Ich lüge bis du stirbst & Deine Lügen bringen dich ins Grab - Gillian Hobbs - E-Book
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Gillian Hobbs

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Beschreibung

ICH LÜGE BIS DU STIRBST

Ein Zuzug ist für die Gemeinde des Küstenstädtchens St. Pit immer eine Sensation. Entsprechend überschwänglich und voller Neugier begrüßen die Bewohner das frisch hinzugezogene junge Pärchen aus der Großstadt und helfen sogleich, die Umzugskartons im Haus zu verstauen.
Scarlett und Jacob Dyer scheinen sich wunderbar in die Idylle einzufügen, doch die Bewohner ahnen nicht, dass Scarlett in Wahrheit nur ein Ziel verfolgt: ihre Rache.

Scarlett Dyer hieß früherOlivia Lewisund war in ihrer Kindheit ein Teil der Gemeinde. Mehrere schreckliche Ereignisse führten dazu, dass sie in das Harrison-Hill-Hospital, eine psychiatrische Klinik, eingewiesen wurde. Nun zwölf Jahre später ist sie zurück und bereit, die Schuldigen büßen zu lassen. Ein chirurgischer Eingriff verhindert, dass man sie erkennt. Scarlett gibt sich charmant, hilfsbereit und humorvoll, doch hinter dem Rücken der ahnungslosen Gemeinde zieht sie Fäden, die St. Pit schon bald ins Chaos stürzen werden.



DEINE LÜGEN BRINGEN DICH INS GRAB

Scarlett Dyer hieß früher Olivia Lewis und hat eine ganze Stadt ins Chaos gestürzt. Kurze Zeit nach den Geschehnissen in dem Küstenstädtchen St. Pit ziehen Scarlett und Jacob ins beschauliche Woodnock am Rande der schottischen Highlands. Hier wimmelt es nur so von Touristen anstelle von neugierigen Nachbarn, und zum ersten Mal scheint es, als könne Scarlett endlich ein ruhiges Leben führen.

Doch dann findet Scarlett ihr unvollendetes und in St. Pit zurückgelassenes Manuskript vor ihrer Haustür, in dem sie ihren in dem Küstenstädtchen durchgeführten Racheplan festgehalten hat. Als dann Jacob und ihr seltsame Dinge widerfahren wird ihr klar: Jemand hat es auf sie abgesehen und diese Person wird dafür bezahlen.

»Deine Lügen bringen dich ins Grab« ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel »Du lügst. Du stirbst«.

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Ähnliche


Narben
Kapitel 1 – Nie wieder!
Erster Teil
Kapitel 2 – Vergangenheit und Zukunft
Kapitel 3 – Der Einzug
Kapitel 4 – Tratsch
Kapitel 5 – Fotos
Kapitel 6 – Enttarnt
Kapitel 7 – Nachhilfe
Kapitel 8 – Zorn
Zweiter Teil
Kapitel 9 – Ein Geschenk
Kapitel 10 – Alte Freundschaften und Familienbande
Kapitel 11 – Verachtung
Kapitel 12 – Wahrheit und Lüge
Kapitel 13 – Sünden der Vergangenheit
Kapitel 14 – Willi
Kapitel 15 – Olivia
Dritter Teil
Kapitel 16 – Leila
Kapitel 17 – Ein Deal
Kapitel 18 – Nichts mehr zu verlieren
Kapitel 19 – Eine Falle
Epilog
Danksagung
Schmerzen
Kapitel 1 – Aufgewacht
Kapitel 2 – Tränen
Alles auf Anfang
Kapitel 3 – Woodnock
Kapitel 4 – Jacobs Traum
Kapitel 5 – Eine neue Spur
Kapitel 6 – Die Schönheit des Todes
Gerüchte
Kapitel 7 – Ladeneröffnung
Kapitel 8 – Paranoia
Kapitel 9 – Hinter den Puppenaugen
Kapitel 10 – Das Gerücht
Kapitel 11 – Der Stein
Kapitel 12 – Jacobs Vergangenheit
Kapitel 13 – Eskalation
Im Wettlauf mit der Vergangenheit
Kapitel 14 – Hetzjagd
Kapitel 15 – Sackgasse
Kapitel 16 – Jacob kommt nach Hause
Scherbenhaufen
Kapitel 17 – Entlarvt
Kapitel 18 – Zwei Briefe
Epilog
Danksagung

Gillian Hobbs

 

Ich lüge bis du stirbst

und

Deine Lügen bringen dich ins Grab

 

 

Über die Autorin:

 

Gillian Hobbs wurde in Niedersachsen, Deutschland geboren, entdeckte aber schon früh ihre Faszination für regnerische, englische Kleinstädte in Küstennähe. »Ich lüge bis du stirbst« ist ihr Thriller-Debüt. Zuvor hat sie bereits unter ihrem Klarnamen mehrere Romane veröffentlicht.

Gillian Hobbs

 

Ich lüge bis du stirbst

und

Deine Lügen bringen dich ins Grab

 

 

Rote Rache Band 1 und 2

 

 

 

 

Sammelband

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

Oktober 2023 © 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Simona Turini

https://www.lektorat-turini.de/

 

Korrektorat: Heidemarie Rabe

[email protected]

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover 1: Chris Gilcher

http://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 20903474, Adobe Stock ID 253781335, Adobe Stock ID 171150851und freepik.com

 

Cover 2: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 100694763

 

Ich lüge bis du stirbst

 

 

 

Gillian Hobbs

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buchbeschreibung:

 

Wie weit würdest du für deine Rache gehen?

 

Ein Zuzug ist für die Gemeinde des Küstenstädtchens St. Pit immer eine Sensation. Entsprechend überschwänglich und voller Neugier begrüßen die Bewohner das frisch hinzugezogene junge Pärchen aus der Großstadt und helfen sogleich, die Umzugskartons im Haus zu verstauen.

Scarlett und Jacob Dyer scheinen sich wunderbar in die Idylle einzufügen, doch die Bewohner ahnen nicht, dass Scarlett in Wahrheit nur ein Ziel verfolgt: ihre Rache.

 

Scarlett Dyer hieß früher Olivia Lewis und war in ihrer Kindheit ein Teil der Gemeinde. Mehrere schreckliche Ereignisse führten dazu, dass sie in das Harrison-Hill-Hospital, eine psychiatrische Klinik, eingewiesen wurde. Nun, zwölf Jahre später, ist sie zurück und bereit, die Schuldigen büßen zu lassen. Ein chirurgischer Eingriff verhindert, dass man sie erkennt. Scarlett gibt sich charmant, hilfsbereit und humorvoll, doch hinter dem Rücken der ahnungslosen Gemeinde zieht sie Fäden, die St. Pit schon bald ins Chaos stürzen werden.

 

»Ich lüge bis du stirbst« ist wie eine Riesenwelle, die zunächst einen düsteren Schatten wirft, und am Ende nichts als Zerstörung hinterlässt.

Ich lüge bis du stirbst

 

Gillian Hobbs

 

Rote Rache 1

 

Thriller

 

 

Narben

Kapitel 1 – Nie wieder!

 

Zwölf Jahre zuvor

 

Olivia tänzelte über ihre Lieblingswiese. Das Gras war vom Regen der vergangenen Nacht feucht und rutschig. Sie musste aufpassen, nicht den kleinen Abhang hinunterzurutschen und womöglich ihr schönes Kleid zu zerreißen oder sich den Rücken an einem der Bäume zu prellen. Es war ihr neues Lieblingskleid, grün wie das Gras unter ihren Füßen.

Mit ausgebreiteten Armen balancierte sie Richtung Wäldchen, in dem einzig der Gesang der Vögel in den Bäumen und das Rascheln kleiner Tiere, die durch das Dickicht spazierten, zu hören waren. Dort gab es so viel zu entdecken. Letzten Samstag erst hatte Olivia einen alten Kriegsbunker gefunden. Er war unter herabgestürzten Zweigen versteckt gewesen und größtenteils in der Erde verborgen. Sie hatte sich nicht getraut, hineinzugehen, aber vielleicht würde sie es heute wagen. Oder doch erst morgen, wenn es heller war.

»Olive!«

Olivia fuhr zusammen. Sie rutschte aus, konnte jedoch das Gleichgewicht halten.

Leila näherte sich ihr lächelnd. Durch ihr blondes Haar leuchtete orangerot die untergehende Sonne. »Hey, warte, Olive.«

Instinktiv wich Olivia zurück und zog den Kopf ein wenig ein.

»Du bist so schnell vom Schulhof verschwunden, ich konnte gar nicht mehr mit dir reden«, sagte Leila.

»Mit mir?« Sie wagte es nicht, dem anderen Mädchen in die Augen zu sehen, und starrte auf das feuchte Gras.

»Hör zu. Ich weiß, ich war in letzter Zeit nicht nett zu dir. Ich und die anderen waren ganz schön fies. Ich will das nicht mehr, okay?«

Olivia sagte nichts.

»Wir waren mal beste Freundinnen und dann … na ja, nicht mehr. Irgendwie fehlt mir das, weißt du?«

Olivia blickte auf und suchte in Leilas Gesicht nach etwas, das ihre Worte als Wahrheit oder Lüge entlarvte, fand jedoch nichts. Leila war immer unergründlich gewesen, schon als sie beide sechs Jahre alt und unzertrennlich gewesen waren. Olivia hatte nie verstanden, was geschehen war, wieso Leila sie plötzlich gehasst hatte. Konnte es sein, dass wieder etwas passiert war? Dass sie wirklich wieder Freundinnen sein konnten?

Leila lächelte. »Was sagst du?«

»I-ich weiß nicht. Ich …«

Sie zuckte die Achseln. »Pech. Packt sie!«

Hände legten sich um Olivias Arme. Keuchend versuchte sie, sich aus den Griffen zu befreien. Sie hätte es wissen müssen! Leila hasste sie und das würde sich nicht ändern. Sie hatte nun ihre tolle Clique. Amelia, Ella und Steve – die beliebten Kids.

»Drückt sie zu Boden«, sagte Leila.

Ehe Olivia sich versah, saugte sich ihr Kleid mit Regenwasser voll und ihr Gesicht wurde ins nasse Gras gepresst. »Bitte«, flehte sie, doch die anderen ließen nicht los.

»Hast du die Kamera?«, hörte sie Steve fragen.

»Klar, gut festhalten, Mädels.«

Amelia und Ella lachten.

»So, Willi«, sagte Leila.

Willi? Willi war auch da? Olivia wehrte sich stärker, aber sie kam nicht gegen die anderen an. Es gelang ihr, einen Arm zu befreien, dann wurde sie jedoch direkt wieder gepackt und ihr Arm nach hinten gezogen. Sie schrie auf.

Leila fuhr fort: »Ich weiß, du willst sie. Das ist deine Chance, Willi.«

Jemand setzte sich auf sie. Wieder schrie Olivia auf. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nach dem Trubel, der auf dem Schulhof herrschte, nach einer überfüllten Fußgängerzone – doch hier kam selten ein Mensch vorbei. Sie hatte es sich so ausgesucht, hierher zog sie sich immer zurück. Wie dumm sie gewesen war!

Willi rutschte nach hinten auf ihre Beine und schob ihr Kleid hoch.

Die Mädchen johlten, pfiffen und lachten. Olivia brach in Tränen aus.

Kalte Hände strichen ihre Oberschenkel entlang, wanderten nach oben.

»Zieh ihr den Liebestöter runter, Willi!«, rief Leila.

Er tat es.

Olivia hörte auf, sich zu wehren. Sie lag einfach nur da, wie erstarrt, während sich ihre stummen Tränen mit den Tropfen auf dem Gras vermischten. Die frische Frühlingsluft fegte über ihre nackte Haut und ließ sie zittern. An ihrem Nacken spürte sie Willis Atem. Er ging schnell und stoßweise.

»Jetzt steck ihn schon rein!«, sagte Leila. Sie kreischte regelrecht vor Lachen.

»Leila …«, sagte Ella, sie klang beunruhigt.

»Lass das doch, sie hat Angst genug«, fügte Amelia hinzu.

Für einen Sekundenbruchteil flammte Hoffnung in Olivia auf, dann hörte sie den sich öffnenden Reißverschluss einer Hose. Dieses Geräusch sorgte dafür, dass sie aus ihrer Starre erwachte. Sie wehrte sich mit all ihrer Kraft, versuchte, unter Willi hervorzukriechen, doch der saß eisern auf ihr und hielt eine ihrer Schultern fest.

Olivias Blase entleerte sich. In die kalte Nässe mischte sich unangenehm ihr warmer Urin.

Willi sprang grunzend auf.

Alle lachten.

»Sie hat sich eingenässt!« Leila stand nun direkt hinter Olivia, vermutlich filmte sie sie.

»Hauen wir ab!«, sagte Ella.

»Ja, los, gehen wir!«, fügte Amelia hinzu.

Leila lachte noch immer, dann schrie sie plötzlich: »Finger weg! Wir sind noch nicht fertig! Wenn du ihn nicht reinsteckst, nehme ich halt einen Ast.«

»Leila!« Das war wieder Ella.

»Schnauze! Einen faustgroßen Ast in ihr kleines Arschloch. Was hältst du davon, Bitch?«

»Ich hau ab.«

»Ich auch«, sagte Amelia.

Leila rief: »Ihr seid solche Feiglinge! Scheiße! Okay! Wartet!« Ihre Stimme entfernte sich.

Olivia lag weiterhin da, wieder regungslos, erneut erstarrt. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so schmutzig, so ekelhaft gefühlt, wie in diesem Augenblick. Ihre Zähne klapperten vor Kälte.

Sie wusste nicht, wie lange sie im feuchten Gras gelegen hatte, umgeben vom Gestank ihrer eigenen Pisse. Irgendwann setzte sie sich langsam auf, zog die Unterhose hoch und zupfte ihr Kleid zurecht. Es kam ihr nun weniger grün, weniger schön vor. Es war schmutzig, hässlich!

Nie wieder würde sie es tragen.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen und färbte den Himmel blutig rot. Olivia machte sich auf den Heimweg. Und während sie langsam einen Fuß vor den anderen setzte, dachte sie immer wieder zwei Worte: Nie. Wieder.

Erster Teil

 

Neues altes Städtchen

 

 

»Kleine Stadt, große Neugier.«

Kapitel 2 – Vergangenheit und Zukunft

 

Jeder Mensch hat Geheimnisse. Sie sind verborgen hinter einem unschuldigen Lächeln oder freundlichen Worten. Oft unerkannt, stets wohl gehütet. Hin und wieder scheinen sie durch, manches Mal werden sie entdeckt und in die Welt hinausgetragen.

Wer ein Geheimnis verbirgt, muss immer damit rechnen, ertappt zu werden. Man kann es sehen, in den Augen derer, die verzweifelt versuchen, ihres zu bewahren. Ein Flackern, ein Blinzeln, ein ausweichender Blick. Nicht zu jeder Stunde und für jene unsichtbar, die nicht wissen, wonach sie suchen. Geheimnisse sitzen tief und manche werden nie enthüllt.

Doch es kann passieren, dass die Vergangenheit zuschlägt. Sie gräbt und kratzt und zerrt. Wen die Vergangenheit einholt, der kann ihr nicht entfliehen.

Scarlett Dyer lächelte, als sie um die nächste Kurve fuhren und sich das Küstenstädtchen St. Pit vor ihr auftat. Neben ihr schlug der Bristolkanal sanfte Wellen, aus der Ferne näherten sich schwere Wolken.

»Fast da«, sagte Jacob, ergriff ihre Hand und drückte sie. »Unser neues Zuhause.«

Auf den ersten Blick unterschied sich diese Gemeinde kaum von anderen im Vale of Glamorgan: Menschen, die einander zu kennen glaubten. Die sich grüßten oder auf offener Straße einen Plausch hielten. Perfekte Hausfrauen mit ihren perfekten Ehemännern und Musterkindern in ihren perfekten Häusern. Größtenteils fromm und falls nicht gläubig, dann zumindest höflich und wohlerzogen. Aber Scarlett wusste, dass sich unter dieser glatten Oberfläche etwas Schmutziges befand. Etwas Dunkles, Durchtriebenes.

Sie war einst ein Teil davon gewesen, damals, als ihr Gesicht noch ein anderes gewesen wahr, genau wie ihr Name.

Oh, sie kannte diese Menschen. Sie war ihre Vergangenheit, sie war ihre Zukunft. Und sie konnte es kaum erwarten, tiefe Löcher in die makellose Oberfläche zu schlagen.

 

* * *

 

Niemand in St. Pit besaß einen gepflegteren Vorgarten als Penny Hitchman. Davon war sie überzeugt, denn niemand in St. Pit hielt sich häufiger in seinem Vorgarten auf als Penny. Wann immer sie nicht in der »St. Bakery« arbeitete oder im Haushalt zu tun hatte – wobei sie zumindest darauf achtete, ein Fenster im Blick zu haben – verbrachte sie ihre Zeit vor dem Haus. Dann jätete sie Unkraut auf dem schmalen Weg zwischen den beiden drei Quadratmeter großen Rasenflächen oder mähte das Gras. Manchmal ging sie einfach nur mit prüfendem Blick auf und ab und gab vor, jeden Grashalm einzeln zu inspizieren, wobei sie die Straße und ihre Nachbarn nie ganz aus den Augen ließ.

Einmal hatte Penny es mit Blumen versucht, deren Samen sie fein säuberlich in die Erde eingebettet hatte. Doch nachdem auch die dritte Tulpe eingegangen war, weil sie zu viel Zeit mit dem Beobachten der Cliffords von gegenüber, deren Streitereien neuerdings zugenommen hatten, und zu wenig mit Gießen verbracht hatte, war sie zum herkömmlichen Mähen, Jäten und Auf-und-ab-Gehen zurückgekehrt.

An diesem Morgen kniete Penny mit einem Schälmesser in der Hand auf dem Gehweg vor ihrem Garten und kratzte das Unkraut zwischen den Steinen heraus. Dabei hob sie alle paar Sekunden den Kopf und hielt Ausschau.

Neue Nachbarn. Wann waren das letzte Mal Fremde nach St. Pit gezogen? Das mussten die Jonathans vor drei Jahren gewesen sein. Das schrullige alte Pärchen, das sich einen ruhigen Ort für die Rente gesucht und St. Pit gefunden hatte. Nette Leute, aber uninteressant.

Da war Hank Price schon deutlich faszinierender, der ein Jahr davor hergezogen war und nun etwas mit Moira Arington am Laufen hatte. Reicher Geschäftsmann trifft auf Teenie-Mutter. Penny schnaufte amüsiert. Das hatte was von einer dieser Seifenopern im Fernsehen. Leider benahmen sich die beiden jedoch enttäuschend unauffällig.

Diese neuen Nachbarn aber waren jung, ihrem fahrbaren Untersatz und ihrer adretten Kleidung nach wohlhabend und geheimnisvoll. Penny hatte das Paar nur kurz beobachten können, am Tag der Hausbesichtigung. Sie war gerade auf dem Heimweg von der Arbeit gewesen und hatte die beiden ins Haus verschwinden sehen. Eine zierliche Blondine und ein hochgewachsener Kerl mit auffälligem Bart und noch auffälligerem Auto. Knallrot war das gewesen, und dem Nummernschild nach waren sie aus London angereist.

Penny war sofort nach Hause gerannt und hatte alle Leute angerufen, die sie kannte, danach war sie zurückgeeilt und hatte gewartet, bis die Neuankömmlinge wieder aus dem Haus gekommen und ins Auto gestiegen waren. Sie hatte ihnen sogar noch zugewunken, als sie vorbeifuhren. Nett hatten sie ausgesehen. Besonders die Frau. Alt genug für Kinder war sie, aber schwanger schien sie nicht zu sein.

Penny hatte sich vorgenommen, die beiden nach ihrem Einzug genauer im Auge zu behalten und abzuwarten, ob die Frau innerhalb eines Jahres schwanger werden würde. Falls nicht, sah sie es als ihre Pflicht, herauszufinden, weshalb dieses attraktive, junge Paar keine Kinder bekam. Hier in St. Pit interessierten sich die Leute außerordentlich dafür, wenn jemand kinderlos war, denn das war bei den wenigsten Paaren der Fall.

Penny selbst hatte ebenfalls keine Kinder, doch sie hatte man nie gefragt, warum das so sei, obwohl sie ihren Nachbarn regelmäßig von ihren Liebschaften erzählte, die allesamt erfunden waren. Manchmal fragte sie sich, wieso. Möglicherweise weil sie ohnehin sehr redselig war und die Leute bei ihr keine Geheimnisse vermuteten. Ja, das musste es sein.

Auch heute Morgen hatte Penny jeden angerufen, den sie kannte. Denn sie hatte gestern Abend von Ben Sullivan vom anderen Ende der Straße – dem Makler des Hauses des jungen Paares – erfahren, dass heute der Einzug anstand. Wie aufregend!

Penny ließ den Blick schweifen. Ihre Nachbarn waren genauso aufgeregt wie sie. Überall entdeckte sie zur Seite geschobene Vorhänge und Silhouetten an Fenstern. Neuankömmlinge waren eben immer eine Sensation, denn in St. Pit kannte jeder jeden. Man wusste, welches Paar häufig stritt, wessen Kinder Raufbolde waren oder wer ein Baby erwartete.

Neuen Tratsch zu finden war keine leichte Aufgabe. Aber es war Pennys Lieblingszeitvertreib. Die Leute kamen zu ihr, wenn sie die Neugier packte, und so konnte sie es auch jetzt kaum erwarten, mit den Neuen ein Schwätzchen zu halten.

Motorengeräusche näherten sich und ein knallroter Wagen bog um die Kurve.

Penny setzte sich auf. Neben sich hörte sie, wie eine Tür geöffnet wurde und wieder zufiel.

Die neuen Nachbarn waren da!

 

* * *

 

Harper Harris stieß einen spitzen Schrei aus, als sie im Spiegel ein graues Haar entdeckte, das sich wie ein Spinnfaden über ihren Scheitel zog.

Sofort kleidete sie sich an, kniete vor den Unterschrank des Waschbeckens und begann darin zu wühlen. Irgendwo musste sie doch sein! Sie hatte sie sich extra für einen Fall wie diesen besorgt. Harper hoffte nur, dass die Haltbarkeit nicht längst überschritten war. Konnte so etwas überhaupt verderben?

Endlich fand sie, wonach sie suchte: dunkelbraune Haarfarbe. Gekauft vor fünf Jahren, nachdem ihre Mutter ihr verraten hatte, dass sie bereits mit dreißig Jahren die ersten grauen Strähnen bekommen hatte. Nun war Harper fünfunddreißig – ihren Liebhabern erzählte sie, sie sei fünfundzwanzig, denn sie sah erstaunlich jugendlich für ihr Alter aus – und nicht gefasst auf diesen Anblick. Ein graues Haar, das irgendwie über Nacht gewachsen zu sein schien.

Sie erhob sich und legte ihr Handy auf die Waschmaschine. Es konnte schließlich sein, dass in der Zwischenzeit die neuen Nachbarn eintrafen, und Ella und sie wollten einander anklingeln, wenn es so weit war. Je nachdem, wer die Newbies zuerst entdeckte. Harper beugte sich über die Badewanne, um sich die Haare zu färben.

Während sie dabei war, die Farbe einzumassieren, gab ihr Handy den Ton einer Trillerpfeife von sich.

»Himmel, es ist soweit!«, rief sie, tastete nach ihrem Handtuch, schlang es sich um die Schultern und warf den Kopf zurück.

Dann eilte sie nach draußen, um die Ankunft der neuen Nachbarn nicht zu verpassen.

 

* * *

 

Ella Jenkins watschelte ihre Einfahrt hinunter. Die Hüfte tat ihr schon wieder weh. Glücklicherweise musste sie nur ein Haus weiter. Dennoch wurde es Zeit, endlich den Rat ihres Arztes zu befolgen und mit der Diät zu beginnen.

Aber nicht heute, heute würde Mum einen aufwendigen Auflauf zaubern. Ella meinte, bereits den köstlichen Duft von überbackenem Käse riechen zu können. Noch war es zwar zu früh fürs Mittagessen, aber rübergehen konnte sie ja schon mal. Während sie ihre Nase verwöhnte, konnten Mum und sie über die neuen Nachbarn spekulieren, die heute einzogen. Von ihren Plänen, ein paar Pfunde zu verlieren, würde sie ihren Eltern ein anderes Mal erzählen.

Ella aß jeden Mittag bei ihnen, Mum würde enttäuscht sein, wenn sie den köstlichen Auflauf nicht anrührte. Es reichte auch noch, nächste Woche mit der Diät zu beginnen. Und dieses Mal würde sie das Programm durchziehen. Sie musste nur einen Weg finden, ihrer Tochter beizubringen, dass es dann kalorienärmeres Abendessen geben würde. Emilie schien alles Fett allein durchs Kauen zu verbrennen. Beneidenswert.

Schräg gegenüber kniete Penny Hitchman auf dem Gehweg und gab vor, Unkraut zu jäten. Ihre Stoffhose spannte an ihrem breiten Hintern. Ella mochte zwar ein paar Pfunde mehr auf den Hüften haben, aber wenigstens passten ihre Proportionen. Penny hatte einen schlanken Oberkörper und einen ausladenden Arsch. Eine Frau geformt wie eine Birne. Und eine geschwätzige Nervensäge! Sicher wartete auch sie auf die neuen Nachbarn.

Penny hob den Kopf und setzte sich ruckartig auf. Ella folgte ihrem Blick.

Ein roter Sportwagen näherte sich.

Das mussten sie sein!

Sofort zog Ella ihr Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans und wählte Harper Harris’ Nummer.

 

* * *

 

Amelia Richards setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. Ihre Haut spannte schmerzhaft. Dieses Lächeln sparte sie sich für die besten Kunden auf. Diejenigen, die die teuersten Parfümsorten und das exklusivste Make-up kauften.

»Ich wünsche Ihnen einen wundervollen Tag. Beehren Sie uns bald wieder«, sagte sie.

Die Kunden, irgendwelche Touristen, nickten und wandten sich ab. Sofort ließ Amelia die Mundwinkel sinken und massierte sich die Wangen. Ihre Haut fühlte sich schon wieder so trocken an. Am besten trug sie gleich neue Feuchtigkeitscreme auf.

Jemand tippte ihr auf die Schulter. Moira stand hinter ihr, das Handy in der Hand.

»Was ist? Musst du schon wieder zum Arzt?« Seit Moira vor einem halben Jahr ihr Baby bekommen hatte, nein, eigentlich seit Beginn ihrer Schwangerschaft, war auf diese Frau kein Verlass mehr.

Moira schüttelte den Kopf. »Hank hat mir geschrieben. Die neuen Nachbarn sind da. Die komplette Nachbarschaft ist wohl auf die Straße gerannt, um sie zu begrüßen.«

Diese Geier. »Und? Willst du etwa auch hin?«

Endlich löste Moira sich von ihrem Handy. »Nein, ich dachte nur, das würde dich interessieren.«

»Warum sollten mich neue Nachbarn interessieren? Ich bin nicht so sensationsgeil wie der Rest der Stadt. Also …«, sie klatschte in die Hände, »weg mit dem Handy, da hinten stehen Kunden, die bedient werden wollen.«

 

* * *

 

Steve Davies bekam die Nachricht über die neuen Nachbarn von Bob Clifford und entschied sich spontan dazu, eine Runde zu joggen. Er schrieb seinem Dad zuvor eine kurze WhatsApp-Nachricht, auch wenn er bereits wusste, dass keine Reaktion zu erwarten war.

 

* * *

 

Roger Davies legte sein Handy auf den Beistelltisch neben sich. Der Sessel protestierte unter der Bewegung seines massigen Körpers, als er die Beine ausstreckte, um sie auf dem Schemel abzulegen.

»Neue Nachbarn. Pah! Wen interessiert der Mist?«

Der Junge sollte sich lieber um seine Sportkarriere kümmern. Er, Roger, hätte sich nie dazu herabgelassen, auf die Straße zu gehen und fremde Leute zu begaffen, als wäre die Welt ein gottverdammter Zoo. Er hatte für den Sport gelebt, immer. Der Olympiasieg wäre ihm sicher gewesen, hätte ihm der Unfall nicht alles kaputtgemacht.

Und Steve? Der verschwendete seine Jugend mit Frauen und Basketball. Dabei hätte aus ihm ein zweiter Steve Ovett werden können! Aber er war dieses Namens nicht würdig. Er hätte an Rogers Stelle die Goldmedaille holen sollen, damit der Vater den Triumph durch seinen Sohn hätte erleben können. Zumindest einen Hauch des Ruhms spüren. Was für eine Enttäuschung. Das ganze Leben war eine Enttäuschung.

Er hatte es versucht, nach seinem Unfall. Hatte versucht, ganz normal weiterzuleben. Aber man ließ ihn nicht. Die Leute gafften ihn an. Sie redeten hinter seinem Rücken über ihn. Manchmal bespitzelten sie ihn sogar.

Roger wollte sie ignorieren. Er wollte das Gefühl der ständigen Beobachtung ausblenden. Er hatte die Aufregung gesucht, den Kick. Die zwielichtigen Geschäfte mit dem nichtsnutzigen Clifford sollten Rogers Leben neuen Schwung geben. Vergebens. Nicht mal dieser lausige Überfall … Roger führte den Gedanken nicht zu Ende. Stattdessen ruhte sein Blick auf seiner Flinte.

Manchmal, dachte er, glaube ich, es wäre besser, die ganze Welt zum Teufel zu jagen.

 

* * *

 

Joann Lewis hatte den kompletten Vormittag am Küchenfenster verbracht. Als sie den roten Sportwagen entdeckte, rief sie Robert zu: »Schatz, sie sind da! Die ersten gehen schon auf die Straße, um Hallo zu sagen. Komm, beeilen wir uns!«

»Ich sag noch schnell dem alten MacGill Bescheid!«, rief er.

 

* * *

 

Zac Arington sprang von seinem Fahrrad und versteckte sich hinter einem Gartenzaun, als er die vielen Leute vor ihren Häusern bemerkte.

Shit! Wenn die ihn sahen, vor allem diese Sprechdurchfall-Tante Penny Hitchman, würden die ihn sofort bei seiner Mutter oder dem Arschloch Hank verpfeifen. Dabei hatte er sich heimlich am Haus vorbei zum Strand schleichen wollen, um zwei oder drei Zigaretten zu rauchen und pünktlich nach Schulschluss nach Hause zu radeln.

Sofern der Schuldirektor nicht zu Hause anrief, hätte niemand was davon mitbekommen. Schließlich schwänzte Zac nicht zum ersten Mal.

Er entdeckte die knallrote Pornokarre, auf die die Leute offensichtlich scharf waren und schnaufte. Das mussten die Neuen sein. Die Farbe vom Auto war zwar scheiße, aber der Iron-Man-Aufdruck auf der Kühlerhaube hatte was. Vielleicht zog ja endlich mal jemand hierher, der kein Langweiler war.

Die Blondine neben dem Kerl im Auto sah zumindest heiß aus. Zac entschied, zu warten, bis sich der Trubel gelegt hatte.

 

* * *

 

William ›Willi‹ Gibbs schlenderte eine Wiese entlang. In der Hand hielt er eine Blume und rupfte ihr die Blüten aus. »Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht.« Er lächelte, stolperte über etwas, ging aber unbeirrt weiter. Schließlich zupfte er das letzte Blütenblatt.

»Sie liebt mich.« Sein Grinsen wurde breiter. »Sie liebt mich, sie liebt mich!«, sang er und spazierte über den schmalen Pfad, den er schon so viele Male entlanggegangen war. Zu ihr.

Kapitel 3 – Der Einzug

 

»Wie die alle aus ihren Häusern flitzen!«, sagte Jacob und kicherte. Er lenkte den Wagen die schmale Spur entlang. Wegen des Anhängers fuhr er nur dreißig Stundenkilometer statt der erlaubten vierzig.

»Kleine Stadt, große Neugier«, sagte Scarlett und lächelte dünn.

»Als hätte einer gesehen, dass wir kommen, und die anderen per Morsecode oder Lichtzeichen verständigt. Guck, da gehen nach und nach die Haustüren auf. Eine La-Ola-Welle nur für uns.«

Alte Gaffer, dachte Scarlett. Manches ändert sich halt nie.

Sie setzte ein breites Grinsen auf, während sie die erste Schaulustige passierten, die offenbar gerade dabei gewesen war, sich die Haare zu färben. Das Handtuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte, sah aus, als hätte sie es nicht mehr zum Klo geschafft. Ihr braunes Haar war feucht und unfrisiert. Mit prüfendem Blick beäugte sie die Neuankömmlinge, ehe sich ihre Miene aufhellte und sie grüßend die Hand hob.

Scarlett winkte zurück. Zwischen zusammengepressten Zähnen sagte sie zu Jacob: »Ihre Haare sind genauso echt wie ihr Grinsen.«

»Na, na! Das ist bestimmt eine sehr nette Frau. In Kleinstädten sind alle Leute nett. Hier wird Hilfsbereitschaft noch großgeschrieben.«

»Du hast sicher recht, Schatz.« Und wenn dir in ein paar Nächten einer dieser freundlichen Nachbarn ein Messer ins Auge sticht, weil du dich weigerst, ihm das Geld deines Daddys auszuhändigen, wirst du bestimmt »Wie nett, dass du mir nur das Auge genommen hast« sagen.

Sie fuhren an weiteren Anwohnern vorbei – jetzt in Schrittgeschwindigkeit – die allesamt grinsten, winkten oder beides taten. Jedes Mal erwiderten sie den Gruß.

»Hach, ich fühl mich jetzt schon wohl«, sagte Jacob. »Endlich raus aus dem Londoner Trubel. Hier erwarten uns Freundlichkeit und Ruhe.«

»Mhm«, sagte Scarlett immer noch zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Findest du das hier nicht ein klein wenig gruselig?«

»Iwo! Die Leute interessieren sich eben für uns. Die sehen bestimmt nicht oft fremde Gesichter und … Okay, es ist gruselig.«

»Sag ich doch.«

»Aber auch toll!«

»Gruselig toll. Das ist ja das reinste Paradies.«

»Du sagst es!« Jacob verkündete das im Brustton der Überzeugung. Schon fast niedlich, wie dämlich er war.

»Ich wette, die reißen uns gleich die Kartons aus den …« Scarlett verstummte, als sie ein Stück die Straße hinauf ein Paar mittleren Alters entdeckte.

Sie, ein verbrauchtes, frühzeitig gealtertes Skelett. Er, ein aufgedunsener Kuchenteig im Rollstuhl. Kein Zweifel, sie waren es. Älter zwar, aber das waren eindeutig sie.

»Hast du einen Geist gesehen, Scary?« Jacob tätschelte ihre Hand.

»So was in der Art«, antwortete Scarlett und bemühte sich, den Blick von den beiden abzuwenden und wieder freundlich dreinzuschauen. Sie entdeckte eine Handvoll weiterer bekannter Gesichter und ihr Grinsen wurde echt.

Oh, wie lange sie auf diesen Moment hingearbeitet hatte. Sie konnte es kaum erwarten, loszulegen.

Jacob drosselte die Geschwindigkeit, blinkte und fuhr eine Einfahrt hinauf, die sich nicht im Geringsten von den anderen Einfahrten der Straße unterschied. Jedes gottverdammte Haus sah wie das andere aus. Wenn sie nicht aufpasste, landete sie womöglich versehentlich mal bei einem der Nachbarn im Wohnzimmer.

Eine große Neunzehn klebte in blauen Ziffern an der weißen Hauswand. Besser, sie überprüfte in Zukunft zunächst die Hausnummer, ehe sie durch die Tür preschte und eine Überraschung erlebte. Sie bezweifelte, dass diese Horde grinsender Spinner jemals abschloss. Nun, sie würde abschließen. Auf jeden Fall würde sie das.

Noch ehe Jacob den Motor abgestellt hatte, waren sie schon von ihren neuen Nachbarn umringt, mindestens fünfzehn Personen, fast die ganze Straße. Hätte Scarlett ein Messer dabei gehabt, hätte sie direkt mit dem Augensammeln beginnen können.

Sie schnallte sich ab – Jacob war bereits ausgestiegen und schüttelte Hände – und öffnete die Tür.

»Hallo Nachbarin!« Eine unförmige Frau mit roten Haaren, Cateye-Brille und Kleidung aus Flower-Power-Zeiten sprang wie ein Flummi vor sie.

Scarlett sammelte sich. »Oh, hallo! Wie nett, dass Sie alle gekommen sind, um uns zu begrüßen.«

Die Frau winkte ab. »Das ist doch selbstverständlich. Außerdem sind wir immer alle neugierig, wenn neue Leute eintreffen.« Sie kicherte. »Mein Name ist Penelope Hitchman. Aber alle nennen mich Penny.« Sie reichte Scarlett die Hand.

»Sie haben wirklich schöne Augen, Penny.« Scarlett lächelte und schüttelte die Hand. »Ich bin Scarlett. Scarlett Dyer.«

»O mein Gott! Sie sind mir ja eine, Scarlett, ich werde ja ganz rot! Vielen Dank.«

»Rot ist meine Lieblingsfarbe.«

Sie lachten.

»Das sehe ich! Dieses tolle Auto und ihr wunderbarer weinroter Mantel.«

Scarlett hob die Achseln. »Erwischt!«

Wieder lachten sie.

»Sie sind eine ganz wunderbare Frau, Scarlett, und Ihr Mann ist eine Augenweide. Wir müssen uns unbedingt mal zum Tee verabreden. Oder Kaffee, falls sie zu diesen moderneren Frauen gehören.«

Scarlett musste sich beherrschen, nicht eine Augenbraue anzuheben. »Total unmodern, Tee klingt super.«

»Hervorragend!« Penny zwinkerte. »Bringen Sie Ihren Mann mit.«

Scarlett lächelte und nickte.

»Haben Sie Kinder, Scarlett?«

Wow, direkt zur Sache.

»Nein.«

»Na, das macht nichts. ›Was nicht ist, kann ja noch werden‹ hat meine Mutter immer gesagt. Hier in St. Pit leben viele Kinder. Wir können gar nicht genug von ihnen bekommen.«

Ein Jogger rannte an ihnen vorbei und beäugte den Trubel aus den Augenwinkeln.

Steve. Noch genau so ein eitler Fatzke wie auf der Highschool. Scarlett fragte sich, wie viele der Kinder in St. Pit seine waren.

»Also dann«, rief Penny und klatschte in die Hände, »an die Arbeit!«

Eine Handvoll Nachbarn, glücklicherweise weniger aufdringlich als die gute Schnattertante, versammelte sich um den Anhänger, der Rest verharrte in einigem Abstand und sah stumm zu.

Scarlett kannte jedes einzelne Gesicht.

Jacob hob abwehrend die Hände. »Aber ich bitte Sie! Sie müssen uns doch nicht helfen. Wir schaffen das schon.«

»Unsinn!«, rief Penny. »Chop-chop! Wenn wir uns beeilen, sind wir in nicht mal einer Stunde fertig und Sie können in Ruhe auspacken.«

»Allein?«, fragte Scarlett.

Für einen kurzen Moment schien Penny irritiert, dann lachte sie wieder. »Sie sind mir ein Witzbold!«

Scarlett und Jacob wechselten einen Blick.

Nach und nach schleppten die Anwesenden Kartons an ihnen vorbei ins Haus. Dabei stellte sich jeder kurz vor.

»Oha«, sagte Jacob, als ein uniformierter Polizist mit einem großen Karton in der Hand an ihnen vorbeiging. Der Karton verbarg sein Gesicht vor Scarlett, aber sie brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, wer das war. »Sogar die Polizei schleppt mit?«

MacGill blieb kurz stehen. »Ihr Freund und Helfer!« Er wandte sich Scarlett zu. Sein Blick glitt über ihren Körper, er lächelte: »Schönen Tag, Misses.«

»Nennen Sie mich Scarlett.«

Sein Lächeln wurde breiter. Es war ein charmantes, freundliches Lächeln. »Inspector David MacGill, Ma’am. Aber sie dürfen mich David nennen. Oder MacGill, so wie die meisten hier.« Er nickte zum Abschied und trug den Karton ins Haus.

Scarlett ließ die Mundwinkel fallen, drehte sich Richtung Straße und spürte, wie sich ihr Körper schlagartig verkrampfte.

Die dürre Frau und der Teig im Rollstuhl näherten sich ihr. Sie schob ihn so schwerfällig, als würde sie jeden Augenblick zusammenklappen, lächelte jedoch. »Sie müssen die neuen Nachbarn sein!«

Was war sie doch für eine Blitzmerkerin. »Richtig. Hi.« Es kostete Scarlett erhebliche Mühe, überhaupt mit ihr zu sprechen.

»Es freut mich sehr. Ich bin Joann Lewis – Joann reicht – und das ist mein Mann Robert. Wir wohnen etwas weiter die Straße hinauf.«

»Wir sind ebenfalls erfreut«, sagte Jacob, der plötzlich neben Scarlett aufgetaucht war.

Eine kurze Pause entstand, dann fragte Joann. »Und Sie sind?«

Jacob kicherte verlegen und streckte erst ihr, dann Robert die Hand hin. »Bitte entschuldigen Sie, ich bin davon ausgegangen, dass meine Frau uns schon vorgestellt hat. Ich bin Jacob.« Er schaute zu Scarlett und als sie nicht reagierte, fügte er hinzu: »Das ist Scarlett.«

Erneut entstand eine unangenehme Pause.

Joann blickte zum Himmel. »Sie haben Glück, dass sich der Schauer in einen Nieselregen verwandelt hat. Hier regnet es leider sehr häufig. Aber daran gewöhnt man sich. Nicht wahr, Liebling?«

»Muss man wohl. Meine Frau zwingt mich, jeden Tag an die frische Luft zu rollen«, sagte Robert gespielt beleidigt.

Die drei lachten.

»Das macht uns nichts aus«, sagte Jacob. »Regen hat durchaus etwas Schönes an sich. Ich verbinde ihn mit lachenden Kindern, die durch Pfützen springen oder ihre Spielzeugboote schwimmen lassen. Das mache ich heute auch noch gern.«

Robert lachte. »Durch Pfützen springen oder mit einem Boot spielen?«

Jacob kratzte sich am Hinterkopf. »Beides, offen gesagt.«

Penny meldete sich zu Wort: »Jacob, mein Lieber. Wären Sie wohl so freundlich, mir mit diesem Karton zu helfen?«

»Klar!« An die Lewises gerichtet fügte er hinzu »Es hat mich sehr gefreut«, ehe er zu Penny rannte.

Joann wirkte von Scarletts Schweigen und ihrer abweisenden Haltung verunsichert. Sie wusste wohl nicht so recht, wohin mit ihren Händen, also umfasste sie wieder die Haltegriffe des Rollstuhls.

Gut so. Sollte sie sich unwohl fühlen.

Robert dagegen schien mehr Augen für die Nachbarn zu haben, die dabei waren, die Umzugskartons ins Haus zu befördern. Er sah traurig aus, geradezu sehnsüchtig.

»Alles in Ordnung?«, fragte Joann ihn.

Robert zuckte kaum merklich zusammen. Er badete mal wieder im Selbstmitleid. Das hatte er früher schon pausenlos getan.

»Alles bestens«, antwortete er übertrieben fröhlich.

»Du würdest gerne helfen, was?«

Jetzt konnte Scarlett sich nicht mehr beherrschen und verdrehte die Augen. Das war so typisch Joann. Statt es einfach darauf beruhen zu lassen, bohrte sie in der Wunde herum. Man musste über seine Probleme sprechen, wie sie immer so schön betonte. Wer alles in sich hinein fraß, ersticke über kurz oder lang daran.

Bla, bla, bla.

Joann ging um den Rollstuhl herum und richtete Roberts Jackenkragen. Er ließ es kommentarlos geschehen, obwohl Scarlett ihm am Gesicht ablesen konnte, dass ihm die übermäßige Fürsorge vor der neuen Nachbarin unangenehm war. Er bemerkte Scarletts Blick und verdrehte gespielt die Augen.

Sie erlaubte sich ein kurzes Schmunzeln.

Joann trat wieder hinter den Rollstuhl. Offenbar überlegte sie sich bereits ein neues belangloses Gesprächsthema.

»Wie dem auch sei«, sagte Scarlett kühl und kam ihr so zuvor. »Nett, Sie kennengelernt zu haben, aber ich muss dann mal weiter. Ich möchte die Gutmütigkeit der Nachbarn ja nicht ausnutzen.« Sie wartete keine Erwiderung ab, sondern drehte sich einfach um. Statt beim Entladen zu helfen – viel gab es ohnehin nicht mehr zu schleppen –, sah sie sich um.

Niemand erkannte sie. Der Glasgower Akzent, den Scarlett sich angeeignet hatte, und die hellere Sprechweise funktionierten wunderbar. Ihr Gesicht hatte ihr mehr Sorgen bereitet. Unbegründet, wie sie nun feststellte. Was eine kleine OP und gefärbte Haare nicht alles schaffen konnten.

Ihre armen, ahnungslosen Nachbarn. Sie würden sich noch wundern.

 

* * *

 

Im Türrahmen winkten sie ihren Nachbarn hinterher, die nun endlich wieder in ihre Häuser verschwanden.

Jacob warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wahnsinn. Nicht mal fünfzig Minuten.«

Sie gingen ins Haus und Scarlett schloss die Tür.

»Wollen wir direkt anfangen, auszupacken? Oder willst du dich erst mal von diesem sozialen Schock erholen?«, fragte er.

»Ich mach uns Kaffee.«

»Uh, gute Idee!«

Das Haus war geräumig und hell. Eingerichtet könnte es tatsächlich ganz hübsch werden. Schade nur, dass Scarlett es eher dunkel mochte.

Sie schritt durchs Wohnzimmer in die Küche, stellte sich ans Fenster und beobachtete Joann und Robert, der von ihr schwerfällig die Straße hochgeschoben wurde.

Jacob beugte sich von hinten über Scarlett und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Es ist perfekt«, hauchte er, ließ sie los und verließ die Küche.

Das Paar verschwand aus ihrem Blickfeld. »Noch nicht. Aber bald.« Sie schob die Gardinen zu, damit niemand in die Küche starren konnte. »Schon sehr bald.«

Kapitel 4 – Tratsch

 

In den drei Tagen nach dem Einzug passierte bei den Dyers alles hinter verschlossenen Türen. Scarlett hatte nur einmal das Haus verlassen, um einen kleinen Einkauf zu erledigen. Jacob war zweimal für einige Stunden mit dem Auto verschwunden und anschließend mit vollgepackten Taschen zurückgekehrt.

Pennys Neugier machte sie ganz hibbelig. Was trieben die beiden nur? Warum mischte Scarlett sich nicht unters Volk und was um Himmels willen hielt dieser Mann in den Taschen verborgen?

Die Nachbarn wunderten sich sicherlich auch schon, bald würden sie Fragen stellen. Was, wenn sie, Penny, die immer wusste, was vor sich ging, keine Antworten hatte? Das durfte nicht geschehen! Sie hatte lange genug höfliche Distanz gewahrt. Am besten, sie klingelte unter irgendeinem Vorwand bei den Dyers.

Milch! Milch brauchte man immer, ihre könnte ausgegangen sein. Der Supermarkt befand sich schließlich zwei Straßen weiter.

»Da habe ich mir gedacht, ich probiere mein Glück bei Ihnen«, sagte sie laut, »und nutze direkt die Gelegenheit, um Sie auf die versprochene Tasse Tee anzusprechen.« Penny rückte mit dem kleinen Finger ihre Brille zurecht. »Ausgefuchst, Miss Hitchman, ausgefuchst.«

Sie war gerade im Begriff, zur Haustür zu gehen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Scarlett ging die Straße hinunter. Sie trug wieder ihren weinroten Mantel und das Haar fiel ihr in blonden Wellen über die Schultern. Durch ihren aufrechten Gang und den leicht erhobenen Kopf wirkte sie regelrecht majestätisch. Fast so, als gehörte sie nicht in diese Kleinstadt.

Obwohl es hier viele reiche Menschen gab, schien Scarlett dennoch in einer anderen Liga zu spielen. Sie sprang einem direkt ins Auge, wie ein auffälliges Bauwerk oder ein Porsche in einem Armenviertel.

Irgendetwas an ihr passte nicht. Sie erinnerte an ein Gemälde, das nach Augenmaß schief, laut Wasserwaage jedoch gerade an der Wand hing. Nun, die Dyers waren eben erst eingezogen, Penny würde schon noch dahinter kommen, was mit Scarlett nicht stimmte.

Sie trat vom Fenster weg und eilte zur Haustür. Nur ein bisschen Geduld, dann würde sie ihre Nachbarin abfangen und …

Es läutete.

Penny zuckte zusammen. Beinahe hätte sie schwungvoll die Tür aufgerissen, doch sie zwang sich, Ruhe zu bewahren, und zählte im Geiste langsam bis fünf. Scarlett sollte nicht denken, dass sie hinter der Tür auf sie gewartet hatte – obwohl es stimmte.

Gemächlich öffnete sie die Tür. Scarlett strahlte ihr entgegen. Penny hatte nie ein einnehmenderes Lächeln gesehen. Sie konnte nicht anders, als es zu erwidern. »Scarlett! Was für eine Überraschung!«

»Hallo Penny. Nachdem Sie alle so wundervoll geholfen haben, unsere Sachen ins Haus zu tragen, dachte ich mir, ich gehe auf Ihr Angebot ein, gemeinsam Tee zu trinken. Wann passt es Ihnen?«

»Meine Liebe, Sie erwischen mich im richtigen Moment! Kommen Sie rein!« Penny trat zur Seite. »Rein mit Ihnen. Rein, rein. Ich setze gleich Wasser auf.«

Sie führte Scarlett in ihre Küche.

Nachdem der Tee fertig war und sie ihn eingeschenkt hatte, setzte sie sich ihrem Gast gegenüber. »Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt? Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, Milch, Zucker – ist alles da.«

Scarlett gab einen Würfelzucker in ihre Tasse und rührte um. »Vielen Dank. Ja, St. Pit ist sehr schön. Ich habe noch nicht viel gesehen, der Umzug, Sie wissen schon. Kartons ohne Ende, alles muss aufgebaut, verrückt und eingeräumt werden. Aber jetzt möchte ich endlich die Stadt erkunden und mich unters Volk mischen, wie man so schön sagt.«

»Wundervoll! Aber hätten Sie doch was gesagt, ich hätte Ihnen gerne beim Auspacken geholfen.«

»Ja, das möchte ich wetten.«

Penny stutzte. »Wie bitte?«

»Sie wirken wie ein fleißiges Bienchen, immer zur Stelle, wenn jemand Hilfe braucht.«

»Nun …« Penny rückte mit dem kleinen Finger ihre Brille zurecht und kicherte.

Scarlett trank einen Schluck. »Der Tee schmeckt wirklich gut. Sagen Sie, Penny, wo wir gerade beim Thema Helfen sind, gibt es eine Möglichkeit, in St. Pit ehrenamtlich zu arbeiten? Ich schreibe an einem Roman und brauche einen Ausgleich zum …«

Penny setzte sich ruckartig auf. »Sie sind Autorin?« Das kam wohl ein wenig zu überschwänglich, denn Scarlett war kaum merklich zusammengezuckt. Penny nahm sich vor, sich zu zügeln. »Was schreiben Sie?«

»Oh, das darf ich nicht verraten, es ist geheim.«

»Schade.«

»Aber Sie werden es als Erste erfahren.«

Penny strahlte. »Das ist fantastisch! Deswegen haben Sie so selten das Haus verlassen, nicht wahr?«

»Richtig. Aber mir fehlen die Bewegung und der Kontakt zu anderen Menschen. Immer nur mit imaginären Figuren zu reden macht auf Dauer wahnsinnig.« Sie legte den Kopf schief und sah Penny direkt an. Zwar lächelte sie nicht, doch in ihrem Blick lag ein amüsierter Schimmer.

Penny nickte ernst. »Das glaube ich Ihnen sofort. Lassen Sie mich nachdenken. Es gibt einen Frauenverein. Da bin ich auch Mitglied, aber leider finden die Treffen nur selten und unregelmäßig statt. Die Arbeit, Sie wissen schon. Heutzutage gibt es kaum noch reine Hausfrauen, wir alle arbeiten und am Wochenende sind wir zu kaputt, um über politische Themen zu schwatzen. Wo wir gerade beim Thema Arbeit sind – entschuldigen Sie, ich bin immer sehr sprunghaft.«

»Das macht doch nichts.«

»Wenn sie das leckerste Gebäck in St. Pit kaufen möchten, müssen Sie nur die nächste Straße rechts und in Richtung Küste gehen, dort finden Sie die Bäckerei, in der ich arbeite. Wir haben verboten leckere Zimtschnecken. Sie bekommen eine aufs Haus von mir.«

Scarlett lächelte und trank ihren Tee aus.

»Greifen Sie ruhig zu! Es ist genug Tee da. Aber zurück zu Ihrer Frage …« Nun nahm auch Penny einen Schluck. Der Tee war abgekühlt und sie hatte den Zucker vergessen. Sie verzog das Gesicht, gab ein Stück in die Tasse und nahm erneut einen Schluck. Schon besser. »Falls Sie kein Problem mit Obdachlosen haben, gibt es am oberen Ende der Straße eine Volksküche, in der ehrenamtliche Mitarbeiter kostenlos Suppen und Decken verteilen. Vielleicht käme das infrage?«

»Perfekt! Das ist eine fantastische Idee!«

Erneut rückte Penny ihre Brille zurecht. »Zwei unserer Nachbarinnen engagieren sich dort ebenfalls. Nora Clifford von gegenüber und Irene Walsh. Sie wohnt mit Mann und Kind ein Stück die Straße rauf. Irene kennen Sie noch nicht, sie war nicht da, als wir Ihnen beim Ausladen geholfen haben. Sie ist aber eine ganz Liebe. Ihr Mann ist etwas … nun, sagen wir, launisch. Er ist streng religiös. Manche behaupten, er übertreibt es ein wenig.«

»Tatsächlich?« Scarlett schien aufrichtig interessiert. Wie erfrischend!

»Ja, er versucht ständig, alle von seinem Glauben zu überzeugen, und manchmal kann man die beiden streiten hören. Das arme Kind muss alles mit anhören. Es ist … ein bisschen anders, wissen Sie.«

Scarlett runzelte die Stirn. »Anders?«

»Wissen Sie, heutzutage verstecken sich die jungen Menschen nicht mehr. Gott ist mein Zeuge, ich habe nichts gegen so ein Verhalten! Die Walshes haben eigentlich eine Tochter, aber das Kind kleidet sich wie ein Junge und möchte nicht Alexandra, sondern Alex genannt werden. Dreizehn Jahre alt ist sie. Ein bisschen früh für eine Identitätskrise, wenn Sie mich fragen, aber wer bin ich, zu urteilen?«

»Sie meinen, das Kind sieht sich vermutlich als nichtbinär oder trans.«

Penny nickte.

»Was hält denn der Vater davon?«

»Sagen wir es so, Abel nennt seine Tochter weiterhin Alexandra und er ist der Einzige, bei dem sie es zulässt.«

»Ist er gewalttätig?«

»Großer Gott, nein! So etwas gibt es hier bei uns nicht. Wir behandeln einander mit Respekt.«

»Ist das so?« Es klang nicht wie eine Frage, Scarlett goss sich eine neue Tasse Tee ein. »Und Nora Clifford? Ist sie auch eine Liebe?«

»Und ob! Außerdem ist Nora der organisierteste und ordentlichste Mensch, den ich kenne. In ihrem Haus können Sie praktisch vom Boden essen. Es ist erstaunlich, dass Sie mit Obdachlosen arbeitet. Ich meine, all der Schmutz und der Gestank. Aber ich denke, wir brauchen alle unsere Herausforderungen und sie muss die Männer und Frauen ja nicht umarmen.« Penny lachte auf. Da Scarlett nicht mit einstimmte, fuhr sie fort: »Außerdem kommt sie so auch mal raus, wo doch zu Hause oft so eine schlechte Stimmung herrscht.

Übrigens besitzt St. Pit eine sehr niedrige Rate an Obdachlosen. Darauf sind wir stolz. Mehr als drei, vier Personen werden Sie bei der Suppenausgabe nicht gleichzeitig sehen.«

Scarlett leerte ihre zweite Tasse Tee. Das Porzellan klirrte, als sie sie abstellte. »Was meinen Sie damit?«

»Hm?«

»Sie sagten, bei Nora herrscht schlechte Stimmung.«

»Oh.« Penny trank ihren letzten Schluck kalten Tee und goss sich eine neue Tasse voll ein. »Sie und Bob streiten oft. Sie sind grundverschieden, aber schon seit ihrer Jugend ein Paar. Niemand hier hätte gedacht, dass sie so lange verheiratet bleiben, aber bisher ist keine Scheidung im Gespräch. Ihre Streitereien sind oft schrecklich belanglos. Kleinigkeiten. Wenn Bob vergessen hat, den Müll an die Straße zu stellen. Wenn Nora etwas gekocht hat, das Bob nicht schmeckt. All so was. Unschön.«

»Wow, die müssen ja ganz schön laut schreien, wenn Sie das hören können, Penny.«

»Nein, nein, ich höre nie, was sie sagen. Aber Nora und ich unterhalten uns oft und manches bekommt man so mit. Von den Nachbarn, meine ich. Beim Einkaufen oder wenn man auf der Straße ein Schwätzchen hält. Zu erzählen gibt es immer was.« Penny räusperte sich. »Ich spioniere nicht, falls Sie das denken.«

»Wie könnte ich?«

Sie lächelte, setzte die Tasse an die Lippen und verbrannte sich die Zunge. »Autsch! Sie werden sehen, Scarlett, Geheimnisse gibt es hier nicht. Wir kümmern uns hier umeinander und sind stets um unsere Mitmenschen bemüht. Natürlich gibt es auch hin und wieder Tratsch.« Sie winkte ab. »Das ist in jeder Stadt so. Vor allem, wenn es eine so kleine Stadt ist wie unsere hier. Aber Sie werden sich wohlfühlen. Sie und Ihr gut aussehender Mann.« Penny kicherte. »Was treibt der eigentlich so, wenn Sie an Ihrem Buch arbeiten?«

»Er ist Spielzeug-Ingenieur, genau wie sein Vater. Studiert hat er in Cardiff. Sein Ziel ist es, der beste Spielzeugbauer der Welt zu werden, ein noch besserer als sein Vater. Dem gehört ein ganzes Unternehmen in London, deswegen kauft Jacob ständig Spielzeug ein und testet es, um zu sehen, was er besser machen kann.

Eines Tages wird er die Firma erben und das Werk seines Vaters fortsetzen. Mein süßer Nerd. Er liebt Spielzeug noch mehr als seine kleinen Kunden.«

Penny beugte sich vor, wobei ihre Brust den Löffel von der Untertasse beförderte – klirr! »Ihr Mann muss Kinder wirklich lieben, Scarlett.«

»Ja, das stimmt.«

»Und? Haben Sie vor, in nächster Zeit …« Sie schlängelte kurz mit dem Oberkörper.

»Nicht in absehbarer Zeit.«

»Ich verstehe. Kinder sind hier …«

»Sehr beliebt, ich weiß.«

Penny grinste. »Vor allem geliebt! Aber der arme Steve Davies …«

Wieder wirkte Scarlett ausgesprochen interessiert. Das hatte Penny gehofft. Sie könnte stundenlang so weitermachen.

»Steve ist zwar schon erwachsen, aber sein Vater scheint sich gar nicht mehr für ihn zu interessieren. Steve müsste ungefähr in Ihrem Alter sein, Scarlett.«

»Nenn mich Scary. Oder Sca. Aber ohne R.«

Penny konnte ihre Freude kaum verbergen. »Sca! Gerne! Penny ist ja schon mein Kosename, daher ist es unsinnig, ihn dir vorzustellen.« Wieder kicherte sie. »Roger hat den kleinen Steve ganz alleine großgezogen. Seine nichtsnutzige Frau hat ihn vor etlichen Jahren verlassen. Steve war da noch ein kleiner Bub. Dabei war Roger nur etwas niedergeschlagen, weil es mit seiner Karriere als Athlet nicht geklappt hat. Er hatte einen schweren Unfall, musst du wissen. Ein Autounfall, der ihm das linke Knie zertrümmert hat.

Er hat Steve zu einem Athleten erzogen. Der Junge hat das Zeug zum Olympiasieger, so wie es immer Rogers Traum war. Er ist nur ein bisschen … nun, er ist bei den Damen recht beliebt.«

»Er ist die Stadthure, meinst du.«

Penny stutzte. Die ausdruckslose Miene von Scarlett irritierte sie zunächst, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Meine Liebe, du bist wirklich ein Witzbold!«

Scarlett lächelte.

»Er ist zumindest häufig in weiblicher Gesellschaft. Sein Vater dagegen … Seit einer Weile tut ihm die alte Verletzung wieder weh, weil er bei einem Spaziergang gestürzt ist. Ich habe ihm damals aufgeholfen und einen Krankenwagen gerufen. Seitdem hat er sich völlig zurückgezogen. Der arme Mann. Man sieht ihn nur noch, wenn er einkaufen geht. Meistens hat er dann Alkohol in seiner Tasche. Und er ist leider ein wenig paranoid geworden. Vermutlich weil er ein paar Pfunde zu viel hat und ihm das unangenehm ist. Er hatte einen so durchtrainierten Körper.«

»Sehr traurig.«

Penny nickte. Ihr Blick huschte zur Uhr. »Du meine Güte! Meine Schicht fängt bald an, heute habe ich mal keine Frühschicht. Furchtbar!«

Scarlett erhob sich. »Entschuldige, ich wollte dich nicht …«

»Aber nein! Es war mir eine Freude! Du bist eine ganz Liebe, Sca, das müssen wir bald mal wiederholen. Sicher habe ich dann mehr zu tratschen.« Sie zwinkerte.

»Ich hoffe doch.«

Sie verabschiedeten sich und Penny blickte Scarlett hinterher. Eine wunderbare Frau. Sie passte ganz hervorragend in diese Stadt. Wie hatte sie nur etwas anderes denken können? Jetzt schien Sca regelrecht mit St. Pit zu verschmelzen.

Zufrieden schloss Penny die Tür.

 

* * *

 

Scarlett schlenderte die Straße hoch zurück zum Haus. Der Besuch bei Penny war zwar fast körperlich schmerzhaft gewesen, aber sie hatte eine Menge erfahren. Von den ständig streitenden Cliffords hatte sie bereits gewusst, doch ihr war nicht klar gewesen, dass die beiden wegen jeder Kleinigkeit auf die Barrikaden gingen. Perfekt, den Sauberkeitsfimmel von Nora würde sie wunderbar ausnutzen können.

Und dann die Paranoia von Stevies altem Herrn. Besser konnte es doch gar nicht sein. Schnattertante Penny hatte eindeutig Gefühle für Roger Davies. Das war interessant und sie würde es im Kopf behalten. Wer wusste schon, wozu sie dieses Wissen nutzen konnte. Es war immer gut, etwas in der Hinterhand zu haben.

Scarlett vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. Es gab einiges zu tun. Gewartet hatte sie lange genug, jetzt begann der Spaß.

Das erste Opfer stand bereits fest und sie würde sofort alles vorbereiten.

Anschließend konnte sie ein bisschen an ihrem Roman arbeiten.

Kapitel 5 – Fotos

 

Ein einziges Mal hatte Jacob gefragt, woran Scarlett schrieb. Sie hatte gefürchtet, er würde ihr nicht glauben, dass der Inhalt geheim war, schließlich war sie damals gerade erst Scarlett geworden und weniger geübt im Lügen. Es war ihr erstes Date gewesen. Doch er hatte reagiert, wie die meisten Leute nach ihm: Schmollend hatte er es, zumindest vorerst, hingenommen.

Während es alle anderen für gewöhnlich dabei beließen, stellte Jacob in unregelmäßigen Abständen immer wieder neugierige Fragen wie »Kommst du gut voran, Liebling?« oder »Na, wie viele Seiten hast du heute geschafft?«.

Das ließ sich noch schnell und knapp beantworten, doch neuerdings stellte Jacob Fragen über ihren Arbeitsablauf inklusive Fachbegriffe: »Bist du Pantser oder Plotter?«, »Überarbeitest du eigentlich erst ganz am Ende oder schon zwischendurch?«, »Musst du ein Exposé schreiben?«, »Wie steht’s um dein WIP?«.

Scarlett hatte gelächelt, gesagt, ihrem WIP ginge es wunderbar und den Begriff auf ihrem Handy gegoogelt, nachdem Jacob auf die Toilette verschwunden war.

Er hatte sie so nervös gemacht, dass sie tatsächlich begonnen hatte, einen Roman zu schreiben. Anfangs hatte sie keine Ahnung gehabt, wie so etwas vonstattenging, fand mittlerweile jedoch Gefallen daran. Sie schrieb einen Thriller, in dem eine Frau Rache an den Menschen nahm, die ihr in der Vergangenheit übel mitgespielt hatten.

»Der schlechteste Roman seit der Twilight Saga!«, hatte sie Jacob einmal erzählt und beide hatten gelacht, obwohl Scarlett wusste, dass sie damit gar nicht so daneben lag.

Die Geschichte ging ihr leicht von der Hand, schließlich war es ihre, und sie half, ihren Plan noch einmal auf Herz und Nieren zu prüfen. Scarlett hatte nicht vor, das Machwerk jemals jemandem zu zeigen, geschweige denn, es je zu veröffentlichen, doch wer wusste schon, was die Zeit bringen mochte. Vielleicht würde sie eines Tages alle Namen ändern und einen Versuch wagen.

Vorerst verstaute sie ihren Laptop nach getaner Arbeit in einem Safe, für den nur sie die Kombination kannte. Nur um ganz sicherzugehen.

Jetzt holte sie den Computer heraus, legte Kopien der Fotos, die sie eben in den Briefkasten der St. Pit Post geworfen hatte, in den Safe und freute sich schon darauf, am nächsten Kapitel zu arbeiten. Das Schreiben schien ihr wie eine Entspannungsübung. Sie kannte die Handlung, kannte die Figuren und genoss es, letztere zu quälen.

»Armer, armer Jack«, sagte sie mit vorgeschobener Unterlippe. »Es geht los. Der Schneeball rollt den Berg hinab …«, sie klappte den Laptop auf und fuhr ihn hoch, »… und wächst. Und wächst.« Scarlett klickte doppelt auf ihr Textverarbeitungsprogramm mit dem Titel »Rote Rache«, dann hob sie die Hand und ließ die Finger tanzen. »Und ups!« Ihre Handfläche sauste klatschend auf die Tischkante. »Alle plattgewalzt!«

Ein Blick auf die Uhr. Kurz nach Mittag. Zeit genug für die Presse, dem Schneeball einen zusätzlichen Schubser zu geben.

Die Haustür öffnete sich und fiel ins Schloss. »Bin wieder zu Hause!«, rief Jacob. »Ich habe jede Menge Spielzeug dabei!«

»Ich bin oben«, rief Scarlett zurück.

Wenig später kam er die Stufen herauf und klopfte vorsichtig an.

»Komm rein, ich hab noch nicht angefangen.«

Jacob trat ins Büro und gab Scarlett einen Kuss auf den Haaransatz. »Keine Angst, ich schmule nicht, auch wenn ich vor Neugier platze.«

»Braver Junge.«

»Wie war dein Tag? Hast du was Schönes gemacht, während ich unterwegs war?«

»Ich war bei Penny. Wir haben Tee getrunken.«

»Oha, die Sabbeltante? Hast du sie leben lassen?«

Scarlett drehte sich zu ihm um und grinste.

Über Jacobs Gesicht huschte ein besorgter Ausdruck. Sie liebte es, wenn er verunsichert war. Sie hatten sich in dem einen Jahr, in dem sie sich kennengelernt und geheiratet hatten, nicht einmal gestritten und doch brachte sie ihn regelmäßig aus dem Konzept. Es schien, als konnte er manchmal etwas an ihr erkennen, das ihn ängstigte. Er war wie ein Hund, der nicht wusste, ob er getadelt oder gelobt wurde.

Wahrscheinlich hatte sie ihn deswegen ausgesucht. Seine Naivität und Dämlichkeit waren schon fast süß. Beinahe konnte sie ihn gernhaben.

»Wir haben uns nett unterhalten«, sagte sie. »Spannende Dinge über unsere freundlichen Nachbarn.«

»Du meinst, ihr habt gelästert.«

»Penny hat gelästert, ich habe höflich genickt.«

Jacob lachte.

»Und dann habe ich ein bisschen Papierkram erledigt und eingeworfen.«

»Das Exposé, das du wegschicken wolltest? Ist es gut geworden?«

»Super sogar.«

»Also mit Leseprobe?«

Scarlett biss sich kurz auf die Lippen. Sie musste aufpassen. »Ähm, ja, genau.«

»Da wird sich dein Verleger sicher freuen.«

»Oh, mein Schatz«, sie grinste breiter, »er wird aus dem Staunen gar nicht mehr rauskommen.«

 

* * *

 

Jack Griffin war ein angesehener Mann. Der angesehenste in ganz St. Pit, wie er vermutete. Als Politiker und reichster Bürger der Stadt sahen die Leute zu ihm auf, baten ihn um Rat – nicht nur in politischen Dingen. St. Pit legte Wert auf seine Meinung.

Am heutigen Morgen jedoch wurde er misstrauisch beäugt, als er wie üblich seinen Morgenspaziergang unternahm. Niemand grüßte ihn. Grüßte er, schauten die Leute weg. Nie zuvor hatte man gewagt, ihn, Jack Griffin, zu ignorieren! Was war nur in diese törichten Menschen gefahren? Vermutlich hatte Penny Hitchman mal wieder irgendwelche Lügen verbreitet. Dieser lächerlichen Person gehörte das Maul gestopft.

Jack war immer vorsichtig gewesen. Niemand wusste von seinem Ausrutscher vor drei Jahren. Außer seine Frau, doch die scherte sich nicht darum, dazu war Beth viel zu gefangen in ihrer Welt aus Teegesellschaften und perfektem Auftreten. Nun, an seiner Seite hatte sie sich zu benehmen und hübsch auszusehen, schließlich mussten sie einen Ruf wahren. Dafür investierte er auch gerne sein Geld in Schmuck und Kleidung.

Jack wechselte die Straßenseite und ging ein Stück geradeaus. Seinen Regenschirm hatte er wohlbedacht mitgenommen, denn am Himmel taten sich schon wieder die ersten Regenwolken auf. Momentan diente er ihm jedoch als Gehstock. Die Zerrung in der Hüfte, die er sich vor ein paar Jahren zugezogen hatte, schmerzte. Lästige Verletzung. Er hätte eben doch damit zum Arzt gehen sollen, wie Beth es ihm geraten hatte. Aber was hätte er dem erzählt? Im Flunkern war er nie gut gewesen, außer es handelte sich um politische Floskeln. Ging es um sein Privatleben, überließ Jack stets seiner Frau das Reden. Sie war gut darin, Dinge zu verschleiern. Und sie hatte den Grund seiner Verletzung mit Würde getragen.

Er bog in die nächste Seitenstraße ein, an deren Ende der Fischmarkt und der kleine Kiosk warteten, an dem er jeden Morgen seine Zeitung kaufte.

Die Affäre war nur von kurzer Dauer gewesen, keine drei Monate. Es hatte sich toll angefühlt, als fünfzigjähriger Mann mit einer Frau in den frühen Zwanzigern zu schlafen. Regelrecht aphrodisisch. Bis Beth die beiden erwischt hatte. Einfach nur dagestanden hatte sie, ohne die Miene zu verziehen. Jack war aus dem Bett gesprungen und hatte sich dabei heftig die Hüfte verdreht.

In den darauffolgenden Tagen hatte er sich eher wie ein Mann in den Siebzigern gefühlt. Beth hatte ihm schweigend zur Seite gestanden, nicht ein Wort hatte sie über seinen Ausrutscher verloren. Sie war eine gute Ehefrau, das war Jack in jener Zeit klar geworden und er hatte die Affäre sofort beendet.

Beth war schon immer sehr stark gewesen. Sogar nachdem Leila verschwunden war und sie ihren Brief in Händen gehalten hatte, hatte er sie nur einmal weinen sehen. Eine einzelne Träne, die über ihre Wange gelaufen war. Dann hatte sie sie weggewischt, sich das Haar gerichtet, und ihre Gäste begrüßt.

Auch er hatte nicht eine Träne verschwendet. Sie hatten stets ihr Bestes gegeben, das Kind zu erziehen. Doch es war störrisch gewesen und letztlich davon gerannt. Leila wusste gar nicht, was sie ihren Eltern damit angetan hatte.

Oder doch? Möglicherweise war es ihre Absicht gewesen, dem Ansehen der Familie zu schaden. Über einen Monat lang waren sie das Stadtgespräch gewesen.

Jack spannte den Regenschirm auf. Aus einzelnen Tropfen wurde schlagartig ein Schauer. Der Regen trommelte auf Schirm und Pflastersteine.

Er seufzte. Ständig dieselben Gedanken. Jeden Morgen trauerte er dem jugendlichen Körper von Harper hinterher, erinnerte sich an die Pflicht seiner Frau gegenüber und verfluchte seine undankbare Tochter. Ob dieser Kreislauf je ein Ende nehmen würde?

»Guten Morgen«, sagte er zu Robert und Joann Lewis, die die Nasen in eine frisch gekaufte Zeitung steckten.

Joann, die auf einen Artikel gezeigt hatte, faltete die St. Pit Post zusammen. Beide nickten stumm und Joann schob den Rollstuhl ihres Mannes Richtung Markt. Beeilte sie sich etwa, von ihm wegzukommen?

Jack starrte ihnen hinterher, dann wandte er sich dem Kioskbesitzer zu. »Heute scheinen alle den Verstand verloren zu haben.«

»Wie Sie meinen, Sir.«

»Das Übliche, bitte.«

»Sehr wohl, Sir.«

Der Mann reichte Jack eine St. Pit Post und einen Kaffee.

Er hatte ein seltsames Gefühl, drückend wie eine dunkle Vorahnung. Normalerweise las er die Zeitung erst nach seinem Spaziergang, doch eine leise Stimme sagte ihm, er solle sofort einen Blick hinein werfen. Er zog das Gummiband von der zusammengerollten Zeitung, entfaltete sie und setzte den Kaffeebecher an die Lippen. Mitten in der Bewegung hielt er inne. Auf der Titelseite prangte ein Foto von ihm und Harper in seinem Ehebett. Das Bild war von seinem Garten aus durchs Fenster aufgenommen worden und zeigte die beiden in sehr eindeutiger Pose. Mit angestrengtem Gesichtsausdruck hatte er den Kopf in den Nacken gelegt. Rotlackierte Fingernägel krallten sich in seine Oberarme. Langes, brünettes Haar breitete sich über das Kopfkissen aus. Harper verzog den Mund zu einem lustvollen Stöhnen – ihr Gesicht war klar erkennbar.

Jack ließ den Kaffeebecher fallen.

 

* * *

 

»Ich dachte, die Sache wäre vorbei, Jack!«

Nie zuvor hatte er Beth so außer sich erlebt. Ein paar dunkelbraune, silbrig durchzogene Strähnen hatten sich aus ihrer sonst stets perfekten Hochsteckfrisur gelöst und fielen ihr ins Gesicht, was ihr einen wilden, beinahe wahnsinnigen Ausdruck verlieh.

»Es ist vorbei! Seit drei Jahren schon! Ich weiß nicht, wo dieses Foto herkommt oder wer es geschossen haben könnte.«

»Du verdammter Lügner!«

»Ich lüge nicht. Beth, du musst mir glauben. Irgendjemand erlaubt sich einen Streich.«

Beth schnaubte. »Einen Streich, ja? Gerade erst haben die Frauen aufgehört, mich ständig nach Leila zu fragen. Endlich fühlen sich meine Gesellschaften wieder wie früher an, als wir noch nicht die Rabeneltern des Jahrtausends waren. Endlich musste ich mal nicht um unser Ansehen kämpfen. Und dann kommst du und vögelst diese Schlampe!«

Jack fuhr bei der Wut in ihrer Stimme zusammen. »Ich habe keine Affäre mit ihr!«

Jetzt lächelte sie, was Jack noch mehr beunruhigte. »Natürlich«, sagte Beth. »Ich hätte mich von dir scheiden lassen sollen, wie meine Mutter es mir auf dem Sterbebett geraten hat. Nein, warte, ich hätte dich gar nicht erst heiraten sollen.«

»Aber Beth, das kannst du nicht tun! Was werden die Leute sagen?«

Sie lachte auf. »Das ist alles, woran du denkst, nicht wahr? Dein ach so guter Ruf. Ich verrate dir was, mein Schatz. Seit Leila weg ist, tuscheln die Leute über uns. Seit sie weg ist, bist du kein angesehener Mann mehr.«

»Das ist nicht wahr!« Am liebsten hätte er ihr eine Ohrfeige verpasst, doch seine gute Erziehung erlaubte so etwas nicht.

»Du bist so verblendet.« Sie wandte sich ab.

»Wo willst du hin! Beth, du bleibst hier, hast du verstanden? Wage es nicht, mir den Rücken zu kehren. Ich bin dein Mann!«

Beth blieb stehen und drehte sich zu ihm um. »Ein toller Mann bist du.« Erneut wandte sie sich ab und schritt zur Haustür.

Jack folgte ihr. »Beth! Elizabeth! Du verlässt nicht dieses Haus! Jemand hat sich vor drei Jahren in unseren Garten geschlichen, um uns jetzt zu schaden. Wir müssen herausfinden, warum dieser jemand so lange gewartet hat. Beth!«

»Ja, schrei nur weiter. Das hilft uns sicherlich.« Sie öffnete die Haustür.