Den Kopf hinhalten - Jens Rosteck - E-Book

Den Kopf hinhalten E-Book

Jens Rosteck

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Beschreibung

Töten. Ohne mit der Wimper zu zucken. Lieben. Und sich nach Gegenliebe sehnen. Als Spross einer erfolgreichen britischen Scharfrichter-Dynastie hat der begabte und früh berufene Henker Rupert Beaufort jahrzehntelang sein Gewissen unter Kontrolle, seine Emotionen im Griff und die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Hunderte von tadellos ausgeführten Exekutionen gehen auf sein Konto. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss er sich neuen, unerwarteten Herausforderungen stellen und immer größere Hürden überwinden, um seines makabren Amtes zu walten. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn sieht er sich gezwungen, den italienischen Pianisten Sandro Magazzano, ein ehemaliges Wunderkind, hinzurichten: einen ebenfalls hochtalentierten Mann, der wie er bis zum Äußersten zu gehen bereit ist. Jens Rosteck zeigt in seinem fesselnden Romandebüt, wie herrschende Moral und individuelle Gefühle zwei ungleiche Einzelkämpfer und Vorbilder in kaum lösbare Konflikte stürzen. Und wie problematisch Verkündung wie Vollstreckung der Todesstrafe zu allen Zeiten gewesen sind, wenn, wie hier, im England der Fünfzigerjahre, geltendes Recht mit Menschenwürde und dem ewigen Anspruch auf Zuneigung und Gerechtigkeit kollidiert.

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Jens RosteckDen Kopf hinhalten

Jens RosteckDen Kopf hinhaltenRoman

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8400-9

Ohne zu wissen warumliebe ich diese Welt,auf die wir kommen,um zu sterben.Natsume SŌseki

1Letztes Stündlein

Träume hatte Rupert sich schon seit Langem verboten. Erlebtes im Unterbewusstsein weiterzuspinnen, richtungslos abzuschweifen und die Ereignisse der letzten Jahre auch noch im Schlaf vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen, war strengstens untersagt. So hatte er es seinem Gewissen eingebläut. Und war, im Laufe der Zeit, gegen Anfechtungen jeglicher Art erfolgreich immun geworden.

Dösend im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu vertrödeln: Das kam nicht infrage. Abzuwägen, was besser sei oder richtiger gewesen wäre: sinnlos. Mit sich zu hadern, sich mit Fragen zu quälen, sich rastlos auf seinem Laken hin und her zu werfen oder fortgesetzt unter Selbstvorwürfen zu leiden – unnötig und pure Zeitverschwendung. Wankelmütig zu werden oder gar zu zweifeln war, so hatte er ein für alle Mal beschlossen, ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls was ihn betraf.

Das gehörte sich nicht für ihn, einen entschlossenen, vorbildlichen Mann. Für ihn, Beaufort. Einen, nach allgemeinem Urteil, charakterstarken Scharfrichter. Den Gentleman unter den Henkern, wie die Presse ihn nannte. Den Routinier unter den Hangmen, so die Meinung seiner Kollegen. Den mutigen und unbestechlichen Nationalhelden, befanden einige Patrioten. Den Star unter den staatlich bestellten Todesengeln, so feierten ihn Freunde und trinkfreudige Kunden in seinem Lokal. Den Ersten im Lande, so das einstimmige Urteil der zuständigen Behörden. Den Besten seiner Zunft, davon war er selbst überzeugt.

Träume waren etwas für Sentimentale und Nostalgiker. Träume waren ein Luxus, den man sich besser nicht leistete. Träume machten träge. Träume konnten einen schwer belasten. Träume führten dazu, dass man Gefahr lief, sein Ziel aus den Augen zu verlieren.

Nein, nichts wäre törichter, als in der Vergangenheit zu verharren, sich mit Vorfällen zu befassen, an deren Verlauf oder Ausgang nichts mehr zu ändern war. Lieber richtete Rupert den Blick nach vorn. Befahl sich Zurückhaltung, verordnete sich Klarheit, ließ kein dunkles Wölkchen über seinen Gedanken schweben. Innere Einwände verscheuchte er. Und des Nachts wollte er wirklich nur eins: gründlich zur Ruhe kommen. Wegtauchen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Einfach abschalten. Für ein paar Stunden wenigstens. Sich allmählich auf seine nächste Aufgabe vorbereiten. Präsent sein und konzentriert. Kräfte sammeln. Um seine Pflicht zu tun. Voller Entschlussfreudigkeit. So wie an diesem Junimorgen im Jahre 1956. Er stellte fest, dass er tief und gut geschlafen hatte, ausreichend allemal. Auch wenn er erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, nachdem er im Pub noch klar Schiff gemacht hatte.

Träume, zumindest angebrochene, fochten ihn nicht an. Träume, die keinen Anfang und kein Ende kannten, vergaß man auf der Stelle. Träume waren ein Irrtum. Träume führten zu nichts.

Sein vierundzwanzigstes Jubiläum im Dienst der britischen Krone rückte näher. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Beaufort perfekt funktioniert. Zur allgemeinen Zufriedenheit. Hinrichtung für Hinrichtung, ob nun in London, Manchester oder Dublin. Ob daheim im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland, in Österreich oder im Nildelta. Hatte Aufträge ausgeführt, vor denen sich die meisten, die er kannte, gefürchtet hätten. Vor denen sie zurückgeschreckt wären.

Vorbildlich hatte er agiert. Konsequent und kompromisslos. War kreuz und quer durch Europa gereist, um seiner Nation zu Diensten zu sein, ohne sich zu beschweren oder auch nur zu murren. War bei Wind und Wetter in die entlegensten Ecken des Landes geeilt und hatte dabei keine Strapazen gescheut. Hatte in heiklen Situationen seinen Mann gestanden, nie gekniffen.

Und kein einziges Mal hatte er versagt, gezaudert oder seine Vorgesetzten enttäuscht. Nie war er verhindert oder ernsthaft krank gewesen. Nie hatte er Details ausgeplaudert. Verschwiegen wie ein Grab war Beaufort. Fehler waren ihm keine unterlaufen, seine Weste war weiß. Was er tat, hatte – wie er es sah – mit Gewalt nichts zu tun, schon gar nicht mit Grausamkeit, und an seinen Händen haftete auch nicht der kleinste Tropfen Blut. Nicht einmal ein Spritzer.

Mit allem was er tat, hinterließ er weder Flecken noch Spuren: Seine Hände machte er sich nicht schmutzig. Sein Herz blieb heiter. Stattdessen beendete Rupert Lebensläufe. Machte Schluss mit den Schicksalen Dritter. Unerfreuliche, unglückliche, verpfuschte, schlimme und unbeschreiblich schreckliche. Was einzig zählte, war, dass man sich auf ihn verlassen konnte, und das traf seit 1932 zu. Als er als Assistent begonnen hatte. Seit 1941, nach seiner Beförderung, hatte er als Chef das Sagen, bestimmten seine Anweisungen die Regeln beim Hängen. Seitdem war er ein Meister seines Fachs. War unumstritten und unersetzlich.

Und auch so etwas wie ein Künstler. Ein Todeskünstler.

Der heutige Tag durfte also anbrechen, wenn es nach ihm ging, und der Tag brach auch tatsächlich an. So zuverlässig wie er selbst. Fast mechanisch.

In wenigen Sekunden würde er aufstehen und sich ankleiden, sich ein paar Stunden später auf den Weg nach London machen und sich während der Zugfahrt gedanklich vorbereiten auf die Tötung eines ihm völlig unbekannten Menschen. Wie so oft würde sie am Samstagmorgen, pünktlich um neun Uhr, anberaumt werden, reibungslos vonstattengehen und, dafür würde er während der Durchführung Sorge tragen, niemandem Anlass zur Klage bieten. Keine zwanzig Sekunden würde es dauern, die Strafe zu vollstrecken. Keine Minute würde vergehen zwischen dem gemeinsamen Verlassen der Zelle und dem jähen Hinabfahren des Delinquenten ins Bodenlose, zwischen letztem Geleit und Genickbruch, zwischen Fürsorge und Eindeutigkeit. Präzision lautete Ruperts oberstes Gebot, Sorgfalt und Umsicht waren entscheidend.

Zwischen achthundert und achthundertfünfzig Verurteilte und Verbrecher hatte er, als Arm des Gesetzes, im Laufe seines Lebens schon ins Jenseits befördert. Im Namen des Volkes, als Saubermann. Wie viele genau, wusste nur er allein und würde es, soweit möglich, niemandem verraten. Das ging nur ihn etwas an. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. Wie viele davon Männer und wie viele Frauen gewesen waren, spielte keine Rolle und tat, selbst wenn man ihn danach gefragt hätte, nichts zur Sache. Wie viele davon womöglich unschuldig gewesen waren oder eine mildere Strafe verdient gehabt hätten, kümmerte ihn nicht. Und änderte auch nichts an seiner Einstellung. Das gehörte zu den Dingen, die nicht er zu beurteilen hatte. Sondern eine höhere Instanz.

Ihm genügte die Gewissheit, das absolut Richtige zu tun. Das Notwendige und Unvermeidbare. Etwas, für das nur jemand wie er infrage kam. Etwas, für das er ausersehen war. Etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und fertigbrachte, ohne sich oder die ihm Anvertrauten unnötig zu besudeln. Etwas, worauf er stolz war und das er mit einem wohligen, nur ihm bekannten Ehrgefühl verband.

Somit erwachte Rupert an diesem Freitagmorgen, ohne geträumt zu haben. Ganz so wie geplant. Augenblicklich spürte er, wie die gewohnte Energie in seine Glieder fuhr, spürte die vertraute Anspannung, den Tatendrang. In Gedanken spielte er das kommende Wochenende durch, beruhigende, befriedigende Gedanken, fühlte sich gewappnet und stark.

Er war bereit.

Rupert Beaufort schlug die Augen auf. Und wusste sofort, was ihm heute bevorstand. Zum zigsten Male. Er war mit sich im Reinen. Die Lage war eindeutig: Bei ihm gab es auch nicht die geringste Persönlichkeitsspaltung, weder eine gute noch eine schlechte Seite. Unterscheidungen waren zwecklos. Denn immer war er Kneipenwirt und Vollstrecker zugleich. Ausschenker und Handlanger. Beide Metiers verlangten Genauigkeit und Ausdauer, Belastbarkeit und auch Menschenfreundlichkeit. Wirt sein und Henker sein: Das war gleichwertig. Beide Berufe bereiteten ihm Freude. Das merkte man ihm an – so umsichtig und beflissen wie er nun einmal war. Fleißig und eifrig: Dieses Zeugnis hätte ihm jeder Prüfer ausgestellt. Makellosigkeit und Professionalität zur Schau stellend, ohne jedoch irgendein Aufheben davon zu machen. Ganz gleich, was er tat, immer bemühte er sich um grundanständiges Handeln. Er erledigte, was man von ihm erwartete, blieb freundlich und unauffällig.

Einer eigenen Meinung enthielt er sich. Er war in der Lage, seinen Mund zu halten, wenn es darauf ankam, und mit Tatkraft zu Werke zu gehen, wenn es so weit war.

Dabei war es völlig egal, ob es sich darum handelte, ein frisches Bier zu zapfen, einen Brandy zu servieren, einen Aschenbecher zu leeren, einen Kartenspieltisch mit einem feuchten Lappen abzuwischen oder einem Gefangenen die Hände auf dem Rücken zu verbinden, bevor er ihn aus der Todeszelle zur Exekution führte. Bevor er ihm das Gefühl gab, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Bevor er ihn behutsam zu seinem eigentlichen Bestimmungsort geleitete. Bevor er ihn von seiner Seelenpein erlöste.

Rupert blinzelte und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment betrachtete er sein blasses und gleichförmiges, genau einundfünfzig Jahre altes Gesicht im länglichen Spiegel neben dem Kleiderschrank und war zufrieden, dass es keine besonderen Merkmale aufwies. Und nur erst wenige Falten. Rupert genoss seine offenkundige Durchschnittlichkeit, ja Unscheinbarkeit. Was er getan hatte und was er heute und morgen wieder tun würde, konnte man ihm nicht ansehen. Was er auf dem Kerbholz hatte, blieb unbemerkt. Er selbst sah sich als Ausbund an Unbescholtenheit und Tugend. Seine rekordverdächtige Hinrichtungsbilanz und sein Doppelleben hätte ihm, wie er da so lag, wohl niemand zugetraut, ausgeschlafen und in einen gestreiften Pyjama gewandet, das Kissen im Nacken hochgeschoben und sich selbst unwillkürlich zuzwinkernd, so als grüßte er einen alten Bekannten. Er wirkte wie jemand, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Wie eine gute Seele, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals einem räudigen Hund einen Fußtritt versetzen oder gar einem kleinen Jungen eine Tracht Prügel verpassen würde.

Rupert und seine Frau hatten weder Kinder noch Haustiere.

Er spürte jetzt, wie unvermittelt Vorfreude in ihm aufstieg. Vorfreude auf die Reise nach London, Lust auf die Erfüllung seines Auftrags. Unbändige Lust. Noch einige Sekunden zögerte er das Aufstehen heraus.

Träume, wenn sie zu Ende geträumt wurden, machten ihm Angst. War er wach, breitete sich Zuversicht in ihm aus. In Träumen konnte man sich leicht verirren. Im Alltag hingegen fand er sich bestens zurecht.

Durch das weit geöffnete Fenster strömte frische, leicht salzige Luft ins Schlafzimmer. Es war empfindlich kühl für einen Sommertag, schließlich lagen Preston und Much Hoole nicht weit vom Meer. Die Irische See sorgte selbst im Binnenland stets für eine steife Brise. Doch die Sonne stand, auch wenn sie keine wohltuende Wärme verbreitete, schon hoch am Himmel. Grelles Licht tanzte auf dem Frisierspiegel, vor dem Ruth gestern Abend ihren Schmuck abgelegt hatte, und lockte ihn ins Bad. Draußen summten bereits die Bienen. Mit großem Eifer schwirrten sie durch Rosenbeete, Jasminsträucher und Hortensien, als wollten sie ihn ermuntern, endlich die Decke zurückzuschlagen. Was er nun auch, ein wenig ächzend, tat. Der Jüngste war er ja nicht mehr.

In der Ferne hörte er einen Zug rattern und sah, als er sich erhob und sein Blick automatisch über die Vorgärten auf die wenig befahrene Landstraße und den Rand des kleinen Dorfes fiel, wie die betagte Mrs Pennebaker vorm Haus gegenüber auf den Bürgersteig trat, um die im Briefkasten steckende Freitagszeitung hereinzuholen.

Er streckte sich, gähnte zweimal kräftig, hockte sich auf die Bettkante und schlüpfte in seine Pantoffeln. Griff nach dem Nachttopf, um ihn zu leeren, und schlurfte nach nebenan. Die Rasur beanspruchte nur wenige Minuten. Als Nächstes begab er sich zur Dusche und ließ, während er mit gekreuzten Beinen in der Wanne kauerte und ein Lied summte, das heiße Wasser eine Weile länger als nötig auf Kopf und Rücken prasseln. Zu guter Letzt schreckte er seinen bleichen Körper mit einem kalten Guss ab und eilte zu seinen bereitgelegten Sachen. Auf eine untadelige Garderobe, auf einen guten Anzug, einen schönen Hut und eine Reihe ausgesuchter Accessoires hatte Rupert stets größten Wert gelegt. Ihm war es, als Kind armer Leute, sehr wichtig, ein gepflegter Mann zu sein.

Ihm war es ganz allgemein wichtig, es zu etwas gebracht zu haben. Nützlich gewesen zu sein. Der Allgemeinheit zur Verfügung gestanden zu haben. Das, fand er, sah man ihm heutzutage ganz bestimmt an. An der Nasenspitze.

Ruth hatte sich lange vor ihm erhoben und war ins Erdgeschoss ihres bescheidenen Landhäuschens in Much Hoole entschwunden, in dem sie nun schon ein paar Jahre zufrieden lebten; er hörte sie in der Küche hantieren. Vielversprechende Aromen, von ihr mit viel Liebe in die Welt gesetzt, wirkten wie ein Magnet auf ihn, riefen ihn förmlich zu ihr hinunter, verschafften ihm sofort noch größere Lust auf sein Tagesgeschäft. Rupert hörte auch, als er sich abtrocknete und anzog, seine aufgezogene Taschenuhr in der Westentasche verschwinden ließ, die farblich abgestimmte Krawatte umband und ein sauberes Einstecktuch auswählte, den pfeifenden Teekessel und, ungleich undeutlicher, das Gebrabbel des Moderators, der die Morgennachrichten im Radio verlas. Irgendetwas mit einem neuen Theaterstück, das, wenn er richtig verstanden hatte, Blick zurück im Zorn hieß und morgen Abend im Londoner Theatre District Premiere haben würde.

Nun, Rupert war – wenn er sich’s recht überlegte – auf nichts und niemanden zornig. In ihm war keine aufgestaute Wut, die er irgendwo entladen oder an anderen auslassen musste. Sadistische Züge waren ihm fremd. Eigentlich hatte er konstant gute Laune. Ein kurzer Windstoß ließ das Fenster zufallen, das sich gleich wieder öffnete, wie von Zauberhand gelenkt. Kurz darauf vernahm er, wie erwartet, schließlich den fröhlichen Ruf seiner Frau. Das Frühstück war fertig. Es duftete verheißungsvoll. Zur Feier des Tages ein warmes Breakfast, mit allem Drum und Dran.

„Kommst du?“

Rupert ließ sich das nicht zweimal sagen, stieg die enge Treppe nach unten, kam der freundlichen Aufforderung seiner Frau am Küchentisch Platz zu nehmen nach, und genehmigte sich eine große Portion Baked Beans mit Blutwurst und Bacon. Ruth, noch im Morgenrock, hatte die Schlagzeilen bereits überflogen und danach einen Musiksender eingestellt, der leise vor sich hin dudelte. Lange vor ihm war sie mit dem Essen fertig, leistete ihrem Mann Gesellschaft, spottete über seinen ausgesprochen guten Appetit und musterte ihn mit ihrem kritischen, wohlwollenden Blick.

In ihren Augen las er eine gewisse Unruhe; sie sandten aber auch Signale der Ermunterung an ihn aus. Nachbarschaftstratsch und die Einnahmen des letzten Abends im Pub – mehr als zufriedenstellend – dominierten ihr unbefangenes Geplauder. Rupert murmelte zustimmend, hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, nickte und kaute, klapperte mit dem Besteck und schlang seine Scrambled Eggs herunter.

Beiläufig erkundigte sie sich nach der Abfahrtzeit seines Zuges. Obwohl sie den Fahrplan genauestens kannte. Ansonsten stellte sie keine Fragen, beklagte sich nicht, ließ ihn in Ruhe, und Rupert liebte sie dafür. Für ihre Diskretion und ihr Verständnis. Für ihre Geschmeidigkeit und ihre unausgesprochene Bewunderung für sein Tun.

Wie er war Ruth ein Musterbeispiel an Verschwiegenheit. Dabei wusste er genau, dass sie alles wusste. Er wusste, dass selbstverständlich sie es war, die neulich den versiegelten Brief von der Gefängniskommission in Empfang genommen und ihn sogleich, wie sie es noch während der Kriegsjahre, gleich zu Beginn ihrer Ehe, stillschweigend vereinbart hatten, ohne Kommentar auf den Kaminsims gelegt hatte. Er wusste, dass sie wusste, was solche offiziellen Schreiben bedeuteten. Sie lagen da, damit er sie gleich sah, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Von ihr platziert, wie ein Ausrufezeichen. Wie schon seine Mutter es bei seinem Vater und seine Tante bei seinem Onkel getan hatten. Um wortlos auf das Unabänderliche hinzuweisen.

Dutzende, Hunderte von Briefen, Telegrammen, Depeschen. Ungeöffnet hatten Ruth und ihre Leidensgenossinnen diese Schreiben dort hingelegt, ohne ihre Missbilligung kundzutun. Mit der Schreibmaschine getippte, im Behördenton verfasste Schreiben, die keine Worte der Zuneigung oder Anerkennung enthielten, nichts Persönliches. Schreiben, aus denen sich nichts vom bevorstehenden Grauen herauslesen ließ. Nur Daten, Termine, Floskeln, Anweisungen. Immer auf dem Kaminsims auf die Männer der Beaufort-Familie wartend. Und das ganze Leid der vorübergehend Alleingelassenen schon enthaltend, die sich nun ausmalen konnten, was sich während der Abwesenheit ihrer Gatten irgendwo da draußen im Lande abspielte. Was ihre Männer anstellten, zu welchen entsetzlichen Taten sie fähig waren. Fähig sein mussten. Als sei es ihnen vorbestimmt. Und doch befürworteten die Frauen diesen Dienst und die Geschehnisse, hießen sie gut, stärkten ihren Männern den Rücken, indem sie sie ihr Einverständnis spüren ließen.

Stumme Befehle waren diese Benachrichtigungen somit, Befehle, die einen Mechanismus in Gang setzten. Stumme Schreie, die tagelang in den Ohren der Ehefrauen gellten und das Blut ihrer Männer augenblicklich in Wallung brachten. Schreie, die an das Ehrgefühl dieser Männer und Frauen appellierten. Eindringlich, unbarmherzig, fatalistisch. Schreie wie dieser, der vorerst letzte in einer endlosen Reihe von Briefen. Anfang der vorangegangenen Woche war das gewesen.

Rupert hatte, als er ihn bei seiner Heimkehr mitten in der Nacht auf dem Sims entdeckt hatte, den Umschlag mit dem Finger aufgerissen, das Papier entfaltet und die kurze Mitteilung in wenigen Sekunden überflogen. Wandsworth, so lautete die entscheidende Information, die altehrwürdige Londoner Korrektionsanstalt. Wieder einmal Wandsworth, wo er sich auskannte wie in seiner Westentasche. Das Gefängnis Ihrer Majestät im Südwesten der Hauptstadt, das vor Kurzem, als noch nicht die blutjunge Elisabeth Königin, sondern der stotternde George König gewesen war, His Majesty’s Prison geheißen hatte.

Dort hatte er, wie er jetzt in Erfahrung brachte, als Chief Executioner einen Mann zu hängen, Mitte zwanzig, Italiener, klangvoller Name, künstlerischer Beruf, gutes Einkommen, keine Vorstrafen, Mord aus Leidenschaft.

„Ich fahre natürlich“, hatte er Ruth mit falscher Munterkeit zugerufen, und die Blicke der Eheleute hatten sich für eine Sekunde gekreuzt. „Nächsten Samstag.“

„Das heißt dann ja wohl, ich muss die Rose ganz alleine schmeißen“, hatte seine Gattin bloß entgegnet. Was nicht klang, als wäre die Aussicht auf diesen anstrengenden Abend gleich das Ende der Welt für sie. Und dann achselzuckend, aber nicht ohne einen bitteren Unterton, hinzugefügt: „Es sei denn, sie be­gnadigen ihn wieder.“

Rupert hatte eine Grimasse gezogen und gleichzeitig einen dumpfen Schlag in der Magengegend verspürt.

„Bloß nicht“, hatte er entgegnet, vernehmlich geseufzt und sich darangemacht, seine engen Schuhe aufzuschnüren, um sich vom langen Stehen im Lokal Erleichterung zu verschaffen.

Ruth hatte ihm dabei zugesehen. Wie damals, so überkam sie auch jetzt wieder, am Frühstückstisch, ein Gefühl der Zärtlichkeit. Nur zu genau wusste sie: Die Demütigung vom Vorjahr hatte er noch lange nicht verwunden.

Träumen, Wunschträumen anhängen und Fantasien durchspielen, das überließ er den anderen. Menschen, für die er seit Jahren den Helden spielte. Für die er der Rächer schlechthin war, einer, der für Wiedergutmachung sorgte. Von seinen glorreichen Taten ließ er schlichte Gemüter ruhig weiterträumen, die in ihm etwas Größeres, Bedeutenderes sahen, sehen wollten, dessen Glanz ein wenig auch auf sie abstrahlte. In erster Linie den Stammgästen in seiner Kneipe, die keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machten. Und ihn wegen seiner biederen Manieren und Jovialität ungemein schätzten. Männer, die stolz darauf waren, jeden Abend nicht in irgendeinen, sondern in einen ganz besonderen Pub zu gehen, The Rose & Crown, einen Pub, wo eben er der Boss war, und sich bis zu einem halben Dutzend Pints zu genehmigen, einen Pub, dessen Pächter eine echte Berühmtheit war – die bloße Gegenwart des Pächters löste behaglichen Nervenkitzel bei ihnen aus.

Allen voran Stuart, sein treuer Kumpel noch aus den Tagen, als beide als Lieferanten arbeiteten und schwer anpacken mussten, Stuart Nicholson, der am liebsten jede Einzelheit brühwarm von Rupert erzählt bekommen wollte. Wäre sein gefeierter Freund doch nur ein einziges Mal bereit, seine makabren Geheimnisse preiszugeben. Und dabei in puncto Horror noch mit Ausschmückungen und Übertreibungen ordentlich einen draufzulegen.

„Spuck’s aus, Rupert“, flüsterte ihm Stuart, schon zu früher Stunde leicht beschwipst, mehr als einmal pro Abend vertraulich zu, wenn Rupert gerade wieder von einer Dienstreise zurück war, „wie war’s in Liverpool? Alles gut gelaufen? Oder hat der arme Hund dir etwa Scherereien bereitet?“ Rupert lächelte vielsagend zurück, krempelte die Ärmel hoch und machte sich, eine dicke Zigarre im Mundwinkel, hinter dem Tresen zu schaffen.

Stuart versorgte den „Publican“, den Gastwirt Rupert, sobald er sich eine Schürze umgebunden oder nach dem Geschirrtuch gegriffen hatte, auch mit Neuigkeiten, die er entweder in der Zeitung gelesen oder beim Schwatz auf der Straße aufgeschnappt hatte – von Verbrechen, Eifersuchtsdelikten und Raub­überfällen, die sich im Umkreis von Manchester, im fernen London, in Wales oder Schottland, manchmal gar ganz in der Nähe zugetragen hatten.

„Das ist wohl wieder ein Kandidat für dich, alter Junge“, meinte er dann grinsend, „warten wir’s ab, ob die Geschworenen mitspielen.“

Nicht selten erwiesen sich Stuarts Prophezeiungen als durchaus zutreffend, und besagte Missetäter zählten dann tatsächlich zu jenen unglücklichen Sündern, an denen Rupert die verkündete Höchststrafe „Tod durch den Strang“ einige Wochen später vornahm.

Stuart, von kriminalistischem Ehrgeiz beflügelt, träumte nach eigener Aussage oft davon, Rupert begleiten zu dürfen, hautnah dabei zu sein, dem Todgeweihten in die Augen zu blicken und ein zusätzliches Geständnis mit vielen pikanten Informationen zu entlocken, wenn es sich – wie zumeist – um eine Eifersuchtstat, um eine Kinderschändung oder einen Raubmord mit vorheriger Vergewaltigung, wenn es sich um „sex and crime“ handelte.

Dann war da noch Burt, ebenso wissbegierig und detailversessen, der stundenlang auf dem verstimmten Klavier im Rose & Crown für beschwingte Hintergrundmusik sorgte, Burt Ivins mit vollem Namen, dem es größtes Vergnügen bereitete, mit flinken Fingern zu klimpern und einen Ragtime nach dem anderen zum Besten zu geben. Burt, der Rupert bei seinen beliebten Gesangseinlagen kurz vor der Sperrstunde mit unermüdlicher Begeisterung begleitete und dafür dann und wann von ihm ein Ale ausgegeben bekam – Burt war die Neugier selbst.

Erpicht waren Burt und seinesgleichen auf Schauergeschichten. Auf blutrünstige Anekdoten. Hätten nur zu gern als Fliegen an der Wand beim Hängen zugeschaut, erschreckt gestarrt, wenn der Gehenkte nach Öffnen der Falltür in die Tiefe fuhr, oder, wer weiß, womöglich gern einmal selbst Hand angelegt.

Rupert wusste nur zu gut: Dazu wären sie nie und nimmer in der Lage gewesen. Weder zum Verhüllen des gesenkten Kopfes mit einem weißen Tuch, das einer Kapuze glich, noch zum richtigen Anbringen der Schlinge. Zum Abnehmen des leblosen Körpers vom Seil, den man weiter unten in Empfang zu nehmen hatte, zur andächtigen letzten halben Stunde also, ganz allein mit dem Kadaver des Missetäters, erst recht nicht. Sie hätten kalte Füße bekommen und sofort den Schwanz eingezogen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären. Maulhelden waren sie.

Obwohl er beide, Stuart wie auch Burt, mochte und ihre Loyalität schätzte. Auch weil er wusste, dass er sich vor ihnen nie rechtfertigen musste – seine Berechtigung zum Hinrichten würden sie zuallerletzt infrage stellen. Darüber hinaus wusste er, wie sehr es ihnen imponierte, dass er sich nie mit seinen Leistungen und Opferzahlen brüstete. Es schmeichelte ihm insgeheim, dass Ivins und Nicholson ihm so ergeben waren, wenngleich er doch in all den Jahren kein Sterbenswörtchen durchsickern lassen, nicht einmal eine Andeutung gemacht hatte. Und dass sie, auch wenn sie diesbezüglich bislang noch nie auf ihre Kosten gekommen waren, allabendlich allein seinetwegen eigens aus Oldham und Hollinwood anreisten. Was bemerkenswert war und ganz schönen Aufwand erforderte.

An der Qualität seiner Biere konnte es sicher nicht liegen. Die waren nichts Besonderes. Anständig und banal. Nein, seine Boys kamen wirklich gern. Sie mochten, ja liebten ihn, konnten keinen Abend ohne ihn zubringen. Es machte ihnen Spaß, sich als Ruperts Freunde auszugeben, Ruth, ohne es wirklich ernst zu meinen, schöne Augen zu machen und mit dem einen oder anderen jungen Mädchen, das gelegentlich in Begleitung vorbeikam, um im Stehen einen Port oder Sherry zu trinken, möglichst unbemerkt zu flirten. Ganz harmlos war das eigentlich alles.

Hätte jemand Burt und Stuart interviewt, so hätten sie sich, ohne zu zögern, als seine besten Freunde bezeichnet. Aber so jemand wie Rupert Beaufort hatte, wie er nur zu gut wusste, keine Freunde. Nur Bekannte. Das war auch besser so. Das war ihm wichtig, und das schützte ihn. In die Karten schauen ließ er sich von niemandem, und wenn überhaupt, dann nur von Ruth. Und auch von ihr nur ein ganz klein wenig.

Wenn sie ihm gar zu sehr auf die Pelle rückten mit ihrer Neugier, wenn Stuart ihn in die Zange nahm und Burt ihn erneut ausfragte, ja auszuquetschen versuchte, beugte Rupert sich über die Spüle, pfiff einen Gassenhauer, tat so, als sei er von einem anderen Gespräch im Raum abgelenkt, hielt ein abgetrocknetes Glas prüfend gegen das Licht oder beschäftigte sich so lange gedankenverloren mit dem Zapfhahn, bis sie von ihm abließen.

Irgendwann, meist erst zu später Stunde, wenn sie merkten, dass sie wieder nichts aus ihm herausbekommen würden, gaben sie Ruhe, fast zufrieden, dass der Publican nun doch nicht zum Schwätzer geworden war. Dann jedoch trat ihr berühmter Buddy in den Schankraum und war nicht länger zerstreut, wandte sich leutselig einem anderen Gast zu, spazierte von Tisch zu Tisch, ließ joviale, aber folgenlose Bemerkungen fallen und seinen angeborenen Charme spielen. Dass er so gut mit Menschen konnte, die ihm überhaupt nicht am Herzen lagen, die ihm sogar gleichgültig waren, dass er Warmherzigkeit versprühte und mit seinem unverbindlichen Small Talk eine gemütliche Atmosphäre herzustellen vermochte, war der Hauptgrund dafür, dass der Pub immer gut gefüllt war und die meisten Gäste nur sehr ungern von dannen zogen, wenn die Uhr elf geschlagen hatte.

„Du hast sie wieder über den Tisch gezogen“, pflegte Ruth dann anerkennend zu ihm zu sagen, während sie das Geld zählte und er vor dem Ausfegen die Stühle auf die Tische wuchtete, „du bist einfach ein schlauer Fuchs.“

Rupert musste sich indessen gar nicht eigens um eine freundliche Taktik bemühen. Diesen Gelassenheitspanzer, diese Rüstung aus Friedfertigkeit und Liebenswürdigkeit hatte er sich schon vor einer halben Ewigkeit zugelegt. Dieser Selbstschutz funktionierte einwandfrei.

Besonnenheit war seine große Stärke. Nie über den Durst trinken, nie ungefragt ins Erzählen geraten. Nie die Fassung verlieren. Einfach nur nett sein und gesellig. Zuhören. Nicken und von Zeit zu Zeit beipflichtende, triviale Bemerkungen anbringen. Für jeden ein freundliches Wort überhaben.

Mit Leuten umzugehen, das lag ihm von jeher im Blut. Und wenn sie, bei seinen musikalischen Darbietungen buchstäblich an seinen Lippen hängend und ihn mucksmäuschenstill anstarrend, nach dem dritten Rausschmeißer, johlend und wie wild klatschend, noch eine weitere Zugabe verlangten, kam er erst richtig in Fahrt, drehte auf und gab seinem Affen Zucker. Ließ seinen sonoren Bariton ertönen und versorgte sie mit noch einem herzzerreißenden Matrosenliedchen, noch einer irischen Volksweise, noch einer schottischen Ballade, noch einer anzüglichen Moritat, noch einem inbrünstig vorgetragenen Love Song.

Dann tat er ihnen eben den Gefallen. Sein Repertoire – frivole Gassenhauer, Folklieder, bluesige Nummern – war ja unerschöpflich. Sie jubelten. Sie himmelten ihn an.

Beaufort, der war einfach einmalig.

Ein Pfundskerl.

Ein Held noch dazu.

Ein Glücksfall.

Wir sind so froh, dass wir ihn kennen.

Einer von uns.

So hörte er sie raunen und schwärmen.

So manches Männerauge wurde feucht, wenn er seine Stammgäste zum Abschied kurz umarmte und sie damit für den Bruchteil einer Sekunde zu Privilegierten machte. Nie zu lange, stets ohne sentimentale Anwandlung.

Rupert beherrschte die Kunst der richtigen Dosierung von Distanz und Zutraulichkeit. Verfügte – nicht nur beim Hängen – über ein unnachahmliches Timing. Und er wusste, morgen würden sie gleich nach Lokalöffnung wieder zur Stelle sein. Todsicher um Einlass bitten. Zu ihm aufschauen und um seine Gunst buhlen. Das war eine Genugtuung für ihn. Danach konnte er die Uhr stellen.

Es war auch eine Handvoll Frauen unter seinen Fans, die Rupert vor jeder Hinrichtung anfeuerten wie bei einem Boxkampf. Die ihm schamlose Blicke zuwarfen und ihn anstachelten, die ihm: „Gib’s dem Halunken!“, oder, ärger noch: „Bring’ den Schweinehund zur Strecke!“, zuriefen, bevor er sich anderntags auf die Reise machte.

Das war ihm immer ein wenig unbehaglich und manchmal richtig zuwider. Er kam sich dann vor wie ein großer halb nackter Bulle, der, von Tausenden Augenpaaren angeglotzt, in den Ring steigt. Wie ein hirnloses Kraftpaket, das sich zum wild gewordenen Affen macht, indem es sich grölend an die Brust schlägt und seinem Gegner einen brutalen, gezielten Faustschlag verpasst. Bis der Getroffene k.o. geht und am Boden liegt. Um dann, noch voller Verachtung, nachzutreten.

Rupert hasste es, wenn sich Außenstehende an seiner Pflichterfüllung aufgeilten und unverhohlen ihren Rachedurst bekundeten. Denn was er in Pentonville oder in Strangeways, in Wandsworth, in Shepton Mallet oder in Mountjoy mit seinen Verurteilten anstellte, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr wie Schutzbefohlene erschienen waren, hatte freilich mit Brutalität und Fertigmachen, mit Plattwalzen und Auslöschen rein gar nichts zu tun.

Er war kein öffentlicher Auspeitscher, er betätigte keine Guillotine, er schlug niemanden zu Brei. Er nutzte die Position der Überlegenheit, die Amt und Gesetz ihm zuschrieben, nie aus, um zu demütigen oder zu vernichten.

Er war stark, ohne muskulös zu sein. Mit einer unkontrollierbaren Bestie, der man einen Schwächling zum Fraß vorwarf, hatte er nichts gemein. Und schon gar nicht mit einer Tötungsmaschine.

Diese armen Menschen, die ihm in ihren letzten Lebensminuten unter die Augen traten, weil sie der Gemeinschaft der Unbescholtenen nicht länger unter die Augen treten durften und für ihre Untaten büßen mussten, waren alles andere als wehrlose Gegner. Rupert hatte vor den zu Hängenden den allergrößten Respekt. Ihm war bewusst, dass sie die Konsequenzen ihrer Straftaten, nach wochenlanger Grübelei in den Zellen und in der Einsamkeit der Kerker, längst akzeptiert hatten, und er wusste um ihr Einverständnis. Er war zutiefst davon überzeugt, dass jede und jeder von ihnen am Todesmorgen mit ihrem oder seinem Ende einverstanden war. Und dass sich die meisten von ihnen glücklich schätzten, dass gerade er zu ihnen gekommen war, damit dieser Abschluss möglichst rasch herbeigeführt werden konnte.

Höflich war, mit wenigen Ausnahmen, ihr Betragen. Gefasst waren sie, nur wenige wehrten sich, und die Ruhigsten unter ihnen atmeten hörbar auf, wenn sie merkten, dass Rupert auch ihnen mit Zuvorkommenheit begegnete.

Seine Verurteilten. Sie gehörten ihm ja, an diesem letzten Tag ihres Lebens. Ihm allein. In ihrer Todesstunde, kaum mehr als ein Stündchen, das dann auf nur wenige Minuten, Sekunden eigentlich, zusammenschrumpfte, gehörten sie ihm ganz und gar.

Er hatte gelernt, sie zu studieren und ihre Demut zu deuten. Er las in ihren Augen, spürte, wie zartbesaitet sie eigentlich waren, erkannte die Verwundbarkeit, die Verletzungen, die tiefen Wunden ihres Vorlebens; von ihren eigentlichen Straftaten erfuhr er in diesem Moment nichts und wollte auch, zumal wenn er die Hinrichtung hinter sich gebracht hatte, so wenig wie möglich davon wissen.

All dies hätte er seinen Gästen im Pub am liebsten einmal in Ruhe auseinandergesetzt. Allerdings ließen sie ihn nie zu Worte kommen, ihnen stand der Sinn nach anderen Informationen. Oder nach Liedern. Möglichst zweideutigen oder obszönen. Diesen sich in Ekstase steigernden, nach Blut und Gewalt förmlich lechzenden Frauen in seinem Lokal, allesamt ehrbare Ehefrauen noch dazu, die sich unter dem amüsierten Blick ihrer Männer gerne einmal ein wenig gehen ließen, hätte Rupert gern erklärt, dass er überhaupt kein Mörder war. Beteuert hätte er es. Auch, dass er sich nicht mit einem Serial Killer, wie ihm immer wieder zu Ohren gekommen war, vergleichen ließ.

Bei solchen Szenen hätte er Stuart am liebsten untersagt, was der seit Monaten am liebsten tat: von Ruperts neuestem Auftrag überall im Ort und selbst in Manchester ungeniert herumzuerzählen.

Es half nichts: Die Sensationsgier seines Kumpels war stärker. Kaum hatte Rupert das nächste offizielle Schreiben von der Gefängniskommission erhalten und, an den Kaminsims gelehnt, aufmerksam studiert, kaum das genaue Datum der Exekution in Erfahrung gebracht und den Ablauf seines Wochenendes fern von zu Hause geplant, wusste Nicholson aus mysteriösen Gründen genauestens Bescheid, verbreitete Gerüchte, applaudierte Rupert, wenn er die Kneipe betrat, grinste vielsagend, wies mit dem Daumen auf ihn und ließ ihn hochleben – dabei hätten Ruth und ihr Mann die Hand dafür ins Feuer legen können, niemandem davon berichtet zu haben.

The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war.

Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die passende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war.

Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund.

Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen!

Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier.

Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ.

Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker passte der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war.

Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien.

Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unpassenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar.

Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte.

In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken.

Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte.

Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion bekam und von der Identität des heldenhaften Executioner erfuhr, aus und vorbei mit der bewährten Diskretion und der früheren Geheimniskrämerei. Von einem Tag auf den anderen war der Name Beaufort in aller Munde, und die Menschen kamen in Scharen nach Hollinwood, um ihn anzustarren, zu bewundern und zu feiern. Damit war sein Schicksal als Volksheld unwiderruflich besiegelt, und über Nacht war er zu einer Berühmtheit geworden. Zu einem tollen Hecht, der es den verhassten Deutschen endlich einmal zeigte. In Hameln. Hamelin, wie seine Landsleute sagten. Der mit Judenmördern abrechnete und der Unmenschen wie verachtenswerten Schindern den Garaus bereitete. Der die Schlächter unter den Nazis, die lange genug ungestraft ihr Unwesen treiben durften, kurzerhand ins Massengrab beförderte. Der den Sieg der freien Welt mit seinem Tun eindrucksvoll untermauerte.

Wenn es nach Rupert gegangen wäre, hätte sein Leben lang nie jemand von seinem Zweitberuf erfahren. Auch jetzt noch nicht. Nur allzu gern hätte er die Uhr wieder zurückgedreht und die deutsche Episode ungeschehen gemacht, um seine Anonymität bis zum letzten Atemzug zu bewahren und zu schützen.

Es widerstrebte ihm, seine Leidenschaft an die große Glocke zu hängen. Alles, was mit Galgen und Todesstrafe, mit Vollstrecken und Hinrichten zu tun hatte, wollte er um jeden Preis für sich behalten. Er hätte demnach auch weiterhin eine richtige Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Existenz führen können, so perfekt und undurchsichtig wie möglich.

Wenn ihm die Tötungsserien im fernen Hameln nur nicht dazwischengefunkt hätten, wo er es zum ersten Mal nicht mit Liebenden, Verzweifelten, Dieben oder Psychopathen zu tun bekommen hatte, sondern mit Funktionsträgern eines Unrechtsstaates, die mordeten, weil ein verbrecherisches System es ihnen befohlen hatte. Mit Bürokraten des Grauens, genau genommen. Deshalb hatte er sich zum ersten Mal auch die Frage stellen müssen, ob er da in Wahrheit nicht seinesgleichen unbekümmert in den Tod schickte. Menschen, die wie er Vorschriften gefolgt waren und Befehle ausgeführt hatten, die an ihren Auftrag geglaubt hatten und nun, wohl oder übel, einsehen mussten, dass eine andere, tolerantere Rechtsprechung ihr Handeln im Nachhinein als unrechtmäßig einstufte und sie verdammte.

Ja, zum ersten Mal war Rupert mit grundsätzlichen und sehr unangenehmen Fragen konfrontiert worden, die an sein Inneres rührten, die sein Selbstverständnis ins Wanken bringen konnten, die ihn massiv bedrohten. Rupert hatte nicht lange überlegt, war nur für einige Minuten in sich gegangen und hatte sich in einer Art innerem Kreuzverhör selbst befragt. Zweifel hatte er erst gar nicht an sich herangelassen, nach jedem Hamelner Wochenende eine tiefe Mütze Schlaf genommen und eventuelle Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den deutschen KZ-Schergen empört verneint.

Welten trennten ihn von ihnen, und, wie unübersehbar war, standen die Schergen auf der falschen Seite der Geschichte. Hatten sich ihr Los selbst zuzuschreiben, während er, momentan, sich aus freien Stücken in den Dienst der Alliierten stellte. Nach allen Regeln der Kunst hatte er mit ihnen, die in Schnellverfahren, von deren Verlauf er keine Kenntnis hatte, abgeurteilt worden waren, kurzen Prozess gemacht. Burt und Stuart meinten: hochverdient. Rupert müsse ein Orden verliehen werden für seine Verdienste ums Vaterland, um die Freiheit und die westliche Demokratie. Eine Auszeichnung für ihn müsse dringend her, mit einer großen Freudenfeier, mit Feuerwerk, Marschmusik und offiziellen Reden. Und auch Ruth ließ ihn spüren, dass er seine Sache diesmal besonders gut gemacht hatte.

Triumphgefühle ließ, wie Rupert wusste, das britische Justizwesen gar nicht erst aufkommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit den heiklen Kriegsverbrecherprozessen, wo auch nicht unbedingt alles nach Wunsch oder mit der gebotenen Fairness abgelaufen war – schnell, rasend schnell hatte es gehen müssen, die Rechtsprechung hatte auf wackligen Füßen gestanden, die Bürger der Siegermächte waren von verständlichen Emotionen wie Vergeltung, von niederen Gefühlen wie Heimzahlen und Aufrechnen keinesfalls frei gewesen. Vor weiteren Anwürfen, die nur er selbst an sich richten konnte, musste er fortan auf der Hut sein und aufpassen, nur ja nicht auf einmal dünnhäutig zu werden. Oder angreifbar. Nun war sein Name regelmäßig in den Zeitungen des Landes zu lesen und sein Konterfei auf so mancher Titelseite abgebildet gewesen, und an diesem misslichen Umstand hatte sich auch in der jüngsten Vergangenheit nichts mehr ändern lassen können.

Rupert musste mit seiner Berühmtheit weiterleben, ob er wollte oder nicht. In den Folgejahren machte er seinen Frieden mit diesem neuen Status. Übte Nachsicht mit seinen Anhängern. Ließ es zu, dass die Würdigung seines Tuns so manches Mal überhandnahm. Ließ sich dazu hinreißen, ganz selten nur kam das vor, die „Beaufort!“-Rufe zu genießen, die ihn an Samstagabenden entgegenschallten. Nur für Stuart und Burt war er einfach Rupert. Und für Ruth, na klar. Sonst durfte sich niemand eine solche Vertraulichkeit herausnehmen.

Für den Struggler, begehrt wie nie zuvor, zahlte sich seine Reputation auf alle Fälle aus – die Gäste standen Schlange, wollten dem bunten Hund Beaufort die Hand schütteln und ihre Komplimente loswerden.

Bald gehörte es zum guten Ton in Manchester und Umgebung, hier nach Arbeitsschluss vorbeizuschauen, sich ein paar Gläschen zu genehmigen und gesehen zu werden. Es wurde Kult, im Strugg­ler für eine große Anzahl Freunde oder Kollegen eine Runde zu schmeißen. Selbst mit einem Champagnervorrat musste sich Rupert eindecken – ein edles Gesöff, das früher nie jemand bestellt hatte.

Nach ein paar Monaten konnten Ruth und er sich sogar eine Bedienung leisten und zusätzlich einen jungen Mann, der an den Wochenenden spülte und den Laden sauber hielt. Der Pub hatte sich als Goldgrube erwiesen.

Einige Jahre später zogen die Beauforts aufs Land und wurden Pächter einer viel größeren Kneipe. Hier war der Rummel erträglicher, auch wenn die hartnäckigen Fans aus Hollinwood, treu wie sie waren, ihnen nachreisten und Wochenende für Wochenende die Bude einrannten. Auf sie war Verlass. Was Rupert rührte.

Ganz ohne Sensationstouristen, die sich gemeinsam mit ihm ablichten lassen wollten, wobei sie mit albernen Gesten sich die Hand an die Kehle legten oder den Kopf hängen ließen und die Zunge herausstreckten, um eine Hinrichtung nachzuahmen, ganz ohne die Horrorfans ging es auch in Much Hoole nicht ab. Egal, da musste Rupert durch. Machte gute Miene zum bösen Spiel. Blickte mit gespielter Verzweiflung in die Kamera. Ein kleines Häuschen war nun auch drin für ihn und seine emsige Frau. In dem sie es sich bequem machten. Much Hoole war nicht der Nabel der Welt, Preston, etwas weiter nördlich, auch nicht, aber auf den Stress der Großstadt und auf das hektische Vorstadttreiben konnten die beiden, unterdessen im mittleren Alter angelangt, gut verzichten.

Wohlhabender als seine Familie in Clayton, wo er geboren, und in Huddersfield und Failsworth, wo er aufgewachsen war, waren Ruth und er mittlerweile allemal. Und auch ein ganzes Stück glücklicher, wie ihm schien.

Rupert störte es nicht, dass er nach Schließung des Lokals, eine Viertelmeile von ihrem Cottage entfernt, allnächtlich noch einen kleinen Bummel absolvieren musste, bevor er endlich alle viere von sich strecken und sich ausruhen konnte. Dieser kurze Spaziergang, auch an kalten, sternenklaren Winterabenden, zwischen verrauchter Bude und trautem Heim tat ihm gut, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Schuf Abstand zwischen dem Geplänkel im Pub und der ersehnten Nachtruhe, Seite an Seite mit Ruth.

Aus den armen Kämpfern, aus dem Lieferanten und der Hilfskrämerin war ein zufriedenes Ehepaar geworden, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Ziemlich weit hatten sie, der ehemalige Fahrer und die ehemalige Verkäuferin, es gebracht. Eine ansehnliche Laufbahn absolviert.

Nicht dass sie über die Stränge schlugen. Eine Woche Brighton oder ein paar Tage Blackpool pro Jahr, ein Wochenendausflug nach Birmingham, ein Kurztrip zur Hadrian’s Wall lagen im Bereich des Möglichen. Wenn ihnen Pub und Henkergeschäft überhaupt Zeit dafür ließen.

Sie waren es zufrieden – denn mit den Hinrichtungen allein wurde man weiß Gott nicht reich. Henker waren keine Beamte, ein Grundgehalt gab es nicht, und bezahlt wurde, neben Spesen, allein die erfolgte Hinrichtung: als Einzelleistung. Nicht mehr als ein Zubrot sprang dabei heraus. Eine Aufwandsentschädigung, wenn man so wollte. Eine Besoldung war auch für die besten unter den Scharfrichtern nicht vorgesehen.

Es war und blieb ein Handwerk ohne goldenen Boden. Nur in den Nachkriegsjahren hatten die Massenexekutionen Rupert kurzzeitig die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzu­stand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste.

Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde.

Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch.

Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche.

Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung. Ein fauler Kompromiss.

Ruperts Unzufriedenheit war mit diesem Zugeständnis nicht verflogen. Und er war sich fast sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen.

Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt.

Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen.

Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Auserwählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.

Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?

Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert.

Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war.

Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag.

Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf?

Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte.

Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und mager, so wie sein Daddy und dessen Bruder. Und das, obwohl er sich ohne Zurückhaltung über jeden Sunday Roast hermachte, den sie auftischte, und sich auch bei den leckeren, kalorienreichen Scones, die zur Tea Time gereicht wurden, gütlich tat. Rupert war es recht so. Dass Ruth diese herrlichen Rundungen besaß, gefiel ihm ungemein, und dass er zur Belohnung verdrücken konnte, was er wollte, ohne jemals auf sein Gewicht achten zu müssen, mindestens ebenso.

„Gute Reise, my love“, hauchte Ruth ihm ins Ohr, löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich auf dem Absatz um.

Rupert rief ihr ein „See you tomorrow!“ hinterher, wartete, bis er die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, drehte sich nicht noch einmal um und spazierte die kaum belebte Hauptstraße des Dorfes entlang gemächlich auf die Haltestelle zu.

Schon sah er den Bus von Südwesten herannahen, er war pünktlich. In zwanzig Minuten würde Rupert in Preston sein, dann mit dem Vorortzug nach Manchester weiterfahren und um vierzehn Uhr mit dem Wochenend-Express von der London Road Station in die Hauptstadt reisen. Zweiter Klasse, das war an einem Freitagnachmittag am unauffälligsten. Und mit leichtem Gepäck – Beaufort führte nur eine Aktentasche mit sich, in der sich Füller und Papier, die Wochenendzeitung, ein Regenschirm, Waschzeug und frische Wäsche befanden. Sowie ein weißes Tuch, das er seinem Delinquenten morgen früh wie eine Kapuze über den Kopf ziehen würde.

Ein Gnadenakt, den er stets gern erwies. Einer von vielen. Eine letzte Geste der Schicklichkeit.

Alles würde wie immer sein.

Tagträume gestattete er sich durchaus. Besonders während der langen, schier endlosen Zugfahrten quer durch das Vereinigte Königreich. Mit leerem Blick starrte er aus den verschmutzten Fenstern in die vorbeiziehende Landschaft aus Grün- und Brauntönen und die sich wie in Zeitlupe entfaltenden Städte und Industrieanlagen, nahm die heruntergekommenen Provinzbahnhöfe und die traurig in den Junihimmel ragenden Fabrikschlote nicht wirklich wahr, auch die wartenden und rauchenden Passagiere auf den Bahnsteigen nicht, ignorierte zu- und aussteigende Mitreisende, klappte die Lider herunter, registrierte nichts Bestimmtes um sich herum.

Kurz, er verbrachte die Fahrtzeit wie in Trance. Blendete alles aus, lästige Gespräche, unbeholfene Anbandelungsversuche unter Teenagern, das öde Geschnatter aufgeregter Hausfrauen, die zum Shopping nach London unterwegs waren, fußballverrückte Männer, die fachsimpelten und andere von den Vorzügen gerade ihres Clubs überzeugen wollten, Fahrkartenkontrollen, fliegende Händler, das ewige Geschiebe von Koffern und Taschen, das inquisitorische Auftreten der Schaffner, von Sitznachbarn angebotene Bonbons, den strengen Geruch eines ausgewickelten, mit Innereien belegten Sandwiches, das Geräusch, wenn sich jemand aus einer mitgebrachten Thermoskanne Tee eingoss, die Ausdünstungen eines Arbeiters, der nach der Frühschicht in der Fabrik noch nicht dazu gekommen war, sich zu reinigen, all das also, was nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatte.

Rupert schlug die Zeit tot, nutzte die langen Stunden und das monotone Geratter, um bei der Ankunft noch wachsamer, noch konzentrierter sein zu können.

Tagträume waren sehr hilfreich. Um Fremde abzuwimmeln, die ihn im Abteil erkannten, auch wenn er den Hut weit ins Gesicht gezogen hatte. Und ihn bedrängten und bestürmten. Mit Fragen, Glückwünschen und Kommentaren.

„Sie sind’s doch, Beaufort, stimmt’s?“, war die Standardformel.

„Großartig, wie Sie Ihren Job machen!“, bekam er ein ums andere Mal gesagt. Gefolgt von einem solidarischen „Weiter so, alter Freund. England ist stolz auf Leute wie Sie.“

Rupert verfuhr wie im Pub: Er bedankte sich artig, winkte bescheiden ab und lächelte, behalf sich mit ein paar nichtssagenden Floskeln, schlug wie ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal etwas Nettes sagt, verschämt die Augen nieder und gab deutlich zu erkennen, dass er nicht an Austausch oder Konversation interessiert war. Meistens gelang ihm das. Wenn nicht, verzog er sich in den Speisewagen, begab sich zum Rauchen in den zugigen Zwischenraum zwischen den Waggons oder versteckte sich hinter seiner Zeitung, gähnte vernehmlich oder täuschte ein Nickerchen vor. Dabei war er hellwach.

Tagträume waren kein Allheilmittel gegen Belästigungen. Es war schon vorgekommen, dass, obschon er so unbeteiligt wie möglich zur Seite geblickt und betont gelangweilt getan hatte, ihn jemand in eine langwierige Unterhaltung verstrickt hatte, aus der er nicht entkommen konnte. Irgendein Unbedarfter und Wissensdurstiger, der ihn bis zur Ankunft nicht aus seinen Klauen ließ, dem immer noch weitere Fragen zu den Delinquenten einfielen, zu den Gräueltaten, die zu ihrer Verurteilung geführt hatten, zum Ablauf der Hinrichtung natürlich, zu Ruperts persönlichen Gefühlen und Eindrücken beim Hängen – intime Einzelheiten, über die er nie reden mochte, Gott bewahre, schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem hatte er vor Jahrzehnten eine bindende Erklärung unterschreiben müssen, die ihn zu radikalem Stillschweigen verpflichtete. Auf Lebenszeit. Ein solches Gelöbnis war ihm heilig. Innerlich, während er eine heitere Miene aufsetzte, verfluchte er dann diesen so bemühten, enthusiastischen Menschen vor ihm, der ihm Löcher in den Bauch fragte, weil er endlich einmal die Chance sah, über die Unterredung mit ihm direkt mit dem vermeintlich Bösen in Verbindung zu treten.

Rupert hütete sich, solche Leute zu verprellen oder abweisend zu wirken. Der Galgenmann ertrug solche Zumutungen mit Galgenhumor. Das gehörte wohl zu seiner Stellung und zu seinem Amt dazu, dieses unablässige, eintönige Interesse. Das musste man aushalten. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Und auch nicht verärgern.

Dass seine Fragensteller aber mit Enttäuschung reagierten, wenn sie bei ihm auf Granit stießen, das wiederum konnte er nicht verhindern. Dessen ungeachtet war ihm wichtig, dass sie ihn in guter Erinnerung behielten. Als zwar zugeknöpften, doch umgänglichen Zeitgenossen. Für maulfaul oder verschüchtert sollten sie ihn seinetwegen halten, aber nicht für unhöflich, ruppig oder gar feindselig. „Doch nicht so spannend, wie wir dachten. Doch kein so aufregendes Gewerbe. Und nicht gerade redegewandt, der Bursche …“: Wenn sie so von ihm dachten, wenn dies ihr Image von Rupert Beaufort war, dann ging das in Ordnung.

Heute war alles gut gegangen, man hatte ihn im Zug und auch auf dem Bahnhofsgelände in Frieden gelassen. Die Reisezeit war wie im Nu vergangen. Rupert schritt, vom Gefühl beseelt, dass auch sonst alles wie am Schnürchen laufen würde, mit großer Eile aus dem Bahnhofsgebäude heraus und winkte ein Taxi herbei. Der einzige Luxus, den er sich im Rahmen seiner Aufträge leistete. Um nicht auch noch durch dicht gedrängte Großstadtstraßen hetzen zu müssen, um der unangenehmen Nähe von Menschenmassen zu entgehen. Um Clochards und Rowdys konnte er auf diese Weise einen großen Bogen machen und zugleich Ansammlungen aggressiver Spinner vermeiden, unter denen, wer weiß, womöglich auch noch Streitsüchtige waren, die für die Abschaffung der Höchststrafe demonstrierten und ihm den Weg in die Strafanstalt versperren mochten.

Er warf sich auf den Rücksitz und schnippte, unternehmungslustig und auch ungeduldig, mit den Fingern. Der Fahrer, ein mürrischer Alter, der kaum die Zähne auseinanderbekam, gab nicht zu erkennen, ob er begriffen hatte, wen er da durch London kutschierte.

„Wandsworth Prison – und sparen Sie die großen Boulevards aus“, kommandierte Rupert ihn herum und zündete sich eine Zigarre an.

Das Zigarrerauchen gehörte für ihn wie schon für seinen Onkel Theodore, den alle Welt nur Uncle Theo genannt hatte, einfach zu den Ritualen dazu, mit denen man sich das Hinrichtungswochenende etwas angenehmer gestalten konnte. Drei pro Auftrag, mehr nicht.

Uncle Theo, der nun schon zwei Jahre tot war, hatte ihm auch das beigebracht.

Rupert kurbelte das Fenster herunter und spähte in den bleiernen Londoner Himmel. Es hatte sich bezogen und war, den gemäßigten Temperaturen zum Trotz, schwül geworden. Mit der kaum gelesenen Zeitung fächelte er sich Luft zu. Tauben flatterten vorbei. Als sie die Themse überquerten, ließ der Verkehr merklich nach. Auf den Trottoirs südlich des Flusses wimmelte es dagegen nur so vor Tagedieben, ausgehwütigem Volk und einkaufenden Hausfrauen. Vor den Pubs bildeten sich die ersten kleinen Schlangen, durchweg Männer, viele von ihnen noch in Arbeiterkluft. Die Freiflächen vor den Kinos waren gerammelt voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch.

Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt.