Déjà-vu des Teufels - Chris MARTIN - E-Book

Déjà-vu des Teufels E-Book

Chris MARTIN

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Beschreibung

Ulrich Mekinsky ist ein Star unter Wiens Strafverteidigern. Aalglatt und skrupellos setzt er sich für Mörder, Diebe, Neonazis und – wie in seinem jüngsten Fall – sogar für Teufelsanbeter vor Gericht ein. Und er verliert nie. Aber der Ruhm hat seinen Preis. Mekinsky ist Alkoholiker… Betrunken verursacht er einen Verkehrsunfall, der seiner geliebten Tochter Lisa das Leben kostet. Seine Frau zerbricht seelisch daran, seine berufliche Karriere steht vor dem Aus und die Selbstvorwürfe drohen ihn aufzufressen. Da bietet sein letzter Mandant, ein Satanspriester, einen Hoffnungsschimmer. Das Taj-nu, ein ebenso gefährliches wie grausames Ritual der Teufelsanbetung, soll das Geschehene ungeschehen machen. Mekinsky unterwirft sich der grausamen Zeremonie, die ihm das Letzte abverlangt – und erwacht unmittelbar vor dem Unfall. Mit dem Wissen, was passieren wird, kann Mekinsky diesmal den Unfall vermeiden und seine Tochter bleibt am Leben. Aber das neugewonnene Glück hat seine Schattenseiten. Lisa verändert sich zunehmend. Menschen im Umfeld der Mekinskys kommen unter fragwürdigen Umständen ums Leben – und immer wieder scheint Lisa eine Rolle zu spielen. Nur langsam dämmert es Mekinsky, was er angerichtet hat. Aber ist es schon zu spät? Nimmt das Deja-vu des Teufels bereits seinen grausamen Verlauf…?

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Chris MARTIN

Déjà-vu des Teufels

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.Akt

1. Tag; Montag, 2. September 2012

2. Tag; Dienstag, 3. September 2012

3. Tag; Mittwoch, 4. September

7. Tag; Montag, 10. September 2012

8. Tag; Dienstag, 11. September 2012

14. Tag; Montag, 17. September 2012

16. Tag; Mittwoch, 19. September 2012

2. Akt

17. Tag; Donnerstag, 20. September

18. Tag; Freitag, 21. September

19. Tag; Samstag, 22. September

20. Tag; Sonntag, 23. September

21. Tag; Montag, 24. September

22. Tag; Dienstag, 25. September

23. Tag; Mittwoch, 26. September

24. Tag; Donnerstag, 27. September

25. Tag; Freitag, 28. September

26. Tag; Samstag, 29. September

28. Tag; Montag, 1. Oktober

29. Tag; Dienstag, 2. Oktober

30. Tag; Mittwoch, 3.Oktober

3. Akt

16. Tag – Neu; Mittwoch, 19. September 2012

17. Tag – Neu; Donnerstag, 20. September 2012

18. Tag – Neu; Freitag, 21. September 2012

21. Tag – Neu; Montag, 24. September 2012

22. Tag – Neu; Dienstag, 25. September 2012

23. Tag – Neu; Mittwoch, 26. September 2012

24. Tag – Neu; Donnerstag, 27. September 2012

25. Tag – Neu; Freitag, 28. September 2012

28. Tag – Neu; Montag, 1. Oktober 2012

29. Tag- Neu; Dienstag, 2. Oktober 2012

30. Tag – Neu; Mittwoch, 3. Oktober 2012(Der Tag des Taj-Nu in der „Alten Zeit“)

Impressum

1.Akt

1. Tag; Montag, 2. September 2012

„Meine Damen und Herren Geschworenen, Hohes Gericht, meine sehr verehrte Frau Staatsanwältin. Wir haben nun mehr als ausführlich gehört, wie die Staatsanwaltschaft das Verbrechen meines Mandanten bewertet, wie ach so bestialisch mein Mandant zu Werke ging und welch enorme Gefahr für die Gesellschaft von ihm ausgeht und in Zukunft von ihm ausgehen wird.“

Dr. Ulrich Mekinsky legte eine schöpferische Pause ein und blickte sich im Großen Schwurgerichtssaal des Wiener Landesgerichtes um. Wie ein Raubtier seine Beute mustert, bevor es zuschlägt, so nahm der große, dunkelhaarige Mittvierziger in seinem exquisiten Hugo Boss-Anzug jede Regung der Anwesenden in sich auf. Der Vorsitzende der drei Berufsrichter, Dr. Peter Hartmann, der leicht gelangweilt dem Geschehen zu folgen versuchte, die Staatsanwältin Dr. Theresa Mühlbacher, jung, adrett, ohne aber wirklich hübsch zu sein – die acht Geschworenen, das Opfer und natürlich sein Mandant, der wegen Körperverletzung und Wiederbetätigung angeklagte Neonazi Gustav Brunner.

„Wir haben gehört, dass Herr Brunner am 5. Mai diesen Jahres Herrn Achmed Ben Khaheli vor der Discothek „Passage“ beleidigt und geschlagen hat“, fuhr Mekinsky fort, „und all das bestreitet auch niemand, aber …“, wieder legte der Anwalt eine kurze Pause ein und blickte dabei bewusst und herausfordernd in die Reihen der Geschworenen, „.. haben wir hier wirklich alle Facetten des Falles berücksichtigt? Die Kollegin von der Staatsanwaltschaft sieht in meinem Mandanten einen Schwerverbrecher, einen angehenden Killer, der auf alles Fremde reflexartig reagiert. Ich hingegen sehe einen jungen Mann von gerade einmal achtzehn Jahren, der in seinem Leben mehr erdulden musste, als wir alle uns hier vorstellen können. Die Staatsanwältin sieht in meinem Mandanten einen neuen Himmler, Goebbels oder gar einen neuen Führer – ich sehe einen jungen Mann, der, ohne je Liebe, Zuneigung oder Wertschätzung erhalten zu haben, in eine Gruppe geriet, die für ihn eine Art Familie geworden war.“ Mekinsky legte erneut eine Pause ein, trank einen Schluck Wasser aus dem vor ihm stehenden Glas und wandte sich wieder den Geschworenen zu.

„Meine Damen und Herren. Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen und ich möchte, dass Sie sich in diese Geschichte hineinversetzen. Erinnern Sie sich bitte an ein schönes Weihnachtsfest ihrer Jugendzeit. An Vater und Mutter, an die Geschenke, den weihnachtlichen Geruch, der sich von der Küche aus durch die ganze Wohnung verbreitete. Erinnern Sie sich an das gemeinsame Stille-Nacht-Singen, an die Sprühkerzen auf der Silbertanne und an den Geschmack des Weihnachtskarpfens. Mein Mandant hat all dies zu Weihnachten nie gehabt. Er musste für seine zwei Brüder sorgen, weil seine Mutter gerade wieder einmal unterwegs war, um irgendeinem geilen Bock für ein paar Euro einen zu blasen …“

„Herr Anwalt, ich möchte Sie höflich bitten, Ihre Wortwahl der Würde dieses Hauses anzupassen, wenn das für Sie nicht zu viel Mühe macht“, unterbrach der Richter spöttisch.

„Verzeihung, Euer Ehren, aber es ist nun einmal die Wahrheit.“ „Wahr ist auch, dass ich solche Ausdrücke in meinem Gerichtssaal nicht zulassen werde, haben wir uns verstanden?“

„Natürlich, Euer Ehren, tut mir aufrichtig leid. Also zurück zum typischen Weihnachtsfest meines Mandanten. Während also seine Mutter nicht da war, musste er sich um seine Brüder kümmern. Kein Spielen, kein warmes Essen, kein gemeinsames Singen – dafür aber die Angst, dass jederzeit sein alkoholkranker Stiefvater heimkommen könnte und es, wie so oft, wieder Prügel für alle geben würde.“

Die Staatsanwältin kämpfte sichtlich damit, ihm nicht ins Wort zu fallen und Mekinsky fuhr auch schon fort.

„Bewiesen, Euer Ehren, durch diese aktenkundigen Anzeigen bei der Bundespolizeidirektion Wien – insgesamt sechsundzwanzig Stück in einem Zeitraum von etwa viereinhalb Jahren.“ Er hielt eine Heftmappe in die Luft und drehte sich einmal im Kreis, damit auch jeder mitbekam, wie umfangreich dieser Akt tatsächlich war.

„Und diese Prügel waren kein perverses Weihnachtsgeschenk. Nein, diese Prügel waren der Alltag für Gustav Brunner. In der Schule war es nicht anders, darüber hat der Sachverständige ausführlich berichtet. Und ich habe keine Zweifel an dem, was wir gehört haben.“

Mekinsky legte erneut eine Pause ein, strich sich mit der Hand über das perfekt rasierte Kinn und stellte fest, dass seine Worte die Geschworenen berührt oder zumindest nachdenklich gemacht hatten.

„Aber dann erschien ein Licht am Ende des Tunnels im Leben meines Mandanten“, setzte Mekinsky fort, „er traf auf die „White Warriors“, eine Neonazi-Gruppierung nach Einschätzung des Staatsschutzes, aber eine neue Heimat für meinen Mandanten. Endlich Anerkennung, endlich Gemeinsamkeiten und, im Hinblick auf die Zeugin Nicole Trettner, auch so etwas wie die erste Liebe. Mein Mandant, meine Damen und Herren Geschworenen, hatte erstmals einen Platz im Leben, einen Ort, an dem er sich akzeptiert fühlte. Natürlich wissen wir hier alle, dass es der denkbar falscheste Ort war. Aber wie, frage ich Sie, hätte das ein Junge von gerade einmal vierzehn Jahren wissen sollen? Die Lebenseinstellung seiner Freunde wurde zu seiner eigenen. Und als man ihm klarmachte, dass in den Augen der „White Warriors“ Ausländer Abschaum sind, war er bereit, seinen falschen Freunden Glauben zu schenken. Wenn Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, absolut sicher sind, dass Sie anstelle meines Mandanten anders gehandelt hätten, dann – aber bitte nur dann – sprechen Sie meinen Mandanten der Wiederbetätigung schuldig. Ansonsten beantrage ich für die begangene und - nebenbei - eingestandene Körperverletzung eine bedingte Strafe von nicht mehr als sechs Monaten und zusätzlich 40 Stunden sozialer Dienst in einer noch zu bestimmenden Einrichtung. Ich danke Ihnen.“

Bei Mekinskys Schlussworten setzte wieder reges Gemurmel im Gerichtssaal ein. Er merkte, dass sein Plädoyer den gewünschten Eindruck bei den Geschworenen hinterlassen hatte. Mit ernster Miene, aber innerlich belustigt, schritt er würdevoll zu seinem Tisch, legte Brunner wie mitfühlend die Hand auf die Schulter und setzte sich neben seinen Assistenten Markus Kienzl.

„Die Damen und Herren Geschworenen haben nun beide Seiten gehört,“ stellte Richter Hartmann fest, „bitte wägen Sie in Ihrer nun folgenden Juryberatung alle Argumente, Zeugenaussagen und Beweise nach bestem Wissen und Gewissen ab und treffen Sie danach Ihre Entscheidung. Gerichtsdiener, begleiten Sie die Geschworenen in das Beratungszimmer.“

Der Gerichtsdiener erhob sich und lotste die Geschworenen aus dem Saal. Mekinskys Blick kreuzte zufällig jenen von Ben Khaheli, das Opfer Brunners Gewalttätigkeiten, und der Anwalt konnte dessen Verachtung fast körperlich spüren. Schnell drehte er sich zu seinem Assistenten um.

„Lust auf einen Cappuccino, Markus?“

„Klar, wenn Sie zahlen.“

„Aber sicher. Schöne Erfolge soll man doch gebührend feiern, findest du nicht?“

„Was macht Sie so sicher, dass die Sache durch ist?“, fragte der Assistent, während er die Unterlagen in seinem Aktenkoffer verstaute und seinem Chef nachhetzte. Mekinsky hatte schon zwei Schritte Vorsprungblieb aber abrupt stehen. In der vorletzten Reihe saß ein Mann, dessen äußere Erscheinung nirgendwo unpassender erschien als in einem Wiener Gerichtssaal. Der Mann trug ein Stirnband mit seltsamen, rotgelben Symbolen, ähnlich jenen, die von Indianern oder Hippies getragen werden. Sein langes, schmutziggraues Haar umrahmte ein wettergegerbtes, braungebranntes Gesicht, dem nur schwer ein genaues Alter zuzuordnen war. Das weiße Hemd umhüllte einen schlanken, drahtigen Körper, der so im Widerspruch zum Gesicht des Mannes stand wie die Sonne zum Mond. Mit stechendem Blick aus schwarzen Augen, die ebenso gut ein Tor direkt in die Hölle sein konnten, musterte der Mann den Anwalt.

„Gut gemacht, Staranwalt“, wandte sich der Fremde an Mekinsky, „beeindruckend, wie Sie sich für Ihren Mandanten einsetzen.“

„D-Danke“, erwiderte Mekinsky verwirrt. Die Anrede Staranwalt irritierte ihn. Okay, er war ein Staranwalt. Mit allen Facetten, die dazugehörten. Aber er verbot jedem, ihn so zu nennen, auch wenn es ihm insgeheim schmeichelte. In seiner Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner jedenfalls kam diese vermeintliche Bescheidenheit gut an. Wie, zum Teufel, kam der Alte dazu, ihn so zu nennen? Ehe er sich ein genaueres Bild machen konnte, schob ihn Markus weiter.

„Wir sollten uns beeilen, sonst bleibt nur ein Stehkaffee“, drängte Markus. Das Argument zog. Hastig schritten die beiden Juristen Richtung Cafeteria, wo sie gerade noch den letzten freien Tisch ergattern konnten.

„Zwei Cappuccino, Claudia“, bestellte Mekinsky in Richtung Theke und wandte sich an seinen Assistenten. „Hast du den Alten mit dem Stirnband und den grauen Haaren gesehen?“

„Nein, was ist mit dem?“

„Nichts – aber der hat mich angesehen, als würde er mich fressen wollen und nannte mich Staranwalt.“

„Na und – Sie sind doch einer“, grinste Markus frech.

„Willst du deinen Kaffee aus der Schnabeltasse schlürfen?“

Markus Kienzl schmunzelte, was den spitzbübischen Ausdruck seines jungen Gesichtes noch verstärkte. Er war Ende zwanzig, groß gewachsen, etwas schlaksig, aber durchaus der Typ Mädchenschwarm. Ein Image, das ihm bei Griess, Mekinsky & Partner auch durchaus anhaftete, obwohl niemand je einen Beweis für die Richtigkeit gehabt hätte. Das Du-Sie-Verhältnis zwischen seinem Chef und ihm ging darauf zurück, dass Mekinsky seinen Assistenten von Anfang an duzte und Kienzl das Du-Wort erst dann zugestehen wollte, wenn dieser einen entscheidenden Hinweis in einem Fall beigesteuert hätte. Markus Kienzl nahm es mit Ironie, denn in der Realität hatten schon einige Fälle des Chefs durch ihn einen oft unerwarteten positiven Ausgang genommen.

Die beiden Anwälte diskutierten, während sie ihre Getränke konsumierten, über eine neue Idee der Wiener Grünen betreffend Verkehrspolitik und waren sich alsbald einig, dass es sich dabei um kompletten Schwachsinn handelte.

„Ich bin gespannt, wie sich die Jury entscheidet“, wechselte Kienzl das Thema, „die Geschworenen haben nach Ihrem Plädoyer auf mich mehrheitlich überzeugt gewirkt.“

„Kann man nie wissen, aber in Kürze sind wir schlauer.“ Wie auf ein geheimes Zeichen hin ertönte eine Glocke in der kleinen Cafeteria, die signalisierte, dass die Verhandlung fortgesetzt wurde. Mekinsky legte fünf Euro auf den Tisch und die beiden Juristen begaben sich in den Gerichtssaal zurück. Beim Eintreten ertappte sich Mekinsky dabei, wie er als erstes dorthin blickte, wo vorhin der Fremde gesessen hatte. Doch der Platz war leer.

Brunner wurde von zwei Justizwachebeamten hereingeführt und nahm zwischen seinen Verteidigern Platz. Mekinsky und Kienzl versuchten aus den Gesichtern der Geschworenen abzulesen, wie es gelaufen sein könnte, doch die meisten blickten nur starr zu Boden.

„Sehr geehrte Damen und Herren, erheben Sie sich bitte für die Urteilsverkündung“, forderte der Gerichtsdiener und alle im Saal leisteten, von Spannung erfüllt, Folge. Richter Hartmann eröffnete das Finale.

„Meine Damen und Herren Geschworene, sind Sie zu einem Urteil gekommen?“

Der Vorsitzende der Geschworenen erhob sich.

„Ja, Euer Ehren, das sind wir.“

Der Gerichtsdiener schritt würdevoll zur Geschworenenbank, wo ihm der Vorsitzende ein Stück Papier überreichte. Der Beamte gab es an den Richter weiter. Hartmann setzte sich die Lesebrille auf, faltete das Schriftstück auseinander und verkündete: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Herr Gustav Brunner ist schuldig der fahrlässigen Körperverletzung gemäß § 88 des österreichischen Strafgesetzbuches. Herr Brunner ist weiter betreffend die Anklage nach dem Verbotsgesetz 1947– Wiederbetätigung – nicht schuldig.“ Heftiges Stimmengemurmel setzte ein. Ben Khaheli stieß einen Schrei aus und sprang, wie viele andere auch, auf.

„Ruhe im Saal, Ruhe!“, forderte Richter Hartmann, und zum Zeichen des Nachdrucks hämmerte er lautstark auf seine Tischplatte. „Ruhe, oder ich lasse den Saal räumen!“

Brunner fiel Mekinsky in die Arme, und Kienzl folgte seinem Beispiel. Die drei Männer hinter dem Tisch der Verteidigung benahmen sich wie Fußballspieler nach dem erlösenden Tor.

„Gustav Brunner wird daher zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, davon drei zur Bewährung ausgesetzt, verurteilt“, verkündete der vorsitzende Richter weiter. „Die verbüßte Zeit in der Untersuchungshaft wird angerechnet. Gegen dieses Urteil kann binnen vierzehn Tagen schriftlich Berufung erhoben werden. Damit ist die heutige Sitzung beendet.“

Der Hammer sauste wie zur Bestätigung auf die Tischplatte des Richters und wirkte wie ein Signal. Brunner löste sich von seinem Anwalt und dieser erkannte Tränen in den Augen des Neonazis. Dieser hartgesottene Mann, der keinerlei Skrupel kannte, einen anderen Menschen nur wegen dessen Herkunft zu verprügeln, hatte tatsächlich feuchte Augen. Angewidert wandte sich Mekinsky ab, zog Kienzl hinter sich her und kämpfte sich durch die Menge der Prozessbesucher Richtung Ausgang.

„Dafür möge der Teufel Sie verfluchen und Ihre Seele in die ewige Verdammnis stürzen!“, schrie Ben Khaheli Mekinsky nach. Der tat so, als höre er nichts und schlüpfte, Kienzl wie einen treuen Hund im Schlepptau, aus dem Gerichtssaal. Die beiden Anwälte hasteten durch einen Nebenausgang aus dem Gerichtsgebäude, überquerten die Alserstraße und näherten sich der Tiefgarage.

„Kann ich mir noch schnell Zigaretten besorgen?“, fragte der Assistent.

„Gut, wir treffen uns dann hier. Ich hole inzwischen den Wagen.“

Mekinsky ging durch die Treppe ins Untergeschoß des Parkhauses, zahlte am Ticketautomaten und fuhr mit dem Lift in Ebene -4. Er verließ den stickigen Lift, orientierte sich kurz und wandte sich dann nach links. Am Morgen, unter der Anspannung des auf ihn zukommenden Prozesses, hatte er nicht auf die Parkplatznummer geachtet. Jetzt blieb nur Suchen, aber zum Glück war das Parkdeck nicht all zu dicht besetzt.

„Kompliment, Staranwalt, ER ist zufrieden mit dir.“ Mekinsky fuhr herum, sah aber weit und breit niemanden.

„Hallo, ist da jemand? Wer ist da?“

Nichts. Totenstille. Nur das leise Surren der Lüftung. Vier Stockwerke unter der Erde. Eine eigene Welt.

Ich glaube, ich bin überarbeitet.

„Hallo!“, versuchte es Mekinsky nochmals. Keine Antwort. Er drückte die Fernbedienung seines Wagens und die Blinker einer schwarzen Mercedes S-Klasse, nur wenige Meter von ihm entfernt, flackerten auf. Hastig öffnete er die Fahrertür, warf seinen Aktenkoffer in den Fond und stieg ein. Mit einem Kavalierstart katapultierte sich der Mercedes aus der Parklücke und raste die Auffahrt Stockwerk um Stockwerk empor.

Mekinsky konnte sich plötzlich wieder erinnern, wem diese Stimme gehörte.

Dem alten Mann mit dem Stirnband aus dem Gerichtssaal!

Der Fremde wurde ihm, je länger er an ihn dachte, immer unheimlicher. Und der Umstand, dass er ihn in einer menschenleeren Parkgarage gehört, aber nicht gesehen hatte, trug auch nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Oben angekommen musste er heftig bremsen, um seinen Assistenten nicht anzufahren.

„He, nicht so hurtig, was ist denn in Sie gefahren?“, fragte Kienzl während er einstieg, ersparte sich aber jeden weiteren Kommentar als er das aschfahle Gesicht seines Chefs sah.

„Nichts, alles okay“, log Mekinsky, „fahren wir ins „Känguruh“. Zur Feier des Tages gönnen wir uns ein gutes, kühles Bier.“ Kienzl erwiderte nichts. Er wusste, dass es bei seinem Boss selten bei einem Bier blieb, schon gar nicht nach einem Erfolg vor Gericht. Mekinsky steuerte schweigend den Mercedes in Richtung des Lokals. In Gedanken war er immer noch bei dem alten Mann aus dem Gerichtssaal. Kienzl dachte an einen schönen Abend mit seiner Freundin Elisabeth, den er wohl heute vergessen konnte, außer, Mekinsky kam irgendwann auf die Idee, allein weitertrinken zu wollen. Dass Mekinsky das Känguruh-Pub nüchtern verlassen würde, war unwahrscheinlicher als ein Weltmeistertitel für die österreichische Fußballnationalmannschaft.

Kienzl hatte die rettende Idee, als Mekinsky vor dem Pub in der Bürgerspitalgasse umständlich einparkte.

„Was halten Sie davon, wenn wir Bettina und Claudia herbestellen?“, fragte er scheinbar harmlos, „nette Damen an einem Tag zum Feiern haben noch nie gestört, oder?“

„Gute Idee. Sag den beiden, sie sollen sich ein Taxi nehmen und so rasch es geht herkommen. Ausreden gelten nicht“, antwortete Mekinsky gönnerhaft. Kienzl rief in der Kanzlei an und lud die beiden Gehilfinnen ein.

Die Anwälte nahmen in dem dunkel getäfelten Bier-Pub an einem Ecktisch Platz. Irische Folklore drang aus einer unsichtbaren Lautsprecherbox. Dezent, aber doch irgendwie die Stimmung des Lokals mittragend. Kienzl steckte sich eine Marlboro-Light an, Mekinsky zupfte an seiner Krawatte und nahm sie schließlich ab.

Das Pub unweit des Raimund-Theaters war noch nicht wirklich gut besucht. Ein paar Tische weiter unterhielten sich einige Studenten lautstark über einen schrulligen Professor, nahmen aber von den Anwälten keinerlei Notiz.

„Tag, die Herren, was darf´s denn sein?“, fragte Ritchie, der Kellner des Pubs, freundlich. Der Stammgast Mekinsky bedeutete für ihn Umsatz und Trinkgeld der Extraklasse. Zumindest dann, wenn dieser einen Fall gewonnen hatte. Er reichte die Karte, die beide Anwälte aber nicht nahmen.

„Ein großes Murauer“, orderte Kienzl.

„Und für mich ein Chimay Bleue“, fügte Mekinsky hinzu. Ritchie wusste nun, dass der Topanwalt einen Sieg errungen hatte.

Wann immer dem so war, bestellte Mekinsky das schwarze, belgische Trappistenbier - und meist blieb es nicht bei einem. Der Strafverteidiger liebte das exotische Bier, dass ursprünglich nur in den Niederlanden und in Belgien von Mönchen gebraut wurde. Irgendwo hatte Mekinsky vor kurzem gelesen, dass nun auch Trappistenmönche in Oberösterreich das Recht erhalten hatten, dieses rare Bier herzustellen. Aber er hatte sich den Ort nicht gemerkt.

Die beiden Männer unterhielten sich über Belangloses, Mekinsky bestellte ein weiteres Trappistenbier und schließlich trafen die beiden Mitarbeiterinnen der Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner ein.

Bettina Hofer war Mitte zwanzig, elegant, aber nicht protzig gekleidet und verfügte nach Meinung Mekinskys über das charmanteste Lächeln überhaupt. Ihr schwarzer Pagenschnitt passte hervorragend zu ihrem Jungmädchengesicht. Optisch das Gegenteil dazu bildete Claudia Trinkl: etwas älter als ihre Kollegin, Typ Business-Blondine. Ihr Stil war eleganter, ihre Art zu sprechen distanzierter. Trinkl war erst seit kurzem in der Kanzlei beschäftigt, Mekinskys Partner Gernot Griess zugeteilt, aber sie bildete mit ihrer Kollegin trotz der Unterschiede schon jetzt ein gutes Team. Kienzl und sein Boss nannten die beiden unter sich „Black & White“, hüteten sich aber, diese scherzhafte Bezeichnung gegenüber anderen Kollegen laut auszusprechen.

Ritchie brachte unaufgefordert zwei Vodka-Red Bull, ein weiteres Chimay Bleue und schaute Kienzl fragend an, der nur stumm verneinte.

„Mädels, schön, dass ihr da seid“, ergriff Mekinsky das Wort, „ich darf verkünden: Der Fall Brunner ist positiv abgeschlossen.“ Die beiden Sekretärinnen applaudierten synchron und spontan.

Mekinsky erhob sich und rief in den Raum: „Ein Hoch auf unsere Justiz – ein dreifaches Hoch – hoch, hoch, hoch!“ Die anwesenden Studenten ignorierten ihn, aber Kienzl zog seinen Chef trotzdem auf den Sessel zurück.

„Wie haben Sie es denn geschafft, das Ekelpaket raus zu pauken?“, fragte Bettina neugierig.

„Der Chef hielt ein Plädoyer, da griffen die Geschworenen samt Berufsrichter zum Taschentuch“, warf Kienzl schmunzelnd ein, „das hättet ihr sehen sollen.

„Naja, er ist und bleibt unser Staranwalt“, stellte Claudia fest. Mekinsky erstarrte. Wieder fiel ihm der alte Mann ein.

„Was haben Sie eben gesagt?“, fragte er nach. Claudia schaute Mekinsky nur verlegen an. „Ich bin verdammt noch mal kein Staranwalt, ist das klar?“

„Tut mir leid, Herr Doktor, ich wollte nicht …“, stammelte Claudia.

„Schon okay, alles in Ordnung“, bremste Mekinsky seinen eigenen Wutausbruch, besänftigt auch durch den Nachschub an Bier, den Ritchie vor ihm abstellte. Die Gruppe unterhielt sich noch über belanglose Themen und Bettina erzählte ihrem Chef, dass er morgen einen Termin mit einem neuen Klienten habe, dem ein Prozess wegen Satanismus bevorstand.

„Nur gut, dass ich heute mit Mönchsbier meine Immunität gegen die Teufelskinder gestärkt habe“, lachte Mekinsky.

Die gute Stimmung nutzend, verabschiedete sich Kienzl. Offiziell, um ins Bett zu gehen, in Wahrheit aber, um zu seiner Freundin zu fahren. Auch die beiden Mädchen verließen Mekinsky, der, nun allein, noch ein Fluchtbier bestellte.

Danach beglich er die Rechnung von sechsundachtzig Euro gönnerhaft mit einem Hunderter und verließ das Pub.

Schwankend näherte er sich seinem Wagen, zupfte einen Strafzettel von der Windschutzscheibe und warf ihn achtlos auf die Straße. Er startete den Mercedes und fuhr Richtung Oberlaa zu seinem Haus. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sein Alkoholkonsum weit über dem erlaubten Maße für das Lenken eines Fahrzeuges lag. Seine Gedanken kreisten vielmehr um das, was Bettina vorhin erzählt hatte.

Satanisten. Teufelsanbeter. Was können die wohl schon großartiges angestellt haben?

Beim Matzleinsdorfer Platz kontrollierten zwei Polizisten vorbeifahrende Autos, waren aber zu beschäftigt mit anderen Lenkern, um Mekinsky gefährlich werden zu können. Unbehelligt kam er bis zu seinem Haus, parkte den Mercedes in der Garage und begab sich ins Innere. Er machte kein Licht, um seine Frau Katrin und Lisa, seine Tochter, nicht zu wecken. Über die Treppe im großen Wohnraum schlich er in den ersten Stock, öffnete die Badezimmertür, zog sich aus und stieg in die Dusche. Das heiße Wasser rann über seinen noch immer durchtrainierten, solarium-gebräunten Körper. Mit sich und der Welt zufrieden stieg Mekinsky aus der Dusche, trocknete sich komplett ab und verharrte vor dem mannshohen Spiegel.

Nach ausgiebiger Selbstmusterung verließ er das Badezimmer, schlich zu Lisas Zimmer, öffnete es leise und sah von der Tür aus seine Tochter schlafend im Bett liegen. Lisa war sein ein und alles. Für sie würde er alles tun. Sie war nun schon fast siebzehn, praktisch eine voll erblühte Frau. Daran konnte auch ihr oftmals mädchenhaftes Gehabe nichts ändern. Es war ihm klar, dass der Tag, an dem sie selbst eine Familie gründen und damit ein eigenes Leben jenem bei Katrin und ihm vorziehen würde, bald anstehen würde. Obwohl er noch nie etwas davon mitbekommen hatte, war ihm auch bewusst, dass Lisa schon jetzt von Verehrern heftig umschwärmt wurde. Aber wer konnte es den jungen Männern verübeln? Ihre langes, blondes Haar, ihr feengleiches Gesicht und die von ihrer Mutter geerbte perfekte Figur ließen wohl viele Männerherzen höher schlagen. Dazu kam ihre natürliche, charmante und herzliche Art. Der Umstand, dass sie aus einer angesehenen und wohlhabenden Familie kam, wirkte sich vermutlich auf potentielle Verehrer auch nicht unbedingt negativ aus.

Mekinsky schloss leise die Tür und ging Richtung Schlafzimmer. Bevor er eintrat, blickte er noch auf seine Rolex Submariner.

Halb zwei Uhr früh. Ihn plagte ein kurzer Anflug von schlechtem Gewissen, ehe er die Tür öffnete und hineinging. Katrin schlief schon und er legte sich rasch ins Bett, küsste seine Frau auf die nackten Schultern und raunte ihr ein „Gute Nacht, Schatz“, zu.

Katrin murmelte „Wäh, du hast getrunken!“ - Mekinsky schlief in der Sekunde ein.

2. Tag; Dienstag, 3. September 2012

„Hallo, Daddy!“, begrüßte Lisa ihren Vater gut gelaunt und ließ sich in den Beifahrersitz des Mercedes fallen. Sie küsste ihren Vater links und rechts und verzog sofort das Gesicht. „Daddy, du hast wieder getankt.“ Ihr vorwurfsvoller Blick tat ihm mehr weh, als er hätte zugeben wollen. „Kleines, ein oder zwei Bier werden wohl für deinen alten Herren noch erlaubt sein, oder?“ „Du sollst nicht trinken, wenn du fährst. Wenn Mama das mitbekommt, ist wieder der Teufel los.“ Der Mercedes rollte vom Parkplatz des Cobenzl-Restaurants Richtung Höhenstraße. Für den fantastischen Ausblick über beinahe ganz Wien hatten beide im Moment keinen Sinn. „Wie war dein Abend, Schatz?“, versuchte Mekinsky abzulenken. „Danke gut, aber, wenn du mich das nächste Mal abholst, bitte nüchtern“, erwiderte Lisa. „Sonst fahre ich lieber mit dem Taxi.“ Mekinsky antwortete nicht. Sie hatte Recht und er wusste es. Er, der abgebrühte Strafverteidiger, dem so schnell nichts und niemand ein schlechtes Gewissen machen konnte, kam sich plötzlich wie ein totaler Versager vor.

Schweigend fuhren sie die Serpentinenstraße Richtung Neuwaldegg. „Hast du dir das mit meinen Reitstunden überlegt?“, fragte Lisa, „du weißt schon – die Mitgliedschaft im Reiterklub Rieglerhütte.“ „Ich weiß nicht. Mama ist dafür, aber ich denke, dass Reiten nicht ganz ungefährlich ist.“ „Nicht gefährlicher als betrunken Autofahren“, antwortete Lisa schnippisch. „Mein Fräulein, so haben wir …“ „Daddy, pass auf!“, schrie Lisa. Mekinsky verriss den Mercedes. Der Motor heulte auf, als er zu fest aufs Gas stieg. Der Wagen geriet ins Schleudern, berührte einen einbetonierten Begrenzungsstein, rotierte mehrfach um die eigene Achse und flog in den Wald. Wie in Zeitlupe bekam Mekinsky alles mit: Lisa, die mit offenem Mund tonlos schrie, das Knirschen von Metall, das Splittern der Scheiben und den langen Ast, der sich durch die Windschutzscheibe direkt in Lisas Mund bohrte und durch ihren Hinterkopf, verklebt mit Gehirnmasse, wieder austrat. Dunkelrotes Blut spritze durch den Wagen, traf Mekinskys Hemd. Lisa zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, bevor ihre glasigen Augen den Tod wiederspiegelten. Mekinsky schrie, wie noch nie in seinem Leben.

Und mit diesem Schrei erwachte er. Schweißgebadet und stocknüchtern. Sein Herz raste wie wild und es dauerte Sekunden, ehe er begriff: ein Traum, nichts als ein böser, hinterhältiger Traum. Die Nachttischlampe auf der anderen Seite des Bettes ging an und Katrin sah ihn besorgt an. „Was ist los, Schatz?“ „Ich hatte einen beschissenen Albtraum“, antwortete Mekinsky. „Der war verdammt real.“ „Aber eben doch nur ein Traum, mein Schatz. Komm zu mir, es ist vorbei.“ Katrin nahm ihren Mann in die Arme. Ihr hübsches Gesicht spiegelte die Sorge um ihren Mann wieder. Sie drückte ihn noch enger an sich, an ihren warmen, biegsamen und höchst erotischer Körper, an dem vierzig Lebensjahre scheinbar spurlos vorüber gegangen waren. Ihre wohltuende Nähe beruhigte Mekinsky. „Willst du mir deinen Traum erzählen?“ „Nein, ich möchte ihn nur vergessen, sonst nichts. Schlaf du ruhig weiter, ich werde eine Dusche nehmen und dann etwas früher ins Büro fahren. Vielleicht kann ich dann auch mal früher abhauen und wir gehen zum Italiener?“ „Oh ja, ins „Don Giovanni“ wäre fein.“ „Okay, ich versuche es. Bis dann, Schatz. Ich liebe dich.“ Er küsste seine Frau zum Abschied und verließ das Schlafzimmer.

Vor Lisas Tür blieb er stehen, öffnete sie und sah durch den Spalt zu seiner Tochter. Sie lag fast unverändert so da, wie er sie schon in der Nacht gesehen hatte. Ihr feengleiches Gesicht bildete einen schier unfassbaren Kontrast zu dem Bild in seinem Kopf. Der Ast, der sie durchbohrte, das viele Blut – mit einem Mal wurde ihm klar, dass seine heile Welt an einem seidenen Faden hing. Wenn Lisa etwas zustoßen würde, wäre für ihn die Apokalypse perfekt. Er schloss die Tür, ging ins Bad und duschte ausgiebig. Das warme Wasser tat Mekinsky gut, körperlich und auch geistig. Danach ging er in die Küche, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine Flasche Captain Morgan. Nach kurzem Suchen fand er eine Cola-Dose und mixte sich den derzeit angesagten Partydrink. „Darauf, dass meine Kleine oben schläft und die andere Sache nur ein blöder Scheiß war. Cheers!“, prostete sich Ulrich selbst zu. Nach einer Viertelstunde Autofahrt erreichte er die Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner in der Prinz Eugen-Straße. In diesem Teil des Bezirkes hatten sich vor allem Botschaften, Wirtschaftstreuhänder und Anwälte angesiedelt. Mit dem herrlichen Ausblick auf das Schloss Belvedere und der Zentrumsnähe war hier praktisch jede Immobilie ein Luxusobjekt. Mekinsky, Griess & Partner besaßen eine fast dreihundert Quadratmeter große Kanzlei im fünften Stock. Die Kanzlei war aus Sicht des Einganges T-förmig angelegt, an den beiden Enden befanden sich die Büros von Mekinsky und seinem Kompagnon, Dr. Gernot Griess. Das „Partner“ im Firmennamen war eher nur Zierde. Mekinsky vermutete insgeheim, dass Griess über Treuhänder auch diese Anteile hielt. Aber ebenso ging das Gerücht um, dass Griess längst verkauft hat und die „Partner“ stille Teilhaber aus Italien oder dem arabischen Raum wären. Wie auch immer, Mekinsky hielt fünfundzwanzig Prozent, die ihm ein finanziell sorgloses Leben sicherten, auch wenn sein Input in die Firma weit über fünfzig Prozent ausmachte.

„Guten Morgen, Herr Doktor Mekinsky“, begrüßte ihn eine offensichtlich gut gelaunte Bettina Hofer. „Morgen, Bettina, was gibt’s denn Neues?“ „Herr Doktor Griess möchte Sie um vierzehn Uhr im Gasthaus „Sperl“ treffen, ein Journalist des „Stadtboten“ bittet um ein Interview zum Fall Brunner und der Termin mit dem Herrn …“ sie schaute kurz auf ihren Monitor, „.. mit dem Herrn Schönbacher, das ist der wegen des Satanisten-Prozesses, ist um elf Uhr angesetzt.“ „Sagen Sie Kienzl, er soll sich um den Journalisten kümmern. Griess sagen Sie zu und wenn der neue Klient kommt, geben Sie mir Bescheid. Ach ja, und ein Kaffee wäre nett.“ „Kommt sofort, Herr Doktor.“ Mekinsky schloss die schalldichte Tür hinter sich, warf den Aktenkoffer in einen Sessel und gab sich einmal mehr dem unbeschreiblichen Ausblick aus seinem Büro hin. Die große Glasfront hinter seinem Schreibtisch offenbarte den Blick über das Areal des Belvedere, jenes geschichtsträchtigen Schlosses des Prinzen Eugen, auf dessen Balkon stehend der große Staatsmann Leopold Figl mit den berühmten Worten „Österreich ist frei“ den Weg für ein neues, modernes Österreich bereitet hatte.

Nachdem Bettina den Kaffee serviert hatte, ließ sich Mekinsky in seinen Ledersessel fallen und griff nach dem Papierstoß, den die Assistentin fein geordnet auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ein paar Zeitungen, mehrere Honorarnoten zum Unterschreiben und eine Einladung zu einer Vernissage eines Malers, dessen Namen er noch nie in seinem Leben gehört hatte. Er unterschrieb die Rechnungen, steckte die Einladung in sein Sakko, um sie Katrin zu zeigen und widmete sich den Zeitungen. Bis auf den „Stadtboten“ legte er alle nach dem Studium der Schlagzeilen beiseite. Zwar titelte der „Stadtbote“ auch irgendwas rund um ein Skandalspiel der Rapid-Kicker, aber das Foto darunter fiel ihm sofort auf. „Topanwalt erkämpft Freispruch für Neonazi“ stand unter dem Bild, das Brunner und ihn bei der Umarmung nach dem Urteilsspruch zeigte. Glegentlich in der Zeitung präsent zu sein, störte Mekinsky nicht, ganz im Gegenteil, Gratiswerbung nahm er gerne an. Aber der Mann im Hintergrund des Fotos irritierte ihn schon mehr: der Alte mit dem Stirnband. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Zu viele Zufälle. Zuerst die Begegnung im Gerichtssaal, dann die Stimme im Parkdeck, von der er hätte schwören können, dass es jene des unheimlichen Fremden war und nun tauchte dieser auch noch auf dem Bild in der Zeitung auf. Hastig blätterte er zu der auf der Titelseite angegebenen Seite, aber es gab keine weiteren Fotos zu dieser Story. Nur einen Text, der ziemlich genau schilderte, was sich gestern im Gerichtssaal zugetragen hatte. Mekinsky beruhigte sich etwas. Er las noch einige Artikel aus dem Chronikteil und unterbrach, als Bettina sich über Intercom meldete.

„Herr Doktor, Herr Schönbacher ist da. Soll ich ihn weiterbitten?“ „Ja, in Ordnung, Bettina.“ Sekunden später öffnete sich die schwere Verbindungstür und der neue Klient trat ein. Mekinsky, der routinemäßig jedem Besucher entgegenging, streckte die Hand aus – und erstarrte. „Guten Tag, Staranwalt, schön, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich haben. Ich bin Michael Schönbacher, aber alle, und bitte auch Sie, nennen mich Demessos.“ Mekinsky löste sich aus seiner Starre. Schönbacher alias Demessos war der alte Mann aus dem Gerichtssaal, der ihm wie Hundekot am Schuh zu kleben schien. „Guten Tag, Herr Schönbacher …“ „Demessos, bitte.“ „Okay, Demessos. Nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu mir?“ Demessos lehnte sich im Besucherstuhl zurück. Mekinsky musterte den Mann genauer. Wie schon im Gerichtssaal, versuchte auch heute ein mit allerlei verschiedenen Symbolen verziertes Stirnband die graue Mähne des Alten zu bändigen. Im Unterschied zu gestern trug Demessos heute einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine blutrote Krawatte. Besonders auffällig war aber der goldene Siegelring, dessen Symbolik nicht zu übersehen war: Das große, beinahe klobige Schmuckstück war mit einer Teufelsfratze verziert. „Nun, ich möchte um Ihre anwaltliche Vertretung bitten“, riss Demessos den Juristen aus seinen Gedanken. „Es gibt da ein paar – sagen wir Schwierigkeiten -, die ich mit Ihrer Hilfe gerne aus der Welt geschafft wüsste.“

Das Klopfen an der Tür unterbrach ihn, und Bettinas Kopf erschien im Türspalt. „Entschuldigung, möchte jemand etwas zu trinken?“ Demessos verneinte, ohne sich umzudrehen und Mekinsky bestellte noch einen Kaffee. „Welche Schwierigkeiten sind das genau?“ „Ich bin der religiöse Führer einer Glaubensgruppe. Sie würden uns vermutlich als Sekte bezeichnen. Wir wurden während der Ausübung unseres Glaubens von der Polizei-Sondereinheit WEGA überfallen, verletzt, gedemütigt und müssen uns nun vor Gericht verantworten.“ „Die WEGA hat Sie hochgenommen? Was genau wird Ihnen vorgeworfen?“, fragte der Anwalt verblüfft. Wenn sich die Eliteeinheit eines Falles annimmt, dann steckt meist mehr dahinter. „Nun, wo soll ich da anfangen? Wir feierten unsere Messe …“ „Eine schwarze, also eine Satansmesse?“, unterbrach Mekinsky. „Ja, sowas in der Art. Die Polizisten verhafteten uns, und die Staatsanwältin legte uns eine Liste unserer angeblichen Verbrechen vor: Verhetzung, Diebstahl, Körperverletzung, Herabwürdigung religiöser Lehren, Satanismus, Widerstand gegen die Staatsgewalt und noch ein paar Kleinigkeiten mehr.“ Erneut klopfte es an der Tür und Bettina brachte ihrem Chef den Kaffee zum Schreibtisch. Rasch entfernte sich die Gehilfin, der man ansah, dass ihr der Klient nicht ganz geheuer war.

„Und – entspricht die Anklage der Wahrheit?“, fragte der Jurist, während er seinen Kaffee zuckerte. „Wahrheit, Staranwalt? Was ist das? Es gibt doch nichts Subjektiveres als den Begriff Wahrheit, finden Sie nicht? „Einigen wir uns darauf, dass das hiesige Strafgesetzbuch in diesem Fall die Wahrheit vorgibt – und nennen Sie mich nicht Staranwalt.“ „Sehen Sie, Herr Doktor Ulrich Mekinsky, und hier beginnt das Dilemma. Ich kann das österreichische Strafgesetzbuch nicht anerkennen, weil es für unsere Religion einfach nicht zuständig ist.“ „Satanismus ist keine Religion.“ „Vor dem Gesetz ja, aber wie oft irrt der Gesetzgeber? Sie sind Anwalt, Ihnen muss ich das wirklich nicht erklären.“ „Andere Frage: Wer ist die zuständige Staatsanwältin?“ Demessos grinste. Er wusste, dass er mit der Beantwortung dieser an sich harmlosen Frage das Interesse des Anwalts an seinem Fall erheblich steigern konnte. Er tat so, als müsse er nachdenken und antwortete zögerlich. „Eine gewisse Frau Theresa Mühlbauer oder so ähnlich.“ „Mühlbacher. Das ist die Staatsanwältin, die sie gestern erlebt haben. Sehr kompetent, aber nicht unschlagbar.“ Demessos musste innerlich lachen. Er merkte, dass Mekinskys Killerinstinkt mit der bloßen Nennung seiner Gegenspielerin geweckt war. Anwälte – eine Branche als Mutter der Eitelkeit! „Nun, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich sehe mir den Akt einmal an und kontaktiere Sie, ob ich Ihre Vertretung übernehmen werde. Ich rufe Sie an, sobald ich darüber Klarheit habe.“ „Ich habe mir schon erlaubt, Ihrer Assistentin eine Kopie der Anklage zu überreichen. Und, ich rufe Sie an.“

Demessos wirkte extrem entschlossen, keinen wie auch immer gearteten Widerspruch duldend. Plötzlich war Mekinsky klar, dass sein neuer Klient ein absolutes Alpha-Tier verkörperte. Der „freundliche Alte“ war bestenfalls Maskerade. „Dann bliebe noch die Frage des Honorars“, erwiderte Mekinsky, insgeheim hoffend, dass sein Gegenüber vielleicht in diesem Punkt schwächeln könnte. „Geld spielt keine Rolle. Den Schriftstücken, die ich Ihrer Mitarbeiterin übergeben habe, ist ein Scheck über zehntausend Euro beigelegt. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie ihn aufgebraucht haben.“ „Warum ich?“, fragte Mekinsky und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen ob dieser unprofessionellen Frage. „Glauben Sie an Gott, Staranwalt?“ „Nein, ich glaube weder an Gott noch an Ihren Chef“, antwortete Mekinsky zynisch. „Ich glaube nur an das, was ich sehe. Und beide Herren haben sich mir noch nicht persönlich vorgestellt.“ „Gut so. Aber vielleicht ändert sich das ja irgendwann. Sie hören von mir.“

Demessos stand auf und streckte Mekinsky die Hand hin. Diesmal ergriff sie Mekinsky und hätte beinahe einen Schrei losgelassen. Demessos Händedruck glich dem eines Schraubstocks. „Bis bald, Herr Doktor“, verabschiedete sich Demessos, dessen Gesicht abzulesen war, wie belustigt er über den verblüfften Anwalt war. Mekinsky erwiderte den Gruß, nahm wieder Platz, nachdem sich die Tür hinter dem Teufelsanbeter geschlossen hatte und trank erst jetzt den ersten Schluck seines inzwischen kalten Kaffees. Er betrachtete seine schmerzenden Finger. Auf einem erkannte er etwas Seltsames – den Abdruck einer Teufelsfratze …

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Kurz vor dreiviertel zwei traf Mekinsky im Restaurant „Sperl“ ein und suchte einen schattigen Platz im Gastgarten. Die von Weinranken umwucherte Laube sorgte für eine ganz besondere Atmosphäre, vor allem aber für Ungestörtheit. Der Kellner brachte ein Krügel Gösser und die Speisekarte, die Mekinsky ignorierte. Umso hastiger trank er das Bier. Im Geiste ging er noch einmal das Gespräch mit dem Teufelsanbeter durch und fasste den Entschluss, den Fall vorerst nur zu überprüfen. Der anstehende Termin mit seinem Partner kam ihm sehr gelegen. So konnte er die Meinung des erfahrenen Anwalts in seine Überlegungen einfließen lassen.

Pünktlich und zeitgleich mit dem zweiten Krügel traf Gernot Griess ein. Mekinsky begrüßte seinen Seniorpartner, der sich schwerfällig in den für ihn fast zu engen Gartensessel fallen ließ. Griess war knapp an die sechzig, recht klein und glich mit seinen hundertvierzig Kilo einem Walross. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch seine Glatze und einem Ungetüm von Schnurrbart. Seine listigen, kleinen Augen unter den buschigen Wimpern lagen hinter einer dunklen Ray Ban versteckt. Trotz der Hitze trug Griess wie immer einen dünnen Mantel, der jenem des TV-Kommissars Columbo zum Verwechseln ähnlich sah. „Du siehst beschissen aus, mein Junge“, eröffnete der Senior das Gespräch, „zu viel Stress oder zu wenig Sex?“ „Keines von beiden“, antwortete Mekinsky, „ich hatte heute Vormittag nur einen etwas befremdlichen Klienten, das ist alles.“ „Jeder Klient ist befremdlich“, lachte sein Gegenüber, „Diebe, Mörder, Totschläger und Perverse aller Art sind unser täglicher Umgang, aber sie finanzieren dein Haus, deinen Wagen, die Ausbildung deiner Tochter und so weiter.“ Der Kellner kam und wollte Griess eine Speisekarte reichen. Der lehnte ab, bestellte ein Achterl Heideboden Barrique vom Weingut Umathum und ein Pfeffersteak mit frischem Gemüse und Kroketten. Mekinsky entschied sich für Wiener Schnitzel mit Kartoffelsalat. Als der Kellner außer Hörweite war, erzählte Mekinsky vom Besuch des Teufelsanbeters. Griess hörte bis zum Ende zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen. „Und nun frage ich mich, soll ich diese Verteidigung übernehmen?“ „Warum nicht? Klingt recht spannend und schwieriger als der Brunner-Fall wird’s wohl auch nicht sein.“ „Ich weiß nicht recht. Fälle mit einer religiösen Komponente sind oft unberechenbar. Erinnere dich an die diversen Scientology-Verhandlungen, die Zeugen Jehovas mit ihren Weigerungen der Fremdblutannahme oder andere obskure Sekten.“

Der Kellner brachte Mekinsky das dritte Bier und legte Servietten und Essbesteck auf. Nach dieser Unterbrechung wechselten die Beiden das Thema. Griess erzählte Mekinsky von einem Superdeal mit einer norwegischen Ölgesellschaft und Mekinsky berichtete über den Brunner-Prozess. Während des Essens schwenkte das Gesprächsthema ins Private und drei Stunden und ein weiteres Krügel später brachen die Partner auf. Griess setzte sich in seinen Jaguar und Mekinsky schwankte die paar Meter zur Kanzlei zurück. Als er die hauseigene Tiefgarage betrat, fiel ihm das Erlebnis vom Vortag beim Landesgericht ein. Aber diesmal meldete sich keine Stimme und Mekinsky begann allmählich zu glauben, dass es sich gestern um Einbildung gehandelt hatte.

Daheim angekommen, parkte Mekinsky den Mercedes in der Garage und betrat das Haus durch die Verbindungstür. „Halli-Hallo, ich bin zuhause!“, gab er beim Betreten des Wohnzimmers von sich. Er merkte dabei, dass ihm das Reden schon einigermaßen schwer fiel. Lisa kam um die Ecke geflitzt und fiel ihrem Vater um den Hals. „Hallo Daddy, schön dass du da bist. Ich muss unbedingt mit dir reden, hast du Zeit?“ „Klar doch, aber ich fürchte, ich habe ein wenig zu viel getrunken. Also sei nachsichtig mit deinem alten Dad.“ „Kein Problem, Daddy. Du hast doch gesagt, wenn ich im Zeugnis keinen Zweier habe, dann darf ich mir etwas wünschen – und wie du weißt, habe ich ausschließlich Einser. Also musst du jetzt zu deinem Wort stehen.“

Ulrich setzte sich neben seine Tochter auf die Couch. Zeugnis? Ah ja, sie hatte glänzend abgeschnitten und er hatte ihr im Übereifer alles Mögliche versprochen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie noch nichts eingefordert hatte. „Was soll deinem armen alten Vater das letzte Geld aus der Tasche ziehen?“, scherzte der Anwalt, „ein Ferrari, ein Aufenthalt auf einer Schönheitsfarm, eine eigene Boutique?“ Lisa warf ihm ein Zierpolster ins Gesicht. „Du nimmst mich nicht ernst. Nein, ich will Reitstunden nehmen und würde mir gerne ein passendes Gestüt aussuchen“, erklärte Lisa. Reitstunden? Reitstunden? Ulrich kam das bekannt vor, aber er war zu betrunken, um sich an seinen Traum zu erinnern. Er konnte nur an reale Ereignisse denken. „Wenn du willst, kannst du dich umhören. Sag mir dann Bescheid, wenn du dich für ein Angebot entschieden hast, okay?“ „Danke, Daddy, danke!“ Sie sprang auf – vermutlich um die Neuigkeit gleich telefonisch ihren Freundinnen zu erzählen und lief in den ersten Stock. „Wo ist denn Mama?“, rief ihr Ulrich nach. „Vermutlich im Bad“, hörte er Lisa aus dem Obergeschoß antworten.

Ulrich krabbelte umständlich aus der weichen, bequemen Couch heraus und kämpfte, als er aufrecht stand, mit Schwindel. „Scheiße, ich hätte nicht so viel trinken sollen“, ärgerte er sich im Selbstgespräch. Er wankte zur Treppe ins Obergeschoß und zog sich mühsam am Geländer hoch. Der heutige Alkoholkonsum, praktisch direkt auf den Restalkohol des Vortages aufgegossen, zeigte Wirkung. Vor der Tür des Badezimmers überlegte er, ob er anklopfen oder Katrin überraschen sollte. Er entschied sich für Variante zwei und trat ein.

Was er sah, war ein Bild für Götter. In der um eine Stufe erhöhten, nierenförmigen schwarzen Badewanne lag seine Frau Katrin. Sie hatte die Augen geschlossen und hörte mit ihrem Kopfhörer ziemlich laut Musik von Genesis. Während er auch noch in den Genuss von Phil Collins Stimme kam, betrachtete Ulrich seine Gattin. Katrin Mekinsky lag nackt in den Resten des Badeschaumes und bot mit ihrer hinreißenden Figur einen tollen Anblick. Ihre sonnengebräunte Haut war makellos, ebenso wie der glatte, flache Bauch, unter dessen Haut sich ein fast rhythmisches Muskelspiel wiederholte. Ihre phantastischen Brüste hoben und senkten sich mit jedem Atemzug. Sein Blick wanderte zu ihrer glatt rasierten Vagina und er merkte, dass ihn dieser Anblick nicht kalt ließ.

Vielleicht diese Blicke oder auch einfach nur Instinkt veranlassten sie, die Augen zu öffnen. „Hallo, Schatz, ich bin zurück“, begrüßte er seine Frau, „und ich darf sagen, genau im richtigen Augenblick.“ Beide lächelten und Katrin reckte sich wortlos empor, um ihren Mann zu küssen. Ihre Zunge bohrte sich fordernd in seinen Mund und das reichte aus, um Mekinsky endgültig eine Erektion zu verschaffen. Doch ebenso schnell wie Katrin losgelegt hatte, stieß sie Ulrich auch gleich wieder von sich. „Du hast schon wieder getrunken!“, legte sie wütend los. „kannst du nicht wenigstens ab und zu nüchtern von der Arbeit nach Hause kommen? Ist das zu viel verlangt?“ „Ja, Schatz, es waren nur zwei Bier, ehrlich. Ich musste mit Gernot essen gehen und …“ „Zwei Bier, ja? Verkauf mich nicht für blöd! Gestern habe ich noch gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber heute haben wir – wie du hoffentlich noch weißt - einen Tisch bei „Don Giovanni“ bestellt. Dass du jetzt vollgetankt ankommst, ist eine Frechheit!“ Wütend sprang sie aus der Wanne, griff sich ein Badetuch und wich der versuchten Umarmung ihres Mannes geschickt aus. „Schatz, es tut mir leid“, stammelte Mekinsky, aber seine Frau war bereits aus dem Bad verschwunden, nicht ohne die Tür mit einem satten Knall ins Schloss zu werfen.

Ulrich setzte sich auf den Rand der Badewanne, legte sein Gesicht in beide Hände und schluchzte. Er wusste, dass Katrin vollkommen Recht hatte und er gestand sich auch ein, dass er tagsüber keinen einzigen Gedanken an ihr gemeinsames Abendessen in der Pizzeria verschwendet hatte. Sie würde heute keinen Fuß mit ihm gemeinsam vor das Haus setzen. Soweit kannte er seine Frau. Er, der Topanwalt, der vor Gericht so souverän wirkte, konnte sich vor dem Teufel Alkohol nicht schützen. „Das muss anders werden! Bei Gott, ich schwöre es.“ Das abfließende Wasser der Wanne gluckste wie zur Bestätigung.

3. Tag; Mittwoch, 4. September

Die Glocken der Pfarrkirche St. Elisabeth läuteten siebenmal. So zeitig traf Mekinsky praktisch nie in der Kanzlei ein, aber heute war es anders. Der Streit mit Katrin und der dubiose Fall des Teufelsanbeters hatten ihm eine kurze, unruhige Nacht bereitet.

Als er sich auf den Weg gemacht hatte, schliefen Katrin und Lisa noch. Kurz hatte er gezögert und überlegt, ob er seine Frau wecken soll, aber er kannte sie als Morgenmuffel und wollte nicht das Risiko eines weiteren Streites eingehen.

Er öffnete die Tür der Kanzlei, schaltete das Licht ein, die Alarmanlage aus und betrat die menschenleeren Räume. Auf Bettinas Schreibtisch fand er ein an ihn adressiertes Kuvert. Ohne einen Blick hineinzuwerfen wusste er, dass es die Unterlagen waren, die Demessos für ihn hinterlegt hatte. Er nahm das Kuvert mit und warf es auf seinen Schreibtisch. Dann schaltete er das Radio ein. Die pseudolustige Stimme eines Ö3-Moderators erzählte einen mehr als seichten Gag über einen populären Oppositionspolitiker. Mekinsky ging in die Küche, warf eine Münze in den Kaffeeautomaten und begab sich mit einem Plastikbecher voll heißer, dampfender Flüssigkeit in der Hand zurück in sein luxuriöses Büro.

Die nächsten zwei Stunden verbrachte er mit dem Studium der Unterlagen. Da war die offizielle Anklageschrift, per Hand auf Papier gekritzelte Notizen des Teufelsanbeters, eine Liste von Entlastungzeugen und der versprochene Scheck. Er las die Unterlagen aufmerksam und mit steigendem Interesse. Im Grunde baute die Anklage darauf, dass der Vorwurf vieler „kleinerer“ Delikte gegen die Satanisten zumindest eine erste Verurteilung zur Folge haben könnte. Die Herabwürdigung religiöser Lehren bezog sich – ohne konkreten Vorwurf – auf den Umstand der Teufelsanbetung an sich. Der Diebstahl bezog sich auf einen antiken Dolch, dessen genaue Besitzverhältnisse eigentlich nicht feststellbar waren. Außerdem wurde noch Sachbeschädigung wegen eines Tieropfers angefügt. In Summe alles Kleinkram, stellte Mekinsky fest. Warum die WEGA eingeschritten war, ging aus den Unterlagen nicht hervor. Offensichtlich wollte die Behörde wirklich einen Präventivschlag gegen Demessos und seine Leute führen. Ein Wunder, dass sich eine so ehrgeizige Staatsanwältin wie Mühlbacher für so etwas hergab. Oder steckte mehr dahinter? Mekinskys Neugier war jedenfalls geweckt.

Knapp nach neun, Bettina war noch nicht da, läutete das Telefon. „Kanzlei Griess, Mekinsky & Partner. Guten Morgen“, meldete sich der Jurist förmlich. „Guten Morgen, Staranwalt. Es könnte sogar ein sehr guter werden, wenn Sie meine Verteidigung übernehmen wollen“, tönte ein gut gelaunter Demessos aus dem Hörer. „Welchen Teil von „nennen Sie mich nicht Staranwalt“ haben Sie nicht verstanden, Demessos?“, fauchte Mekinsky in den Hörer. „Sie nennen mich Demessos, ich Sie Staranwalt. Kein Mekinsky, kein Schönbacher – so ist unser Deal. Namen sind etwas für Grabsteine. Also, übernehmen Sie meine Vertretung oder nicht?“ Mekinsky zögerte. Die Aussicht, Mühlbacher noch einmal zu schlagen und nebenbei zehntausend Euro zu verdienen, in einem Fall, den wohl jeder halbwegs talentierte Jus-Student gewinnen könnte, reizte ihn sehr. Andererseits war ihm Demessos noch immer höchst suspekt. „Natürlich, jeder hat das Recht auf die bestmögliche Verteidigung.“ „Okay, dann sehen wir uns in vier Tagen bei der ersten Anhörung.“ „Seien Sie pünktlich“, erwiderte Mekinsky und legte auf. Er schrieb eine Email an Bettina, um ihr mitzuteilen, dass er den Rest des Tages frei nehmen würde und nur in höchstdringlichen Fällen auf dem Handy erreichbar sei und verließ die Kanzlei.

Unterwegs nach Hause stoppte er in der Oberlaaer Straße bei einer Gärtnerei und kaufte neun rote Rosen. Gegen zehn Uhr traf er daheim ein. Er nahm die Aktentasche und die Blumen vom Beifahrersitz, verschloss den Mercedes mit der Fernbedienung und betrat sein Haus. „Du bist schon wieder zurück?“, fragte Katrin verblüfft, als er sie im Wohnzimmer am Klavier sitzend vorfand. „Guten Morgen, Schatz.“ Er umarmte und küsste sie, was sie widerstandslos geschehen ließ. „Die sind für dich.“ Auf Katrins Gesicht machte sich ein Lächeln breit, als sie den Strauß Rosen überreicht bekam. „Als Entschuldigung Nummer eins für gestern Abend. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen?“ Erneut fiel ihm Katrin um den Hals und küsste ihn sanft auf den Mund. „Das hängt aber sehr von Entschuldigung Nummer zwei ab“, sagte sie neckisch, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. „Nummer zwei ist ein Mittagessen bei „Don Giovanni“. Tisch und Hummer sind reserviert“, entgegnete Ulrich. Ein Strahlen überzog ihr hübsches Gesicht. Dennoch zögerte sie. „Eines musst du mir aber versprechen. Du musst etwas gegen das Trinken tun. Irgendwann kann etwas ganz Schlimmes passieren, wenn du nicht aufhörst. Bitte, uns zu Liebe. Aber vor allem Lisa zu Liebe.“ Er nahm ihre Hände in die seinen. „Ich verspreche es, bei Gott. Ich verspreche es dir. Und jetzt zieh dich rasch um, sonst wird der Hummer ungeduldig.“

7. Tag; Montag, 10. September 2012

In den vergangenen Tagen hatte sich Mekinsky in den „Fall Schönbacher“ vertieft, Literatur zum Thema Sekten gelesen und sich taktisch auf die erste Anhörung vorbereitet, die nun in wenigen Augenblicken im Landesgericht Wien beginnen sollte. Markus Kienzl schlichtete am Tisch der Verteidigung einige Papiere, während Mekinsky sich leise mit Demessos unterhielt. Der Angeklagte trug einen eleganten, hellen Anzug, verzichtete aber auch heute nicht auf ein Stirnband. Diesmal war es ein schwarzes mit blutroten Ziffern, die mehrfach die Zahl „666“ bildeten. Die Zahl des Teufels nach der Offenbarung des Johannes. So sehr sich Mekinsky im Vorfeld auch bemüht hatte, Demessos war nicht dazu zu bringen, sich zumindest während des Prozesses von dieser Symbolik zu trennen.

Der Vorsitzende der drei Berufsrichter, Dr. Jürgen Kamasch, eröffnete die Anhörung. Staatsanwältin Mühlbacher verlas die Anklageschrift und schilderte in aller Deutlichkeit die Situation, welche die WEGA-Beamten bei der Erstürmung des Hauses der Satanisten vorgefunden hatten. Sie erläuterte ausführlich die diabolischen Symbole an den Wänden, die umgekehrten Kreuze, Hetzschriften gegen die Kirche und schließlich das Tieropfer über der nackten Frau, die laut Polizeibericht unter LSD-Einwirkung stand. „Wollen Sie nicht Einspruch erheben, Staranwalt?“, raunte Demessos Mekinsky leise zu. „Warum? Sie hat doch recht. Ein Einspruch lässt uns nur dumm aussehen“, antwortete der Strafverteidiger, nicht ohne es zu genießen, diesmal in der stärkeren Position zu sein. „Verlassen Sie sich auf mich. Ich weiß, was ich tue.“

Die Staatsanwältin erläuterte nun die Gefahr, die von Demessos Dolch ausgegangen sei und ihrer Ansicht nach das entschlossene Vorgehen der Beamten rechtfertigen würde. Zuletzt schloss die Anklägerin mit der allgemeinen Gefährlichkeit der Gruppe um Demessos und mit der Gefahr, die von falschen Religionen für Jugendliche, Labile oder sonst leicht Verführbare ausgehen würde. Richter Kamasch dankte ihr kommentarlos. „Herr Verteidiger, Sie sind am Wort.“ „Danke, Euer Ehren, wir haben im Moment keine Stellungnahme.“ Der Richter nickte und wandte sich an seine beiden Kollegen. Nach einer kurzen Absprache waren sich die drei Richter einig. „Im Namen des Volkes erkläre ich die Anklage im vollen Umfang für zugelassen. Der Prozess beginnt hier in einer Woche um neun Uhr. Bitte seien Sie pünktlich. Für heute ist die Sitzung beendet“, schloss der Vorsitzende die Anhörung ab. „Und jetzt?“, fragte der sichtlich enttäuschte Demessos in Richtung seines Verteidigers. „Showdown in einer Woche“, antwortete Kienzl stellvertretend für seinen Chef.

Die drei verließen den Gerichtssaal. Vor dem Gebäude hielt Demessos plötzlich inne. „Herr Doktor, ich möchte Sie gerne heute Abend zu uns einladen“, sagte Demessos ungewohnt höflich. „Ich möchte Ihnen etwas mehr über uns erzählen, Ihnen meine Tochter vorstellen und natürlich gibt es auch ein nettes Abendessen.“ Mekinsky blickte dem Teufelsanbeter überrascht ins Gesicht. Der Anflug von Freundlichkeit passte so gar nicht ins Bild, das er sich bisher von seinem Klienten gemacht hatte. Allerdings konnte ein besseres Kennenlernen des Umfelds nicht schaden, und so sagte Mekinsky nach kurzem Zögern zu. Demessos kritzelte eine Adresse auf einen Zettel und Mekinsky steckte diesen ohne ihn zu lesen ein. Der alte Mann stoppte ein herannahendes Taxi und die beiden Juristen stiegen in Mekinskys Mercedes, der diesmal gleich vor dem Landesgericht parkte. Den Strafzettel dafür warf Mekinsky, wie gewohnt, weg.