Den Traum im Blick - Birgit Ebbert - E-Book

Den Traum im Blick E-Book

Birgit Ebbert

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  • Herausgeber: tredition
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Berlin 1930. Der 20-jährige Alexander bricht sein Medizinstudium ab, um Journalist zu werden, er will so berühmt werden wie Erich Kästner. Als er bei einer Filmpremiere Marlene Dietrich erlebt, hat er eine Idee. Er wird sich an ihre Fersen heften und von ihrem Ruhm profitieren. Leider reist sie nach Hollywood ab. Aber da ist die junge Schauspielerin Herti Kirchner aus seiner Heimatstadt Kiel. Es sieht ganz danach aus, als könnte sie der nächste große Filmstar werden. Alexander beobachtet die Kielerin und lässt keine Gelegenheit aus, mehr über sie und ihre Pläne zu erfahren. So, wie sie ihrem Traum folgt, Schauspielerin zu werden, jagt er seinem Traum nach. Da holt ihn die Zeitgeschichte jäh auf den Boden der Tatsachen zurück. "Den Traum im Blick" ist der neue Roman von Birgit Ebbert, Hagener Autorin und Expertin für Erich Kästner. In ihre Geschichte hat sie Ereignisse aus Politik und Kultur der 30er-Jahre eingebunden. Inspiriert wurde sie zu dem Roman von den Briefen der Filmschauspielerin Herti Kirchner, die in jener Zeit tatsächlich mit Erich Kästner liiert und auf dem Weg zu einer erfolgreichen Schauspielerin war.

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Seitenzahl: 496

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Geschichten spannen ein Netzüber Menschen, Raum und Zeit.

Birgit Ebbert

Den Traumim Blick

Roman aus demFilm-Berlin der 30er Jahre

© 2022 Dr. Birgit Ebbert

Umschlag: Marion Wieczorek

Umschlagfoto: Ulrich Wens

Druck und Distribution im Auftrag Dr. Birgit Ebbert

tredition GmbH, Halenreie 40-44, D-22359 Hamburg

ISBN Softcover: 978-3-347-72778-6

ISBN Hardcover: 978-3-347-72779-3

ISBN E-Book: 978-3-347-72780-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Prolog

»Ihr wollt bloß nicht, dass mein Traum in Erfüllung geht!« Bei diesen Worten war Alexander Halbersberg vom Tisch aufgesprungen. Die Suppe spritzte im Teller hoch. Der Stuhl kippte geräuschvoll um.

Seinen Vater schien Alexanders Explosion der Gefühle nicht zu erreichen. Er löffelte weiter seine Suppe und fischte seelenruhig eine Kohlblume heraus. »Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst«, begann er, besann sich und erklärte: »Schreiben ist eine brotlose Kunst. Ärzte braucht man immer.«

Alexander hielt sich die Ohren zu. Er konnte es nicht mehr hören. Seit er in der Unterprima begonnen hatte, Artikel für die Kieler Nachrichten zu schreiben, verging kein Tag ohne diese Litanei. Er konnte sie im Schlaf mitsprechen.

»Im Krieg hast du erlebt, wie das ist. Erinnere dich an deinen Schulfreund, der jeden zweiten Mittag in unserem Garten herumlungerte, in der Hoffnung auf eine warme Mahlzeit.« Leopold Halbersberg hatte den Löffel neben den Teller gelegt, obwohl noch Suppe darin war. Er tupfte mit der Serviette seinen Mund ab und sah Alexander aus den tiefbraunen Augen, die er seinem Sohn vererbt hatte, eindringlich an. »Und? Welchen Beruf hatte der Vater deines Schulfreundes?«

Alexander blieb stehen und schwieg trotzig. Natürlich wusste er, dass Werners Vater Journalist war. Schließlich hatte dieser ihm den Job bei den Kieler Nachrichten beschafft. Er starrte seinen Vater mit zusammengekniffenen Augen an und warf die braunen Haare zurück, deren Länge sonst Diskussionsthema bei Tisch waren.

»Sag’s ruhig!«, forderte Leopold seinen Sohn auf. »Und setz dich endlich, das ist kindisch, was du hier veranstaltest.«

»Alexander, bitte!«, mischte sich seine Mutter ein und fühlte, ob ihr Haarknoten richtig saß, wie immer, wenn sie erregt war.

Alexander hob den Stuhl auf und setzte sich mit verschränkten Armen und grimmigem Gesicht an den Tisch.

»Na, geht doch!« Leopold Halbersberg griff zum Löffel und aß seine Suppe weiter, als wenn nichts gewesen wäre.

»Und ich werde Journalist!«, flüsterte Alexander. Dass sein Vater kurz vom Teller aufblickte, zeigte ihm, dass er ihn gehört hatte.

Die beiden Männer schwiegen für den Rest des Mittagessens. Christine Halbersberg versuchte die Stille, in der selbst der Klang des Bestecks auf dem Porzellan laut erschien, mit Klatsch aus der Stadt zu füllen. »Habt ihr gehört, dass die Kleine vom Dachdecker durchgebrannt ist? Nicht mit einem Kerl, aber die war schon immer ein bisschen meschugge. Will Schauspielerin werden!« Sie machte eine kleine Pause, ehe sie leise bemerkte: »Dagegen ist Journalist direkt ein ehrbarer Beruf!«

November 1929

»Ich kann das nicht, ich will das nicht!«, schrie Alexander und warf das Skalpell in die Schale. Vor ihm lag eine männliche, nackte Leiche. Auf dem Brustkorb befand sich ein blaues Kreuz, dass der Professor mit einem Kugelschreiber auf die blasse Haut gezeichnet hatte. Bereits bei diesem Anblick, wie der Professor in seinem weißen Kittel von Leiche zu Leiche ging und seine Kreuze malte wie Autogramme, war Alexander schlecht geworden. Seine Kommilitonen hatten ihn mit Mühe überredet, am Tisch zu bleiben. Der Professor hatte klar gemacht, dass der für den ersten Abschnitt der ärztlichen Prüfung nötige Schein nur nach erfolgreich absolvierter Operation vergeben wurde. Nicht am lebenden Objekt, was für Alexander keinen Unterschied machte.

»Komm, Alexander, denk an was Schönes und schnippel einfach drauflos!«, ermunterte ihn Ingmar vom Nachbartisch, während er mit dem Skalpell am Brustkorb einer hübschen jungen Toten herumsäbelte.

Alexander spürte, wie es in seinem Magen arbeitete, dann rumorte es in der Speiseröhre, im letzten Moment schaffte er es bis zum Handwaschbecken am Rand des Sektionsraumes.

»Oh, da haben wir ein Weichei unter uns«, spottete der Professor. »Das müssen Sie sich aber abgewöhnen, wenn Sie Arzt werden möchten. Tote gehören zum Arztleben unabdingbar dazu.« Er wandte sich an alle Studenten. »Lassen Sie sich eines gesagt sein, ein Arzt darf auf keinen Fall, in keinem Moment Schwäche zeigen. Deshalb habe ich dieses Seminar als Pflichtprogramm für alle Erstsemester in meiner Fakultät eingeführt.«

Alexander kam es so vor, als sähe der Professor ihn bei den nächsten Worten besonders an. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Tote ich im Krieg gesehen und wie viele Schwerverletzte ich verarztet habe. Wäre mir damals das Mittagessen hochgekommen, hätte ich Wannen füllen können. Aber Mittagessen hatten wir sowieso nicht.«

Alexander legte eine Hand auf den Magen, der weiterhin rebellierte. An den Krieg hatte er nur eine einzige Erinnerung, die sterbenden Männer zwischen den Schulbänken, als man seine Schule in ein Lazarett verwandelt und vergessen hatte, die Schüler zu benachrichtigen. Da stand er mit 35 anderen ABC-Schützen vor Betten mit schreienden Männern, manche hatten Verbänden am ganzen Körper, manchen fehlte ein Arm oder Bein. An jenem Tag hatte er sich geschworen, niemals Arzt zu werden. Trotzdem befand er jetzt sich in diesem schrecklichen Raum mit diesem grausamen Professor und Kommilitonen, die Freude daran hatten, tote Menschen zu sezieren.

»Wird das endlich was!«, herrschte der Professor Alexander an. »Wir wollen alle ins Wochenende. Kommen Sie, das hat bisher jeder geschafft!« Eine Lüge, das wusste Alexander von Studenten aus höheren Semestern. Aber er wollte nicht zu denen gehören, über die sich Jahre später die Studentenschaft das Maul zerriss. Vorsichtig setzte er das Skalpell auf ein Ende des Kugelschreiberkreuzes, das der Professor emotionslos auf den Torso gezeichnet hatte, als wäre der Tote ein Blatt Papier.

»Nur Mut und mehr Kraft!«, forderte der Professor. »Sie sind schließlich kein schlaffer Jude, das kriegen sie hin.«

Alexander zuckte zusammen. Er war kein Jude, aber immer öfter hörte er diese Sprüche. Was sollte das? Früher hieß es: »Sie sind doch keine Frau!« Seit es Frauen an den medizinischen Fakultäten gab, verging kein Tag, an dem die Juden nicht als Beispiel für Schwäche erwähnt wurden.

Als er eine halbe Stunde später den Sektionssaal verließ, bemerkte Alexander erst, dass er schweißgebadet war. Sein kurzes braunes Haar klebte am Kopf, als wäre er gerade aus dem Schwimmbecken gestiegen. Sein Hemd hatte unter den Armen riesige feuchte Flecken und auf der Schulter meinte er, einen Stein zu spüren. Dort, wo der Professor nach erfolgreichem Y-Schnitt seine Hand hingelegt hatte.

»Sehen Sie, Sie haben sich überwunden und es geschafft«, hatte der Professor ihn gelobt. »Der Rest ist ein Kinderspiel dagegen. Sie werden sich daran gewöhnen.«

Danach hatte er seinen weißen Kittel ausgezogen, darunter blitzte eine Anstecknadel hervor. Alexander erkannte das Hakenkreuz, das immer mehr Männer am Revers trugen.

»Herzlichen Glückwunsch!« Vor der Tür wartete Ingmar. »Ich hätte nicht darauf gewettet, dass du das hinkriegst.«

Alexander war froh, dass er sich überwunden hatte, auch wenn er beim Schneiden und Zunähen immer nur an das Meer vor seiner Heimatstadt Kiel gedacht hatte. Wenigstens würde er nicht in der Spottliste seiner Kommilitonen auftauchen, sie würden ihn ohnehin bald vergessen, denn eines stand für Alexander fest: Sein Vater mochte toben, schweigen, ihn enterben oder sonst etwas anstellen, dies war definitiv seine letzte Vorlesung an der medizinischen Fakultät gewesen. Sollte sein Vater jemanden adoptieren, der seine Praxis übernahm. Niemals würde auf einem Praxisschild der Name Dr. med. Alexander Halbersberg stehen.

Mit dieser Entscheidung ging Alexander in die Pension, in der er bei Studienbeginn ein kleines Zimmer bezogen hatte. Er zog ein frisches weißes Hemd zu der dunkelblauen Hose an, polierte seine braunen Schnürschuhe und machte sich auf den Weg zur Redaktion der Zeitschrift Tempo. Unter dem Arm trug er die Mappe mit Arbeitsproben aus Kiel und seinem Lebenslauf. Erst kürzlich hatte er in einem Artikel gelesen, dass es nirgendwo so viele Redaktionen gab wie in Berlin. Eine davon musste Arbeit für ihn haben. Das Magazin Tempo war erst im letzten Jahr auf den Markt gekommen, da standen die Chancen gut, dass eine Redakteursstelle oder zumindest ein Platz als freier Mitarbeiter vakant war, da mehrere Ausgaben an einem Tag mit Inhalt gefüllt werden mussten. Hatte nicht jemand gesagt, Berlin sei ein Paradies für Journalisten? In dieses Paradies wollte Alexander eintauchen.

Neben dem Eingang zum Ullstein-Haus blieb Alexander stehen. Er überflog erneut die erste Ausgabe der Zeitschrift. Sie war wenige Tage vor seinem Umzug nach Berlin zum ersten Mal erschienen und hatte ihn sofort begeistert. Am liebsten wäre er am selben Tag vorstellig geworden, um sich dort als Journalist zu bewerben.

»Wir vermitteln Unterrichtung und Unterhaltung knapp in dem Tempo, in dem der moderne Mensch lebt. Nur Alternden erscheint dies als atemlose Hetze. Dem tätigen, strebenden, jungen Menschen ist Tempo der Schwung seines Ehrgeizes, seines Vorwärtsdranges. Tempo sitzt nicht in den Beinen, sondern im Herzen. Wir wenden uns an die deutsche Generation, die unter unserem Lebenstempo nicht mehr ächzt, sondern es schon als Ausdruck ihrer Lebensbejahung empfindet«, las Alexander leise, was ihn bereits im Jahr zuvor beim Lesen elektrisiert hatte.

Als hätte der Redakteur über ihn geschrieben. Hätte er nicht seiner kranken Mutter versprochen, um des lieben Friedens willen ein Medizinstudium aufzunehmen, wäre er vielleicht heute in dieser Redaktion. Tempo und Lebensbejahung, das war genau das, was er sich vom Leben erträumte, nicht die ständige Erinnerung an den Krieg und dieser Stillstand, der wie ein grauer Schleier über Deutschland hing.

Als Alexander das rosa-bräunliche Papier der Zeitung zusammenfaltete, fiel ihm eine junge Frau mit braunen Augen auf, die ihn neugierig anfunkelten.

»Wieso stehen Sie da herum?«, sprach die Frau ihn an.

Alexander konnte seinen Blick nicht von dem Gesicht wenden, das von glatten kinnlangen dunklen Haaren eingerahmt wurde.

»Mein Herr? «, sagte die junge Frau fragend.

»Äh, ich will mich hier bewerben«, stammelte Alexander und wäre am liebsten in den Boden versunken. Wieso musste er sich ausgerechnet jetzt so dämlich anstellen?

»Ich bin Journalist, wissen Sie«, gab er an, nachdem er sich gefasst hatte.

»Ach, dann sind wir Kollegen.« Winzige Lachfalten zeigten sich um die dunklen Augen der jungen Frau.

Alexander wünschte, dass sich der Boden unter ihm auftäte. Warum musste er so angeben?

»Äh!«, stotterte er. »Äh, wo schreiben Sie? Sind Sie auch Redakteurin?« Auch! Als ob er Redakteur wäre. In Kiel, hätte er sich so nennen dürfen. Aber in Berlin? Er hatte in dem ersten Jahr in der Berlin keinen Zeitungsverlag von innen gesehen.

»Ich schreibe Gedichte«, antwortete die junge Frau. »Erst gestern ist mein erstes Gedicht im Tempo erschienen. Vorher hatte ich einige Veröffentlichungen in der BZ am Mittag.«

Alexander starrte in den Himmel, an den Fassaden der Häuser im Zeitungsviertel vorbei. Als er sich beruhigt hatte und wieder vor sich sah, war die junge Frau verschwunden. Er blickte sich um, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Rasch zog er die Tür zum Verlag auf. Die Zeitung schob er unordentlich in seine Mappe. Jetzt hatte er zwei Dinge zu tun, er musste einen Job bekommen und er musste herausfinden, wer diese zauberhafte Dichterin war. Vielleicht saß sie sogar in der Redaktion. Fast hätte er beim Träumen verpasst, dass eine Frau ihn nach seinen Wünschen fragte.

»Ich möchte mich bei Ihnen bewerben«, erklärte Alexander schnell. »Mein Name ist Alexander Halbersberg, ich habe bis vor kurzem bei den Kieler Nachrichten gearbeitet.« Bei seinen Worten legte er die Bewerbungsmappe mit den Arbeitsproben auf den Empfangstresen.

Die Frau blätterte in der Mappe, ihr Blick blieb an einem Artikel über die aufreibende Geschichte eines Kieler Kunstwerks von Ernst Barlach hängen, die er kurz vor seinem Umzug nach Berlin geschrieben hatte. Anscheinend gefiel der Frau dieser Beitrag, sie bat Alexander ihr zu folgen und klopfte wenig später an eine Tür mit der Aufschrift Redaktion.

Alexander wagte kaum zu atmen. Sollte sich sein Traum erfüllen?

»Hier ist jemand, der ordentlich schreiben kann, vielleicht können Sie den gebrauchen«, sagte die Frau und verschwand sofort wieder.

Ein mittelgroßer Mann mit Halbglatze stand vor Alexander. »Soso, Sie können ordentlich schreiben«, meinte er. »Wir können die Artikel gar nicht so schnell schreiben, wie sie gedruckt werden. Da ist Verstärkung immer willkommen.«

Der Mann blickte in die Mappe, die die Empfangsdame ihm in die Hand gedrückt hatte. »Die Kieler Nachrichten sind zwar mit unserer Zeitung nicht zu vergleichen, aber Ihr Schreibstil passt zu uns. Ich schlage vor, dass Sie mir einen Probetext liefern und dann sehen wir weiter.«

Am liebsten wäre Alexander auf einen Stuhl gesunken, aber der Mann bot ihm keinen Platz an und er wollte nicht riskieren, diese Chance durch Unhöflichkeit zu verderben. Also blieb er auf wackeligen Beinen im Türrahmen stehen und klammerte sich an die Klinke.

Der Redakteur ging zu seinem Schreibtisch und stöberte in Papieren, die sich dort stapelten. Er zog ein Blatt heraus. »Hier, gehen Sie morgen dorthin und schreiben was.«

Deutsche Erstaufführung mit Elisabeth Bergner, las Alexander. Eine Theaterinszenierung. Ausgerechnet! Das war nicht sein Metier. Am wohlsten fühlte er sich auf dem Sportplatz, alles was mit Menschen zu tun hatte, ging auch, Filmpremieren liebte er, aber Theater. Der Autor Eugene O’Neill sagte ihm ebenso wenig wie der Regisseur Heinz Hilpert. Einzig Elisabeth Bergner kannte er, eine der großen Schauspielerinnen.

Entschlossen nickte Alexander. »Das klingt gut, ich werde Sie nicht enttäuschen», behauptete er und fragte sich gleichzeitig, wie er das Versprechen einhalten sollte.

»Dann bringen Sie mir den Text gleich nach der Aufführung vorbei«, verlangte der Redakteur. »Nein, besser, kommen Sie und tippen Sie den Text hier, dann haben wir ihn morgen in der ersten Ausgabe.«

Tippen! Alexander schluckte. Bei den Kieler Nachrichten hatte er seine Texte in sauberer Handschrift abgegeben und ein Redakteur hatte sie abgetippt. Wie sollte er an einem Tag Maschine schreiben lernen? Trotzdem nickte er mit einem freundlichen Lächeln. Er musste das schaffen. Vielleicht bekam er nie wieder ein solches Angebot. Im Ullstein-Imperium gab es so viele Zeitungen, da wurde immer ein Journalist gebraucht.

»Eine Bitte habe ich.« Alexander nahm seinen ganzen Mut zusammen, aber wo sollte er so schnell eine Schreibmaschine zum Üben finden. »Könnte ich morgen tagsüber ein wenig an der Maschine üben, damit ich nachts den Artikel schnell schreiben kann?« In seinen Ohren klang das plausibel.

Der Redakteur stutzte kurz und knurrte dann: »Von mir aus. Lassen Sie sich von Frau Mahler unten am Empfang in die Handhabung der Maschine einweisen. Ich sehe Sie dann morgen Abend nach der Premiere.«

Alexander stand kurz unschlüssig im Raum. Hieß das, er konnte gehen? Sein Gegenüber war wieder in Papiere vertieft, also ging er auf den Flur und zog leise die Tür hinter sich zu. Er atmete tief durch. Der Anfang war gemacht. Jetzt lag es an ihm, daraus eine Fortsetzungsgeschichte zu machen.

Lachen, Weinen, Bergner

Am gestrigen Abend hatten die Kulturinteressierten Berlins eine schwere Entscheidung zu treffen. Theater- oder Filmexperiment, das war frei nach Hamlet die Frage. Da war einerseits die Uraufführung des Waschneck-Films Der Günstling von Schönbrunn, ein Stummfilm, der nachträglich vertont wurde. Und da war Eugen O`Neills Seltsames Zwischenspiel im Deutschen Künstlertheater, ein Theaterexperiment von Heinz Hilpert. Demjenigen, der die Weltbühne in den letzten Jahren aufmerksam gelesen hat, fiel die Entscheidung leicht. Im Deutschen Künstlertheater stand Elisabeth Bergner auf der Bühne, die 1923 von Kurt Tucholsky in dem Artikel »Bergner! Bergner!« für ihre Rosalinde in Shakespeares Wie es euch gefällt als Star des deutschen Theaters gefeiert wurde. Auch in Seltsames Zwischenspiel zeigte sich ihr schauspielerisches Talent. Das Stück erzählt die Lebensgeschichte einer Frau und die Rolle der vier Männer in ihrem Leben. Zwischen Vater und Ehemann, Geliebtem und Sohn erlebt die Protagonistin alles auf der Bühne erneut: Wahnsinn, Abtreibung, Depression, Schuldgefühle, Untreue und Tod. Eine Mischung der Extreme, die eine extreme Wandlungsfähigkeit verlangt. Die Herausforderung bestand darin, innere Monologe, die sich in Romanen leicht lesen, so in Szene zu setzen, dass sie nicht wie langweilige Theater-Monologe wirkten, sondern das Publikum vielmehr das Gefühl hat, einem Menschen beim Denken zuzusehen. Das ist der Ungarin wunderbar gelungen. Es ist nicht zu hoch gegriffen, zu sagen, sie hat den Theaterabend zu einem bleibenden Erlebnis gemacht. Besonders ihr ausdrucksvoller Satz beim Anblick des schwatzhaften Vaters. «Er soll nicht so viel reden«, hat das Zeug zu einer Redewendung, die man vielleicht in Berlin in den nächsten Tagen hin und wieder hören wird. Wenn Sie nicht anwesend waren, schauen Sie in die nächste Aufführung und rufen Sie mit den anderen Zuschauern auf der Galerie: »Bergner! Bergner!« (aha)

April 1930

Alexander wippte in seinem Theatersessel und sah sich immer wieder um. Er konnte kaum fassen, dass er als Pressevertreter im Gloria-Palast saß und auf den Beginn der Premiere des Films Der blaue Engel wartete. Er war ein glühender Verehrer von Marlene Dietrich, seit er den ersten Film mit ihr gesehen hatte. Dieses schöne und zugleich undurchschaubare Gesicht, diese Haltung, diese Figur, die sie in jedem Film aufs Neue einsetzte und leicht wandelte, um ihren Rollen eine besondere Kraft zu verleihen.

Nun saß er hier, unerkannt zwar, aber er wollte kein Alfred Kerr sein, der immer am selben Platz saß und damit fast zu einem Teil der Inszenierung wurde. Auch die Manieriertheiten von Herbert Ihering, der aufstand und das Publikum grüßte, ehe der Vorhang sich öffnete, waren Alexander fremd. Er genoss es, als Journalist zwischen den Zuschauern zu sitzen und ihre Eindrücke ganz direkt mitzubekommen. Genau das hatte sich zu seinem Markenzeichen entwickelt.

Nach seiner ersten Theaterkritik hatte der Redakteur zwar gemurrt, er solle keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Einschätzung des Stückes schreiben. Vermutlich war ihm der Bezug zu Tucholsky aufgestoßen. »Der Mann ist überbewertet, völlig überbewertet!«, hatte er in dem nächtlichen Gespräch nach Abgabe des Beitrags mehrfach betont. Trotzdem war der Artikel abgedruckt worden und am nächsten Tag sprach man in Berlin darüber, dass dieser Neue, dieser Aha, den Zuschauern aufs Maul schaute und ihre Ansichten in die Zeitung brachte. Das brachte Leser und Leser brachten Auflage. Seitdem durfte Alexander als freier Journalist eine Premiere nach der anderen besuchen. Der Redakteur machte keinen Unterschied zwischen Film und Theater, nur den Sport klammerte er zu Alexanders Leidwesen aus. Aber seine Artikel über den Bergfilm Die weiße Hölle vom Piz Palü mit Leni Riefenstahl, Die Königsloge mit Alexander Moissi und Camilla Horn, Melodie des Herzens mit Willy Fritsch und Die Nacht gehört uns mit Hans Albers hatten großen Zuspruch gefunden.

Das war alles Vergangenheit, jetzt zählte nur die Gegenwart und die hieß Marlene. Es gab keinen Film mit ihr, den er nicht gesehen hatte. Der blaue Engel war ihr erster Tonfilm und er war dabei und würde endlich ihre Stimme hören, Marlene sehen und vielleicht sogar interviewen. Die Redaktion hatte der Filmgesellschaft mitgeteilt, dass er ein Gespräch wünschte. Eine Antwort hatten sie nicht bekommen, aber so leicht würde er sich nicht abwimmeln lassen. Spätestens auf der Premierenfeier, zu der er als Journalist eingeladen war, würde er sie ansprechen.

Alexander konnte kaum erwarten, dass der Film begann. Er ärgerte sich über das Getuschel hinter sich. Waren denn nicht alle so erwartungsvoll wie er?

Er drehte sich um und sah, wie Papierblätter die Runde machten. Wurden etwa jetzt schon Autogrammkarten verteilt? Er schob seinen Notizblock zwischen die Knie und streckte seinen Arm nach hinten aus, um ein Papier zu erhaschen. Etwas zu bereitwillig schob ihm jemand eines in seine Hand, mit Autogrammkarten waren die Menschen geiziger.

»An das Publikum!«, stand auf dem Zettel. »Achtung! Gefahren des Tonfilms! Tonfilm ist Kitsch! Tonfilm ist Einseitigkeit! Tonfilm ist wirtschaftlicher und geistiger Mord! Lehnt den Tonfilm ab!«

Nachdenklich steckte er das Flugblatt in seine Tasche. Für ihn war der Tonfilm eine Chance, die Stimme seiner geliebten Marlene zu hören. Er bezweifelte, dass der Ton negative Folgen haben könnte, hatte allerdings bisher nicht darüber nachgedacht. Jetzt war keine Zeit, weiter darüber zu sinnieren, die ersten Töne der Filmmusik erklangen und auf der Leinwand war der Vorspann zu sehen: Der blaue Engel nach einem Roman von Heinrich Mann.

Alexander lehnte sich zurück, nahm Notizbuch und Bleistift in die Hand und ermahnte sich, dass er nicht nur zum Vergnügen im Kino saß, was er schnell vergaß, weil ihn die Vorzüge des Tonfilms gefangen nahmen. Emil Jannings mimte nicht nur den widersprüchlichen Professor, man hörte auch, wie er mit sich kämpfte.

»Es ist lange her, dass man sich um mich geprügelt hat«, sagte Marlene Dietrich als Lola Lola, sachlich, dankbar, echt. Für diese Frau würde sich auch Alexander prügeln.

Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt

Wer von uns hat nicht den Professor Unrat von Heinrich Mann gelesen und sich heimlich darüber gefreut, wie der Lehrer in die Fänge einer leichten Dame gerät? Aus eben diesem Stoff wurde nun ein Tonfilm, an dem die erste Garde der Filmbranche mitgewirkt hat. Ein Ufa-Film mit Hollywood-Regisseur Josef von Sternberg und unserem internationalen Star Emil Jannings, der überzeugend und erstmals mit Stimme im deutschen Film den Herrn Professor gab. Aber eigentlich haben wir von ihm nur am Rande Notiz genommen. Gefesselt hat uns die Darstellerin der Lola Lola. Marlene Dietrich, die vorher kleine Rollen bei Max Reinhardt und in verschiedenen Filmen gespielt hat. In mancher Theaterkritik wird sie gar nicht erst erwähnt, bekannt wurde sie, als sie mit Harry Liedtke in Ich küsse Ihre Hand, Madame von Robert Land spielte. Ab jetzt kennt man Marlene Dietrich, ihr freches Lachen, ihre langen Beine, ihre Locken und ihre Sinnlichkeit. Sogar Ohrwürmer kann sie einem in den Kopf trällern. »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«, sang sie auf der Bühne. Ob das die Gedanken des Komponisten Friedrich Hollaender waren, der diesen Chanson und drei andere Lieder für den Film geschrieben hat? In jedem Fall hat der Film uns ins Herz getroffen. (aha)

Nach der Aufführung versuchte Alexander wie viele andere auch, ein Autogramm von Marlene Dietrich zu bekommen. Er verließ das Theater als einer der letzten Besucher, weil er einige Zeit brauchte, um aus der Traumwelt des Films in die Wirklichkeit zurückzukehren, so ergriffen war er von ihrem Liebreiz, ihrer dekadenten Art in ihrer Rolle als Lola und von dem engelsgleichen Klang ihrer Stimme. Als er endlich das Kino verließ, sah er gerade noch, wie sein Idol in einen Wagen stieg.

»Sie fährt zum Bahnhof«, hörte er neben sich eine aufgeregte Frauenstimme. »Sie macht sich auf den Weg nach Amerika.«

»Unsere Marlene reist nach Hollywood«, sagte ein Kollege, der unversehens mit seiner Kamera neben Alexander auftauchte, um einen Schnappschuss von der Schauspielerin zu erhaschen.

Enttäuscht suchte Alexander einen anderen Darsteller, um wenigstens einen kleinen O-Ton für seinen Artikel zu bekommen.

Hollywood! Das war für ihn unerreichbar, dabei hätte genau das seine Chance auf einen Durchbruch und große Aufträge sein können. Wieso hatte er den Termin nicht besser vorbereitet? Wieso hatte er sich nicht früher als Redakteur beworben? In den letzten Jahren hatte es so viele Filmpremieren mit Marlene Dietrich gegeben, da hätte er sicher mit ihr sprechen können. Dann hätte jeder gewusst, dass er der Experte in Sachen Marlene war. Auch im Ullstein-Verlag hätte man ihn und seinen Kontakt zu schätzen gelernt. Was hatte er stattdessen getan? Vorlesungen über den menschlichen Körper und seine Unvollkommenheiten, über Hygiene und anderen überflüssigen Kram besucht. Er schüttelte sich, als ihm sein letzter Tag an der Universität einfiel.

In den letzten fünf Monaten war er zum ersten Mal in seinem Leben richtig glücklich gewesen. Der einzige Wermutstropfen war, dass seine Eltern ihn weiterhin an der medizinischen Fakultät wähnten. Beim Weihnachtsbesuch hatte er sich herausreden können und das Thema von der Uni auf die schönen Geschenke und den Kieler Dorfklatsch gebracht. Leider war die Tochter des Dachdeckermeisters, von der seine Mutter mit einem empörten Unterton sprach, nicht in Berlin, sondern in Salzwedel. In Kiel redete man in einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen davon, dass das Mädchen sich mit 16 Jahren ein Engagement in Salzwedel gesucht hatte, ohne den Vater vorher zu informieren. Alexander hatte die Informationen seiner Mutter in einem Artikel verarbeitet, für den im Tempo bisher allerdings kein Platz war.

Der große Traum eines kleinen Mädchens

Wann genau die kleine Herta begonnen hat, davon zu träumen, Schauspielerin zu werden, wissen wir nicht, aber mit 15 Jahren hat sie 1928 ihr Debüt im Stadttheater Kiel. In der Saison darauf spielte sie neben Dankwar Werner das Tippfräulein Susie Sachs in dem Lustspiel Arm wie eine Kirchenmaus von Ladislas Fodor. Ihre Sehnsucht nach der Bühne war so stark, dass sie gegen den Willen ihres Vaters an den Vereinigten Stadttheatern von Uelzen, Salzwedel und Wittenberge vorsprach und ein Engagement bekam. Da war sie gerade 16. Ob ihre Mutter, die bereits 1924 verstorben ist, den Tatendrang der Tochter aufgehalten hätte? Vater Kirchner und die Tanten, in deren Obhut die Herta aufwuchs, sahen die Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Sie wollten, dass es ihrem Nesthäkchen gut ging und sorgten sich angesichts der Unsicherheit und Rastlosigkeit, die der Schauspielerberuf mit sich bringt. Aufhalten ließ sich die junge Kielerin nicht. Im Frühling 1930 feierte sie ihr Debüt in Salzwedel als Jolan in Franz Lehars Zigeunerliebe und die nächsten Rollen stehen bereits ins Haus. (aha)

Die junge Kielerin war weit weg und Marlene jetzt auch. Alexanders Blick fiel auf den Rücken von Emil Jannings. Ehe er ihn erreichte, war auch der berühmte Schauspieler schneller in der Menge verschwunden, als man ihn ansprechen konnte.

Da tauchte unversehens ein Mann neben Alexander auf, den er nicht kannte. Schnauzbart, hohe Stirn, große Ohren und ein intensiver Blick durch die Brille. Er wusste, dass er etwas mit der Filmbranche zu tun hatte, weil sein Bild oft in Zeitungen zu sehen war. In seiner Not sprach er den Mann an. »Wie hat Ihnen der Film gefallen? Ich bin vom Tempo und sammle O-Töne für meinen Beitrag.«

Der Mann betrachtete ihn mit einem ironischen Lächeln. »Was soll ich zu meinem eigenen Film sagen?«

Alexander wurde nervös. Wen hatte er da an der Angel? Einer der Darsteller war es nicht, das runde Gesicht von Regisseur Josef von Sternberg sah völlig anders aus. Er wurde blass. Karl Vollmoeller. Natürlich, der Mann war Karl Vollmoeller, der als Entdecker von Marlene Dietrich galt und das Drehbuch für den Film geschrieben hatte.

»Sie müssen nichts über die Handlung sagen«, erwiderte Alexander beherzt, nachdem er sich gefasst hatte. Die Gelegenheit durfte er sich nicht entgehen lassen. »Was halten Sie von den Schauspielern?«

Karl Vollmoeller schmunzelte. »Was soll ich dazu sagen? Das größte und seltsamste Darsteller-Phänomen unserer Zeit, Emil Jannings, eine einzigartige Frau, Marlene Dietrich.« Alexander notierte sich hektisch die Aussage. Karl Vollmoeller redete weiter, als spräche er mit sich selbst. »Jede neue Technik bringt mit sich die Verlockung vom Zuviel. So war es mit der Kamera, so jetzt mit dem Mikrophon. Sobald nicht mehr alle Türen knarren, alle Schritte poltern, jeder Darsteller endlose Theatersätze labert, nähert sich der Tonfilm dem Bezirk der Kunst. Beim Blauen Engel haben wir alle versucht, diese Annäherung etwas zu beschleunigen.«

So schnell wie Vollmoeller sprach, konnte Alexander nicht mitschreiben, eine Gelegenheit für Nachfragen bekam er nicht, da Karl Vollmoeller in den Wagen stieg, der vor ihm hielt. Alexander versuchte sich an die Sätze zu erinnern. Von dem Vollmoellers Monolog hatte er nicht viel verstanden, aber eines war Alexander klar, er musste sobald wie möglich Stenografie lernen, um zukünftig solche wichtigen Äußerungen Wort für Wort festhalten zu können. Andererseits, wen interessierte Filmtheorie, wenn es um einen Film mit Marlene Dietrich ging, die soeben unerreichbar nach Hollywood verschwunden war.

Er stand lange vor dem Kino und starrte auf die Straße. Von dem Wagen, der Karl Vollmoeller weggebracht hatte, war längst nichts mehr zu sehen. Aber in Alexander reifte ein Plan. Wenn Vollmoeller Marlene über Sternberg nach Hollywood bringen konnte, würde ihm das bei einer anderen Schauspielerin ebenfalls gelingen. Von jetzt an würde er dem Mann auf den Versen bleiben, bis die Falle zuschnappte und die neue Dietrich an seiner Seite zu sehen war.

Juni 1930

Alexander öffnete die Tür der Buchhandlung an der Urania, dem Wissenschaftszentrum, das sein Namensvorbild, Alexander von Humboldt, 1888 gegründet hatte. Er hatte eine lange Liste von Büchern, die er sich endlich beschaffen wollte. Seit er im Mai auf dem Kongress der Paneuropäischen Union die Rede von Thomas Mann gehört hatte, suchte er die Bücherkarren der fliegenden Händler rund um die Gedächtniskirche nach Büchern des Nobelpreisträgers ab. Ehe er in wenigen Wochen zwischen den Semestern zu seinen Eltern fuhr, wollte er sich mit Lesestoff eindecken. Besonders der Roman Buddenbrooks interessierte ihn, weil er in Lübeck nicht weit von seiner Heimatstadt spielte.

Als er den Laden betrat, war der Buchhändler ins Gespräch mit einer jungen blonden Frau vertieft, deren Liebreiz ihn auf den ersten Blick anzog.

»Guten Tag«, sagte Alexander und suchte ein Bücherregal, das ihm erlaubte, die junge Frau zu betrachten. Sie war zierlich, gut gekleidet und ihre sonst glatten blonden Haare ringelten sich auf den Schulten. Den Buchhändler beachtete er nicht weiter, sondern zog gelegentlich wahllos ein Buch aus dem Regal und steckte es an anderer Stelle wieder hinein.

Diese Stimme! Alexander war hingerissen von dem sanften, aber bestimmten Klang. Er schlug das Buch auf, das er gerade in der Hand hielt, und tat so, als lese er darin. Stattdessen hörte er der Frau zu, die sich verabschiedete.

»Ich komme vorbei! Versprochen!«, sagte der Buchhändler. »Und wenn ich einen Zille auftreibe, melde ich mich.«

Der Abschiedsgruß der jungen Frau schwebte noch im Raum, als der Buchhändler sich nach seinem neuen Kunden umsah. »Womit kann ich Ihnen helfen? Ich sehe, Sie suchen religiöse Bücher.«

Erst jetzt fiel Alexander auf, dass er vor dem Regal mit religiösen Schriften stand. Die Bibel war in verschiedenen Auflagen vertreten, teilweise mit Zeichen auf dem Umschlag, die er nicht entziffern konnte.

»Oh, hier bin ich falsch!«, nuschelte Alexander hastig und quetschte das Buch wieder ins Regal.

»Bei uns bekommen Sie Bücher aus jeder Religion. Wenn Sie den Tanach brauchen, die hebräische Bibel, die sie gerade in der Hand hielten, kaufen Sie sie ruhig«, erklärte der Buchhändler, während er das Buch aus dem Regal zog und an ihren richtigen Platz räumte.

»Ich brauche sie nicht«, entgegnete Alexander. »Bei uns zu Hause stehen genug Bibeln herum.« Er schüttelte den Kopf. Was redete er da. »Ich bin Christ, wissen Sie?« Schon wieder so ein unsinniger Satz. Dieser Professor mit seinen Bemerkungen über Juden und die ständigen Demonstrationen dieser neuen Partei brachten ihn völlig durcheinander.

»Alexander?« Der Buchhändler unterbrach seine Gedanken.

»Äh. Ja! Kennen wir uns?« Er schaute den Mann an, sein Gesicht erinnerte ihn vage an einen Jungen in Kiel.

»Alexander Halbersberg, der Sohn vom Doktor! Was machst du in Berlin?«

Alexander rätselte weiter, wen er da vor sich hatte. Ein Mitschüler war es sicher nicht, aber während seiner Arbeit für die Kieler Nachrichten hatte er viele Menschen getroffen und als Arztsohn war er im Wartezimmer vor der Wohnung einigen begegnet. Unauffällig suchte er ein Namenschild oder einen Schriftzug der Buchhandlung. Vergeblich.

»Johannes Unger«, stellte der Buchhändler sich vor.

»Johannes?« Alexander erinnerte sich an den Jungen, der gelegentlich bei seinem Vater in Behandlung gewesen war. »Was machst du hier?« Alexander lachte verlegen. Welch eine dumme Frage! Johannes stand hinter dem Tresen der Buchhandlung und hatte gerade zuerst die junge Frau und dann ihn beraten. »Ich meine, wieso bist du in Berlin?«

»Das hat sich so ergeben«, antwortete Johannes. Dann lachte er. »Aber die Kieler zieht es nach Berlin. Die Kundin, mit der ich gerade gesprochen habe, kommt auch aus Kiel. Herta Kirchner, die Tochter des Dachdeckers.«

Herta Kirchner! Das war also die Frau, über die seine Mutter herzog, wenn sie einen Streit am Esstisch abwenden wollte. Die junge Schauspielerin, die es gewagt hatte, mit 16 Jahren ihr Elternhaus zu verlassen, um ihrer Berufung zu folgen. Versonnen blickte Alexander zur Tür, hinter der sie auf die Straße verschwunden war. »Was weißt du über sie?« Er wunderte sich über die Frage, die ihm so unvermittelt über die Lippen gekommen war.

»Sie ist seit ein paar Tagen wieder in Berlin, um ihre Chancen als Schauspielerin zu sondieren«, antwortete Johannes Unger. »Aber nur für ein paar Wochen, im Sommer hat sie ein Engagement in Schwäbisch Hall, da tritt sie bei den Festspielen auf.« Alexander sackte innerlich zusammen. Schwäbisch Hall! Das war irgendwo im Süden.

»In der letzten Saison war sie in Salzwedel am Theater und hatte dort einen guten Start«, berichtete Johannes.

»Hast du ihre Adresse?«, wollte Alexander wissen. Er konnte dieses zauberhafte Wesen nicht einfach abreisen lassen. Er musste die Frau sprechen. Dass sie die Herta Kirchner war, über die seine Mutter immer gesprochen hatte, war ein Wink des Schicksals.

Johannes machte keine Anstalten, ihm die Adresse zu geben. Dabei musste er sie kennen, sonst könnte er Herta Kirchner nicht besuchen. »Du bist sicher nicht wegen Herta gekommen, oder?«

Alexander schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Ich hätte gerne ein Buch von Thomas Mann. Am liebsten Buddenbrooks.«

»Das hätte ich dir auch empfohlen«, meinte Johannes Unger. Er schmunzelte. »Hast du eine große Familie? Dann wirst du sicher das Gefühl haben, dass das Buch von dir und deinen Angehörigen handelt.«

»Ich habe nur meine Eltern und Großeltern. Aber trotzdem bin ich neugierig auf das Buch.«

Der Buchhändler ging zu einem Regal. »Ich habe ein neues Buch und eine Erstausgabe von 1901, die ist etwas schäbig, deshalb verkaufe ich sie zum halben Preis.«

Alexander freute sich, dass er weniger bezahlen musste, als vorgesehen. Sollte er ein zweites Buch mitnehmen? Er grinste. Nein, er würde am nächsten Tag wiederkommen, vielleicht traf er Herta Kirchner erneut an.

Johannes Unger zog ein Heft aus einem Stapel. »Wenn du etwas Neues von Thomas Mann lesen möchtest, kann ich dir das empfehlen. Darin wurde seine neueste Novelle veröffentlicht. Mario und der Zauberer.« Der Buchhändler beugte sich vor und flüsterte, als stünde der Laden voller Menschen: »Ich finde das Buch ist eine Vorschau auf das, was uns erwartet, wenn die da oben sich nicht zusammenraufen.«

Alexander schaute unter die Zimmerdecke, dann verstand er, dass die Politiker gemeint waren, die alle naselang ihr Amt im Stich ließen und sich davor drückten, Verantwortung zu übernehmen und eine Koalition zu bilden.

»Ich lese zuerst das hier«, sagte Alexander. Die neue Geschichte würde er auf jeden Fall am nächsten Tag holen.

»Und du kannst mir wirklich nicht Herta Kirchners Adresse geben?«, versuchte Alexander beim Bezahlen erneut sein Glück.

Johannes tat, als hätte der die Frage nicht gehört und gab Alexander das Wechselgeld zurück.

»Komm wieder vorbei!«, schlug er Alexander vor, als dieser an der Tür stand.

»Ganz bestimmt!«, versprach Alexander und war in Gedanken bereits bei dem Plan, der ihm in den Sinn gekommen war. Vor der Buchhandlung sah er sich nach einem guten Beobachtungsposten um. Er wusste genau, was er tun musste, um die hübsche Schauspielerin zu finden. Es war so einfach! Er musste nur Johannes folgen, wenn dieser ihr die versprochenen Bücher brachte. Die Bank gegenüber der Buchhandlung, halb versteckt hinter einem Baum, war ein optimaler Platz und mit Buddenbrooks hatte er genug Lektüre, um bis in die Nacht zu warten.

Er sah auf die Uhr, noch war das Bücherkabinett geöffnet. Die Zeit reichte, um ins Zeitungsviertel zu fahren und sich dort umzuhören, ob jemand etwas über Herta Kirchner wusste. Ärgerlich, dass sie nach Schwäbisch Hall reiste. Würde sie in Berlin bleiben, hätte er seine Mutter in Kiel auf Recherche schicken können. Irgendein Vorwand würde ihm sicher einfallen.

Da kam die Linie 2, die ihn über die Tauentzien und den Kurfürstendamm zur Redaktion bringen würde. Im Bus las Alexander die ersten Seiten von Buddenbrooks. Er musste schon beim zweiten Satz lachen, die Mischung aus Platt und Französisch hätte von seiner Mutter stammen können. Wenn sie Besuch hatte, den sie als wichtig empfand, mischte sie immer einen französischen Satz in die Unterhaltung, um zu zeigen, dass sie nicht nur Arztfrau, sondern auch weltläufig war.

Alexander schüttelte den Gedanken an die Eltern ab. Bis jetzt ahnten sie nichts davon, dass er nur pro forma der medizinischen Fakultät eingeschrieben war. Er hatte den Anatomie-Kurs geschmissen, besuchte allerdings weiterhin die theoretischen Vorlesungen, damit er sich mit den Bescheinigungen für das nächste Semester anmelden konnte. Der Studentennachweis brachte ihm Vergünstigungen in Berlin und vor allem den Wechsel des Vaters, mit dem er seinen Lebensunterhalt finanzierte. Inzwischen verdiente er als freier Journalist nicht schlecht, aber die Einkünfte waren unsicher.

Die Entscheidung pro oder contra Wechsel aus Kiel musste wieder warten, Alexander hatte die Redaktion erreicht.

»Sagt euch der Name Herta Kirchner etwas?«, fragte er einen Kollegen nach dem anderen. Keiner kannte den Namen.

Alexander verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Wenn niemand Herta kannte, konnte ihm diesen Fisch keiner wegnehmen. Durch seine Mutter und Johannes hatte er einen Wissensvorsprung und vielleicht gelang Herta tatsächlich der Durchbruch. Immerhin hatte sie es geschafft, mit 16 ein Engagement bei den Festspielen in Schwäbisch Hall zu ergattern. Aber es wäre natürlich alles leichter, hätte jemand spontan eine Adresse für ihn.

»Probiere es am Bühnennachweis!«, schlug ein Kollege vor. »Das ist so eine Art Arbeitsamt für Schauspieler«, erklärte er, während er Notizen sichtete. »Die vermitteln Darsteller an die Bühnen in Deutschland, die Ufa, die Terra und die anderen Filmgesellschaften.«

Alexander wunderte sich, dass er von diesem Amt nichts gehört hatte. Aber bisher waren ihm die Themen zugewiesen worden, meist musste er nur über die Veranstaltungen schreiben und allenfalls einen Wortbeitrag von einem Beteiligten einholen. Bis heute ärgerte er sich, dass er im Januar Gustaf Gründgens nicht erwischt hatte, als dieser Vicki Baums Menschen im Hotel erstmals auf die Bühne brachte.

Bei der Uraufführung von Zwei Herzen im Dreivierteltakt hatte er vergebens nach dem österreichischen Komponisten Robert Stolz Ausschau gehalten. Der Beliebtheit seiner Artikel hatte das nicht geschadet, weil er wie immer seinen Eindruck mit der Meinung von Menschen aus dem Zuschauerraum würzte.

»Habt ihr gehört, Max ist Weltmeister!« Der Sportredakteur rannte aufgeregt durch die Redaktion. »Gebt mir alles, was ihr über den Schmeling habt. Fotos, Zitate, Adressen, Hauptsache schnell. Er ist der erste Europäer mit diesem Titel.«

»Mach nicht einen solchen Wind«, nörgelte der Feuilleton-Redakteur. »Er hat den Titel nicht durch Punkte oder KO geholt.«

»Wie dann?« Alexander hatte keine Ahnung vom Boxen. Wie wurde man da Weltmeister?

»Sein Gegner hat ihm einen Tiefschlag verpasst und wurde disqualifiziert!«, antwortete der Feuilletonredakteur.

»Gekämpft hat Max trotzdem und den Titel bekommen. Also her mit euren Infos, damit wir in der Morgen-Ausgabe gut vertreten sind.«

Alexander war in Gedanken längst woanders. Sollte er sich vor dem Bücherkabinett auf die Lauer legen oder im Bühnennachweis nach Herta fragen? Er las die Adresse, die ihm der Kollege aufgeschrieben hatte. Auf dem Weg zur Buchhandlung konnte er dort vorbeischauen.

Dieser Abstecher war allerdings vergeblich. Obwohl er sich als Regisseur ausgab und anbot, Herta Kirchner zu verpflichten, kam er beim Bühnennachweis nicht weiter. Es blieb also nur die Bank unter dem Baum vor der Buchhandlung.

August 1930

Alexander versuchte, sich im Zug auf den Weg zu seinen Eltern mit der Lektüre von Der Mensch ist gut von dem bevorstehenden Gespräch abzulenken. Auf die Idee, dieses Buch von Leonhard Frank zu lesen, hatte ihn Johannes gebracht, der es Herta Kirchner ebenfalls verkauft hatte. Wenn er sie schon in Berlin, trotz langer Wartezeiten auf der Bank vor dem Bücherkabinett verpasst hatte, wollte er ihr wenigstens durch die Lektüre nahe sein.

»Kiel Hauptbahnhof, wir erreichen in Kürze Kiel Hauptbahnhof!« Die Lautsprecherdurchsage riss Alexander aus seiner Lektüre. Die Fahrt war wie im Flug vergangen. Als er den Roman verstaute, stellte er fest, dass er sich freute, wieder in Kiel zu sein und die Eltern wiederzusehen. Bis ihm einfiel, welche Aufgabe er vor sich hatte. Er musste seinen Eltern beibringen, dass er nicht studierte, sondern als Journalist arbeitete. Der Chefredakteur hatte ihm eine feste Stelle angeboten, damit war sein Lebensunterhalt gesichert und er war nicht länger von seinem Vater abhängig. Trotzdem würde das ein schweres Gespräch werden.

»Hier sind wir!«

Alexander bemerkte einen Kloß im Hals, als er seine Mutter mit strahlendem Gesicht und einem kleinen Blumenstrauß in der Hand auf dem Bahnsteig entdeckte. Auch sein Vater lachte. Noch! Leopold Halbersberg drückte seinem Sohn fest die Hand. »Schön, dass du wieder da bist, mein cand. med.« Zum Glück zog die Mutter ihren Sohn an sich, dadurch verflog das unangenehme Gefühl, das Alexander bei der Anrede cand. med. überkommen hatte, schnell. »Wie war die Fahrt?«, wollte die Mutter wissen und griff nach seinem kleinen Koffer.

»Lass das, ich kann den Koffer selbst heben!«, wehrte Alexander die Gefälligkeit ab und lachte. »In Berlin tragen die Frauen ihre eigenen Koffer, aber gewiss nicht die ihres Mannes oder Sohnes.«

Ein Blick in das Gesicht seines Vaters verriet Alexander, dass sein Scherz nicht als solcher bei diesem angekommen war. Rasch wechselte er das Thema. »Ich habe die ganze Fahrt gelesen. Der Mensch ist gut von Leonhard Frank. Stellt euch vor, das hat mir Johannes Unger empfohlen, ich habe euch geschrieben, dass er aus Kiel kommt und früher in deine Praxis kam, Vater. Er hat den Tipp von Herta Kirchner, ihr wisst schon, der Schauspielerin aus Kiel.«

Bei dem Namen Herta Kirchner verschwand auch aus dem Gesicht seiner Mutter das Lächeln. Das würden zwei anstrengende Wochen werden. Gut, dass er sich viel vorgenommen hatte, vor allem wollte er über Herta Kirchner recherchieren. Er suchte ein unverfängliches Gesprächsthema und war erleichtert, als er die Auslage eines Herrenausstatters entdeckte. »In Berlin stehen jetzt Wachsfiguren von Max Schmeling im Schaufenster. Als Werbung für Anzüge.«

Sein Vater schnaubte und schwieg.

»Und? Was gibt es Neues in Kiel?«, versuchte Alexander das Gespräch nach einigen Metern in ungemütlichem Schweigen in Gang zu bringen. »Was macht der Fußball?« Er hätte sich ohrfeigen können. Seine Kollegen hatten ihn damit aufgezogen, dass Holstein Kiel im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft Herta BSC Berlin knapp unterlegen war. 5 zu 4 war das Spiel im Düsseldorfer Stadion ausgegangen.

»Hier ist alles wie immer«, erzählte Christine Halbersberg, als sähe sie das grimmige Gesicht ihres Mannes und den verzweifelten Ausdruck des Sohnes nicht. »Dass das Arbeitsamt endlich fertig ist, weißt du, oder? Jetzt haben es die Arbeitslosen gemütlich. Sonst ist es ruhig. In Berlin ist sicher mehr los was? Hast du wieder Prominente getroffen?«

Ehe Alexander antworten konnte, knurrte sein Vater: »Pah! Er ist zum Studieren in Berlin und nicht, um Berühmtheiten zu treffen. Er verbringt ohnehin zu viel Zeit im Kino und Theater. Von meinem Geld!«

Alexander biss sich auf die Zunge, um nicht sofort mit seiner Neuigkeit herauszuplatzen. Der Gehweg, wo Patienten und Nachbarn standen, war nicht der richtige Ort für den Streit, den es unweigerlich geben würde. Er entspannte sich erst, als er zu Hause erfuhr, dass sein Vater zu einem Notfall fahren musste.

Christine Halbersberg tischte ihm bald sein Lieblingsessen auf. »Wer weiß, wann Vater nach Hause kommt.« Sie streichelte über seinen Kopf. »Du hast dich sicher die ganze Fahrt über darauf gefreut.«

Alexander nickte, genoss die Klöße mit Speck, die niemand so zubereitete wie seine Mutter und lenkte das Gespräch auf Herta Kirchner. »Sie ist wirklich sehr hübsch und macht einen netten Eindruck. Ich habe sie in der Buchhandlung getroffen.«

»Eine Schauspielerin in einer Buchhandlung, dass ich nicht lache«, spottete die Mutter. »In Kiel pfeifen es die Spatzen von den Bäumen, dass sie ihre Karriere nicht ihrem Talent verdankt.«

»Sondern?« Alexander wusste genau, worauf seine Mutter anspielte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass diese liebreizende Herta sich für Engagements auf Liebschaften ließ. Johannes hätte das sicher erwähnt, er hatte nur berichtet, dass sie viel arbeitete, überall vorsprach für neue Rollen und als Modell bei Modenschauen auftrat, um Geld zu verdienen. Das verschwieg er seiner Mutter lieber, um kein Öl in ihren Spott zu gießen.

»Wie ist denn das Studium so?«, unterbrach sie seine Gedanken.

Vor dieser Frage hatte Alexander sich gefürchtet und war darauf vorbereitet, ausführlich von den Vorlesungen zu berichten, bis seine Mutter genug hatte und den Tisch abräumte. »Ich gehe eine Runde durch die Stadt.«

Christine Halbersberg sah ihren Sohn enttäuscht an. »Ich dachte, du hilfst mir im Garten, Vater kommt nicht dazu.«

Alexander zögerte. Was, wenn sich später herausstellte, dass Herta ausgerechnet heute bei ihrer Familie war. »Nur einige Schritte durch die Stadt, um zu sehen, was sich getan hat«, versprach er. »Danach helfe ich dir. Ja?« Was sollte seine Mutter dagegen sagen? Er stand bereits im Flur und hielt die Türklinke in der Hand.

Vor dem Haus stellte er fest, dass er die Anschrift nicht kannte, die wollte er eigentlich im Adressbuch nachsehen. Wenn er jetzt zurückging, ließ seine Mutter ihn nicht mehr weg. Ziellos bummelte er durch die Straßen und hoffte, Herta Kirchner zu begegnen oder jemandem, der sie kannte, um mehr über sie zu erfahren. Er schlug den Weg zur Innenstadt ein. Es war später Nachmittag, vielleicht kamen gerade Schauspieler von der Probe im Theater oder sie gingen zur abendlichen Aufführung.

»Guten Tag, was wird denn heute gegeben?«, fragte er wenig später die Frau im Kassenhäuschen des Kieler Stadttheaters.

»Die Csárdásfürstin«, antwortete die Frau und zog ein Billett aus ihrer Kartenrolle.

»Spielt Herta Kirchner mit?« Alexander wunderte sich, wie echt seine Frage klang, obwohl er wusste, dass sie hunderte Kilometer entfernt auf einer anderen Bühne stand.

»Kenne ich nicht!« Die Frau sah Alexander mürrisch an. »Wollen Sie nun eine Karte?«

Alexander beachtete ihren Unmut nicht. »Das ist seltsam. Ich weiß ganz bestimmt, dass sie hier gespielt hat. Jetzt fällt mir das Stück nicht ein.«

»Ich bin erst seit einem halben Jahr hier«, grummelte die Frau. »Was ist jetzt?«

»Ist jemand im Haus, der seit längerer Zeit hier arbeitet?«, wagte Alexander zu fragen. Er wartete nicht auf die Antwort der Frau, die das Billett losließ, sich auf dem Stuhl zurücklehnte und dann beide Hände auf den Tisch stemmte, sondern verschwand mit dem Vorsatz, an einem anderen Tag zurückzukehren. Auf dem Heimweg hatte er eine Idee, die seine Stimmung hob, dass er nicht eher daran gedacht hatte. Er würde dem Redakteur der Kieler Nachrichten seine Dienste für die Ferien anbieten. Hier in Kiel waren gute Journalisten Mangelware, sonst hätte man ihn nicht bereits in der Schulzeit eingesetzt. Mit der Redaktion im Hintergrund würde sich sogar dieser Theaterdrachen in ein freundliches Kätzchen verwandeln.

Das Gespräch mit dem Redakteur dauerte nur wenige Minuten, weil Karlheinz Riethmüller die aktuelle Ausgabe fertigmachen musste. Alexander ging mit dem Auftrag nach Hause, herauszufinden, wie die Karriere von Herta Kirchner weitergegangen war. Das war besser gelaufen, als er erwartet hatte, damit hatte er einen offiziellen Grund, bei der Familie vorstellig zu werden.

Mit dieser Aussicht fiel es ihm leicht, der Mutter im Garten zu helfen und beim Abendessen mit dem Vater freundlich auf dessen Fragen zur politischen Situation in der Hauptstadt nach Auflösung des Reichstags zu antworten.

»Ich bin gespannt, wie das weitergeht«, meinte der Vater. »Diese neue Partei scheint einiges zu bewegen.«

Alexander sah seinen Vater fragend an. »Welche neue Partei?«

»Na, die Nationalsozialisten.« Leopold Halbersberg schaute verständnislos. »Du willst nicht sagen, dass du von denen nichts gehört hast? Als ich Medizin studiert habe, war es selbstverständlich, dass man sich über die Politik auf dem Laufenden hielt!«

»Als du Politik studiert hast, gab es einen Kaiser und nicht alle paar Wochen einen neuen Reichskanzler«, gab Alexander patzig zurück.

»Haltet bitte die Politik vom Tisch weg«, bat die Mutter. »Erzähl lieber von dem Volksliedertag in Berlin. Da gab es sicher einige schöne Veranstaltungen. Wir waren auf einem Mitsing-Konzert. Es war wunderbar, endlich wieder die alten Lieder zu singen.« Sie legte das Besteck neben den Teller und trällerte: »Sah ein Knab ein Röslein steh‘n.«

Leopold und Alexander beugten sich über ihre Teller und widmeten sich dem Essen. Darin waren sie sich trotz aller Zwistigkeiten einig, mit dem Gesangstalent von Christine Halbersberg war es nicht weit her.

In den nächsten Tagen verschwand Alexander nach dem Frühstück, um für seinen Artikel zu recherchieren. Es gelang ihm meist, so spät zum Essen zu kommen, dass sein Vater schon wieder Sprechstunde hatte oder mit seinem Mercedes unterwegs war zu Hausbesuchen. Gegen Mittag und Abend schlenderte Alexander wie zufällig durch den Knooper Weg, vorbei am Dachdeckerbetrieb von Josef Kirchner.

Für ihn war es weiterhin ein Wink des Schicksals, dass seine Mutter ausgerechnet über die Tochter des Dachdeckers getratscht hatte. Ohne diese Bemerkung hätte er viele Adressen in Kiel abklappern müssen, um Hertas Elternhaus zu finden. Im Adressbuch gab es unter dem Namen Kirchner nur einen Dachdeckermeister, dessen Anzeige dazu gleich ins Auge fiel: J. Kirchner, Dachdeckermeister. Übernahme sämtlicher Dachdeckerarbeiten, Spezialgeschäft für Blitzableitungsanlagen. Selbst die Fernsprechnummer war vermerkt: 1315.

Es gab nur wenige Familien in Kiel, die über einen Fernsprechanschluss verfügten, Leopold Halbersberg gehörte dazu. Alexander hatte bei einem Telefonat mit Herrn Kirchner, in dem er sich als Reporter der Kieler Nachrichten vorstellte, erfahren, dass Herta nach ihrem Engagement in Schwäbisch Hall zu Hause erwartet wurde. Seither hielt er die Augen offen. Ohne Erfolg. Der Dachdecker wollte am Telefon den Termin der Ankunft nicht verraten. Aber wenn Alexander eines in Berlin gelernt hatte, war es, Informationen zu bekommen, wo angeblich keine waren. Es fanden sich immer Nachbarn oder ehemalige Kollegen, die der Presse gerne zu Diensten waren.

Zwischen Bühne und Lampions

Es kommt nicht oft vor, dass es eine junge Kielerin schafft, sich jenseits der Stadtmauer und Landesgrenze zu behaupten. Der Schauspielerin Herta Kirchner ist dies gelungen. Ihre Eltern, Josef und Hertha Kirchner, hätten sich bei der Geburt ihres zweiten Kindes am 3. September 1913 wohl kaum träumen lassen, dass ihr Nesthäkchen einmal den Weg auf die Bühne findet. Was ihre Mutter wohl denken würde? Sie hat die ersten Schauspielschritte ihrer Tochter am Stadttheater Kiel nicht mehr erlebt. In Arm wie eine Kirchenmaus hatte Herta ihr Debüt auf der Bühne. Neben Dankwar Werner spielte sie ein hübsches Tippfräulein und war vom Theatervirus infiziert. »Sie hat uns keine Ruhe gelassen, bis wir eine Rolle für sie fanden«, verrät ein Mitarbeiter und ist gespannt, was aus seinem ehemaligen Schützling wird. Eine Freundin erinnert sich, dass für Herta Theater immer an erster Stelle stand. »An ihrem 14. Geburtstag hat sie nicht mit uns gefeiert, sondern ein bisschen mit der Familie und dann war sie im Theater. Wir waren erst einige Tage später eingeladen zu Kaffee und Kuchen, Eis, kalter Platte und Bowle.« Die Freundin denkt gerne an die Zeit und jenen Geburtstag. »Der Garten am Knooper Weg war mit Lampions geschmückt und wir sind mit unseren Bowle-Gläsern dazwischen umhergegangen.« Von Hertas 15. Geburtstag, dem letzten in Kiel, weiß die Freundin noch, dass Herta ihren kleinen Hund Tami bekam und nicht von seiner Seite wich. Ob Herta den Hund mit nach Salzwedel genommen hat, wo sie seit dem letzten Sommer engagiert ist? (aha)

»Ach! Ein Artikel über die kleine Kirchner«, stellte Christine Halbersberg fest, als sie die Zeitung durchblätterte. »Soweit ist das schon, dass die Kieler Nachrichten über solch zweifelhafte Frauen berichten. Aha«, las sie vor und blickte ihren Sohn an. »War das nicht immer dein Kürzel?«

Alexander schluckte. Er hatte nicht gedacht, dass seine Eltern die Zeitung lasen. Mit einem vorgetäuschten Hustenanfall versuchte er Zeit zu schinden, um eine gute Ausrede zu finden. »Ja«, sagte er schließlich, »aber ich bin jetzt weg, vermutlich gibt es einen anderen Reporter mit gleichen Anfangsbuchstaben.«

Er blickte auf die Zeitung und entdeckte eine Zeichnung von Heinrich Zille. »Da ist ein Bild von Heinrich Zille, das ist ein berühmter Berliner Künstler, der im letzten Jahr verstorben ist. Kürzlich wurde ein Denkmal für ihn eröffnet.« Wie gut, dass er dem Gespräch damit eine Wendung geben konnte. Er durfte sich nur nicht verplappern, dass er die Veranstaltung als Journalist besucht hatte. »Ihr solltet euch ein Bild von ihm kaufen«, schlug er vor. »Eine Freundin von mir hat eine Ausgabe vom Ferienpaten bekommen. Das würde gut in dein Wartezimmer passen, Vater.«

Alexander musste das Lachen unterdrücken. Das war zu dick aufgetragen und die Vorstellung, dass ein Bild von Zille in der Praxis hing, war so lächerlich. Von Johannes wusste er, dass Herta Kirchner das Bild Anfang Juli erstanden hatte. »Kein Geld für Essen, aber Kunst im Schrank, typisch Herta«, hatte der Buchhändler den Kauf kommentiert und das Bild beschrieben. Nackte Kinder tanzten einen Reigen. Obwohl er Arzt war, wäre sein Vater von so viel Nacktheit sicher nicht begeistert.

Um vom Thema abzulenken, fragte Alexander: »Habt ihr den neuen Film mit Lilian Harvey, Willy Fritsch und Gustav Gründgens gesehen? Hokuspokus. Ich durfte über die Premiere schreiben.«

Als hätte ein böser Zauberer die Familie verhext, stoppten alle drei ihre Bewegungen. Löffel hingen in der Luft, die Mutter achtete nicht darauf, dass Suppe von der Schöpfkelle auf die Tischdecke tropfte.

»Wieso hast du über die Premiere geschrieben?« Leopold Halbersberg legte den Löffel neben den Teller und starrte seinen Sohn an.

Alexander schob rasch einen Löffel Suppe mit Blumenkohl in den Mund, um nicht sofort antworten zu müssen. Wie sollte er diesen Fehler wieder ausbürsten? Jedes Gespräch mit seinem Vater wurde zu einem Gang über ein Minenfeld. »Ich schreibe manchmal für die Studentenzeitung«, log er schließlich. »Das machen alle Studenten, wenn sie Zeit haben.«

»Ach, und du hast Zeit?«, fragte der Vater mit eisiger Stimme. »Ich hatte in meinem Studium für solche Sachen keine Zeit. Ich war nicht einmal in einer Verbindung, weil mich das abgelenkt hätte.«

»Lass ihn doch«, versuchte die Mutter zu vermitteln, während sie mit der Serviette den Suppenfleck auf der Tischdecke verrieb. »Er ist sonst sehr fleißig.«

»Davon habe ich bis jetzt nichts bemerkt«, widersprach Leopold Halbersberg. »Hast du eine der Bescheinigungen, die er angeblich erworben hat, zu Gesicht bekommen?«

Alexander sog tief die Luft ein. Jetzt musste er Farbe bekennen und erklären, weshalb er das Studium weitgehend abgebrochen hatte. Es war, als säße ein Frosch in seinem Hals und zöge die Worte zurück, ehe sie den Mund verlassen konnten. So sehr er sich auch anstrengte, der entscheidende Satz kam nicht über seine Lippen.

»Du willst schließlich, dass ich mich bilde«, argumentierte er. »Am 22. besuche ich die Eröffnung der Funk- und Phonoschau, bei der Albert Einstein den Eröffnungsvortrag hält. Rundfunk als Mittel der Völkerverständigung, lautet sein Thema.«

Leopold Halbersberg zog die Augenbrauen hoch. »Du bist stolz darauf, den Vortrag eines Juden mit verrückten Ideen zu hören?«

»Leopold!«, zischte Alexanders Mutter.

Die Eltern warfen sich einen Blick zu, den Alexander nicht deuten konnte. Ohne ein weiteres Wort beendeten sie die Mahlzeit.

Der Pinselheinrich und sein Milljöh

Ein Jahr ist es nun her, dass Heinrich Zille uns für immer verlassen hat, aber verschwunden ist er nicht. In Charlottenburg, wo der Pinselheinrich, wie ihn die Berliner liebevoll nennen, die letzten 40 Jahre lebte, vergeht kein Tag, an dem nicht sein Name genannt wird. In anderen Vierteln der Hauptstadt hängen Fotografien, die er am Beginn seiner Karriere aufgenommen hat, oder Zeichnungen von Berliner Mädchen und Jungen, Männern und Frauen, Szenen aus dem Leben. 1910 erhielt er zusammen mit dem Vater der Häschen-Schule, Fritz Koch-Gotha, den Menzel-Preis der BIZ für seine künstlerische Leistung. Knapp 20 Jahre später wurde er zum 70. Geburtstag vom Märkischen Museum mit einer Retrospektive gefeiert. Bis zu seinem Tod verulkte er die Menschen mit seinen Zeichnungen in der Satire-Zeitschrift Ulk. Heinrich Zille starb am 9. August 1929 und wurde in einem Ehrengrab der Stadt Berlin in Stahnsdorf unter dem Geleit von 2.000 Trauergästen begraben. Heute nun, zwölf Monate später, wurde endlich das Denkmal im Hof des Theaters der Elitesänger am Kottbusser Tor eröffnet. Pinselheinrich hätte seine Freude daran gehabt, wie der Bildhauer Kentsch ihn darstellte, dominant aber gütig mit Claire Waldorf und Harry Lamberts-Paulsen im Zille-Stil auf der Rückseite des Standbildes. Musiker des Mandolinen-Clubs begleiteten die Enthüllung, zu der Claire Waldorf sagte: »Der du uns im Leben so viele Bilder geschenkt hast - nun schenken wir dir deins.« Die Feier fand ihren Abschluss im Theater mit Willi Kollo am Klavier und Claire Waldorfs Stimme: »Von der Tolle bis zum Zeh bin ich dein Milljöh!« (aha)

Dezember 1930

Mit gemischten Gefühlen machte Alexander sich auf den Weg zum Mozartsaal. In seiner Kindheit war der Nikolausabend dank der niederländischen Vorfahren seines Vaters stets ein besonderes Ereignis gewesen. Es gab Geschenke und Naschereien, nur auf den heiligen Nikolaus in seinem Bischofsgewand mit dem Stab und Knecht Ruprecht im Gepäck musste er verzichten, weil in Kiel nie jemand aufzutreiben war, der diese Rolle verkörpern wollte. Auch als er bereits erwachsen war, hatte seine Mutter ihn mit einem Gruß und Geschenk bedacht, nur in diesem Jahr nicht. Seit er seinen Besuch bei den Eltern abgebrochen hatte, herrschte Funkstille. Nicht wegen des abgebrochenen Studiums, davon wussten die beiden nichts. Alexander konnte es nicht ertragen, dass sein Vater mit den Nationalsozialisten sympathisierte, auch wenn er kein Parteimitglied war. Der Vater verstand nicht, dass Alexander seine Meinung nicht teilte und verlangte zudem, dass Alexander die Arbeit an der Studentenzeitung aufgab, um eifriger zu studieren.

Nur mit Mühe bekam Alexander einen Platz im Saal. Er ärgerte sich, dass er wegen einer Übelkeit nicht an der Premiere von Im Westen nichts Neues nach dem Roman von Erich Maria Remarque am Vorabend teilnehmen konnte, da wäre ihm ein Sessel sicher gewesen. Seine Kollegen hatten berichtet, dass im Publikum viele Prominente vertreten waren, selbst Philipp Scheidemann, der ehemalige Reichskanzler. Der prominente Journalist Egon Erwin Kisch, sein großes Vorbild, war ebenso dort wie der Künstler George Grosz und Alfred Döblin. Das Publikum an diesem Abend war ein völlig anderes. Er fühlte sich unwohl auf seinem Platz zwischen Männern, die sich alle kannten. Kaum waren die ersten Szenen des Films zu sehen, in denen Soldaten im Unterstand weinten und kreischten, riefen Männer dazwischen. »Schluss!« brüllten einige. »Schluss!« »Solche Judenfrechheit müssen wir uns nicht gefallen lassen«, schrien andere.

An einer Ecke kreischten plötzlich einige der wenigen Frauen auf, die in dem Saal saßen. Der Mann auf dem Nebensitz lachte. »Haha! Da haben wir unsere weißen Mäuse richtig platziert. Es war nicht leicht, so viele zu bekommen, dass sie für den Saal reichen. Am Ende waren sämtliche Tierhändler ausverkauft!«

Alexander sah den Mann von der Seite an, der seinem Nachbarn auf der rechten Seite zugewandt war. Sie hantierten mit etwas, das Alexander nicht erkennen konnte. Um ihn herum roch es plötzlich unangenehm.

Die Männer neben ihm johlten. »So eine Stinkbombe hat was.«

Einige Reihen weiter vorne bemerkte Alexander, wie sich Männer prügelten. Der Film wurde angehalten. Ein Mann stand mitten im Publikum auf. Alexander musste zweimal hinsehen, weil er diesen Mann hier nicht erwartet hätte. Joseph Goebbels. Er wetterte gegen den Film. Der Vorführer versuchte ihn durch den Film zu übertönen, sodass überhaupt nichts mehr zu verstehen war.

»Was ist das hier?«, fragte Alexander seinen Nachbarn.

»Wir protestieren gegen den Film, der den Krieg verachtet«, erklärte der Mann. »Es ist eine Ehre, sein Leben für das Vaterland zu opfern.«

»Waren Sie gestern auch in dem Film?«, erkundigte sich Alexander betont harmlos. Er hatte das Buch von Remarque direkt nach dem Erscheinen gelesen und verstand bis heute nicht, wieso sein Vater sich der Heldentaten im Krieg rühmte. Immer wieder hatte er versucht, aus ihm mehr über den wahren Einsatz herauszubekommen und zu erfahren, ob er Ähnliches wie die Romanfiguren erlebt hatte.

»Ich brauche den Film nicht zu sehen, um das zu wissen«, antwortete Alexanders Nachbar und steckte seine Finger in den Mund, um in das Pfeifkonzert der anderen Männer einzustimmen.

»Ach, Sie haben das Buch gelesen?« Alexander ließ nicht locker. Wenn er nicht über den Film schreiben konnte, wollte er wenigstens mit ein paar O-Tönen über den Vorfall in die Redaktion zurückgehen.

»Buch? Bücher sind was für Weiber?«, verkündete der Mann zwischen zwei Pfiffen und stand auf, um seinem Protest Nachdruck zu verleihen.

Alexander konnte nicht anders, als sich ebenfalls zu erheben. Um ihn herum standen alle Besucher, sie pfiffen, johlten oder brüllten Kriegsparolen. Er hätte sich gerne davongeschlichen, allerdings war die Stimmung so aufgeheizt, dass er das nicht riskieren konnte. Schließlich verließen die Männer das Kino und er wurde mitgeschwemmt, bis zum Nollendorfplatz, wo er sich ihm gelang, sich aus der Gruppe der Störer zu lösen, als diese sich zu Sechserreihen formierten.

»Wir marschieren vom Uhlandeck zum Kurfürstendamm«, hörte Alexander und folgte der Gruppe mit Abstand. Er ärgerte sich, dass er keine Kamera bei sich hatte, aber er wollte schließlich nur über die erste öffentliche Darbietung des Filmes berichten, dafür schickte die Redaktion keinen Fotografen raus.

Im Westen etwas Neues - Tumult im Mozartsaal

Gestern Mittag schrieb die Vossische Zeitung