Den Tod geerbt - Helmut Jäger - E-Book
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Den Tod geerbt E-Book

Helmut Jäger

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Beschreibung

Euer Schweigen. Unser Tod. »Der wird sich melden, da kannst du Gift drauf nehmen. Und falls er nicht komplett aus seiner Haut geschlüpft ist, wird er wieder ein Spielchen inszenieren. Darauf warte ich.« An einem lauen Sommerabend wird in der Ravensburger Altstadt ein Luxuswagen gestohlen und führerlos auf eine Amokfahrt durch die belebte Marktstraße geschickt. Es ist das Auto von Michaela Schiller, wohlhabende Erbin eines italienischen Gastronomen. Eine danach kurzfristig geplante Auszeit im familieneigenen Resort in der Toskana wird sie nie antreten, auf dem Weg dorthin verschwindet sie spurlos. Im Auftrag ihrer Tochter macht sich Spezialermittler Carl Sopran auf den Weg nach Italien. Schnell wird klar, dass die Antworten in der Familiengeschichte zu finden sind. Doch innerhalb weniger Tage wird die toskanische Idylle zum Albtraum. Zu Hause treibt der rätselhafte Täter derweil sein grausames Spiel weiter. Sopran bleibt ihm auf der Spur und bewegt sich dabei in Abgründe, die die Dimension eines Familiendramas weit übersteigen. Carl Soprans zweiter Fall. Fesselnd. Aufwühlend. Tiefgründig. Wer seine Seele verkauft, gibt sein Leben aus der Hand und wird zur Marionette in einem Spiel, dessen Verlauf und Ende er nicht mehr selbst bestimmt. Oder: ... über dessen Verlauf und Ende andere bestimmen.

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Sonntag, 09. Oktober

Zwei Monate vorher Mittwoch, 03. August

Donnerstag, 04. August

Mittwoch, 10. August

Freitag, 19. August

Samstag, 20. August

Sonntag, 21. August

Montag, 22. August

Dienstag, 23. August

Mittwoch, 24. August

Donnerstag, 25. August

Freitag, 26. August

Samstag, 27. August

Sonntag, 28. August

Montag, 29. August

Donnerstag, 01. September

Freitag, 02. September

Freitag, 09. September

Sonntag, 09. Oktober

Montag, 10. Oktober

Dienstag, 11. Oktober

Freitag, 14. Oktober

Samstag, 15. Oktober

Noch ein Wort zum Schluss

Der Autor

Sparkys Edition

Zum Buch

Carl Sopran war investigativer Journalist. Eine dramatisch missglückte Reportage in Afghanistan brachte seine Karriere vor Jahren ins Wanken.

Seitdem lebt er in der oberschwäbischen Provinz und hofft als detektivischer Spezialermittler auf Aufträge, die nicht kommen wollen. Dann, an einem heißen Augusttag, passiert es: Michaela Schiller, wohlhabende Erbin eines italienischen Gastronomen, verschwindet spurlos in der Toskana.

Im Auftrag ihrer Tochter macht sich Spezialermittler Carl Sopran auf den Weg nach Italien. Doch innerhalb weniger Tage wird die toskanische Idylle zum Albtraum.

Sopran bleibt dem Täter auf den Fersen und bewegt sich dabei in Abgründe, die die Dimension eines deutsch-italienischen Familiendramas weit übersteigen

Helmut Jäger

Den Tod geerbt

Carl Soprans zweiter Fall

Alle Personen dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und keineswegs beabsichtigt. Mit Ausnahme der historischen Ereignisse rund um den 12. August 1944 - siehe Quellenbezug am Ende des Buches – ist auch die Handlung des Romans frei erfunden. Einige Örtlichkeiten und Schauplätze sind fiktiv, sie gibt es an den beschriebenen Stellen nicht.

Alle Rechte unterliegen dem Urheberrecht. Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Tanja Bochmann, Berg bei Ravensburg

Korrektorat: Agentur Reemers

Umschlaggestaltung: Designwerk-Kussmaul,

Weilheim/Teck, www.designwerk-kussmaul.de

© 2022 Sparkys Edition

Herstellung und Verlag: Sparkys Edition, Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck

ISBN Softcover: 978-3-949768-02-6

1. Auflage 

Wer das Böse nicht bestraft,

befiehlt, dass es getan wird.

Leonardo da Vinci (1452 – 1519)

Sonntag, 09. Oktober

Da waren sie schon wieder, diese bleichen Gesichter mit den stechenden Augen. Sie fraßen sich in ihren Kopf, sie entkam ihnen nicht. Mit einem Reflex versuchte sie, die Geister wegzuwischen, dabei rutschte ihr aber nur die Zeitung, in der sie gelesen hatte, auf den Boden. „Geh weg ..., geh weg“, flüsterte sie kraftlos und fing kaum hörbar zu weinen an. Die Kaffeetasse hatte sie leergetrunken, den Apfelkuchen auf dem Teller daneben aber nicht angerührt. Beides schob sie nacheinander in die Mitte des runden Tisches, stand auf, ging zur Terrassentür und sah hinaus.

Am frühen Nachmittag war starker Wind aufgekommen und hatte erste Blätter von den Ahornbäumen auf die Wiese geweht, als wollten sie notdürftig alles Vergängliche unter sich verbergen. Die Kälte draußen würde helfen, die düsteren Gedanken einzufrieren. Hier drinnen in der Wärme fanden sie nur ein fruchtbares Biotop in ihrem Kopf. Heute war wieder so ein Tag, die quälenden Erinnerungen an den vergangenen Sommer, als sich ihr bisheriges Leben mit apokalyptischer Wucht verabschiedet hatte, entfalteten sich ungehemmt und peinigten sie. Sie hatte dem Tod tief in die Augen geschaut. Trotz wochenlanger Therapie litt sie immer noch unter ihrem tödlichen Erbe. Ihr zerschundener Körper war zwar bald wieder hergestellt, aber der Schaden, den es in ihrem Inneren hinterlassen hatte, würde sie noch länger begleiten. Die schrecklichen Träume, die sie Tag und Nacht heimsuchten, wirkten wie ein Brandmal auf der Stirn, das sie vor sich hertrug und das jeder sehen konnte. Sie war eine Gezeichnete, ihr Leben lang.

Der Hausmeister rechte die Parkwege frei, sonst war niemand zu sehen. Sie drückte auf den Knopf am Sender, den sie an einem Band um den Hals trug, und tupfte sich mit einem Taschentuch die feuchten Augenwinkel trocken. Kurze Zeit später öffnete sich die Zimmertür hinter ihr.

„Bitte bringen Sie mir eine Decke, ich möchte nach draußen“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Nach einer Weile legte ihr eine Pflegerin eine flauschige Decke über die Schultern. Sie zog sie an sich und suchte Schutz darunter wie ein Kind. Mit einer weiteren Decke für Beine und Füße und einer Wollmütze setzte sie sich nach draußen.

„Rufen Sie mich, wenn es Ihnen zu kalt wird, ja?“ Dann zog die Schwester die Tür hinter ihr leise zu. Der Wind hatte die Dunstschleier weggeweht und der See zeigte sich zwischen den Ahornbäumen. Eine Schar Krähen hatte sich unter ihnen niedergelassen und scharrte im frisch gefallenen Laub. Wenn sie später etwas vermissen würde, dann diesen Ausblick, der ihr jetzt half, die schlimmen Bilder im Kopf zu vergessen.

Zwei Monate vorher Mittwoch, 03. August

Ein plötzlicher Krach wie ein Peitschenknall hallte aus Richtung Obertor durch die spät abendliche Marktstraße. Ein dunkler SUV hatte eine Straßenlaterne angefahren. Der rechte Scheinwerfer war zertrümmert, der linke hatte ein Restaurant im Visier. Bevor auch nur einer der Gäste erfasst hatte, was sich da oben abspielte, machte er einen kurzen Satz, schrammte an der Laterne entlang und rollte langsam weiter. Mit zunehmender Geschwindigkeit steuerte er auf die Tische zu. Die Gäste sprangen auf als sie bemerkten, dass der Fahrer keine Anstalten machte, zu bremsen. Drei von ihnen stürzten auf die gegenüberliegende Straßenseite, zwei erreichten im letzten Augenblick den Gaststätteneingang, die anderen suchten verzweifelt Schutz an der Hauswand.

Dann erfasste der Wagen die ersten beiden Tische und überrollte mit dem rechten Vorderrad den Betonsockel eines ungeöffneten Sonnenschirms. Durch den Aufprall driftete er wieder etwas Richtung Straße und schob dabei zwei weitere Tische, die von den Gästen fluchtartig verlassen wurden, übereinander. Geschirr zerdepperte auf dem Boden, die Scherben knirschten unter den breiten Reifen. Ein Stuhl wurde gegen die Fensterscheibe der Gaststätte gedrückt, ein weiterer verkeilte sich zwischen Stoßfänger und Vorderachse des SUV. Ungebremst steuerte er auf einen auf der anderen Straßenseite geparkten Kleinwagen zu und rammte ihn mit Wucht gegen die Hauswand.

Das Knirschen von Blech und das Splittern von Glas waren zu hören, die Motorhaube des Geländewagens klappte nach oben, als wollte er den zerknautschen Polo vor sich verschlingen. Danach herrschte Stille.

„Da sitzt keiner drin!“ Einer der Gäste aus dem Restaurant war zuerst von der anderen Straßenseite zum Geländewagen gestürzt und hatte die Fahrertür aufgerissen. Entsetzt starrte er in den leeren Wagen.

***

„Hörst du dein Handy nicht? Es klingelt.“

Michaela Schiller zuckte und griff nach ihrer Handtasche, die neben ihr über dem Stuhl hing. Ihre beiden Freundinnen hatten die Smartphones auf dem Tisch liegen, sie nicht. Es hatte bereits aufgehört zu klingeln, als sie es endlich aus der Tasche holte. Die Uhr auf dem Handy zeigte dreiundzwanzig Uhr sieben und das Anrufsignal leuchtete penetrant. Maria und Angela starrten sie auffordernd an.

„Was will Julia so spät noch?“ Überrascht und irritiert schaute sie wieder auf die Uhr, es war ungewöhnlich spät für einen Anruf ihrer Tochter, schoss es ihr in den Kopf und drückte auf Rückruf.

„Mama, wo bist du?“ Julia schrie so hysterisch, dass Michaela das Telefon vom Ohr wegzog und sich umschaute. An den anderen Tischen schien niemand etwas gehört zu haben, nur Maria und Angela starrten sie unvermindert an.

„Wir sitzen am Marienplatz im Il Palco und trinken was. Warum schreist du so?“

„Mama, die Polizei ist hier. Was hast du mit deinem Auto angestellt? Wieso sitzt du seelenruhig herum? Was ist los mit dir?“ Julias Stimme überschlug sich.

„Jetzt beruhige dich bitte und hör endlich auf, so zu schreien. Was ist mit meinem Auto, warum ist die Polizei bei dir?“ Michaela hörte, wie ihre Tochter am anderen Ende mit jemandem sprach. „Julia? Hörst du mich? Sag mir bitte sofort, was los ist.“

„Mama? Bist du jetzt am Marienplatz?“

„Ja doch, mit Maria und Angela.“

„Du sollst sofort zum Obertor kommen, sagt die Polizei. Mit deinem Auto ist etwas Schlimmes passiert. Ich fahre gleich los, wir treffen uns dort.“

„Julia, was ...?“ Ihre Tochter hatte aufgelegt. Michaela ließ das Handy auf den Schoß sinken. Warum hatte Julia nicht erwähnt, was geschehen war? Ihr Porsche Cayenne war doch oben am Obertor geparkt, wo sie vor drei Stunden mit Maria und Angela zu Abend gegessen hatte, oder? Fieberhaft wühlte sie in der Handtasche, den ganzen Inhalt konnte sie doch nicht auf den Tisch leeren.

„Was suchst du denn?“, fragte Angela.

„Meinen Autoschlüssel ..., da ist er.“

„Jetzt sag endlich, was los ist. Was ist mit Julia?“, schaltete sich auch Maria ein.

„Mit meinem Auto ist was passiert. Ich muss sofort hoch.“ In diesem Moment schoss Michaela ein Bild in den Kopf. Sie erinnerte sich, wie sich zwei Polizeifahrzeuge den Weg durch die Passanten hier auf dem Marienplatz bahnten, vorbei an den voll besetzten Restaurants und Bistros. Die Sirenen hallten bedrohlich durch die spät abendliche Altstadt und das flackernde Blaulicht der Einsatzfahrzeuge brach sich in den Fenstern und an den Wänden der Häuser.

Michaela erstarrte und spürte, wie ihr das Blut aus den zitternden Händen wich. Das Handy hielt sie krampfhaft umklammert. Dann sprang sie auf. „Bitte zahlt für mich.“ Mit Tasche und Blazer unter dem Arm stürzte sie zwischen den voll besetzten Tischen des Bistros auf die Straße, blieb kurz stehen und drehte sich um. „Kommt bitte nach!“, rief sie ihren Freundinnen über die Tische hinweg zu und sah dabei in zwei völlig verdutzte Gesichter.

So schnell es ihre leichten Sommerschuhe erlaubten, rannte Michaela Schiller in Richtung Rathaus. Abrupt blieb sie noch einmal stehen, schaute auf das Handy und überflog hektisch die Anruferliste. Keine Anrufe ihres Mannes an diesem Abend. Er wusste also nichts davon. Erleichtert ließ sie es in die Tasche fallen. Langsam und kontrolliert atmend setzte sie ihren Weg fort und bog am Rathaus rechts ab.

Das Polizeifahrzeug war nicht zu übersehen, über den Zugang zur Marktstraße war ein rot-weißes Band gezogen. Durch eine Menschentraube bahnte sie sich den Weg an den Rand der Absperrung. Wortfetzen wie „Geisterfahrt“, „Amok“, „Wahnsinn“, nahm sie nur beiläufig wahr. Es gab kein Durchkommen, ohne zu rempeln und zu schieben. Michaela drehte um und versuchte es weiter links, wo weniger Leute standen. Das Absperrband reichte dort nicht bis zur Wand. Sanft schob sie einen älteren Herrn mit Gehstock beiseite. Sofort nahm sie der Polizist, der die Lücke bewachte, ins Visier: „Halt, Sie sehen doch, dass hier abgesperrt ist.“

Verstohlen winkte Michaela Schiller den Mann näher zu sich, es ging niemand etwas an, warum sie hier dringend durchmusste. Nur widerwillig folgte er ihrer Geste und sie sah die Entrüstung in den Augen der Umherstehenden, aber das war ihr egal. „Bitte lassen Sie mich durch, man erwartet mich, mit meinem Auto ist etwas passiert.“

„Bleiben Sie hier stehen.“ Er reagierte erstaunlich gelassen auf ihre Bitte, drehte sich um und rief einem Kollegen, der die Absperrung weiter unten Richtung Gespinstmarkt bewachte, etwas zu.

In diesem Augenblick machte sich das Handy in ihrer Tasche bemerkbar. Den Klingelton, der ausschließlich für diese Nummer reserviert war, kannte Michaela nur zu gut. Nein, nicht jetzt. Mit fahrigen Händen öffnete sie die Handtasche, das Klingeln wurde immer lauter und eindringlicher. Kaum bekam sie es zu greifen, war Ruhe. Willys Visage glotzte sie auf dem Display an, als wollte er sie verhöhnen. Wut packte sie. Woher wusste er jetzt schon wieder davon? Es war Zeit, endlich eine neue Nummer zu besorgen. Der Versuchung das Handy auf den Boden zu knallen widerstand sie und ließ es stattdessen wieder in die Tasche gleiten.

Die beiden Polizisten unterhielten sich kurz, dann tauschten sie die Plätze und der andere kam mit einem Sprechfunkgerät in der Hand auf sie zu.

Die umherstehenden Passanten rückten ihr immer mehr auf den Pelz, die Neugierde trieb den Pöbel in ihre Richtung. Michaela war kurz davor zu explodieren und hätte am liebsten mit ihren Armen um sich geschlagen. Da blieb der Beamte mit dem Funkgerät wenige Meter vor ihr stehen und winkte sie zu sich.

Der alte Herr hatte sich unangenehm auf Tuchfühlung genähert und sein Gehstock versperrte die Lücke in der Absperrung. Sie war nahe dran, den Stock mit dem Fuß beiseitezustoßen, unterdrückte aber den Impuls und schob ihn diesmal unsanft von sich weg.

„Die Frau steht jetzt neben mir.“ Das Funkgerät rauschte und eine knarzende Stimme antwortete mit ein paar unverständlichen Sätzen. „Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?“ Der Polizist zog Michaela am Arm etwas von den Gaffern weg, wofür sie ihm dankbar war. Er war groß und wie sein Kollege an diesem lauen Sommerabend nur mit einem kurzärmligen Hemd bekleidet.

„Michaela Schiller, ich soll zu meinem Auto kommen. Bitte, ich will endlich wissen, was passiert ist.“

„Darf ich Ihren Ausweis sehen?“ Er streckte ihr die linke Hand entgegen, die rechte hielt er mit dem Funkgerät vor der Brust.

Michaela griff nach dem Portemonnaie, da klingelte das Handy schon wieder. Den Anruf ignorierend hielt sie dem Beamten den Ausweis hin. „Ja, sie ist es“, sprach er ins Funkgerät, dann war ein Knacken und erneut das Rauschen sowie die blecherne Stimme zu hören. „Sie soll warten, es kommt jemand runter“, verstand Michaela jetzt deutlich. Sie nickte dem Polizisten zu und hoffte, dass er bei ihr bleiben würde, bis man sie abholte. Aber er kehrte wieder zurück auf seine Position am Sperrband.

Schutzlos Dutzenden von Augenpaaren ausgeliefert und innerlich bebend vor Wut, drehte sie sich um und lief auf die andere Straßenseite. Aus dem Augenwinkel sah sie die Marktstraße hoch. Keine Menschenseele war unterwegs, nur an gesperrten Zugängen standen die Leute und erhofften sich, einen Blick auf das Schauspiel weiter oben zu erhaschen, wo grelle Scheinwerfer strahlten und das Blaulicht rhythmisch flackerte.

In diesem Augenblick wurde ihr klar, dass sie nicht mit ihren Freundinnen zu rechnen brauchte, man würde sie niemals durch die Absperrungen lassen. Eine gefühlte Ewigkeit starrte sie in das Schaufenster einer Modeboutique, auch hier bekam sie die Leute, die sich auf der anderen Seite in der Scheibe spiegelten, nicht aus den Augen.

„Frau Schiller?“

Erschrocken drehte sie sich um. Na super. Jetzt wussten alle, die es hörten, wie sie hieß.

„Warum rufen Sie meinen Namen durch die halbe Stadt, es geht hier niemanden etwas an, wie ich heiße.“ Sie drehte den Kopf in Richtung der Passanten hinter der Absperrung. Vor ihr stand eine Polizistin, in der Aufregung hatte sie das nicht wahrgenommen. Die Frau war jung und Michaela bereute es sofort, die Uniformierte so angefahren zu haben.

„Tut mir leid, das war keine Absicht“, besänftigte die junge Frau Michaela, den Zornesausbruch hatte sie ihr nicht übelgenommen. „Bitte kommen Sie, ich bringe Sie hier weg, die Kollegen warten auf uns, Ihre Tochter ist schon da.“

Schleichend hatte sich ihre Angst in Aggression gewandelt. Der Gedanke, dass Julia oben wartete, beruhigte sie etwas. Doch die Furcht davor, was nun folgte, kehrte wieder zurück. Wie ein geprügelter Hund lief sie neben der Polizistin her. Alle weiteren Zufahrten und Zugänge zur Marktstraße waren ebenso mit Bändern abgesperrt und bewacht.

Als stadtbekannte Gastronomin liebte sie es, samstags, wenn hier Wochenmarkt war, an den Ständen entlangzuschlendern, für sich selbst frisches Gemüse und ein paar mediterrane Leckereien zu kaufen, Bekannte zu treffen und in einem Café einen Cappuccino zu trinken. Verzweifelt suchte sie nach diesem Bild im Kopf, sah aber nur eine halbdunkle, menschenleere Straße, die ihr mit einem Mal so fremd war, und weiter oben das Lichterinferno, dem sie mit jedem Schritt näherkam.

Helle Scheinwerfer blendeten, dazwischen flackerte in kurzen Abständen das grelle Blaulicht eines Polizeiautos, auf das sie sich zubewegte. Weiße Gestalten huschten durch die gespenstische Szenerie. Dann löste sich eine Silhouette wie ein Schattenriss vom Fahrzeug und kam auf sie zu. Ihre Begleiterin war hinter ihr stehen geblieben.

„Hallo Frau Schiller, gut, dass Sie da sind.“ Ein Polizist hielt ihr die Hand zum Gruß hin.

Michaela bemerkte ihn nicht, ließ ihn stehen und starrte auf das ein paar Meter entfernte Inferno: Da stand ihr nagelneuer Porsche Cayenne mit vier geöffneten Türen und offener Motorhaube vor einer Hauswand und dazwischen ein zusammengedrückter Blechhaufen. Hektisch sah sie um sich und suchte nach Verletzten, Toten und einem Notarztwagen. Es war nichts zu sehen, nur zwei Gestalten in weißen Overalls beugten sich in den Porsche und hantierten darin herum, daneben standen Klapptische mit Metallkoffern darauf.

„Mama, Mama!“ Ihre Tochter fiel ihr um den Hals und riss sie beinahe um. „Mama, ich versteh das alles nicht.“

„Ich auch nicht.“

Julia schüttelte ihre Mutter. Michaela stand nur teilnahmslos da, den Blazer hatte sie auf den Boden fallen lassen, die Henkel der Handtasche rutschten ihr von der Schulter.

„Ist Willy da?“ Etwas anderes fiel ihr nicht ein.

„Nein Mama. Ich habe ihm gesagt, dass er besser nicht kommt.“

„Hast du ihn benachrichtigt?“

„Ja, Papa sollte es von mir erfahren und nicht von jemand anderem. Oder?“

„Ist schon in Ordnung, hier will ich ihn nicht sehen.“

„Er wird nicht kommen“, beruhigte Julia ihre Mutter und steckte das Taschentuch weg, mit dem sie sich die Nase geputzt hatte.

Michaela spürte eine Berührung am Oberarm, drehte sich zur Seite und sah einem Mann direkt in die Augen. Er war untersetzt und nur etwas größer als sie, hatte eine Halbglatze und einen Dreitagebart. Obwohl es ein lauer Sommerabend war, trug er ein hellbeiges Sakko.

„Jochen Beier, ich führe die Ermittlungen hier“, stellte er sich vor und streckte ihr die rechte Hand hin.

Michaela merkte, wie er sich bemühte, sie so einfühlsam wie möglich anzusprechen. Seine Hand ignorierend, wandte sie den Blick wieder von ihm ab und versuchte, auf ihr Auto zuzugehen. Eine der weißen Gestalten hatte soeben die Heckklappe geöffnet.

„Frau Schiller, bitte, lassen Sie die Kollegen ihre Arbeit machen.“

„Wer hat mein Auto gestohlen? Hat er jemand totgefahren?“ Ihr verzweifelter Blick hing an dem zertrümmerten Kleinwagen.

„Nein, wie durch ein Wunder ist niemand zu Schaden gekommen. Zeigen Sie mir, wo und wann genau Sie Ihren Wagen abgestellt haben, danach setzen wir uns in die Wirtschaft, die uns für den restlichen Abend für die Zeugenbefragung zur Verfügung steht. Ihre Tochter kommt mit.“

Bisher hatte Michaela Schiller nur ihr Auto im Blick, jetzt erst bemerkte sie das Chaos um sich herum. Stühle und Tische waren vor der Gaststätte schräg gegenüber zu einem Haufen zusammengeschoben und Teile davon über die ganze Straßenbreite verteilt. Dazwischen lagen abgeknickte Sonnenschirme, umgestoßene Pflanzentröge und jede Menge zerbrochenes Geschirr und Besteck. Die Scherben zersplitterter Gläser glitzerten im gleißenden Licht der Scheinwerfer.

Beier gab ihr ein Zeichen, sie folgte ihm und achtete dabei darauf, nicht auf die herumliegenden Trümmerteile zu treten. Zwei Männer in Polizeiuniform waren dazwischen mit Maßband und Sprühdosen unterwegs. Von oben kommend, am Gehsteig entlang, waren farbige Markierungen auf dem Kopfsteinpflaster zu erkennen.

Von hier aus hätte man ihr Auto sehen müssen, wenn es dastände, wo sie es gegen acht Uhr abends geparkt hatte. Jetzt war der Platz von einem anderen belegt. Die Markierungen führten bis zu einem umgeknickten Laternenpfahl mit Verkehrszeichen und Abfallbehälter, dort endeten sie.

„Ab hier lässt sich die Fahrt Ihres Wagens verfolgen, wo haben Sie geparkt und wann haben Sie ihn verlassen?“

Michaela schüttelte ungläubig den Kopf, schaute Beier kurz an und drehte sich zu ihrer Tochter um. „Julia, ich versteh’ es nicht. Da oben, der erste Parkplatz nach der Elektroladesäule, wo jetzt das schwarze Auto parkt, da hat er gestanden.“

Unvermittelt fing sie zu laufen an, blieb nach wenigen Metern neben einem Peugeot stehen und wartete, bis die beiden ihr gefolgt waren. Dann klopfte sie mit der flachen Hand mehrmals auf das Dach.

„Hier, genau hier habe ich geparkt. Kurz vor acht, ich habe nicht erwartet, sofort einen Platz zu finden. Wir hatten einen Tisch reserviert.“ Sie zeigte auf das Restaurant schräg gegenüber. „Maria und Angela waren schon da, sie standen vor der Tür und haben gesehen, wie ich das Auto genau hier abgestellt habe.“

„Wann haben Sie das Lokal wieder verlassen? Wie ich von Ihrer Tochter gehört habe, waren Sie gegen dreiundzwanzig Uhr am Marienplatz. Haben Sie Ihren Wagen, nachdem sie weggingen, hier stehen lassen?“

Michaela überlegte nicht lange. „Gegen zehn sind wir runter, da war er noch da.“

„Hm ..., gut so weit. Alles Weitere besprechen wir unten.“ Beier rief den beiden Polizisten mit dem Maßband etwas zu und winkte sie heran.

„Hier hat er gestanden. Versucht die Strecke von hier bis zum angefahrenen Verkehrszeichen nachzuvollziehen, der Wagen wurde bewegt, um ihn in Fahrtrichtung zu bringen und Fahrt aufnehmen zu lassen. Und holt euch ein paar Kollegen, sie sollen jeden, den sie hier in der Gegend noch auftreiben, befragen, ob er was gesehen hat. Ich bin dann mit den Damen unten.“

Auf dem Weg ins Lokal stiegen die drei über zwei verbogene Gartenstühle, die den Eingang versperrten. Das Fenster links davon war eingeschlagen, die Scherben lagen auf dem Pflaster davor.

Michaela Schiller registrierte all das wie in Trance. Sie drehte sich um, aber es gab keinen Zweifel. Es war ihr Wagen, der gegenüber schräg zur Hauswand stand. Von dem zerquetschen Polo war aus dieser Perspektive kaum etwas zu sehen. Julia und Beier steuerten auf einen der wenigen freien Tische zu.

„Bitte setzen Sie sich.“ Er rückte einen Stuhl für sie zurecht. Michaela hatte erwartet, dass sich alle nach ihr umdrehten. Aber nichts dergleichen geschah. Dann entdeckte sie an einem Tisch hinten links zwei bekannte Gesichter, Stammgäste eines ihrer ehemaligen Restaurants. Egal, morgen würde es die halbe Welt wissen. Sie setzte sich und schloss die Augen.

Gedämpfte Stimmen drangen an ihr Ohr und sie sog den Geruch ein, den Gaststätten wie diese spät abends verströmten. Innerhalb kurzer Zeit war sie in der Lage nur am Geruch zu erkennen, in welcher Art Lokal sie saß. Es hatte sich über die vielen Jahre förmlich in ihren Geruchssinn eingefräst. Das konnte sie nicht mehr abschütteln, wie den Rauch, den man tagelang nicht aus den Klamotten bekam, als in der Gastronomie noch geraucht wurde.

„Mama?“

Michaela schrak auf.

„Herr Beier hat gefragt, ob du etwas trinken möchtest.“

Sie sah, wie Julia sie besorgt musterte. „Fährst du mich nach Hause, ich habe ja kein Auto?“

„Ja, natürlich“.

„Dann trinke ich ein Pils, es ist eh schon wurscht.“

Michaela fing den amüsierten Blick von Beier auf, legte ihre Hände auf den Tisch und beugte sich nach vorne. „Bringen wir es hinter uns. Was bin ich? Zeugin oder Verdächtige?“

Beier räusperte sich. „Wir müssen uns einen Überblick über den unerklärlichen Vorfall da draußen verschaffen. Sie sind die Besitzerin des Porsche und im Augenblick unsere wichtigste Ansprechperson.“

Er wandte sich an seine Kollegin. „Frau Riedle wird das Gespräch in Stichpunkten protokollieren. Wenn wir frühestens morgen alle Zeugenaussagen und die Untersuchungen der Kollegen vom Unfallort vorliegen haben, entscheidet sich, ob das LKA übernimmt. Sicher werden wir nochmal mit Ihnen reden.“

Beier ließ sich von Michaela Ausweis und Führerschein zeigen, seine Kollegin fotografierte beide mit einem Tablet. Danach schaltete sie das Gerät in den Schreibmodus und notierte ihre Telefonnummern von Festnetz und Handy.

„Haben Sie Ihren Autoschlüssel bei sich?“

Michaela kramte in ihrer Handtasche und legte ihn wortlos vor Beier auf den Tisch.

„Wo bewahren Sie den Zweitschlüssel des Wagens auf?“

Sofort griff Julia in das Gespräch ein: „Bei mir im Büro. Ihre Kollegen, die vorhin bei mir zu Hause waren, haben mich auch danach gefragt. Hier ist er, ich habe ihn mitgebracht.“

Beier nahm den Schlüssel entgegen und legte ihn neben den ihrer Mutter.

Michaela nahm einen ersten Schluck vom Pils, die Schaumkrone hatte sich verabschiedet, griff nach beiden Schlüsseln und schüttelte den Kopf.

„Wie ist das möglich?“

„Dazu gibt es eine einfache, für diesen Fall aber folgenschwere Erklärung.“ Beier hatte einen der Schlüssel an sich genommen und begutachtete ihn.

„Wie schließen Sie Ihr Auto auf, wenn Sie wegfahren?“

„Gar nicht, es ist schon offen. Zum Starten brauche ich den Schlüssel nicht. Es ist ...“

Beier unterbrach sie: „Keyless-Go nennt man solche Systeme. Sehen Sie, und genau das ist das Problem. Wenn Sie ihn nur so in der Handtasche liegen hatten, ohne ihn in einer speziellen Schatulle aufzubewahren, ist Ihr Wagen mit großer Wahrscheinlichkeit gestohlen worden.“

Michaela hatte ihr Glas angesetzt, stellte es sofort wieder ab und schaute Beier ungläubig an.

Er erklärte ihr, wie mit leicht zu erwerbenden elektronischen Hilfsmitteln solche hochmodernen Schließsysteme problemlos zu überlisten sind.

„Haben Sie während des Essens oder beim Verlassen des Restaurants irgendjemanden bemerkt, der sich auffällig verhalten hat? Fühlten Sie sich beobachtet? Fällt Ihnen das möglicherweise erst jetzt auf, da ich Sie danach frage?“

Michaela Schiller reagierte nicht auf die Fragen, schob das Glas vor sich hin und her und starrte ins Leere. Dann trank sie das Pils auf einen Zug aus.

„Was wollten Sie wissen?“

„Ob Sie etwas Verdächtiges oder Ungewöhnliches bemerkt haben.“

„Ach so. Nein nicht. Wir haben gegessen und uns unterhalten, ich habe nicht auf die anderen Leute geachtet. Bei dem schönen Wetter waren nicht viele im Lokal, die meisten haben vermutlich lieber draußen gesessen.“

„Sind Sie, nachdem Sie das Restaurant verließen, zu Ihrem Auto gegangen?“

Michaela beobachtete aus dem Augenwinkel, wie die Kollegin Riedle eifrig Notizen machte, während Beier mit ihrem Autoschlüssel spielte.

„Nein, ich habe zwar einen Blick hinübergeworfen, wir sind aber sofort nach unten Richtung Marienplatz gegangen.“

„Um welche Uhrzeit war das? Bitte so genau wie möglich.“

„So gegen zweiundzwanzig Uhr, ein paar Minuten hin oder her.“ Beim Bezahlen hatte sie auf die Uhr geschaut, da war es Viertel vor zehn. Anschließend waren sie noch kurze Zeit sitzen geblieben.

Beier rieb sich das Kinn. „Wissen Sie, wann Sie am Marienplatz angekommen sind?“

„Wir haben sofort einen leeren Tisch draußen vor der Pizzeria gefunden. Wie lange braucht man bis dahin? Ein paar Minuten, oder?“ Sie sah Beier direkt in die Augen und bemerkte erst jetzt, dass er eine Brille aufgesetzt hatte. So ein Billigteil, wie es im Drogeriemarkt als Lesehilfe zu kaufen war. Putzig sah er damit aus. Die Brille hing kurz vor der Nasenspitze und er sah darüber hinweg. Wenn er jetzt den Kopf bewegt, fällt sie ihm auf den Tisch, dachte Michaela und wunderte sich im selben Augenblick, dass ihr der Humor doch nicht gänzlich abhandengekommen war.

„Haben Sie auf dem Weg nach unten irgendetwas Ungewöhnliches gehört?“, hakte Beier nach.

„Da noch nicht. Wir saßen bereits eine Weile und hatten unsere Getränke schon, da fuhren Polizeiautos über den Marienplatz und überall waren Sirenen zu hören. Jetzt ist mir klar, warum.“

Michaela drehte sich um und schaute nach einer Bedienung. Die Gaststätte schien sich zu leeren, außer ihrem waren nur noch wenige Tische besetzt.

„Ich trinke noch ein Bier.“

„Mama!“, fuhr ihre Tochter entrüstet dazwischen.

„Lass das, Julia“, herrschte sie sie an, „ich weiß selbst, was mir guttut. Oder ist das kein Gespräch, sondern ein Verhör, bei dem ich nichts trinken darf?“

Beier fing den herausfordernden Blick auf: „Frau Schiller, bitte beruhigen Sie sich, wir bringen es entspannt zu Ende, bald sind wir fertig. Nur ein paar weitere Fragen.“

Beier nestelte einen Zettel aus der Tasche seines Sakkos, das er auch hier drinnen nicht abgelegt hatte.

„Ihr Wagen ist neu, der Fahrzeugschein lag im Handschuhfach, er wurde erst vor zwei Wochen zugelassen, auf Ihre Tochter“, stellte er fest.

Julia schaltete sich ein: „Ja, genau genommen auf meine Firma. Mama ist beratend für mich tätig.“

„Was für ein Unternehmen ist das?“

Michaela machte keine Anstalten, zu antworten, hatte sich wieder umgedreht und gab einer Bedienung ein Zeichen, dass sie ein zweites Bier mochte.

„Eine Event- und Incentive Agentur und ein Cateringservice“, antwortete Julia für ihre Mutter. „Wir kommen aus der Gastronomie, meine Eltern betrieben früher Restaurants. Warum, ist das wichtig?“

„Das besprechen wir alles morgen. Ich hoffe, dass wir uns bis dahin einen Überblick verschafft haben, was am Abend da draußen passiert ist. Heute Nacht und die kommenden Tage werden einige Kollegen damit beschäftigt sein.“

Beier steckte den Zettel wieder weg und nahm die Brille ab. Michaela hatte in der Zwischenzeit ihr Bier bekommen und setzte zum nächsten Schluck an. „Frau Schiller? Wer außer Ihnen und Ihrer Tochter hatte Zugang zu Ihrem Auto? Ihr Mann?“

Sie knallte das Glas auf den Tisch und zischte Beier an: „Der? Fragen Sie ihn doch selbst. Und für Ihr Protokoll ...“, sie wandte sich an die Polizistin, die mit gesenktem Kopf über dem Tablet saß, „... ab dem zehnten August war das mal mein Mann.“

Sollten sie ihn doch verdächtigen, verhören und piesacken, was konnte ihr Besseres passieren als ihn dadurch endgültig loszuwerden? Er drängte sich weiterhin in ihr neues Leben, versuchte mitzubestimmen, wo es nichts mehr zu bestimmen gab. Der Kauf des Porsches war eine Befreiungsmaßnahme und jetzt stand er, kaum hatte sie ihn zwei Wochen gefahren, demoliert draußen an der Hauswand. Sie wusste genau, was seine Anrufe vorhin zu bedeuten hatten. Er wollte sie demütigen. Natürlich wusste er von dem Vorfall.

Beiers Kollegin vermied es, aufzublicken, er selbst ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, runzelte nur die Stirn und steckte die Brille in die Brusttasche seines Sakkos.

„Meine Eltern lassen sich scheiden. Es geht von Mama aus. Papa will das nicht akzeptieren, obwohl er genau weiß, dass er schuld daran ist. Er lässt ihr einfach keine Ruhe.“

„Morgen werden wir Ihren Vater befragen. Glauben Sie, dass er etwas damit zu tun hat?“

Julia stutze und schaute Beier irritiert an. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. So etwas traue ich ihm nicht zu.“ Sie griff nach Michaelas Hand. „Ich glaube, es ist alles für sie ein bisschen viel auf einmal.“

„In Ordnung, beenden wir es, fahren Sie Ihre Mutter nach Hause. Wir werden uns morgen ...“ Beier stutzte kurz und schaute auf seine Uhr. „... oh, schon so spät, dann heute wiedersehen. Rechnen Sie damit, dass es am Nachmittag sein wird. Ich werde mich im Lauf des Tages bei Ihnen melden.“

Beier stand auf und klopfte seiner Kollegin, die mit ihrem Tablet unter dem Arm am Tisch lehnte, auf die Schulter.

Michaela hatte keine Lust aufzustehen, ihr Glas war halbvoll, aber der Inhalt schon lauwarm. Sie trank selten Bier, heute war es eine Ausnahme. Zuhause hatten der Kühlschrank und das Weinregal im Keller besseres zu bieten. Nüchtern würde sie garantiert nicht ins Bett gehen. Im Sitzen raffte sie Handtasche und Blazer zusammen.

„Was geschieht mit meinem Auto?“

„Das kommt vorläufig zu uns, solange die Untersuchungen andauern. Bitte entschuldigen Sie, meine Kollegen draußen sind noch am Arbeiten, sie warten auf mich. Gute Nacht, Frau Schiller und vielen Dank für Ihre Unterstützung. Schlafen Sie gut.“

Beier beugte sich zu ihr herunter. Sein Händedruck war flüchtig und er roch nach Schweiß. Kein Wunder, wenn er an einem lauen Sommerabend in einem Sakko herumhockte. Sie drehte sich weg, aus dem Glas kam ihr der Geruch von abgestandenem Bier entgegen.

„Komm Julia, weg hier, sonst bekomme ich einen Anfall, mir reichts.“

„Geh’ schon voraus, ich bezahle die Rechnung.“ Ihre Tochter winkte der Bedienung, die sich dezent im Hintergrund hielt.

Am Ausgang drückte sich Michaela an Beier vorbei, der sich mit drei uniformierten Kollegen und Frau Riedle, die auf ihrem Tablet herumwischte, unterhielt.

Was sie vor der Tür zu sehen bekam, riss ihr beinahe die Füße unter dem Boden weg. Der neue Porsche, der langsam ruckelnd auf die Laderampe eines Abschleppwagens gezogen wurde, glotzte sie einäugig an.

Erschöpft fiel Michaela Schiller auf einen der verbogenen Stühle, die vorhin vor dem Eingang lagen und wieder aufgestellt worden waren. Mit geschlossenen Augen versuchte sie, Ordnung in ihr Gedankenchaos zu bekommen. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie den Zugriff auf ihr neues Leben verloren. Ihr Mann warf ihr jeden Prügel, den er fand, zwischen die Beine, um die Scheidung so ekelhaft zu gestalten, wie er nur konnte. Es war ihr klar, dies hier würde er genüsslich zur Kenntnis nehmen: Ein sündhaft teures Auto kaufen, nur um ihn zu ärgern, und es dann vor den Augen der ganzen Stadt an eine Wand zu fahren. Nein, nicht sie selbst. Nicht einmal dazu war sie in der Lage. Vor der Nase wurde es ihr geklaut und wie von Geisterhand durch die halbe Marktstraße Amok gefahren. Ein normaler Unfall war nicht genug für sie. Ein Drama musste es sein, das am nächsten Tag die Schlagzeilen machte.

Genau das würde er denken, wenn er morgen vor der Zeitung saß, das wusste sie, sie kannte ihn lange genug.

Langsam wurde es dunkel. Die hellen Scheinwerfer erloschen einer nach dem anderen. Der Motor des Abschleppwagens dröhnte. Mit dem Porsche und dem zerbeulten Polo huckepack verschwand er um die Ecke. Ein paar Männer von der Feuerwehr kehrten die Straße und stapelten die kaputten Tische und Stühle entlang der Hauswand.

Die beiden Polizisten mit dem Maßband von vorhin standen gestikulierend mitten auf der Straße. Die Laternen verteilten ihr fahles Licht, wie an jedem Abend. So, als wäre nichts gewesen.

„Komm Mama, wir fahren nach Hause. Du schläfst heute bei mir.“

Donnerstag, 04. August

Carl Sopran stierte in den Kühlschrank und griff entnervt nach dem Orangensaft. Wieder hatte er vergessen, Eier zu kaufen. Er warf die Kühlschranktür zu, dass die Flaschen darin klirrten, schlurfte barfuß zum Fenster und stillte seinen frühmorgendlichen Durst mit großen Schlucken direkt aus der Packung.

Schon länger hatte er vor, sich abzugewöhnen, mehrmals in der Woche im Café zu frühstücken. Das war teuer, wie so viele andere Geld fressende Angewohnheiten, die er aus seinen früheren Zeiten mitschleppte. Er hasste alle Veränderungen, die seine Lebensqualität einschränkten. Aber, es nutzte nichts, seine Bankauszüge waren schon seit ein paar Wochen keine Erbauungslektüre mehr. Das Konto wurde nicht, wie früher, von regelmäßigen Einnahmen gespeist. Im Gegenteil, es entwickelte eine seltsame Sogwirkung und bewegte sich rasant und beängstigend in Richtung Minus. Zwei Monate würde er noch durchhalten, es war höchste Zeit, sich etwas einfallen zu lassen.

In Badelatschen, Bermudashorts und dem T-Shirt von gestern verließ er die Wohnung und holte die Tageszeitung aus dem Briefkasten unten am Hauseingang. Ein Stockwerk die Treppe runter und wieder hinauf war Frühsport genug.

Die Zeitung warf er auf den Tisch, dann setzte er die Kaffeemaschine in Gang. Der Appetit war ihm vergangen, aber einen doppelten Espresso benötigte er dringend. Die Maschine zischte und dampfte und Carl Sopran begutachtete seine schicke Designer-Küchenzeile. Alles vom Feinsten, nur ... er brauchte so etwas nicht. Heiner, sein Kollege von der Regionalzeitung, hatte es gut mit ihm gemeint, als er ihm genau vor einem Jahr die elegante Wohnung mit Panoramasicht hinunter ins Schussental und auf die Basilika von Weingarten vermittelt hatte.

Ihm hatte er zu verdanken, dass er überhaupt ein Dach über dem Kopf hatte, nachdem ihn Marietta buchstäblich vor die Tür gesetzt hatte. Obwohl, so überraschend war es nicht, wie er sich hinterher eingestand. Sein mit ihr nicht abgestimmter Nebenjob als detektivischer Ermittler während ihrer einwöchigen Abwesenheit war in einem Desaster geendet: Fünf Tote und er selbst erheblich malträtiert. Zu allem Überfluss war er mit seiner gebrochenen Schulter und einer schweren Gehirnerschütterung in Mariettas Klinik und in ihrer Abteilung gelandet. Das war zu viel für sie.

Aber er hatte den Fall gelöst. Dafür, dass er einen verschollenen finnischen Unternehmer gefunden hatte, der, wie sich herausstellte, schon vor Beginn seiner Ermittlungen zu Tode gekommen war, wurde er von einer Anwaltskanzlei aus Helsinki im Auftrag der Familie ordentlich honoriert. Zusammen mit seinen Ersparnissen hatte es ihm über die Runden geholfen. Nur nachgekommen war in den vergangenen Monaten, außer lächerlichen Honorarzahlungen für Fotorechte aus früheren Zeiten, nichts.

Sopran nahm die Tasse aus der Maschine und lehnte sich an die Küchentheke. Er hatte schon von Anfang an den Eindruck, dass der Wohnraum mit integrierter Küche die Dimension einer Sporthalle hatte. Vielleicht lag es an der spärlichen Möblierung. Wohlwollend betrachtet konnte man den Einrichtungsstil als minimalistisch einschätzen. Nüchtern gesehen hatte er nach dem Auszug aus der Doppelhaushälfte, die er mit Marietta bewohnt hatte, so gut wie keine Möbel mehr. Nur das Regal, in dem seine Musikanlage, die stattliche Sammlung von Jazz-CDs und seine Single Malt Whiskys standen, hatte sie ihm großzügig überlassen. Hier war Platz für den Drucker und den Bürokram, der sich im Lauf der Zeit angesammelt hatte. Die Bücher und sonstiger Krimskrams lagerten zum Teil in Umzugskartons im Keller oder im Schlafzimmer, bisher hatte er nichts vermisst.

Er nahm einen ersten Schluck vom heißen Espresso, rutschte vom Hocker, setzte sich mit der Tasse an den IKEA-Tisch mit den vier weißen Klappstühlen und schlug die Zeitung auf.

Nach der Trennung von Marietta hatte er sich fest vorgenommen, seinen Job als investigativer Journalist wieder aufzunehmen. Aber zu lange war er raus, seit seine letzte Recherche in Afghanistan mit einem Überfall so dramatisch endete und ihn zwei Jahre körperlich und psychisch außer Gefecht setzte. Der Ermittlerjob im vergangenen Sommer war ihm gerade recht gekommen, um etwas Leben in die Eintönigkeit der Rekonvaleszenz zu bringen. Das Pech verfolgte ihn hartnäckig. Aus Afghanistan kam er mit Nierenquetschungen und einer gebrochenen rechten Schulter zurück und genau vor einem Jahr hatte ihm ein außer Kontrolle geratener Irrer beinahe die linke zertrümmert. Ein Wunder, dass er überhaupt noch gerade gehen konnte.

An einem Hintergrundbericht auf Seite drei über die Flüchtlingslager auf den ägäischen Inseln blieb er hängen. Dann lehnte er sich zurück. Er fand keinen Anschluss mehr. Seine alten Kontakte hatten sich verflüchtigt und die großen Recherchen liefen heute über Redaktionsnetzwerke mit weltweiter Vernetzung und Arbeitsteilung. Wo war noch Platz für einsame Wölfe, wie er mal einer war? Die Zeit drängte, er brauchte dringend Kohle. Warum funktionierte es nicht mehr so wie früher? Sauereien, die aufzudecken waren, gab es genug.

Wenn er ehrlich zu sich war, dann hatte er nicht ernsthaft versucht, in seinen Journalistenberuf zurückzufinden. Der Ermittlungserfolg und die Honorierung durch die finnische Kanzlei hatten ihn verblendet. Aus dem nüchternen Realisten Carl Sopran war ein verträumter Idiot geworden. Ein Spezialermittler wollte er sein, der jeden, der verschwunden oder verschollen war, im letzten Loch aufspürte. Ein Gewerbe hatte er angemeldet, eine Website gestaltet und Visitenkarten drucken lassen: Carl Sopran, Privatermittlungen, weltweit – diskret – effektiv. Auf der einen Seite auf Deutsch, auf der anderen auf Englisch. Nur die Aufträge dazu fehlten. Wenn sich nicht bald etwas tat, war er gezwungen, bei ehemaligen Kollegen und Redaktionen Klinken zu putzen und auf einen Artikel mit windigem Zeilenhonorar zu hoffen.

Er blätterte weiter in der Zeitung. Abendliche Geisterfahrt in der Ravensburger Marktstraße, sprang ihm eine Schlagzeile am Beginn des Lokalteils ins Auge. Heiner Radtke, der Kollege, war verantwortlich für den Bericht. Sopran las ihn vom Anfang bis zum Ende.

Das war sicher eine lange und hektische Nacht für Heiner, den Artikel hatte er vermutlich direkt in die Druckmaschine geschrieben, damit er rechtzeitig erschien. Sopran stellte sich bildlich vor, was gestern spät abends im Zentrum der Stadt los war: Ein Luxus-SUV ohne Fahrer demoliert die halbe Marktstraße und zerquetscht einen Kleinwagen an einer Hauswand. Das hatte die Qualität seiner Aktion mit den Toten im Sägewerk vergangenes Jahr. Im Jahresrhythmus schien die Stadt von spektakulären Ereignissen heimgesucht zu werden. Dieses Mal war er nicht beteiligt.

Der Kaffee war kalt. Er nahm den letzten Schluck und beschloss, doch zum Frühstücken ins Café zu fahren.

Mittwoch, 10. August

Dort drüben stand er mit seinem Anwalt vor dem Eingang des Amtsgerichts und versuchte, sie mit provokanten Blicken zu reizen. Michaela wechselte die Straßenseite, endlich war sie ihn los. Im Gerichtssaal ertrug sie seine körperliche Nähe nur mit Mühe und dem Wissen, in Kürze ein anderer Mensch zu sein. Übermorgen würde sie noch mit der alten Identität nach Florenz fliegen, aber das war zu verschmerzen. Nach der Reise würde sie sich um die Behördengänge und neue Papiere kümmern. Wie eine Schlange würde sie sich häuten, den verhassten Nachnamen Schiller ablegen und als Michaela Conti ihr neues Leben fortsetzen.

Wo blieben Julia und der Scheidungsanwalt denn so lange? Sie stand vor einer Boutique und schaute zum Gericht hinüber. Sie hatten vereinbart, sich zusammen in der Kanzlei zu treffen, die nur ein paar Häuser weiter in der gleichen Straße war. Sofort drehte sie sich wieder um, ihr Ex attackierte sie immer noch mit seinen Blicken. Sie begutachtete das Schaufenster, erkannte im verschwommenen Spiegelbild aber nur sich selbst. Äußerlich war alles an ihr so weit in Ordnung. Die Spuren aber, die die Ereignisse der letzten Tage in ihr hinterlassen hatten, waren nur schwer zu kaschieren. Für sie war es Zeit, Abstand zu gewinnen. Der alte Dottore Emilio ließ ihr vor kurzem über seine Pflegerin Maria ausrichten, dass der Tod ihres Vaters ihm sehr zugesetzt hatte und es ihm nicht gut ginge. Er hatte den Wunsch, sie an Ferragosto noch einmal zu sehen. Den erfüllte sie ihm gerne, die Tage in der Toskana würden ihr guttun.

Im Schaufenster sah sie, dass ihr Ex-Mann und sein Anwalt sich verabschiedeten. Endlich kamen auch Julia und Dr. Schneider aus dem Gerichtsgebäude. Sie winkte ihrer Tochter zu und sah ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

Julia war das einzig Positive, das sie aus ihrer Ehe in ihr neues Leben mit hinübernahm. Ihre Tochter war ihr eine unvergleichliche Stütze, nicht erst seit dem Vorfall mit dem Porsche. Sie war ein starkes Mädchen, beharrlich und clever, wie ihr Großvater Salvatore, bereit, jetzt alles in die zu Hand nehmen.

Nach ihrer Auszeit in der Toskana stand die Neuorganisation der Firma an. Alles, was auf Willy Schillers Mist gewachsen war, weg damit. Nichts würde sie beide aufhalten, ihr Unternehmen in Zukunft so zu führen, wie sie es sich vorstellten. Der größte Störenfried verschwand soeben ums Eck.

„So, Mama, das haben wir geschafft. Fahr du eine Weile weg und komm zur Ruhe.“

Der Anwalt stellte sich dazu. „Lassen Sie uns in der Kanzlei noch weiterreden, falls Herr Schiller die Fakten nicht akzeptiert, was ich nicht ausschließe, sollten wir vorbereitet sein, darüber müssen wir sprechen, bevor Sie wegfahren.“

„Haben wir die Zusage der Polizei, dass Mama für eine Woche in unser Haus in die Toskana fahren darf?“, schaltete sich Julia ein.

„Soviel ich weiß, ja. Auch das klären wir jetzt gleich, bitte kommen Sie.“

Michaela atmete tief durch und fasste ihre Tochter unter den Arm.

Freitag, 12. August

Auf dem Zubringer zur A1 hielt sich der Verkehr in Grenzen. Es war kurz vor Ferragosto und die Sommerferien auf dem Höhepunkt. Viele Florentiner verbrachten die heißen Tage an der Versiliaküste oder in den schattigen Wäldern des nahen Pratomagno und Casentino.

Michaelas Maschine war pünktlich in der größten Mittagshitze gelandet. Aus dem klimatisierten Terminal war sie in einen Backofen gelaufen und hatte keine trockene Stelle mehr am Leib gehabt, als sie den schweren Koffer und die Handtasche endlich vor dem Mietwagen abgestellt hatte.

Seit zehn Minuten lief die Klimaanlage im gemieteten Renault auf achtzehn Grad. Allmählich stellte sich ein angenehmeres Gefühl ein, aber Bluse und Jeans waren noch feucht vom Schweiß. An der nächsten Raststätte hatte sie vor, trockene Sachen aus dem Koffer zu holen, sich umzuziehen und frisch zu machen.

Das Navi forderte sie soeben in italienischer Sprache auf, demnächst auf die Autostrada Richtung Siena abzufahren. Zwei Stunden Fahrzeit zeigte es bis Paganico an. Von dort waren es zwanzig Minuten bis zur Tenuta Sette Pine, einem ehemaligen Bauernanwesen mit Weingut, das sie mit den Jahren zu einem gehobenen Urlaubsresort ausgebaut hatten.

Ihr Vater hatte die Tenuta Sette Pine, damals hieß das Anwesen noch Podere Giannini, Ende der Siebzigerjahre erworben. Zu dieser Zeit waren die Immobilienpreise in der Toskana moderat, heute und in diesem Zustand war das Anwesen einige Millionen wert. Die ehemaligen Besitzer waren mit ihrer Familie als Pächter des Weinguts und Verwalter des Gästehauses geblieben und kümmerten sich um das Anwesen, als wäre es noch ihr eigenes.

Während des letzten Telefonats mit Matteo hatte seine Frau Eleonora das kleine Rustico mit den beiden Terrassen etwas abseits vom Hauptgebäude für sie vorbereitet. Es war ausschließlich ihrer Familie vorbehalten und wurde nicht an Gäste vermietet.

Die Ereignisse der vergangenen Tage hatte sie nicht abgeschüttelt, aber wenn sie aus dem Fenster des im Mittagsverkehr dahinrollenden Wagens schaute, kam sie langsam wieder, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, die sie mit den Aufenthalten auf dem Landgut ihrer Familie verband.

Das war der Ort, an den sie sich eines Tages zurückziehen wollte, als Mitglied der Familie Giannini. La nostra piccolina hatten Matteos Eltern sie immer genannt, wenn sie auf Besuch waren, obwohl sie damals schon eine erwachsene Frau war.

Die Abfahrt zu zwei Tankstellen hatte sie verpasst und näherte sich Siena. Die Temperatur im Wagen war angenehm und die Bluse fühlte sich nicht mehr feucht an. Das Thermometer zeigte unerträgliche achtunddreißig Grad Außentemperatur. Aber am Ziel wartete eine kalte Dusche und ein verlockend türkisblauer Swimmingpool.

***

Er ging nicht ans Telefon, auf ihre Nachricht, die sie am Vormittag auf die Mailbox gesprochen hatte, reagierte er nicht. Julia legte das Handy beiseite, sie würde es wieder versuchen. Immer wieder, bis sie ihm eindeutig klargestellt hatte, dass er sie beide in Ruhe zu lassen hatte, ob er es akzeptierte oder nicht. Die Anwälte rieten davon ab, einen Privatdetektiv zu engagieren, solange es keine konkreten Verdachtsmomente gab. Das hinderte sie allerdings nicht, selbst aktiv zu werden. Jetzt, da ihre Mutter aus der Schusslinie war, sollte sie die Gelegenheit nutzen. Wenn die Maschine pünktlich gelandet war, saß ihre Mutter im Auto und befand auf dem Weg nach Poggi del Sasso.

Es klopfte, Julia legte das Handy beiseite. Luisa, ihre Disponentin, stand in der Tür.

„Hallo Julia, Rainer hat mir gesagt, dass du im Haus bist. Ich dachte, du kommst erst morgen wieder.“

„Das hatte ich vor, aber du siehst ja.“ Sie stand auf und zeigte auf ihren Schreibtisch.

„Oh je, ich sehe es. Wir müssen Wein nachbestellen. Die Bestände hast du gestern per Mail bekommen.“

Julia nickte anerkennend, ihr Team hatte sie ihrer Mutter zu verdanken. Sie hatte ein Geschick, die richtigen Leute zu finden. Von Anfang an setzten sie beide auf flache Hierarchien und auf junges Personal, die meisten waren in Julias Alter.

„Mach das mit Rainer zusammen, Luisa, ihr wisst ja, was wir brauchen. Und wenn ihr ein wenig Änderung ins Sortiment bringen wollt, lasst Lombardi wieder mal kommen und schaut, was er anzubieten hat. Aber kickt mir bloß nicht die Weine der Tenuta raus.“

„Oh, oh, ich werde mich hüten, das wäre ein Kündigungsgrund.“ Luisa fuchtelte mit dem Zeigefinger und lachte herzhaft.

„Wie geht es Michaela, hat sie den Schock schon überwunden?“

„Nicht so recht. Sie ist heute in die Toskana geflogen, um dort auf andere Gedanken zu kommen und sich zu entspannen. Wenn Sie zurück ist, packen wir die Sache an, einverstanden? Die Anwälte sind dran, in zwei bis drei Wochen sind wir so weit. Okay?“

Luisa nickte. „Super, ich freu mich drauf.“ Dann schloss sie die Tür leise hinter sich.

Julia stellte sich ans Fenster ihres Büros und schaute auf den Hof hinunter. Juri und Mustafa beluden den Planenanhänger mit Bistrotischen und Barhockern, am Wochenende war Geburtstagsfeier bei einem Chefarzt. Ein kleiner, aber feiner Auftrag.

Wenn alles glatt lief, konnte im September der Cateringservice ausgegliedert und in eine eigene GmbH überführt werden. Luisa und Rainer waren als Geschäftsführer vorgesehen. Auch wenn ihre Mutter Ruhe und Erholung brauchte, gab es für die Umstrukturierung des Unternehmens keinen Aufschub. Julia bekam ab sofort die Verantwortung für die ganze Firma und das Vermögen, das Padre Salvatore ihnen hinterlassen hatte, aufgeladen. Michaela würde ihr zur Seite stehen, aber dazu musste sie erst auf die Beine kommen.

Julia griff nach dem Handy und wählte ein letztes Mal die Nummer ihres Vaters. Wieder ging nur die Mailbox dran.

***

Michaela hatte Siena schon eine Weile hinter sich gelassen und fuhr auf der neuen Brücke, unter der die heißen Quellen von Bagni di Petriolo sprudelten. Ihr Vater hatte sie geliebt. Wenn er zu Besuch auf der Tenuta war, ließ er sich mindestens einmal dort hinfahren, hockte stundenlang zwischen den Felsen in den Wasserlöchern und hing seinen Gedanken nach. Hinterher war er so ausgelaugt, dass er den restlichen Tag schlief.

Es waren Erinnerungen wie diese, die Michaela mit den Besuchen in Poggi del Sasso verband.

Mit der Sonnenbrille auf der Stirn, ein Tunnel nach dem anderen folgte und der ständige Licht- und Schattenwechsel irritierten, hing sie ihren Gedanken nach. Das Handy meldete sich mit einem kurzen Ton, eine SMS war eingegangen. Sie ignorierte die Nachricht und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Die ganze Fahrt war das Radio leise gestellt. Die Musik und das Gequatsche lenkten ab und störten sie beim Nachdenken. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zu den nervenaufreibenden Ereignissen der vergangenen Tage zurück. Die Scheidung war endlich vollzogen, darauf hatte sie die letzten zwei Jahre hingearbeitet. Dieses Problem hatte sich erledigt, nur die pure Erlösung machte sich seit zwei Tagen in ihr breit. Was ihrem Mann nachträglich an Schweinereien einfiel, ließ sie auf sich zukommen. Die Anwälte würden es schon regeln, das wurde vorgestern, nach dem Gerichtstermin, ausführlich besprochen.

Der Vorfall mit ihrem Porsche setzte ihr zu. Die Ungewissheit, was es zu bedeuten hatte, beunruhigte sie. Der Traum, dass mit ihrem Auto Menschen getötet wurden und dass Feuerwehrleute abgerissene Arme und Beine zusammentrugen und auf dem Gehsteig stapelten, hatte Michaela eine schlaflose Nacht bereitet. Bis heute war nicht geklärt, wer ihren Porsche Cayenne auf eine Geister-Amokfahrt durch die Marktstraße geschickt hatte. Geschweige denn, warum. Es ging ihr nicht aus dem Kopf. Was hatte die Amokfahrt für einen Sinn? Plante jemand, wahllos Menschen zu töten, die friedlich vor einer Gaststätte saßen? Wieso benutzte er ausgerechnet ihren neuen Porsche dazu? Wen beabsichtigte der Wahnsinnige, der dahintersteckte, mit dieser Aktion zu treffen? Es gab keinerlei Hinweise oder ein Schreiben, bis heute nicht. Nur Fragen und keine einzige Antwort. Das Verhältnis zu ihrem endlich ehemaligen Mann war so zerrüttet, dass sie ihm zugetraut hätte, die Finger im Spiel zu haben. Der Verdacht hatte sich aber schnell in Luft aufgelöst. Er selbst war an diesem Abend nachweislich in seinem neuen Wohnort Friedrichshafen am Bodensee unterwegs. Ihre Gedanken bewegten sich immer wieder im Kreis. Das war alles so irrsinnig. Aber es war Sache der Polizei. Michaela schüttelte den Kopf, um die Gedanken freizubekommen.

Warnbaken, Schotterhaufen und Granitquader links und rechts, schwere Kieslaster, Schubraupen und Kräne kündigten das Ende der Ausbaustrecke an. Sie erhöhte die Geschwindigkeit und schloss zu den Fahrzeugen auf, die in weitem Bogen auf der alten, nicht ausgebauten Straße Richtung Grosseto weiterfuhren.

Der Verkehr stockte und bewegte sich nur langsam vorwärts. Sie holte das Handy aus der Mittelkonsole und entsperrte es. Das Symbol mit den neuen Nachrichten fiel ihr ins Auge: nur eine Telefonnummer, kein Name. Auf den Abstand zum vor ihr fahrenden Wagen achtend öffnete sie die Mitteilung: ›Was ihr besitzt, ist mit Blut und Tod erkauft. Ich werde euch alles nehmen.‹

Sie ließ das Handy wie ein glühendes Stück Kohle auf den Beifahrersitz fallen, umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und hörte nicht mehr auf, daran zu rütteln.

„Nein, nein, neiiiin“, schrie sie ihre Angst und Wut aus sich hinaus. Ihr? Wer war gemeint? Ihre Tochter und sie? Ihre Familie, die nur noch aus diesen zwei Personen bestand? Was hatten sie mit Blut und Tod erkauft?

Ein Fahrzeug nach dem anderen überholte, hinter ihr hupte es. Glücklicherweise tauchte eine Parkbucht auf, in der ein Lastwagen stand, dahinter war Platz. Sie riss das Steuer nach rechts und kam schräg hinter dem Laster zum Stehen. Dann sackte Michaela über dem Lenkrad zusammen und spürte nichts als Leere.

Blut und Tod. Die Tenuta Sette Pine, die Restaurants, die sie über die Jahre hinweg aufgebaut, betrieben und wieder verkauft hatten. Julias Firma, die sie damit finanziert hatten. Ihr Haus in Aussichtslage, ihre Immobilien, ihr neues Leben, das ab heute begann. Mit Blut und Tod erkauft? Wer drohte ihr mit dieser anonymen Nachricht? Warum? Sie griff nach dem Handy auf dem Beifahrersitz und drückte die unbekannte Nummer. Eine Ansage auf Italienisch meldete, dass der Teilnehmer nicht erreichbar sei.

Der Lastwagen startete laut dröhnend den Motor und fuhr an. Eine Abgaswolke hüllte ihren Wagen ein. Dann sah sie zwei Gestalten aus der Wolke auf sich zukommen. Dunkle Gestalten. Langsam, breitbeinig, bedrohlich. Schritt für Schritt näherten sie sich. Michaela verbarg sich hinter dem Lenkrad, ihre Gedanken kreisten um den Inhalt der Nachricht.

Was sie besaßen, dafür hatte ihr Vater Jahrzehnte lang gearbeitet, ehrlich und rechtschaffen. Hatte er ihr etwas verheimlicht? Sie hatte die Goldbarren vor Augen, sie lagen noch unberührt im Safe. Kein Wort hatte er zu Lebzeiten darüber verloren. Erst nachdem sie mit dem Nachlass den Code bekommen hatte, erfuhr sie von der Existenz des Safes im Keller, der neben dem Gold auch viel Geld beherbergte. Kam dieses Geld aus Geschäften, von denen sie nichts wusste und die nicht an die Öffentlichkeit durften? Unvorstellbar! Hörte es nicht auf, war es wieder eine von Willy Schillers bösartigen Aktionen? Dann hatte er es endgültig zu weit getrieben. Und wenn nicht? Was hatte es dann zu bedeuten? Wer war hinter ihr und ihrem Vermögen her, warum bedrohte man sie? Vielleicht wollte Emilio sie deshalb treffen.

Es klopfte ans Seitenfenster. Ein kreisender Zeigefinger wies sie an, es zu öffnen. Michaela zitterte und starrte auf die Hand, dann drückte sie auf den Knopf und die Scheibe fuhr herunter.

„Buongiorno, Signora.“

Der Staub hatte sich verzogen. Weiter vorn stand ein Wagen der Polizia Stradale. Ein Männergesicht mit Dreitagebart erschien im geöffneten Fenster und ein Hitzeschwall schoss ins Wageninnere.

„Ist Ihnen nicht wohl, haben Sie ein Problem?“

Sein Blick blieb am Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, hängen.

Ihre spontane Antwort war keine Notlüge, ihr fiel nichts anderes ein als die Wahrheit. „Ich habe soeben eine schlechte Nachricht erhalten.“

Jetzt erschien ein zweites Gesicht am Fenster. „Bitte fahren Sie etwas nach vorne, sie stehen mit ihrem linken Hinterrad auf der Fahrbahn.“

Michaela folgte der Anweisung, startete den Wagen, fuhr ein paar Meter weiter und hielt mit laufendem Motor wieder an, um die Klimaanlage in Gang zu halten. Hilfe, bitte helft mir, hätte sie den beiden am liebsten zugerufen. Aber was sollten sie tun? Sie wusste selbst nicht, was die Nachricht auf ihrem Handy zu bedeuten hatte.

Der Bärtige beugte sich wieder zu ihr herunter. „Bleiben Sie sitzen, Ihre Papiere bitte.“

Aus ihrer Tasche kramte sie Führerschein und Ausweis hervor und reichte beides durch das Fenster. Der Polizist warf einen Blick darauf und ging um das Auto herum.

„Das ist ein Mietwagen?“

„Ja.“

„Die Fahrzeugpapiere bitte.“

Sie holte den Leihwagenvertrag aus dem Handschuhfach und reichte ihn ebenfalls nach draußen.

„Haben Sie Alkohol getrunken?“

Die Frage nahm sie dem Polizisten nicht einmal übel, so grauenhaft, wie sie aussah, war ihr auch zumute.

„Nein, mir geht es nicht gut und ich möchte eine Pause machen.“

„Wie weit haben Sie zu fahren?“

„Bis Poggi del Sasso.“ Die Hitze, die von draußen kam, war nicht zu ertragen.

„Das ist nicht mehr weit.“

Der bärtige Polizist gab ihr die Papiere zurück und wünschte ihr gute Fahrt.

Michaela Schillers Finger tasteten nach dem Schalter, sie ließ die die Seitenscheibe langsam hochfahren, dann sackte sie in sich zusammen. Den Kopf an die Scheibe gelehnt beobachtete sie die beiden Polizisten, wie sie ins Auto stiegen und davonfuhren. Ihr Zustand ließ es nicht zu, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber eines war ihr bewusst, die Telefonnummer, von der die Nachricht kam, würde nicht zum Absender führen.

Aus der Handtasche auf dem Beifahrersitz holte sie ihr kleines Notizbuch hervor. Es war aus der Zeit, als man Telefonnummern notierte und nicht im Handy speicherte. Viele Nummern und Namen waren gestrichen, neue in den letzten Jahren kaum mehr hinzugekommen. Dennoch trug sie es immer bei sich.

Es gab einen, der ihr hoffentlich etwas dazu sagen konnte, Emilio, Vaters langjähriger Vertrauter. Sie klappte es bei ›M‹ auf. Dottore Emilio Marchetti lebte noch, er war jetzt siebenundneunzig. Die Anwaltskanzlei in Florenz betrieben sein Sohn und der Enkel. Diese Nummer rief sie an und wurde zu Alessandro Marchetti weiterverbunden.

„Ciao Michaela, come stai, wie geht’s? Was kann ich für dich tun?“

„Ich fahre für ein paar Tage nach Poggi del Sasso und treffe mich mit deinem Vater, wie kann ich ihn erreichen?“

„Ach. Das habe nicht gewusst. Er hat nichts davon erwähnt. Du hast Glück, er ist in Campagnatico, in der Stadt war es ihm zu heiß. Ich muss mich kurz halten, ich habe eine Besprechung. Wir geben Maria Bescheid, dass du ihn besuchen kommst. Sie ruft dich an. Einverstanden?“

„Grazie mille, Alessandro.“

„Gern und grüß Eleonora und Matteo von mir, ciao.“

Sie legte den Gang ein und drängte sich in eine Lücke, die der wieder flüssiger gewordene Verkehr zuließ. Es hatte gutgetan, eine angenehme und freundliche Stimme zu hören. Die Kanzlei beriet sie schon seit ewigen Zeiten bei ihren Geschäften in Italien. Ob ihr aber der alte Dottore Emilio Marchetti bei den aktuellen Schwierigkeiten helfen konnte, war nicht sicher. Probleme hatte sie weiß Gott, wenn sie an ihren Porsche dachte und die SMS von vorhin ernst nahm.

Michaela hatte sich wieder beruhigt und gab sich der Hoffnung hin, dass Emilio Möglichkeiten hatte, den Spuk zu beenden.

Das Teilstück der alten Straße hatte sie verlassen, die Superstrada wieder vierspurig vor sich, und fuhr der Sonne entgegen. Nach einer Kuppe tauchte rechts das pittoresk auf einer Anhöhe liegende Civitella Marittima auf und vor ihr lagen die sanften Hügel der Maremma. Die Wiesen und abgeernteten Felder waren trocken und braun von der sengenden Augustsonne. Sie atmete tief durch und versuchte, die bösen Gedanken für einen Augenblick zu verdrängen.

Fast war es geschafft. Das große Werbeschild vor der Abzweigung nach Cinigiano und Sasso d’Ombrone war noch nicht aktualisiert und ausgetauscht worden, das hatte Julia im vergangenen Jahr angeregt. Es wies die Touristen, die auf dem Weg Richtung Montalcino und ins Brunellogebiet waren, auf die Tenuta hin. Eigentlich war das Schild gar nicht nötig, denn Tages- und Kurzzeitgäste gehörten nicht zur Klientel, das sie anstrebten. Das Resort war mit den Gruppen und Gesellschaften, die Julia akquirierte, die ganze Saison fast ausgebucht.

Das Sträßchen hinauf zum Kamm des Montecucco mit seinen ausgedehnten Olivenhainen und großen Weingütern war schmal und kurvenreich. In diesem heißen August gab es kaum mehr eine Blüte am Wegrand zu sehen, alles war verdorrt. Die Blätter an den Steineichen sahen aus wie Herbstlaub. Nur die Zypressen trotzten mit ihrem Immergrün der Trockenheit.

Michaela schaltete einen Gang herunter und fuhr vorsichtig in die nächste Kurve. Sie hatte Respekt vor der rasanten, häufig halsbrecherischen Fahrweise italienischer Autofahrer. Es war aber unnötig, an einem brütend heißen Augusttag wie diesem gab es für Einheimische keinen Grund, am Nachmittag unterwegs zu sein.

Nur ein Wohnmobil zuckelte vor ihr die Strada del vino Montecucco hinauf. Obwohl sie langsam fuhr, kam sie ihm immer näher. Deutsche Touristen, das sah sie am Nummernschild, konnte es aber keiner Stadt zuordnen. Nach links ausscheren und überholen ging nicht, die Straße war zu eng und vorne nicht einsehbar. Die paar Minuten waren zu verschmerzen, bis zur Tenuta hatte sie nur drei Kilometer zu fahren.

Dann kam das Wohnmobil mit einem leeren Fahrradträger hinten drauf zum Stehen. Die Bremslichter leuchteten auf, der rechte Blinker wurde gesetzt und zwang sie ebenfalls anzuhalten. Bei laufendem Motor zog sie die Handbremse und warf einen Blick in den Rückspiegel. Dann schaltete sie vorsichtshalber den Warnblinker ein.

Am Fahrzeug vor ihr erloschen alle Lichter. Und jetzt? Wenn die Leute eine Panne hatten, warum benutzten sie nicht die Warnleuchten? Weiter rechts ranfahren war nicht möglich, ihr Wagen stand nah an einer Böschung mit halbwüchsigen Steineichen, Gebüsch und vertrockneten Ginstersträuchern. Eine Weile blieb sie sitzen und wartete. Sahen die nicht, dass ein Auto hinter ihnen stand? Dann wurde es ihr zu dumm, sie wollte endlich unter die Dusche. Verärgert stellte sie den Motor ab und stieg aus.

Auf der Fahrerseite des Wohnmobils war nichts zu sehen. Die sind doch nicht sauber, die hocken immer noch drin, dachte sie sich. Sie war auf dem Weg zur Fahrertür, um nachzusehen, was im Wagen vor sich ging, da hörte sie, wie auf der anderen Seite des Fahrzeugs eine Tür zugeschlagen wurde. Es folgten Schritte.

Endlich, mit ein paar deutlichen Worten auf den Lippen lief sie zur Rückseite des Wohnmobils, dann stießen sie zusammen. Überrascht schaute Michaela auf und sah in Augen, in denen der Wahnsinn flackerte. Einen kurzen Moment stockte sie, es blieb ihr keine Zeit etwas zu sagen, als sie die Augen erkannte. Nur einen höllischen Schmerz im Kopf spürte Michaela Schiller, bevor ihr die Beine wegsackten.

Freitag, 19. August

Der kleine Schlüssel drehte sich schwer im Vorhängeschloss, endlich schnappte der Bügel auf. Sopran schob den rostigen Riegel zurück und zog den rechten Flügel der Brettertür auf, die Scharniere quietschten durchdringend. Dann öffnete er die Tür ganz und ließ Licht in den dunklen Schuppen. Im Frühjahr war er zum letzten Mal hier gewesen. Auf dem Boden lag vertrocknetes Laub, das der Wind durch die Ritzen geweht hatte. Mit der rechten Fußspitze stieß er ein heruntergefallenes, zerfleddertes Wespennest beiseite.

Durch die Tür fielen Sonnenstrahlen auf eine silberne Kunststoffabdeckung, die ein Fahrzeug verhüllte. Sopran wischte mit der Hand weiteres Laub von der Plane, griff ans hintere Ende und zog sie vorsichtig nach vorne. Das große Knäuel packte er mit beiden Händen, legte es vor den Schuppen und klopfte sich den Staub von den Hosenbeinen.