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Deine Lügen bringen dich ins Grab E-Book

Gillian Hobbs

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Beschreibung

Nach »Ich lüge bis du stirbst« ist Scarlett Dyer wieder zurück. Noch böser und noch gemeiner als zuvor.

Scarlett Dyer hieß früher Olivia Lewis und hat eine ganze Stadt ins Chaos gestürzt. Kurze Zeit nach den Geschehnissen in dem Küstenstädtchen St. Pit ziehen Scarlett und Jacob ins beschauliche Woodnock am Rande der schottischen Highlands. Hier wimmelt es nur so von Touristen anstelle von neugierigen Nachbarn, und zum ersten Mal scheint es, als könne Scarlett endlich ein ruhiges Leben führen.

Doch dann findet Scarlett ihr unvollendetes und in St. Pit zurückgelassenes Manuskript vor ihrer Haustür, in dem sie ihren in dem Küstenstädtchen durchgeführten Racheplan festgehalten hat. Als dann Jacob und ihr seltsame Dinge widerfahren wird ihr klar: Jemand hat es auf sie abgesehen und diese Person wird dafür bezahlen.

»Deine Lügen bringen dich ins Grab« entwickelt ab der ersten Seite einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann, bis man nicht auch das letzte Geheimnis enträtselt hat.

»Deine Lügen bringen dich ins Grab« ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel »Du lügst. Du stirbst.«

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Ähnliche


Schmerzen
Kapitel 1 – Aufgewacht
Kapitel 2 – Tränen
Alles auf Anfang
Kapitel 3 – Woodnock
Kapitel 4 – Jacobs Traum
Kapitel 5 – Eine neue Spur
Kapitel 6 – Die Schönheit des Todes
Gerüchte
Kapitel 7 – Ladeneröffnung
Kapitel 8 – Paranoia
Kapitel 9 – Hinter den Puppenaugen
Kapitel 10 – Das Gerücht
Kapitel 11 – Der Stein
Kapitel 12 – Jacobs Vergangenheit
Kapitel 13 – Eskalation
Im Wettlauf mit der Vergangenheit
Kapitel 14 – Hetzjagd
Kapitel 15 – Sackgasse
Kapitel 16 – Jacob kommt nach Hause
Scherbenhaufen
Kapitel 17 – Entlarvt
Kapitel 18 – Zwei Briefe
Epilog
Danksagung
Die Rote-Rache-Reihe

 

 

Deine Lügen bringen dich ins Grab

 

Gillian Hobbs

 

 

 

 

Buchbeschreibung

 

Niemals werde ich dir vergeben!

 

Scarlett Dyer hieß früher Olivia Lewis und hat eine ganze Stadt ins Chaos gestürzt. Kurze Zeit nach den Geschehnissen in dem Küstenstädtchen St. Pit ziehen Scarlett und Jacob ins beschauliche Woodnock am Rande der schottischen Highlands. Hier wimmelt es nur so von Touristen anstelle von neugierigen Nachbarn, und zum ersten Mal scheint es, als könne Scarlett endlich ein ruhiges Leben führen.

 

Doch dann findet Scarlett ihr unvollendetes und in St. Pit zurückgelassenes Manuskript vor ihrer Haustür, in dem sie ihren in dem Küstenstädtchen durchgeführten Racheplan festgehalten hat. Als dann Jacob und ihr seltsame Dinge widerfahren wird ihr klar: Jemand hat es auf sie abgesehen und diese Person wird dafür bezahlen.

 

»Deine Lügen bringen dich ins Grab« entwickelt ab der ersten Seite einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann, bis man nicht auch das letzte Geheimnis enträtselt hat.

 

»Deine Lügen bringen dich ins Grab« ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel »Du lügst. Du stirbst.«

Über die Autorin

 

Gillian Hobbs wurde in Niedersachsen, Deutschland geboren, entdeckte aber schon früh ihre Faszination für regnerische, englische Kleinstädte in Küstennähe. »Ich lüge bis du stirbst« war ihr Thriller-Debüt. Zuvor hat sie bereits unter ihrem Klarnamen mehrere Romane veröffentlicht.

 

https://nicole-siemer-autorin.de

Deine Lügen bringen dich ins Grab

 

Rote Rache Band 2

 

Gillian Hobbs

 

Thriller

 

 

 

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Juni 2023 © 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Simona Turini

https://www.lektorat-turini.de/

 

Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 100694763

 

 

Schmerzen

Kapitel 1 – Aufgewacht

 

Drei Monate zuvor

 

Nichts kannte Aleen besser als ihren Schmerz. Er lebte in ihr, hielt sie in einer ewigen Umarmung fest und füllte zugleich ihr Innerstes aus. Schmerz. Ihr treuster Begleiter. Alles beim Alten.

Als Aleen leicht benommen die Augen öffnete, weil das vertraute Pochen ihren Körper durchflutete – dieses Mal spürte sie es vor allem im Gesicht – stellte sie nichts Ungewöhnliches fest. Ihr Verstand arbeitete noch langsam, ihre Sicht war alles andere als klar, aber das würde sich bald legen, also schloss sie die Augen wieder. Das Pochen würde weiter zunehmen, hier und da einem Ziehen weichen, einem Brennen vielleicht oder einem Jucken. Auch das war nichts Neues. Er hatte sie einfach mal wieder bewusstlos geschlagen. Auf dem Sofa oder im Bett, während er ihr ins Ohr keuchte.

Gewalt und Sex waren ein und dasselbe für ihn. Er brachte es oft zu Ende, wenn sie bereits von tiefer Dunkelheit umgeben war. Manchmal konnte sie noch sein langsam immer dumpfer werdendes Grunzen hören, bevor sie versank und einige Zeit später von lautem Schnarchen in das Licht zurückgezerrt wurde. Zurück zu ihrem Schmerz.

Alles beim Alten.

Aleen öffnete erneut die Augen. Das Licht stach zu wie mit Nadeln. Sie blinzelte. Eine Faust preschte auf sie zu, nur um sogleich verschwommenen Farben zu weichen. Das Stechen ließ ein wenig nach.

Blinzeln.

Wieder sah sie kurz etwas vor sich, das dieses Mal wie ein Blutfleck aussah. Und daneben? Bevor sie es erkennen konnte, war das Bild verschwunden.

Was hast du dieses Mal wieder angestellt?, fragte sie ihn, dann merkte sie, dass sie nicht mal die Kraft hatte, den Mund zu öffnen.

Das Denken fiel ihr immer noch schwer, aber endlich wurden die Konturen klarer, Umrisse erkennbar. Sie versuchte, den Arm zu heben, um sich über die Augen zu reiben, ihre Finger zuckten als Antwort.

Da bemerkte sie, dass diese weißen Wände nicht ihre Wände waren. Dass das Bett, in dem sie lag, nicht ihr Bett war. Die Bettwäsche, aus der ihre Arme und ihr Kopf hervorlugten, nicht ihre war. Die Kleidung, die sie trug, nicht ihre war.

Das Pochen in ihrem Gesicht nahm zu. Es fühlte sich an, als würden irgendwelche winzigen Wesen auf der Haut ihrer Wangen und ihrer Stirn Trampolin springen.

Wieder versuchte sie, den Arm zu heben, dieses Mal gelang es ihr zumindest, ihn wenige Zentimeter über der Matratze zu halten.

Aleen atmete tief ein. Der unverkennbare Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft. Was war geschehen? Hatte er etwa nicht aufgepasst und sie in ein Krankenhaus bringen müssen? Nein, es war ihm sonst auch egal, wie schlimm er sie zurichtete. Hauptsache, es ließ sich durch einen Unfall erklären.

Erneut blitzte eine Abfolge von Bildern vor ihrem inneren Auge auf. Er, wie er sie gegen die Wand schubste. Finger, die sich um ihren Hals legten. Sie, wie sie nach einer Vase griff.

Die Tür ging auf und eine Krankenpflegerin kam herein. Als sie bemerkte, dass Aleen wach war, lächelte sie und meinte, dass sie sofort den Arzt holen werde.

Das ›Sofort‹ zog sich ganz schön.

Die Warterei brachte Aleen beinahe um den Verstand. Irgendjemand in diesem grässlich sterilen Gebäude sollte ihr sagen, was passiert war und warum sich ihr Körper verdammt noch mal anfühlte, als würde der Unsichtbare ein Nickerchen auf ihr halten.

Ein drittes Mal bemühte sie sich, den Arm zu heben. Endlich schaffte sie es so weit, dass sie ihn betrachten konnte. Sie trug ein kurzärmeliges OP-Hemd, das ihre Schnitte und Brandwunden nicht zu verbergen vermochte. Sofort verspürte sie den Drang, etwas anderes anzuziehen und ruckte hoch, nur um wenige Zentimeter mit dem Kopf über dem Kissen zu schweben und schon nach kurzer Zeit zurückzusinken.

Ihre Handfläche war mit einer Bandage umwickelt. So sehr sie sich auch bemühte, sich daran zu erinnern, was passiert war, es gelang ihr nicht.

Aleen nahm den Arm runter, schaffte es aber nicht, ihn unter die Bettdecke zu schieben. Auch der andere, der, wie sie nun bemerkte, leicht geschwollen war, fühlte sich so schwer an, als wäre er mit unsichtbaren Riemen an die Matratze geschnürt.

Da öffnete sich erneut die Tür. Ein untersetzter Mann kam herein. Er trug einen Kittel und ein Stethoskop um den Hals.

Na endlich, dachte Aleen und wartete gar nicht erst ab, bis er sich vorgestellt hatte. »Was ist passiert?«, fragte sie und zuckte zusammen. Zu sprechen fühlte sich an, als bestünde ihr Rachen aus Sandpapier. Der Schmerz zwang sie, ein paar Mal kräftig zu schlucken, was alles nur schlimmer machte.

Der Arzt trat an das Kopfende ihres Bettes, füllte ein Glas mit Wasser und hielt es ihr so vor den Mund, dass sie daraus trinken konnte, ohne sich vollständig aufsetzen zu müssen.

Sofort nahm sie einen gierigen Schluck und hustete heftig.

»Nicht so hastig!«, mahnte der Arzt.

Aleen konnte sich geradeso zügeln.

»Langsame und kleine Schlucke.«

Sie tat, was er sagte und obwohl sie kaum Flüssigkeit zu sich nahm, war ihr, als könne ihr Hals die Menge an Wasser nicht ertragen. Sie hustete wieder.

Der Arzt wollte das Glas zurückstellen, doch Aleen bedeutete ihm mit dem Kinn, dass sie noch nicht genug hatte. Wieder wurde ihr bewusst, dass ihre Arme zu sehen waren, und dieses Mal war der Drang, sie zu bedecken, kaum auszuhalten. Trotzdem zwang sie sich, sich nichts anmerken zu lassen, leerte das Glas und sank zurück aufs Kissen. Mit letzter Kraft schaffte sie es endlich, ihre Arme unter die Bettdecke zu schieben.

»Geht es etwas besser?«, fragte der Arzt.

Aleen nickte, was eine Lüge war. Es schien den Mann jedoch zu überzeugen, denn er lächelte kurz und ging zurück ans Bettende.

Er sah ganz anders aus als diese gut aussehenden Ärzte in den Krankenhausserien, die sie sich manchmal heimlich ansah, wenn er mit seinen Kumpanen auf Tour war.

»Mein Name ist Doctor Hendricks. Ich bin Ihr zuständiger Arzt.« Er machte eine kurze Pause. »Mrs Gibbs, Sie haben eine Menge durchmachen müssen. Wissen Sie, was mit Ihnen geschehen ist?«

»Mein Mann …« Das Sprechen tat weiterhin weh, zudem hatte sie große Mühe, die Worte zu formen.

Der Arzt nickte. »Sie haben viel Blut verloren. Daher waren wir gezwungen, eine Notoperation durchzuführen. Ihre Nachbarin fand sie auf der Türschwelle. Sie müssen bei einem Fluchtversuch oder Ähnlichem zusammengebrochen sein, die Beine sogar noch im Haus. Wir wissen bislang nicht, wie lange Sie so dort lagen.« Erneut eine dramatische Pause. Er räusperte sich. »Die Blutung konnten wir stoppen, jedoch …« Statt weiterzureden, betrachtete er kurz die Gegenstände in seinen Händen.

Erst jetzt fiel Aleen auf, dass er nicht nur ein Tablet hielt, sondern auch einen Spiegel, der bis eben von dem Gerät verdeckt worden war. Jetzt hielt Doctor Hendricks ihn hoch, sodass Aleen hineinsehen konnte.

Was sie daraus anstarrte, hatte mit ihr wenig Ähnlichkeit. Viel eher glich die Gestalt darin einer Mumie. Ihr ganzes Gesicht war in Bandagen gehüllt. Lediglich ihre Nase, ihre Augen und Lippen, so geschwollen wie nach einer Schönheits-OP, lugten daraus hervor. Aleen keuchte.

»Es tut mir sehr leid«, sagte Doctor Hendricks. »Ihnen wurde das Gesicht zerschnitten.«

Wieder ein Bild, das vor Aleens innerem Auge aufblitzte. Eine Scherbe, die er ihr drohend auf Augenhöhe hielt. Etwas, das er immer tat, wenn ihr etwas runtergefallen war, um ihr Angst einzujagen. Und manchmal fügte er ihr Schnitte zu. Ihr Gesicht hatte er meistens verschont. »Das zerbrochene Weinglas, ich erinnere mich. Es ist mir aus der Hand gefallen. Das hat ihn wütend gemacht.« Ihre Worte waren kaum mehr als nuschelnde Laute.

Erneut nickte Doctor Hendricks, dieses Mal wirkte er bekümmert. »Ich fürchte, Ihr Gesicht wird nie wieder das Alte sein. Ihre Zunge wurde ebenfalls verletzt. Ich vermute, er hat Sie Teile des Glases essen lassen. Oder wollte es zumindest. Sie haben es offenbar wieder ausgespuckt, was Ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet hat.«

Das wunderte sie nicht. Er hatte sie schon alles Mögliche »fressen« – so nannte er es – lassen. Unter anderem Zigarettenstummel, die er zuvor an ihrer Brust oder ihren Armen ausgedrückt hatte. Allein der Gedanke daran brachte die Übelkeit zurück, die sie danach immer überfallen hatte.

Nach einer weiteren kurzen Pause fügte der Arzt hinzu: »Es grenzt an ein Wunder, dass Ihre Augen unversehrt geblieben sind.«

»Er mag sie. Manchmal glaube ich, meine Augen sind alles, was er an mir mag.« Da der Arzt nichts erwiderte, wandte Aleen sich von der Gestalt im Spiegel ab und sah Hendricks an.

Der räusperte sich wieder. »Es steht bereits ein OP-Termin für Ihr Gesicht. Wir wollen so viel retten wie möglich. Natürlich benötigen wir dazu Ihre Einwilligung. Jede Operation birgt gewisse Risik…«

»Tun Sie, was Sie tun müssen.«

»Gut. Eine Schwester wird Ihnen die Einverständniserklärung bringen. Doch zuerst … draußen warten Polizisten auf Sie, Mrs Gibbs. Sie möchten Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.« Schon wieder dieses lästige Räuspern. »Zum Tod Ihres Mannes.«

Die Vase in ihrer Hand. Der brennende Schmerz, als das Porzellan unter dem Aufprall zerbarst und ihrer Handfläche einen tiefen Schnitt zufügte. Ein Aufschrei. Er, wie er polternd die Treppe hinunterfiel. Eine sich ausbreitende Blutlache auf dem Boden.

»Dann sage ich den Männern Bescheid, dass Sie bereit sind, sie zu empfangen«, sagte Doctor Hendricks, was Aleen aus ihrer Erinnerung schrecken ließ. »Sind Sie denn bereit?«, hakte er vorsichtig nach.

Sie wollte langsam nicken, stattdessen machte ihr Kopf eine ruckartige Bewegung. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Nacken, doch sie nahm ihn kaum wahr.

»In Ordnung.« Der Arzt ging aus dem Zimmer und ließ sie allein zurück.

Für einen Augenblick war Aleens Kopf vollkommen leer. Bis ein Gedanke an die Oberfläche drängte: Ich habe ihn umgebracht.

Zum ersten Mal seit dreizehn Jahren lächelte sie.

Kapitel 2 – Tränen

 

James McDuff schielte zur Uhr. Wieder war ein Tag ohne einen einzigen Kunden vergangen. Er seufzte. Das Schaf war erst zur Hälfte geschnitzt, doch er legte es neben sich auf den kleinen Holztisch und rieb sich mit der Hand, in der er noch das Messer hielt, über die Stirn. Wenn das so weiterging, würde er den Laden wirklich bald dichtmachen müssen. Gott allein wusste, wie sehr er gegen diese hochnäsigen Anzugträger ankämpfte, die immer wieder drohten, aus seiner geliebten Holzschnitzerei eine dieser modernen Coffee-to-go-Absurditäten zu machen.

Schlimm genug, dass er ihnen das Haus hatte verkaufen müssen; nun musste er auch noch die Demütigung ertragen zu pachten, was mal sein Eigentum gewesen war. Es war für sie ein Witz gewesen. Sie hatten dem Pachtvertrag doch nur zugestimmt, um Wetten abzuschließen, wie lange der alte McDuff wohl durchhielt, ehe er bankrottging. Davon war er zumindest überzeugt.

Zwei Jahre, zu einer längeren Laufzeit hatte James sie nicht überreden können. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Und wahrscheinlich lachten sie gerade über ihn.

James schlug mit der Faust auf den kleinen Holztisch.

Zum Teufel mit diesen Banausen! Das hier war lediglich eine Übergangslösung. Diese Männer glaubten nicht daran, aber er würde es ihnen schon zeigen. Er hatte diese Geldsäcke davon abhalten können, ihn aus seinem eigenen Haus zu werfen und daraus einen Pub zu machen, er würde es auch schaffen, neue Kundschaft anzulocken. James würde die Schnitzerei wieder auf Vordermann bringen. Und dann kaufte er sich zurück, was rechtmäßig ihm gehörte.

Er war in diesem Haus geboren und er würde hier sterben! Die Schnitzerei hatte schließlich zuvor seinem Vater gehört. Sie war Dads ganzer Stolz gewesen bis zu seinem Tod. All die Arbeit, die er hineingesteckt hatte, um ein respektables Geschäft zu errichten. Die beste Holzschnitzerei Schottlands, von Touristen und Alteingesessenen gleichermaßen geliebt. Nein, James würde sie nicht kampflos aufgeben, und wenn es ihn sein letztes Hemd kostete.

Er gähnte.

Morgen war ein neuer Tag. Touristen gab es genügend in Woodnock, doch schienen sie seit einer Weile nichts mehr für Souvenirs übrig zu haben. Hach, wie sehr James die Zeit genossen hatte, als der kleine Laden kaum ausreichend Platz für all die Familien mit ihren Kindern geboten hatte. Ein jeder war begeistert gewesen von den vielen Holzfiguren, den Tieren und Fabelwesen.

Wo war diese Zeit nur geblieben?

James erhob sich ächzend von seinem Hocker und streckte den Rücken durch. Seine Wirbelsäule knackte. »Sie läuft wahrscheinlich gerade mit meiner Jugend um die Wette«, sagte er in den menschenleeren Raum hinein.

Alles, was er brauchte, war eine zündende Idee. Nur Holzfiguren anzubieten genügte nicht länger. Aber was sollte er sonst tun?

Er legte das Messer zum halb fertigen Schaf und schlurfte zur Ladentür, um abzuschließen, als er eine Frau bemerkte, die sich dem Geschäft näherte.

Sie trug einen langen schwarzen Mantel und dunkle Jeans. Außerdem Handschuhe, obwohl es draußen nicht kalt war. Der Rest von ihr war unter einem ebenso schwarzen Schirm verborgen. Regen trommelte wild auf den gespannten Bezug und die Pflastersteine und ließ die Frau beinahe gespenstisch erscheinen. Sie schien regelrecht auf den Laden zuzuschweben.

James schob den Gedanken beiseite und öffnete die Tür. »Willkommen!«, sagte er.

Die Kundin trat auf die erste der beiden Eingangsstufen und senkte den Schirm, um ihn zuzuklappen und auszuschütteln. James nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu betrachten. Ihr Gesicht war voller Narben. Die Dame trug Make-up, um ihre Entstellungen zu kaschieren, dennoch waren sie deutlich zu sehen. Sie sah aus, als hätte jemand ihren Schädel in ein Fenster gerammt. Ihr Haar war ebenfalls schwarz und gewellt. Es reichte ihr bis über die Schultern.

»Guten Abend«, sagte sie und hob leicht die Mundwinkel, mied es jedoch, James direkt anzusehen. Sie sprach zwar undeutlich, so als wäre ihre Zunge angeschwollen, aber verständlich. Dem Akzent nach stammte sie aus Glasgow.

»Kommen Sie rein! Ihren Schirm können Sie in dem Ständer da vorne abstellen. Sehen Sie sich gern in Ruhe um.«

»Vielen Dank.« Sie tat wie ihr geheißen.

»Lassen Sie mich wissen, wenn ich helfen kann«, fuhr James fort, »und nehmen Sie ruhig was in die Hand. Das ist hier nicht verboten, im Gegenteil.«

»Wirklich sehr schön«, erwiderte sie, ihm den Rücken zugewandt.

Während James sich in eine Ecke zurückzog, beobachtete er sie diskret. Er wollte sie schließlich nicht gleich wieder vergraulen. Manche Kunden mochten es, wenn man offen auf sie zuging und fragte, ob sie etwas Bestimmtes suchten. Andere – und so schätzte James diese Dame ein – ließ man lieber in Ruhe.

Sie schien ehrlich interessiert, inspizierte die Holzschnitzereien auf den Tischen und in den Vitrinen und ließ nichts aus.

Nun drehte sie sich zu ihm um. »Ich mag Kunst sehr. Ich würde Ihnen gerne etwas für meinen Sohn abkaufen. Ein ganz besonderes Stück.«

James führte innerlich einen Freudentanz auf. Doch noch eine Kundin!

»Selbstverständlich!« Er schluckte, um sich zu zügeln. Keinesfalls durfte er die Dame mit seiner Euphorie verschrecken. Sie machte auf ihn den Eindruck eines verwundbaren Rehs, so wie sie ihr Gesicht hinter ihren Haaren verbarg. »Darf ich Ihnen etwas zeigen?«

Sie nickte und lächelte.

Eine freundliche Frau. Sie wurde James immer sympathischer. »Dann kommen Sie mit nach hinten. Dort bewahre ich meine besonders wertvollen Stücke auf. Alles Unikate! Sicher finden wir dort eine tolle Figur für Ihren Jungen.«

Er ging zum hinteren Ende des Geschäftes und zog den weinroten Vorhang zur Seite, hinter dem sich die kleine Tür zu seinem Wohnraum befand.

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht«, sagte die Frau und folgte ihm.

»Aber nein! Einer so freundlichen Dame wie Ihnen zeige ich gerne meine größten Schätze.«

James führte seine Kundin durch den angrenzenden Flur zu seiner – wie er sie nannte – Schatzkammer. Ein drei mal drei Meter kleiner Raum mit Holzregalen, auf denen er seine Lieblinge sammelte.

Das Herz zog sich ihm schmerzlich zusammen, als die Dame hineintrat und sich sofort interessiert umsah. Es kam nicht häufig vor, dass James einen Kunden mit nach hinten nahm. Diese Stücke waren eigentlich nicht für den Verkauf gedacht. Hier fanden sich alte Schnitzereien seines Vaters – der handbemalte 30 Zentimeter große Steinadler, die brüllende Löwin und ihr Junges. Einzigartige Stücke von unschätzbarem Wert. Zumindest wenn es um Nostalgie ging.

Mit den Jahren hatte auch James der Sammlung immer mal wieder Figuren hinzugefügt. Zum Beispiel ein lebensgroßes Jemenchamäleon und eine Ringelnatter. Vorne verkaufte er hauptsächlich fünf bis zehn Zentimeter große Schafe, Highland Cattle und Nessie, das Seeungeheuer. Aber manchmal hatte er Lust auf etwas anderes. Auf exotische Tiere, auf Menschen und Gebäude, und diese besonderen Werke fügte er stets dieser Sammlung hier hinzu.

Aber die Kunden blieben aus und in der Not frisst der Teufel Fliegen. Es würde nicht leicht werden, auch nur eine dieser Figuren zu verkaufen, doch wenn sie ein Kind glücklich machen würden, war James gerne bereit, sich von ihnen zu trennen.

Die Kundin blieb vor einer Schnitzerei stehen und nahm sie in die Hände. James schluckte. Ausgerechnet seine Familie. An dieser Arbeit hatte er mehrere Monate gesessen. Er hatte seine Eltern, seinen Bruder und sich so wirklichkeitsgetreu wie möglich darstellen wollen und am Ende war er mit dem Ergebnis mehr als zufrieden gewesen. Nur angemalt hatte er die vier Figuren noch nicht. Er hatte es sich ständig vorgenommen und dann doch nicht getan, weil er lieber ein neues Stück Holz in Form hatte bringen wollen. Ein Jammer.

Es wunderte James, dass sie ausgerechnet diese Figuren betrachtete. Der große Esel oder das Pferd würden ihrem Jungen doch sicherlich viel besser gefallen.

»Ist das Ihre Familie?«, hörte er die Dame fragen. Sie hatte ihm erneut den Rücken zugewandt.

»Aye. Mein wertvollstes Stück. Das bin ich als junger Bursche mit meinen Eltern. Der größere da ist mein Bruder. Wir sind leider zerstritten, aber es wäre mir falsch vorgekommen, ihn wegzulassen.« Er räusperte sich. »Gefällt es Ihnen?«

Sie antwortete nicht gleich. Stattdessen stand sie bewegungslos da, als wäre sie selbst zu einer Statue geworden.

Gerade als James ein wenig unbehaglich zumute wurde, sagte sie: »Sie sehen wie eine glückliche Familie aus.«

»Nun, das waren wir. Wir haben viel Zeit miteinander verbracht. Na ja, zumindest bis mein Bruder … Ich hatte eine gute Kindheit. Eine glückliche Kindheit, ohne Zweifel.«

»Mein Junge ist tot.«

Die Worte trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Hatte er gerade richtig gehört? »Wie bitte?«

»Er wurde ermordet.«

James schluckte. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Luft schien dicker geworden zu sein, der Raum geschrumpft, und in James machte sich ein mulmiges Gefühl breit.

Die Dame drehte sich langsam zu ihm um. Tränen liefen ihre Wangen hinab. Statt James anzusehen, betrachtete sie weiter die Figur.

»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte er und machte einen Schritt auf sie zu, hielt aber sofort wieder inne. »Natürlich nicht, wenn Ihr Kind … Ermordet sagen Sie? Das ist ja furchtbar! Ich weiß gar nicht, was ich …« Er verstummte.

Die ganze Situation kam ihm surreal vor. Eben noch wollte sie ein Geschenk für ihren Sohn kaufen. Wieso erzählte sie ihm plötzlich, er wäre tot?

Womöglich hat sie zwei Kinder, versuchte er, sich die Frage selbst zu beantworten.

Und doch …

Irgendetwas an ihrer Miene beunruhigte ihn. Waren es die Tränen? Die Tatsache, dass ihm eine fremde Frau weinend gegenüberstand? Nein, es schien nicht, als weinte sie aus Trauer oder Nostalgie. Was er sah, ähnelte eher Reue.

Er trat zurück zum Türrahmen, um eine Fluchtmöglichkeit zu haben. Bei dem Gedanken kam er sich dumm vor. Vor ihm stand eine trauernde Frau ganz in Schwarz gekleidet, gramgebeugt, weinend. Und statt ihr gut zuzureden, statt sie zu trösten, überlegte er, ob sie ihm Böses wollte.

Wieso nur suchte der Mensch in den Gesichtern seiner Mitmenschen immer nur das Schlechte? Wann hatte sich die Welt so verändert und was noch wichtiger war, wann hatte er angefangen, diesem Wandel zu folgen? Es gab das Gute im Menschen und diese Frau trauerte. Sie war gut, keinesfalls gefährlich.

Die Dame sah auf und starrte ihn an. James konnte die Tränen in ihren Augen funkeln sehen.

Nein, sie war nicht gefährlich.

Oder?

»Lassen Sie uns wieder nach vorne gehen«, sagte er so ungezwungen wie möglich. »Nehmen Sie die Statue gerne mit oder eine andere, wenn Ihnen davon eine besser gefällt.«

Sie nickte und James unterdrückte ein Aufatmen. Dummer, alter Mann. Sie ist nur eine verletzte Seele.

Kaum, dass sie an ihm vorbeigegangen war, blieb sie plötzlich stehen. Wieder überkam James ein seltsames Gefühl, fast wie eine dunkle Vorahnung. Er fluchte innerlich. Jetzt blieb ihm doch keine Fluchtmöglichkeit mehr.

Sie murmelte etwas.

»Äh, w-wie bitte?«, fragte er.

In dem Moment wirbelte sie herum und holte mit der Figur aus. Die Zeit schien sich für einen Moment zu dehnen und er hob schützend die Hände. Zu spät. Etwas explodierte vor seinen Augen, und er sank benommen zu Boden.

»Es tut mir leid«, hörte er sie sagen.

Wieder folgte ein gewaltiger Schmerz. James spürte, wie etwas Warmes seine Wange hinunterlief. Er schmeckte Blut. Immer noch hielt er schützend die Hände vor sich, doch es war ihm kaum möglich, sie erhoben zu halten. Sie waren schwer, so schwer und er so müde.

Die Frau schlug erneut zu. Dieses Mal schrie sie fast: »Es tut mir leid!«

Das letzte, was James sah, war eine Träne, die vom Kinn seiner Mörderin auf sein Hemd tropfte, dann umfing ihn die endlose Nacht.

 

* * *

 

Fünf Stunden später

 

Die Turmuhr schlug ein Uhr nachts.

Aleen machte sich nicht die Mühe, die Tür des Ladens hinter sich zu schließen. Ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Das viele Blut vom Boden und von den Wänden zu entfernen, die Leiche in die Badewanne zu hieven und sie gründlich zu waschen, hatte Zeit gekostet, doch nicht genug. Das Warten war ihr wie eine Ewigkeit vorgekommen. Der Ladenbesitzer schien sie die ganze Zeit über mit seinem einen verbliebenen Auge anzustarren. Sie hatte es kaum ertragen und doch war es ihr nicht möglich gewesen, den Blick von seinem eingedellten Gesicht zu nehmen.

Das zweite Auge hatte Aleen ihm ausgeschlagen. Sie hatte es nicht gewollt, es war einfach passiert. Nachdem sie James gewaschen hatte, hatte sie ein Stück Toilettenpapier genommen, war in das Hinterzimmer zurückgekehrt und hatte das Auge aufgehoben. Davor hatte sie sich in einer Art Schockstarre befunden, doch das Gefühl dieses schleimigen Dings in ihrer Hand löste sie mit einem Ruck. Aleen war zurück ins Badezimmer gerannt, hatte das Auge mitsamt Papier in die Toilette geworfen und sich darauf übergeben. Als ihr Magen nichts mehr hergab, hatte sie alles hinuntergespült.

Nun trat sie hinaus in den Regen, hatte einen Arm des Mannes über ihre Schulter und ihren Arm um seine Taille gelegt. Er war bereits größtenteils steif geworden und obwohl er kaum Fleisch auf den Knochen besaß, kostete es Aleen einige Mühe, ihn wie eine Schaufensterpuppe neben sich herzuziehen. Ihr Knie protestierte heftig, in ihrem Rücken knackte es. Sie ließ sich nicht beirren. Das hier war etwas, das sie tun musste. Es war nicht ihre Schuld, dass dieser arme Mann hatte sterben müssen, nein, sein Tod diente einem höheren Zweck.

Bis zu ihrem Mietwagen war es nicht sehr weit, dennoch war die Gefahr, erwischt zu werden, noch immer groß. Sie hoffte nur, dass sie den Ladenbesitzer mit dem Hut und seinem Regenponcho gut genug getarnt hatte, damit er als Betrunkener durchging.

Immer wieder blickte Aleen über die Schulter und versicherte sich, dass sie ungesehen blieb. Als sie endlich die nächste Seitenstraße erreichte, packte sie den Mann unter den Achseln, schleifte ihn, so schnell sie konnte, zu ihrem gemieteten Mini und hievte ihn auf den Beifahrersitz.

Aleen seufzte erleichtert, als sie sich hinter das Lenkrad setzte und den Motor startete. Fast geschafft. Im Moor würde niemand die Leiche so schnell finden. Sie würde James ausziehen und einfach warten, bis er versunken war. Gleich im Morgengrauen würde sie die Kleidung entsorgen und anschließend den Wagen zurückgeben.

Ein Schritt näher an ihrem Ziel, sie zu zerstören.

Aleen sah zu dem Mann, dessen Kopf schlaff über seinen Schultern baumelte und spürte erneut Tränen in sich aufsteigen.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie und fuhr los.

 

* * *

 

Er schlenderte mit in den Taschen vergrabenen Händen durch die Stadt. Der Regen hämmerte auf die Dächer der umliegenden Geschäfte, auf seine Kleidung, den Rucksack und die Pflastersteine. Keine Seele war mehr unterwegs.

Er genoss die Einsamkeit. Niemand würde ihn sehen, wenn er in der Moorlandschaft seinen Tod inszenierte. Es würde perfekt werden und vielleicht würde er mehr erfahren über …

Erschrocken blieb er stehen. In einiger Entfernung erblickte er zwei Gestalten. Eine davon schien ziemlich betrunken zu sein, da sie von der zweiten Person gestützt wurde. Sofort hastete er hinter die nächste Mauer, nahm seinen Rucksack vom Rücken und presste ihn fest an sich. Niemand durfte sehen, was sich darin verbarg. Niemand! Es würde alles verderben und sie würden es nicht verstehen!

Er wartete mit angehaltenem Atem.

Motorengeräusche erklangen, ein Wagen entfernte sich. Erleichtert stieß er Luft aus, trat aus der Ecke hervor und setzte seinen Rucksack auf. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass er wieder ungestört war. Nun schlenderte er weiter.

Bis in die Highlands war es nicht sehr weit und auch das Moor war gut zu Fuß erreichbar. Der Regen war lästig, aber er würde den Fotos eine besondere Note verleihen.

Als er am Ziel angekommen war, hatte der Regen nachgelassen. Mit einer Taschenlampe ging er umher und suchte nach dem perfekten Platz, während er aufpasste, wohin er trat, um nicht versehentlich im Moor stecken zu bleiben.

Etwas erregte seine Aufmerksamkeit.

In einiger Entfernung ragte etwas aus dem Schlamm. Etwas Helles, Fleischiges.

Er ging näher heran und seine Augen weiteten sich. Was er sah, war ein Rücken. Die Wirbelsäule zeichnete sich deutlich unter der straffen, schmutzigen Haut ab. Weißes Haar war ebenfalls zu erkennen.

Aus dem Schlamm war eine Leiche hochgedrückt worden.

Alles auf Anfang

 

 

Kapitel 3 – Woodnock

 

Ein Schrei riss sie aus dem Schlaf.

Jacob fuhr neben ihr hoch. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Alles okay?«

Scarletts Herz flatterte und ihr Körper fühlte sich ganz taub an. Sie schwitzte unter der dicken Bettdecke. »Bestens«, sagte sie und schüttelte Jacobs Hand ab. Sie zwang sich, ruhig zu atmen.

»Du hast seinen Namen geschrien, Sca.«

»Was?«

»Willi. Du hast ihn gerufen. Schon wieder. Kann ich … kann ich was für dich tun?«

Noch immer schlug ihr Herz sehr schnell, doch langsam bekam sie sich wieder in den Griff. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich von Jacob weg und legte sich auf die Seite.

Hinter sich hörte sie ihn leise seufzen und spürte, wie er sich ebenfalls wieder hinlegte.

Als Scarlett die Augen schloss, sah sie erneut das Ende ihres Traums vor sich. Zwei junge Mädchen – es waren Emilie und Alex – standen am Rand einer Klippe. Sie starrten gemeinsam in den Abgrund. Die auf dem Boden hockende Frau neben ihnen war eindeutig sie – das blonde Haar, die zierliche Statur, der rote Mantel. Und doch gab es noch ein weiteres Ich, das alles beobachtete wie eine Kamera. Ihr Bewusstsein. Mit einer Hand hielt die andere Scarlett Willi fest, der über dem Abgrund hing und in den Tod zu stürzen drohte. In seinem Blick lag blindes Vertrauen, Zuversicht, das Wissen, dass sie ihn nie loslassen würde.

Emilie wandte sich ihr zu. »Hast du es genossen?«

Da lockerte sie ihren Griff und ließ ihn fallen. Willis Mund formte ein erschrockenes O, seine Augen weiteten sich. Er stürzte geradewegs in den Tod.

Scarlett drehte sich auf ihrer Matratze und starrte zur Decke.

So ist das nicht passiert, dachte sie trotzig. Und doch träumte sie jede Nacht denselben furchtbaren Traum. Sah, sobald sie die Augen schloss, wie Willi fiel. Naiver, dummer Willi.

Scarlett schlug die Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. »Ich hol mir was zu trinken.«

Schlaf würde sie heute Nacht sowieso nicht mehr finden.

 

* * *

 

»Willkommen in unserem neuen Heim, Mrs Dyer!«

Scarlett betrachtete Jacob, der eben erst aus dem Bett gestiegen war und noch seinen Pyjama trug, mit erhobener Augenbraue. »Liebling, ich glaube, du hast dir schon wieder den Kopf gestoßen. Wir wohnen seit fast einer Woche hier.«

Sie setzte sich ein Stück auf und stützte sich auf ihren Ellbogen.

Jacob winkte ab. »Na, das zählt nicht. Die letzten Tage standen überall Kartons rum …«

»Voll mit deinen Spielzeugen.«

Er ignorierte den Einwurf und fuhr ungehindert fort: »… es war unordentlich und überhaupt nicht heimelig. Sieh dich jetzt um, ist es nicht herrlich? So hell und einladend. Home, sweet home.« Sein Blick schweifte zum Fenster. »Oder wie die Schotten sagen würden ›what a dreich day the day‹!«

»Dein Schottisch ist scheiße.«

»Yer bum’s oot the windae!«

»Ich werf dich gleich mal aus dem Fenster, wenn du nicht die Klappe hältst.« Sie bemühte sich, konnte jedoch ein Grinsen nicht unterdrücken.

Jacobs Aussprache war eine Katastrophe und obwohl Scarlett in der Nähe von gut gelaunten Menschen normalerweise den Drang verspürte, ihnen mit einer Schaufel den Schädel zu spalten, schaffte er es doch immer wieder, sie zum Schmunzeln zu bringen. Freundlichkeit und Spaß waren nichts, was Scarlett allzu vertraut war, aber sie hatte Gefallen daran gefunden. Jacob war ihr kleines Äffchen. Er sorgte für ihre Unterhaltung. Vermutlich war er deshalb noch am Leben.

Nun kam er zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Haaransatz. »Ich hab dich auch lieb, Schatz.« Dann trat er ans Schlafzimmerfenster und betrachtete mit der Faszination einer Katze den Regen. Scarlett musterte ihn. Vielleicht hatte es eher mit Neugier zu tun, dass sie ihn weiterhin in ihrer Nähe duldete. So naiv konnte er doch nicht sein. Er schien ihr alles vergeben zu haben, was sie in St. Pit angestellt hatte. Es wirkte sogar so, als hätte er es vergessen. Die Morde. Das Chaos. Ihr ganz persönlicher Rachefeldzug. Statt ihr aus dem Weg zu gehen, blieb er bei ihr. Welcher normale Mensch würde das tun? Aber vielleicht war er ja auch wie sie. Ein böser Mensch.

Die Vorstellung kam ihr beinahe lächerlich vor. Der zuvorkommende, stets optimistische Jacob in Wahrheit ein gewissenloses Monster? Unmöglich.

Oder?

Jacob schnellte zu ihr herum. »Wir sollten uns unbedingt den Nachbarn vorstellen. Und die Highlands erkunden! Ich möchte einen grummeligen Schotten im Schottenrock sehen, Dudelsäcke hören und Whiskey kosten. Und meine Spielzeuge unter die Kinder bringen.«

Entnervt schwang sie sich aus dem Bett, um aus dem Zimmer zu stapfen. Sie konnte hören, wie er das Fenster öffnete.

»Riechst du das?«, rief er ihr hinterher. »Das ist nasses Schaf! Wusstest du, dass es mehr Schafe in Schottland gibt als Menschen?«

Scarlett schloss die Tür hinter sich und durchquerte das Wohnzimmer, sodass Jacobs Worte immer mehr verschluckt wurden.

»Bestimmt nicht, da du deinen Glasgower Akzent ja nur spielst. Lustig übrigens, dass du ihn beibehältst. Wie …«

Endlich Ruhe. In der Küche hielt sie inne. Eine seltsame Rastlosigkeit machte sich in ihr breit. Es war das erste Mal seit mehr als zehn Jahren, dass sie keinen Plan hatte. Kein Ziel, das es zu erreichen galt. Keine Rachegelüste. Die plötzliche Stille gefiel ihr doch nicht mehr. Sie spülte Gedanken und Erinnerungen an die Oberfläche, denen sie zu entkommen versuchte.

Sie wünschte sich Jacob herbei, der ihr mit seiner ununterbrochenen Quasselei den letzten Nerv raubte und sie doch immer wieder zum Lachen brachte. Aber ihr Stolz hinderte sie daran, einfach zu ihm zurückzugehen. Er sollte nicht wissen, wie es in ihr aussah. Olivia wäre auf der Stelle ins Schlafzimmer gerannt, um der Stille zu entkommen, aber das war ihr altes Ich. Scarlett brauchte Menschen nur, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen. Sie war nun mal kein guter Mensch. Jacob dagegen schon.

Vermutlich.

»Schatz?«, hörte sie ihn rufen. »Du hast mir noch nicht gesagt, was wir als Erstes tun? Ich wäre für den grummeligen Schotten im Schottenrock!«

Sie seufzte. »Ich hoffe nur, ich bringe ihn nicht doch noch um.«

 

* * *

 

Die Entscheidung, was sie als Erstes taten, wurde ihnen abgenommen. Gerade als Jacob das Frühstück vorbereiten wollte – er bestand auf ein echtes schottisches Frühstück mit Tattie Scones, Toast, Spiegeleiern, Baked Beans und Bacon – klopfte es an der Tür.

Scarlett und Jacob wechselten einen Blick. Er schloss den Schrank wieder, aus dem er gerade zwei Teller hatte holen wollen.

»Wer klopft denn da?«, fragte Scarlett und trommelte genervt mit den Fingern auf die Küchentischplatte.

Jacob zuckte die Achseln. »Vielleicht wissen die Leute hier nicht, wie Klingeln funktionieren.« Er machte sich auf den Weg zur Tür.

Eine brummige Stimme erschallte.

Scarlett erhob sich nun ebenfalls. Hatten sie es etwa schon geschafft, den ersten Nachbarn gegen sich aufzubringen? Endlich ein bisschen Action!

Als sie sich jedoch den Stimmen näherte, bemerkte sie, dass der brummige Mann gar nicht brummig war. Er hatte lediglich eine sehr tiefe, durchdringende Stimme, die leicht als ungehalten interpretiert werden konnte. Zumindest aus der Ferne.

Jacob schwatzte gewohnt überschwänglich mit dem Besucher.

Jetzt klang der alte Mann mit der Halbglatze, der klischeehaft beigen Rentnerkleidung und dem Gehstock unverkennbar freundlich.

---ENDE DER LESEPROBE---