weeneraner Rathauses geputzt hatte und kurz bevor sie vermutlich verkehrt herum auf einem Esel sitzend durch die Stadt getrieben worden wäre; dass sie zudem auch noch ein fremdes Kind zu sich genommen hatte, obwohl sie es oft genug mit sich selbst nur schwer aushielt; und dass sie sogar ein Familienfoto auf ihrem Schreibtisch aufstellte, was sie dazu zwang, sich selbst öfter als nur morgens im Spiegel anzusehen.
Jetzt betrachtete sie das Bild zum wiederholten Male und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Ihr Chefredakteur hatte extra aus dem Urlaub angerufen und einen Kommentar dazu verlangt, dass der Regierende Bürgermeister von Berlin eine Koalition mit der SED-Nachfolgepartei PDS nach der bald anstehenden Landtagswahl in Berlin nicht vollkommen ausgeschlossen hatte. »Wenn Berlin fällt, ist das der Untergang des Abendlandes!«, hatte er in den Hörer geschrien. »Ich war auf Klassenfahrt in Berlin, als Kennedy auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses seinen berühmten Satz sagte: Ich bin ein Berliner! Er würde sich im Grabe umdrehen! Und Adenauer auch!«
Kurz überlegte Gertrud, ob sich der Satz Kennedy würde sich im Grabe umdrehen als Titel für einen Leitartikel eignete, ließ es aber sein. Sie war keineswegs eine Freundin der PDS und natürlich hatte die Wahl gerade in Berlin eine hohe Symbolkraft, aber für den Untergang des Abendlandes brauchte es doch wohl etwas mehr. Vermutlich würde das auch ihr Lebensgefährte Gottfried so sehen, der Mann auf dem Foto, der den größten Teil seines Lebens unter Linken und ganz Linken zugebracht hatte und sich selbstkritisch mit dem Milieu auseinandersetzte.
Ein Tabubruch war es allemal. Wowereit bricht mit einem Tabu. Das war eine Überschrift, unter der sie das Für und Wider dieses politischen Vorstoßes erörtern konnte, ohne sich von vornherein zu stark festzulegen. Ihrem Chef würde es nicht reichen, aber er hatte nach der Wahl ja noch Zeit genug für Leitartikel.
Sie hatte den Artikel gerade fertig, als die Polizei einen Leichenfund in Oldambt meldete. Ein Mann aus Bunderhee, abgelegt unter der Lenin-Statue. Das war mal eine richtige Meldung! Gertrud zog sich ihren Parka an und machte sich auf den Weg nach Oldambt.
In seinem Büro ließ Hinterkötter die Bombe platzen: »Wir haben einen Terroranschlag. Vermutlich Milzbranderreger, in Briefen verschickt. Genau wie in den USA. Zwei Personen liegen bereits mit Symptomen im Krankenhaus, weitere werden wahrscheinlich folgen. Die Lage ist äußerst kritisch«, erklärte er den Kriminalbeamten des Fachkommissariats I, die vor ihm saßen. Der stellvertretende Leiter der Leeraner Polizeiinspektion hielt ein Fax in der Hand und hatte seine gewohnte polternde Lautstärke verloren. »Sie wissen: Seit dem 11. September haben wir Gefährdungsstufe rot. Die Wahrscheinlichkeit terroristischer Anschläge, die von Trittbrettfahrern begangen werden, ist hoch. Bei uns ist anscheinend nun ein solcher Fall eingetreten. Insgesamt wurden von gestern auf heute fünf Briefe versandt, die ein schwarz-weißes Pulver enthielten. Empfänger der Briefe waren der Leiter der Bundesgrenzschutzstelle Bunde, der Leiter des Straßenverkehrsamtes, der Kommandant der Von-Lettow-Vorbeck-Kaserne, die Leiterin der Kreismusikschule und unser Landrat Saathoff. Die Briefumschläge enthielten gleichlautende Schreiben folgenden Inhalts:
Tod und Chaos werden herrschen, bis der Tag kommt, an dem wir frei sind von den gottlosen Besatzern. Sterben werden die Handlanger der Juden und der preußischen Teufel. Die Feinde unseres Stammes und Volkes werden wir vernichten und das Reich errichten, das auf ewig die Macht haben wird. Wir werden euch jagen und töten!
Alle Briefempfänger stehen unter strenger Quarantäne. Bei Landrat Saathoff und dem Leiter des Straßenverkehrsamtes haben sich Symptome gezeigt, die typisch sind für eine Milzbrandinfektion. Sie sind im Kreiskrankenhaus Leer auf der Isolierstation.«
Hinterkötter wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Die Sache ging ihm sichtlich nahe. Sein hellblaues Oberhemd wies unter den Achseln dunkle Flecken auf. Möllenkamp konnte ihn verstehen. Es war wirklich beängstigend, wenn quasi aus dem Nichts solche Anschläge stattfanden. Nicht auszudenken, wenn jemand infolge einer solchen biologischen Waffe sterben würde. Das würde eine Massenpanik zur Folge haben.
»Das Landeskriminalamt wird die Ermittlungen übernehmen«, sagte Hinterkötter, »dennoch müssen auch wir die Augen offen halten und dem LKA als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Und es ist extrem wichtig, dass keine Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, bevor wir sicher wissen, ob es sich um einen Anschlag handelt.«
Stephan Möllenkamp biss sich auf die Lippen. Er hasste solche Situationen, in denen man nur falsch entscheiden konnte. Sagten sie der Öffentlichkeit nichts und es gelangten mehr solcher Briefe in Umlauf, dann konnte das Menschenleben kosten. Sagten sie der Öffentlichkeit die Wahrheit, konnte das zu Panik führen, obwohl sich vielleicht nur jemand einen schlechten Scherz erlaubt hatte.
»Welche Symptome weisen denn die Betroffenen auf?«, wollte Johann Abram wissen.
»Übelkeit, Kopfschmerzen, Verwirrtheit und Appetitlosigkeit«, erklärte Hinterkötter ernst.
Wilfried, lass es!, dachte Möllenkamp, aber es war schon zu spät.
»So fühle ich mich nach jedem Schützenfest in Diele«, murmelte Wilfried Bleeker und richtete seine Augen zur Decke.
»Ich schlage vor, Sie lassen die unangemessenen Bemerkungen und befassen sich mit Ihrer eigentlichen Arbeit!« Hinterkötter hatte zu seiner alten Lautstärke zurückgefunden. »Wie ich höre, haben Sie ja einen neuen Fall auf dem Tisch. Dann mal los!«
Stephan Möllenkamp und Johann Abram brachten die anderen auf den neuesten Stand. »Von unseren niederländischen Kollegen wurden wir darüber informiert, dass heute Morgen in der Gemeinde Oldambt eine Leiche aufgefunden wurde. Der Mann stammt aus Bunderhee und starb an einer Schussverletzung«, erklärte Möllenkamp.
Hinterkötter grunzte missbilligend. »Ist er aktenkundig?«, fragte er.
»Nicht bei uns und nicht bei den Holländern«, antwortete Abram, und bevor Hinterkötter etwas sagen konnte, fügte er schnell hinzu: »Eine gute grenzüberschreitende Zusammenarbeit und eine schnelle Aufklärung des Falles würden sicher in Hannover Anerkennung finden.«
Hinterkötter warf einen Blick auf den Haufen zu Dackeln verbogener Büroklammern auf seinem Schreibtisch, der schon ein beachtliches Ausmaß angenommen hatte. Dann seufzte er tief. »Kümmern Sie sich um den Mordfall. Ich werde um eine vorrangige Behandlung unserer Terrorfälle in Hannover bitten.«
Es war zum Gotterbarmen. Die junge Frau war so verweint, dass ihre Augen kaum noch zu sehen waren. Das helle Gesicht war rotfleckig und der blonde Zopf befand sich in völliger Auflösung. Sie musste sehr hübsch sein. Vor allem war sie sehr jung, vielleicht Anfang zwanzig, jedenfalls viel jünger als ihr ermordeter Lebensgefährte. Wenn sie eine geeignete Kollegin gehabt hätten, dachte Möllenkamp, dann hätte er sie mitgenommen. Die hätte eine weibliche Hinterbliebene notfalls auch in den Arm nehmen können, was ihm nicht möglich war. Aber Anja Hinrichs, die einzige Frau in seinem Team, eignete sich für solche Aufgaben eher schlecht. Man wusste nie, wie sie auf Menschen reagierte – und warum. Er dachte an seine Frau Meike. Meike wäre perfekt, aber sie war in der Schule und brachte Kindern deutsche Literatur und lateinische Grammatik nahe – manchmal auch nicht.
Das Mädchen, so hatte er sie für sich genannt, deutete auf einen Stapel Fotos auf dem Tisch. »Das hier«, flüsterte sie, weil ihre Kraft kaum noch zum Sprechen reichte. Trotzdem war der niederländische Akzent in ihrem perfekten Deutsch deutlich zu hören. »Ich hab gesagt, er soll damit zur Polizei gehen. Aber er hat das nicht ernst genommen. Er meinte immer, das wäre normal in seinem Job, dass Leute sauer sind.«
Die Fotos zeigten verschiedene Schmierereien auf Wänden und auf einem Auto: Wir kriegen dich, Faschisten den Kopf ab! und Eine Kugel reicht! Weitere Bilder zeigten Fäkalien im Postkasten und ein halb verwestes Tier im Kofferraum von Krögers Wagen.
Die Botschaften waren auf die Wände des Firmengebäudes und des Wohnhauses gesprüht worden. Dass die junge Frau unter diesen Umständen hier noch leben konnte, war Möllenkamp ein Rätsel. Seine Frau Meike hätte Polizeischutz verlangt oder wäre ausgezogen.
»Hat Ihr Lebensgefährte jemals einen Verdacht geäußert, wer das gemacht haben könnte?«, fragte Johann Abram, der Möllenkamp begleitete.
Annemieke Mansholt nickte. Sie räusperte sich, bevor sie mit zittriger Stimme weitersprach. »Er hatte Ärger mit Kurden aus Leer. Es gibt da eine Motorradgang, die Leute sind in der Türsteher-Szene, die haben oft Streit mit den Türken und den Russlanddeutschen. Immer wieder stören sie Veranstaltungen, die Lars bewachen muss, und dann gibt es Schlägereien und unsere Leute nehmen ihnen die Waffen weg. Am Ende greift die Polizei ein und das ist natürlich schlecht fürs Geschäft. Lars glaubte, dass der Chef des Clubs hinter den Briefen steckt. Er heißt Rohat Altas. Ich weiß nicht, ob der es war. Aber Lars wird wissen, warum er ihn verdächtigt.« Sie machte eine kleine Pause und sagte: »Gewusst haben.«
Dann liefen wieder die Tränen, für die sie gar kein Schluchzen mehr übrighatte. Während Johann Abram ihr ein neues Papiertaschentuch gab, blickte Stephan Möllenkamp sich um. In diesem Haus waren zwei Charaktere aufeinandergetroffen, die unterschiedliche Spuren hinterlassen hatten. Der Bungalow aus cremeweißen Ziegeln stammte sicher aus den 80er-Jahren. Aber die moderne weiße Hochglanzküche mit Granitplatte, die großen, weiß marmorierten Fußbodenfliesen und der schwarze Ethanolkamin waren von jemandem ausgesucht worden, der es streng und schnörkellos haben wollte. Und dann war jemand dazugekommen, hatte Flickenteppiche auf die Fliesen gelegt, Fotos in verschnörkelten Bilderrahmen auf das Kaminsims gestellt und eine nostalgische Kaffeemühle auf die Granitarbeitsplatte in der Küche. Wie hatten Annemieke und Lars zusammengepasst?
»Wo haben Sie und Ihr Lebensgefährte sich eigentlich kennengelernt?«, hörte er Johann Abram fragen.
»Bei der Braderie-Nacht in Winschoten. Das war vor vier Jahren. Ich stand mit meinem Großvater an einer Bude und Lars kam dazu. Und weil Lars und Opa sich kannten, kamen wir ins Gespräch«, sagte Annemieke. »Dann hat er mich zum Eisessen eingeladen. So war das ...« Annemieke schluckte und starrte ins Leere.
Stephan Möllenkamp wartete darauf, dass sie noch etwas sagte, aber es kam nichts mehr. »Haben Sie mal nachgesehen, ob in Ihrem Haushalt irgendetwas anders ist, ob vielleicht etwas fehlt?«, fragte er.
Annemieke Mansholt schüttelte den Kopf. »Mir ist nichts aufgefallen.«
»Bitte sehen Sie noch mal nach und falls doch: Geben Sie uns Bescheid«, sagte Möllenkamp. Das Mädchen nickte.
»Frau Mansholt, wissen Sie, ob auch andere Mitarbeiter der Firma in Vorfälle mit dieser kurdischen Motorradgang involviert waren?«, fragte Johann Abram, den die Drohungen noch beschäftigten.
»Da müssen Sie Holger fragen. Holger Scheer. Er ist ein Freund von Lars und arbeitet in der Firma. Er kennt alle ...« Die Stimme versagte, Annemieke wurde bleich. Dann rutschte die junge Frau vom Stuhl.
Ein Blick, ein Griff, ein Nicken, und wenige Sekunden später schob Stephan Möllenkamp dem Mädchen auf dem Sofa ein Kissen unter die Beine, während Johann Abram ein Glas Wasser aus der Küche holen ging. Wie sie so dalag, klein und verloren auf dieser riesigen schwarzen Ledercouch, passte sie noch weniger hierhin als zuvor. Es erschien Möllenkamp unvorstellbar, sie hier alleine zurückzulassen.
»Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmern kann?«, fragte er besorgt. Das kleine Gesicht nickte. »Mein Großvater«, sagte sie und lächelte schwach. »Er kommt bald und holt mich ab.«
Johann Abram tätschelte Annemieke Mansholt die Hand. »Das ist gut. Sie sollten nicht alleine sein.« Möllenkamp schien es, als lasse Abram seine Hand ein wenig zu lang auf der winzigen Hand des Mädchens ruhen.
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Abram, nachdem er seine Hand weggezogen hatte. »Woher kannten sich Ihr Großvater und Ihr Lebensgefährte?«
Die junge Frau schien angestrengt nachzudenken. »Das weiß ich eigentlich gar nicht so genau. Vielleicht von früher. Ich glaube, Lars' Vater und mein Großvater waren Schulfreunde oder so.«
»Wie kann etwas so wenig zusammenpassen«, schimpfte Johann Abram, als sie wieder in Möllenkamps altem Ford Escort saßen. »Sie kann nichts über ihn erzählen, was uns seine Person näherbringen würde. Sie hat einen völlig anderen Geschmack als er. Sie ist fast zwanzig Jahre jünger als er. Sie sitzt in dieser Wohnung wie ein Fremdkörper.«
Stephan Möllenkamp sah kurz zur Seite auf Abrams Gesicht, doch außer Verdruss konnte er sonst nichts darin lesen. Dann sagte er: »Man kann es auch anders sehen: Sie will uns nichts über ihn erzählen. Und sie hat ihre Geschmacksnoten in dieser Wohnung ja verteilt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so wenig über Lars Kröger weiß, wie sie uns glauben machen will.«
***
Als Anja Hinrichs nach Bunderhee fuhr, um die Mitarbeiter der Firma »Kröger Schutz und Sicherheit« zu befragen, schäumte sie vor Wut. Sie wusste genau, warum ihr Chef Thomas Hinterkötter ausgerechnet sie für diesen Job vorgeschlagen hatte. Wahrscheinlich lachte er sich jetzt einen Ast, dass er es geschafft hatte, die Emanze auf einen Haufen ungehobelter Türsteher zu hetzen und sich vorzustellen, was passierte. Und Möllenkamp, dieser Feigling, hatte ihr nicht geholfen.
Sie bekämpfte ihre Wut mit der Vorstellung, ihren Chef eines Tages mit Curare zu vergiften. Bewegungsunfähig und bei vollem Bewusstsein müsste er dabei zusehen, wie sie ihm die Fingernägel herausreißen würde und seine Fußsohlen mit einem Messer zerschnitt. Zuletzt würde sie ihn mit seiner eigenen Krawatte strangulieren. Sie würde die Krawatte mit den Mäusen und den Käsestückchen nehmen. Allmählich hob sich Hinrichs' Laune und sie lenkte den Dienstwagen schwungvoll auf das Firmengelände. Ihre Vorstellungskraft hatte sie für die Klientel, mit der sie es gleich zu tun haben würde, gut präpariert.
Das Bürogebäude war ein typischer Gewerbebau der 70er-Jahre, weiß getüncht mit Moosgrün an der Westseite und wegen viel verbauten Kunststoffs schlecht gealtert. Dem Gebäude ging alles ab, was das menschliche Auge erfreuen konnte. Es wirkte fast konsequent, dass jemand die Fassade mit Graffiti verunstaltet hatte, die unter der weißen Tünche, mit der sie übermalt worden waren, noch deutlich durchschienen: Wir kriegen dich!, entzifferte Anja und: Eine Kugel reicht. Wie passend, dachte sie, wo doch Lars Kröger mit genau einer Kugel erschossen worden war. Ob man die Ankündigung wörtlich nehmen sollte?
Gemessen an dem, was sie erwartet hatte, war die Begegnung mit den Mitarbeitern der Sicherheitsfirma eine Enttäuschung. Sie fing mit dem Mann, der sie am Eingang abholte, an. Holger Scheer – Jeans, blaues Oberhemd, Seitenscheitel, randlose Brille – begrüßte sie und bat sie höflich, ihm zu folgen.
»Wieso ist eigentlich Ihr Firmengelände nicht gegen Unbefugte gesichert?«, fragte Anja Hinrichs und deutete auf die Graffiti an der Hauswand.
»Wir sind zwar eine Sicherheitsfirma, aber wir haben hier auf dem Gelände keine sicherheitsrelevanten Einrichtungen«, antwortete Holger Scheer. »Für die paar Computer bei uns reicht die normale Alarmanlage am Haus.«
Anja nickte. »Haben Sie die Schmierereien angezeigt?«
Sie bemerkte ein leichtes Zögern, dann: »Nein, der Aufwand schien uns nicht gerechtfertigt. Wissen Sie, in unserem Gewerbe macht man sich nicht bei allen beliebt. Da muss man mit so etwas rechnen. Dann nimmt man sich einen Eimer Farbe, pinselt es über und alles ist wieder gut. Wer hätte denn gedacht, dass es zu so etwas kommt?«
»Haben Sie einen Verdacht, wer für die Drohungen verantwortlich sein könnte?«
Scheer schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Rohat Altas, der Chef einer kurdischen Motorradgang aus Leer, dem würde ich es zutrauen. Der hat unsere Männer schon oft bedroht. Aber beweisen kann ich es nicht.«
»Haben Sie Überwachungskameras?«, fragte Anja Hinrichs, während sie mit Scheer durch die ebenerdigen Flure des Gebäudes ging. Im Innern war es ebenso verstörend schlicht wie draußen: blauer Teppich, weiße Wände, graue Stühle, weiße Tische. Anja fröstelte beim Blick durch zwei, drei offen stehende Bürotüren.
»Haben wir, aber die sind bloß Attrappen«, gestand Holger Scheer.
Diese ›Sicherheitsfirma‹ würde ich niemals engagieren, dachte Anja Hinrichs, während sie den Konferenzraum betraten.
Im Vergleich mit der totalen Schmucklosigkeit von Außenfassade und Wänden wirkte das Poster mit piktografischen Anleitungen zur Herzmassage, das hier hing, fast schon frivol.
»Ist es Ihren Mitarbeitern nicht gestattet, Bilder aufzuhängen?«, fragte Hinrichs und sah sich die Erste-Hilfe-Maßnahmen genauer an. Scheer verneinte verwirrt. Anja Hinrichs fiel auf, dass er noch kein einziges Mal gelächelt hatte. Aber es war wohl auch kein Tag für Fröhlichkeit.
Die Kargheit der Arbeitsumgebung wurde durch abenteuerliche Bilder auf den Ober- und Unterarmen der Mitarbeiter wettgemacht, die nach und nach den Raum betraten. In dieser Hinsicht entsprachen sie dem Klischee. Abgesehen davon jedoch waren sie ernsthaft und höflich und nickten schweigsam, als Anja ihnen in kurzen Zügen berichtete, was sie sowieso schon wussten.
Sie ignorierte die Runen im Nacken des einen und die nackte Frau auf dem Unterarm des anderen und konzentrierte sich auf das panische Geräusch eines verspäteten Brummers, der hinter den Lamellen des Vorhangs gerade einem tödlichen Irrtum erlag: dass dort, wo es hell war, automatisch die Freiheit wartete.
Nach kurzer Zeit hatte Anja festgestellt, dass die Mitarbeiter von »Kröger Schutz und Sicherheit« überwiegend aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion stammten, aus denen sie nach 1991 nach Deutschland ausgesiedelt waren, weil sie deutsche Vorfahren hatten. Anja nahm sich einen nach dem anderen vor.
»Natürlich es gab Schwierigkeiten mit Kanacken. Kontrollieren Drogenmarkt in Leer. Dann kommen Libanesen und gibt Streit. Am Gallimarkt wir sorgen für Sicherheit. Da haben wir immer mit denen zu tun. Aber wir sind Profis, bringen alles in Ordnung.« Der so sprach, hatte stolz die Arme vor der mächtigen Brust verschränkt und blickte Anja treuherzig an. »Kennen Sie einen Rohat Altas?« Der Muskelprotz, der Peter hieß, verzog das Gesicht zu einer bekümmerten Miene, als sei er der Bewährungshelfer des Delinquenten. »Natürlich ich ihn kenne. Ist ein böser Mann, ist Chef von Kurden-Clan. Hat versucht, unseren Chef totzuschlagen, aber an mir ist nicht vorbeigekommen.« Er grinste, und hinten in seinem Mund blitzte ein Silberzahn.
»Wie ist das gekommen?«, fragte Anja und fragte sich, warum er das nicht gleich gesagt hatte.
»Nun«, antwortete Peter und strich sich nachdenklich über den glatt rasierten Schädel, als könne er sich dadurch besser erinnern. »Chef hat gestört Geschäfte. Altas jedenfalls war sehr wütend. Hat gedroht, dass er Chef fertigmacht.«
»Welche Geschäfte hat Ihr Chef denn gestört?«
Peter strich wieder über seinen Schädel: »Na, was die eben machen: Drogen, Waffen, Mädchen, Propaganda.«
»Propaganda?« Anja runzelte die Stirn. »Was für Propaganda?«
»Ja, so Kurdensachen eben. Freiheit des Volkes und so.« Peter wirkte einen Moment verwirrt, als sei ihm gerade aufgegangen, dass Propaganda nicht zum gängigen Geschäft organisierter Banden gehörte. »Na ja, Altas und seine Leute kontrollieren Clubs in Ostfriesland. Wir regelmäßig gehen hin, schauen, was passiert, informieren Polizei. Die machen Razzia. So eben.« Er hob die Arme mit den Handflächen nach oben.
»Hm.« Anja schrieb das auf. »Warum machen Sie das?«
»Weil wir gute Staatsbürger sind«, sagte Peter lachend.
Das war so absurd, dass Anja beinahe mitgelacht hätte. Sie wartete eine Weile und sah dem Mann ins Gesicht. Er sah unbewegt zurück. So starrten sie einander an. Bis einer blinzelt, dachte Anja und blinzelte. »Kommt noch was?«, fragte sie schließlich.
Peter schüttelte den Kopf und blinzelte zurück.
Anja erwog kurz die Möglichkeit, dass sich die Kollegen von der Organisierten Kriminalität von Krögers Leuten bei der Überwachung des kurdischen Milieus hatten helfen lassen, verwarf diese Idee aber sofort wieder. Die waren wohl kaum regelmäßig für die Polizei Streife gefahren.
Hoffentlich nicht.
»Soll ich das wirklich glauben?«
Waren die Augen von Peter nicht eben noch braun gewesen? Jetzt waren sie groß, kugelrund und blau.
»Wie ist es dazu gekommen, dass Altas Ihrem Chef Gewalt angedroht hat?«
»War Gallimarkt in Leer letzte Jahr. Wir haben aufgepasst bei Viehmarkt, weil damals war der Kuhripper unterwegs und Bauer Wienenga hatte Angst, dass etwas passiert mit seine prämierte Schwarzbunte. Dann Stadtverwaltung uns hat beauftragt aufzupassen. Chef ist mit dabei. Anschließend wir gehen über Gallimarkt, dann stehen bei Bertis Bierbude und plötzlich kommen Altas und Freunde. Altas geht zu Chef, hält ihm Knarre unter Kinn«, Peter hielt sich Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand unter das Kinn, »dann nimmt Knarre weg und lacht sich kaputt, weil das war Spielzeugpistole von Gewinn am Schießstand. Chef war sehr wütend. Dann Altas wird auch wütend, geht zu Chef, ganz dicht«, Peter beugte sich über den Tisch und machte ein ganz ernstes Gesicht, »und sagt: Du wirst nächste Jahr nicht erleben. Einfach so.«
Zufrieden mit dem Spannungsbogen seiner Erzählung ließ sich Peter nach hinten gegen die Stuhllehne fallen und sah Anja an, als wollte er sagen: du hast jetzt alle Informationen von mir gekriegt. Sieh zu, was du damit machst.
»Halten Sie es für möglich, dass dieser Rohat Altas seine Drohung wahrgemacht hat?«, fragte Anja Hinrichs den blonden Hünen, der als Nächster vor ihr saß. Während sie ihre Haare automatisch nach hinten strich, glitten ihre Augen nach links. Durch die Scheibe neben der Konferenzraumtür trafen sie den Blick von Holger Scheer, der auf dem Flur stand.
»Ja«, sagte der Hüne vor ihr.
»Was ja?«
Der Mann runzelte die Stirn. »Na, Sie wollten doch wissen, ob ich glaube, dass der Scheiß-Kanacke unseren Chef ermordet haben könnte. Ich sage: Ja.«
Anja fiel auf, dass dieser Mann keinen russischen, sondern einen norddeutschen Akzent hatte. »Warum?«
»Er hat's gesagt«, antwortete der Blonde, der Wilhelm hieß. So stand es in Hinrichs' Notizheft.
»In welcher Situation hat er das gesagt?«
»Als wir die Vortragsveranstaltung von den POGÜDAs bewacht haben, da sind die aufgetaucht und haben sich vor der Tür aufgebaut. Die hatten schon vorher den Wirt vom ›Anker‛ bedroht, dass er überhaupt an die POGÜDAs vermietet hat. Und an dem Abend – is erst zwei Wochen her –, da kamen die auf ihren Motorrädern an wie so 'n Rockerclub ...«
Anja nickte. Den Verein kannte sie. Patriotische Ostfriesen gegen die Überfremdung des Abendlandes nannten sie sich selbst. Sie erklärten, sich um die Sicherheit ihrer Kinder und Frauen und um die ostfriesische Kultur Sorgen zu machen, und waren entschlossen, ihre Stadt vor der »Überfremdung« zu bewahren. Kurzzeitig hatten sie es mit der Bildung von Bürgerwehren versucht, aber da hatte die Polizei schnell eingegriffen. Durch die Anschläge vom 11. September hatten sie kräftig Aufwind bekommen.
Über die Veranstaltung im »Anker« vor zwei Wochen hatte Anja in der Zeitung gelesen, aber sie hatte sich nicht gemerkt, dass Lars Krögers Firma für die Sicherheit dort zuständig gewesen war. Eine Islamwissenschaftlerin aus der Schweiz hatte auf Einladung von POGÜDA über die Gefahr des Islam für die Demokratie referiert. Sie hatte die These vertreten, der Koran widerspreche grundsätzlich der Demokratie und den Menschenrechten und jeder Muslim habe den Auftrag, andere Religionen zu bekämpfen und einen Gottesstaat zu errichten. Der Vortrag war schon länger geplant gewesen, hatte aber in der politisch aufgewühlten Situation dieses Herbstes eine besondere Brisanz entwickelt. Grüppchen von Muslimen, Vertreter von Kirchengemeinden und der linken Szene hatten sich mit Protestplakaten vor dem »Anker« aufgebaut und irgendwann waren Rohat Altas und seine Kurdengang angebraust gekommen – der Himmel wusste warum – und die Polizei hatte die Teilnehmer der Veranstaltung hinauseskortieren müssen. Mehr war eigentlich nicht passiert, aber für eine Stadt wie Leer war das schon etwas.
Der Ostfriesland Kurier hatte den Lebenslauf der Islamwissenschaftlerin unter die Lupe genommen und berichtet, dass diese ihren Professorentitel von einer evangelikalen Privatuniversität in der Schweiz verliehen bekommen hatte. In einem Kommentar hatte der Redakteur von einer sich selbst als »bürgerlich« bezeichnenden Bewegung wie POGÜDA in der angespannten politischen Situation, in der es allenthalben zu Übergriffen auf muslimische Mitbürger kam, mehr staatsbürgerliches Verantwortungsgefühl und Toleranz gefordert. Im Rheiderländer Tagblatt hingegen hatte Gertrud Boekhoff sowohl die Aktivisten von POGÜDA als auch die Kurdengang kritisiert und gefragt, wie lange es denn noch dauerte, bis man diese Art von Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken, Gläubigen und Ungläubigen als das bezeichnete, was sie waren: Spektakel, befeuert durch Trotz, Testosteron und Rechthaberei.
Anja konnte sich keiner dieser Meinungen ganz anschließen, neigte aber gefühlsmäßig eher dem Spektakel zu. »Und in diesem Spektakel vor zwei Wochen sind welche Worte genau gefallen?«, fragte sie.
Wilhelm runzelte die Stirn: »Spektakel würde ich es nicht nennen, wenn man Ihnen eine Pistole an den Hals setzt und sagt: ›Bald, wenn du ganz allein bist, mach ich dich kalt.‹« Dann, nach kurzer Pause: »Sind Sie auch eine von denen, für die Ausländer immer unschuldig sind?«
