... denn alles ist vorherbestimmt - Elisabeth Schmitz - E-Book

... denn alles ist vorherbestimmt E-Book

Elisabeth Schmitz

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  • Herausgeber: AAVAA Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Marie und Martha sind gestorben und sind nun als Leuchtwesen bei den Menschen, die ihnen sehr am Herzen liegen. Maries beste Freundin Tina und Marthas Ehemann Peter lernen sich auf schmerzhafte Weise kennen. Alles Geschehen wird gelenkt von der großen Göttin Holle, denn alles ist von ihr vorherbestimmt. Das Buch... denn alles ist vorherbestimmt“ ist ein Roman um Mystik, Märchen, Heilkräuter und Liebe. Viele Religionen glauben an eine Anderswelt nach dem Tod oder an eine Reinkarnation in irgendeiner Form. Und doch weiß niemand so ganz genau, was uns nach unserem Fortgehen von dieser Erde erwartet. Menschen glauben gerne an Schutzengel. Wer sind sie? Vielleicht unsere Vorfahren, die schon vorgefahren sind? Oder wir ahnen, dass es unsere Ahnen sind? Mag sein, dass es genau so ist, wie in meinem Buch beschrieben. Oder ist es ganz anders? Wer weiß?

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Seitenzahl: 589

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Elisabeth Schmitz

© 2018 AAVAA Verlag

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag

Coverbild: Skały w magicznym lesie z lampionami i grzybami

©Chorazin / Fotolia Datei: #45785143

Printed in Germany

Taschenbuch:  ISBN 978-3-8459-2598-1

Großdruck:   ISBN 978-3-8459-2599-8

eBook epub:  ISBN 978-3-8459-2600-1

eBook PDF:  ISBN 978-3-8459-2601-8

Sonderdruck  Mini-Buch ohne ISBN

AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin

www.aavaa-verlag.com

E-Books sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken!

Für

Jonathan und Mathea,

1.

Was machen die vielen Menschen hier?, dachte Marie. Und da sah sie es auch schon. Es  war ein schwerer Verkehrsunfall. Eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm trat an Maries Seite.

„Das ist ja schlimm, was hier passiert ist“, sagte Marie zu der   Frau. Diese sagte nichts. Sie zeigte nur mit dem Finger auf ein Auto.

„Genau so einen Smart habe ich auch“, sagte Marie betreten, und dann sah sie die Fahrerin des kleinen Wagens.

„Das kann doch gar nicht sein“, flüsterte sie.

„Das bin ja ich. Aber ich bin doch hier. Was soll das alles? Versteckte Kamera?“

Sie rannte zu einem Polizisten, aber der nahm überhaupt keine Notiz von ihr. Und all die anderen auch nicht. Sie gingen einfach durch Marie hindurch.

Viele verzweifelte Menschen liefen herum. Die Frau mit dem kleinen Kind auf dem Arm stand noch immer regungslos da.

Marie ging zu ihr und fragte: „Können Sie mich sehen?“

„Ja,“ sagte die Frau.

„Jannes ...“ Sie drückte ihr Kind an sich.

„Jannes und ich, wir sind auch tot.“

Schweigen!

Tot? Sie war doch nicht tot. Sie war 42 Jahre alt. Bald würde sie ihren 43. Geburtstag feiern.

Nein, sie war nicht tot. Doch die schreckliche Gewissheit kroch in ihr hoch.

„Nein! Nein!...“, schrie sie.

„Ich will leben! Bringt mich doch in ein Krankenhaus. Ihr könnt mich doch nicht sterben lassen!“

Marie schrie und schrie, aber man hörte sie nicht.

Die Feuerwehr kam und schweißte den toten Körper von Marie aus dem Autowrack. Einer der Feuerwehrmänner musste sich am Straßenrand übergeben. Das Lenkrad hatte sich durch ihren Magen gebohrt, mit samt des Airbags. Wie konnte denn so etwas bloß passieren? Wozu sind diese Dinger denn da?

Man legte ihren Körper auf die Straße und deckte sie mit einer Decke zu. Der junge Feuerwehrmann sah immer noch ganz betreten zu Maries toten Körper hinüber, und sie ging zu ihm.

Sie streichelte seine Wange und sagte: „Tut mir leid, dass ich dir solchen Kummer mache. Du hast echt einen Scheiß Job.“

Aber er hörte sie nicht. Nur da, wo sie ihn gestreichelt hatte, wischte er sich über die Wange.

Der Leichenwagen kam. Der tote Körper von Marie wurde in einen Zinksarg gelegt. Ebenso die  Frau mit ihrem Sohn und eines Mannes, der ca. 25 Jahre alt war.

Wieso war der tot, aber von Marie nicht hier zu sehen? Sie sah sich um. Nein, nirgendwo war er. Seltsam. Marie setzte sich nun auf den Sarg, in dem ihr Körper lag. Auf gar keinen Fall wollte sie hier bleiben. Sie musste doch wissen, wohin man sie bringt!

In einem kahlen, nur aus Stahl bestehenden Raum fand Marie sich wieder. Es waren noch andere Lichtwesen hier. Marie nannte sie so, weil sie alle einen kaum merkbaren Lichtschein um sich herum hatten. Die Frau mit dem Kind auf dem Arm war auch da, und sie hielt es immer noch fest an sich gedrückt.

Und da war noch eine dunkelhaarige Frau, die in einer Ecke stand und Marie anlächelte. Sie war ein wenig pummelig, fiel Marie auf. So wie sie selber. Aber die Frau war ein wenig kleiner als sie.

Ein Mann, der kein Lichtwesen war, trug einen blauen Kittel und lief im Raum herum. Er wartete wohl auf jemanden. Da ging auch schon die Stahltür auf und.....

„Nein!“, schrie Marie, „das geht doch nicht! Mama! Ihr könnt sie doch nicht hierher kommen lassen. Legt mich doch in ein Bett. Unmenschlich das Ganze.“

Frau Heidemann stand mit rotgeweinten Augen vor der Liege mit dem Tuch über ihrer toten Tochter. Der Mann im blauen Kittel hob das Tuch, und die 70-jährige Frau wankte.

Sie streichelte Maries Gesicht.

„Wie kalt du bist, mein Mariechen.“

„Mama, ich bin hier. Direkt neben dir. Oh Mama!“

Ein unbekannter Mann kam herein und stellte sich als „der Bestatter“ vor. Das Tuch wurde wieder über Maries Kopf gelegt. Frau Heidemann ging schlurfend zur Tür. Für Marie war es zu viel, ihre Mutter so leiden zu sehen. Sie war alles, was diese Frau noch hatte.

Herr Heidemann war schon lange tot, und Maries Mama war freiwillig in eine Seniorenwohnung am Stadtrand gezogen, als Marie bei Andreas einzog. Die Beziehung zu ihm hielt nur kurz, aber Frau Heidemann bestand darauf, in ihrer Wohnung zu bleiben. Sie war Lehrerin gewesen, und ihr Mann hatte ihr eine große Lebensversicherung hinterlassen. Bislang ging es ihr nicht schlecht. Sie hatte viele Freunde dort, wo sie nun wohnte. Aber nun würde sie nie mehr Maries fröhliches „mein Mütterlein“ hören können.

Dann öffnete sich die Tür wieder, und Tina Braune trat in den Raum. Frau Heidemann hatte sie angerufen, ob sie ihre allerbeste Freundin noch einmal sehen wollte. Und das wollte sie unbedingt!

Tinas Gesichtsfarbe war genauso wie die von Marie. Kreidebleich!

Als Tina ihre tote Freundin anschaute, hatte sie das Gefühl, dass Maries Körper sich auflösen wollte.

Oh je, dachte sie, nun breche ich gleich zusammen.

„Tina“, sagte Marie. „Kannst du mich auch nicht sehen?“

Tina nahm die Hand von Marie in die ihre und spürte, dass es nur noch eine Hülle war. Schnell verließ sie den kalten Raum, in dem ihre tote Freundin lag.

Im Flur wartete Frau Heidemann auf sie, und die beiden Frauen, denen nun so viel Leid verband, umarmten sich. Tina bot der älteren Frau an, sie nach Hause zu fahren, und diese nahm das Angebot dankend an.

Marie wollte mit der Faust an die Stahlwand schlagen, aber sie fuchtelte nur herum. Die Wand schien nicht da zu sein.

Die dunkelhaarige Frau, die in der Ecke stand, kam zu ihr und sagte: „Ich bin Martha. Komm mit mir. Hier ist kein guter Platz.“

Sie nahm Marie bei der Hand, und schon standen sie vor einer Bank im Park. Martha setzte sich darauf. Marie plumpste auf die Erde.

„Versuche es noch einmal. Konzentriere dich auf die Materie.“ Es ging nicht. Seltsam, auf ihrem Sarg von der Unfallstelle konnte sie doch auch sitzen.

Alles kam ihr so eigenartig  vor.

Marie setzte sich ins Gras und zeigte auf ein Gänseblümchen.

„Meine Freundin Tina und ich haben uns in diesem Sommer einen Kranz aus diesen Blüten gebunden. Sie war gerade in dem Raum aus Stahl. Wie mag es ihr bloß gehen ohne mich? Ich darf gar nicht daran denken. Wie bist du gestorben, Martha?“

„Ich hatte vor drei Wochen einen Myokardinfarkt und war sofort tot. Mein Mann Peter ist Arzt und wird mit meinem Tod nicht fertig. Deshalb bin ich auch noch hier. Er denkt, dass ich noch leben könnte, wenn er nicht länger als nötig in der Klinik geblieben wäre. Das ist natürlich Quatsch. Ich war auf der Stelle tot.

Peters sämtliche Kollegen haben es ihm gesagt. Immer wieder. Aber er akzeptiert es nicht. Er ist ein sehr guter Neurologe, aber er operiert nicht mehr.

Er ist der Chefarzt vom Klinikum in Roderstadt. Abends ist er zu Hause und schaut Videos von uns an. Wir hatten uns schon auseinandergelebt. Er lebte für seine Arbeit und ich für meine.

Ich habe mit meiner Schwester zusammen eine kleine Boutique in Roderstadt. Wir haben alles selbst genäht, was wir dort verkaufen. Wir sind  beide gelernte Schneiderinnen, weißt du. Nun führt Karin den Laden alleine, und sie wird wohl jemanden einstellen müssen.

Mit Peter hat sie keinen Kontakt. Er ist auch nicht gerade einfach. Ich bin in einem wunderschönen Kleid, das Karin und ich gemeinsam entworfen hatten, beerdigt worden.

Komm mit, ich zeige dir mein Grab. Wir haben ja alle Zeit der Welt.“

Als die beiden auf dem Friedhof ankamen, sahen sie, dass neben Marthas Grab ein neues  ausgehoben war.

„Was denkst du, ob das mein Grab ist?“, fragte Marie.

„Das ist schon möglich. Dein Unfall war vor drei Tagen. Morgen ist der vierte Tag. Wir werden dann wieder hier sein.“

„Drei Tage ist es schon her? Hab ich gar nicht gemerkt. Du Martha, ich sehe dauernd ein funkelndes Licht, und eine lieb aussehende Frau steht dort. Ich schaue dann schnell weg, und schon ist auch das Licht verschwunden. Was ist das bloß?“

Martha schaute sie mit großen Augen an.

„Siehst du das auch? Ich dachte schon, dass ich spinne. Bilder sehe, oder so was. Aber man sagt ja, dass Verstorbene in ein Licht gehen sollen. Hast du auch einen Tunnel gesehen?“

„Nein, einen Tunnel habe ich nicht gesehen. Aber warte.... Doch! Ich erinnere mich, dass ich auf der Autobahn war und wunderte mich, dass da auf der Straße ein Tunnel aufgebaut war. Der war doch sonst nicht dort. Und diese schöne Wiese, die schönen Farben am Horizont... Das alles hatte ich dort noch nie gesehen. Ich dachte während der Fahrt auch über meine Kindheit nach. Alles flog nur so an mir vorbei. Habe ich deshalb den schweren Unfall gehabt, weil ich so unachtsam war, Martha?“

Martha schüttelte den Kopf.

„Nein Marie. Du bist doch gar nicht schuld an dem Unfall. Ein junger Mann, 26 Jahre alt, hat sich das Leben genommen. Er war als Geisterfahrer auf der Autobahn.

Eine Mutter, die mit ihren beiden kleinen Söhnen unterwegs war, raste in das Auto. Du warst hinter ihr und bist voll auf die beiden Wagen geknallt.

Es sind noch vier weitere Wagen in die Unfallstelle gefahren, aber sie hatten mehr Glück als du. Na ja, wenn man von Glück reden kann.... Sie sind alle verletzt worden, manche so schwer, dass sie nie mehr normal leben können.“

Marie war bestürzt. Das hatte sie gar nicht gewusst.

„Martha, woher weißt du all das?“

„Ich bin doch die ganze Zeit bei Peter im Klinikum gewesen. Da hat man es sich erzählt. Und aus dem Grund war ich auch in der Pathologie, wo ich dich gesehen habe. Dich und all die anderen.“

Marie nahm ihre neue Freundin in den Arm.

„Ich bin so froh, dass ich dich getroffen habe. Oder viel mehr du mich.“  Beide lachten.

„Du Martha, weißt du, ich habe an der Unfallstelle die Verstorbenen und auch die Lebenden gesehen, aber den Verursacher des Unfalls, den habe ich nur tot da liegen sehen. Weißt du, warum das so ist?“

„Ja, Marie“, sagte Martha, „das weiß ich auch. Ich habe mich gewundert, warum auf dem Boden so ein dunkler, schmieriger Qualm oder Dampf entlang kroch. Und in dem Qualm sah ich ein Gesicht.

Ein alter, verstorbener Mann sah mein erschrockenes Gesicht und sagte mir, dass dieses böse Verstorbene seien. Sie würden das Licht niemals sehen. Der junge Mann hat so viel Leid angerichtet durch seine Tat. Für viele Menschen geht das Leben nun völlig andere Bahnen. Und nur durch seine Schuld.“

„Aber vielleicht hat er keinen anderen Ausweg gesehen als seinen Suizid“, meinte Marie.

2.

Am nächsten Tag war tatsächlich die Beerdigung von Marie. Es waren so viele Menschen dort. Die Leichenhalle war voller Kränze und Blumen.

Frau Heidemann, Maries Mutter, saß ganz vorne. Sie starrte nur auf den Sarg ihrer Tochter. Man konnte in ihrem Gesicht lesen, dass sie das alles noch gar nicht begriff. Hinter ihr saß Tina.

„Meine über alles geliebte Kräuterhexe“, flüsterte Marie.

„Bitte sei doch nicht so traurig. Sieh nur, mir geht es gut. Hier, das ist Martha. Sie würde dir auch gefallen.“

Natürlich konnte Tina sie nicht hören.

Marie setzte sich neben sie. Ja, tatsächlich. Sie konnte sich auf eine Bank setzen. Sie schaute zu Martha, und diese hob den Daumen in die Höhe.

„Ich hab es geschafft'“, sagte sie ganz leise.

„Du kannst ruhig laut reden“, sagte Martha, „niemand hört uns.“

Der Priester kam und sagte viele liebe Worte. Ob er es wohl so meinte? Er kannte Marie doch gar nicht. Sie war kein Kirchgänger, aber ihre Mutter ging jeden Sonntag dorthin. Marie war sich sicher, dass viele Gebete für ihre einzige Tochter gesprochen waren.

„Mein Mütterlein!“ Wie gepflegt ihre Haare waren. Sanft berührte Marie die grauen, vollen Locken ihrer Mutter.

Ein Schluchzen ihrer besten Freundin riss sie aus ihren Gedanken.

„Tina, bitte weine doch nicht so sehr. Bitte Tina.“

Jeder, der in der Leichenhalle war, hatte eine Orchidee in der Hand. Sie waren bestimmt aus dem Blumenladen, in dem damals Marie gearbeitet hatte.

Marie war Pflanzentechnologin in einer Orchideen Gärtnerei, und ihr Arbeitsplatz war das Labor. Sie züchtete auf einer Nährlösung neue Sorten von Orchideen in kleinen Anzucht-Flaschen. Ihre Phalaenopsis waren bei den Kunden sehr beliebt. Es dauert lange, bis eine Orchidee blüht, und so werden ihre Pflanzen noch lange im Handel sein.

Die Trauergemeinschaft setzte sich zur Beerdigung in Bewegung. Markus, Tinas Ex-Lebensgefährte gesellte sich zu ihr. Er nahm behutsam ihre Hand, doch Tina stieß sie fort.

„Bitte Tina, lass dir doch helfen“, sagte er. Ihre verheulten Augen funkelten.

„Wenn du mir helfen willst, dann gib mir Marie wieder. Lass mich in Ruhe. Das habe ich dir schon mal gesagt“, flüsterte sie.

„Verpiss dich, du Fremdgänger!“, fauchte Marie. Im selben Moment tat es ihr schon wieder leid. Man sah, dass auch er trauerte. Ob nun wegen ihr oder wegen Tina war egal. Aber er zeigte Gefühle, das konnte man sehen. Es war jedoch Fakt, dass er Tina mit seiner Nachbarin betrogen hatte und diese geheiratet hatte, als sie ein Baby erwartete.

Soviel Menschen waren bei der Beerdigung. Manche kannte Marie gar nicht. Vielleicht kannte Mama sie ja, und alle waren wegen ihr gekommen.

Martha legte den Arm um ihre neue Freundin und sagte: „Komm. Das hier, das müssen die alleine machen.“

Und wieder war da dieses Licht. Und wieder war da diese ältere Frau, die freundlich winkte.

„Was meinst du“, meinte Martha, „wollen wir zu ihr gehen?“

„Ja, irgendwann müssen wir es ja doch. Sie zieht uns doch magisch an. Warum also nicht jetzt?

Aber bleib bloß bei mir. Alleine kann ich das nicht.“

Martha nickte und fasste Marie bei den Händen. Dann liefen beide los. Je näher sie dem Licht kamen, umso schöner wurde es. So etwas hatten die beiden noch niemals gesehen. Und als sie dort waren, fühlten sie sich, als seien sie in Watte gepackt. Sie liefen direkt in die Arme der gütigen Frau. Diese umarmte die beiden gleichzeitig.

„Na, ihr habt euch aber Zeit gelassen“, lachte sie. „Aber wenn wir hier etwas im Überfluss haben, dann ist es Zeit.“

„Wer bist du?“, wollte Marie wissen. „Es kommt mir so vor, als ob ich dich schon sehr lange kenne.“

Und Martha nickte mit dem Kopf. „So kommt es mir auch vor.“

Die freundliche Frau bat die beiden, sich ins Gras zu setzen und fing an zu erzählen:

„Ihr erinnert euch doch sicherlich noch an das Märchen von Frau Holle.“

Die beiden Frauen nickten, schauten aber sehr ratlos drein.

„Immer, wenn ich dieses Märchen höre, dann denke ich: Wenn ihr wüsstest, wie nahe ihr der Wahrheit seid. Aber woher sollt ihr es wissen? Viele Märchen sind überlieferte Geschichten.

Eines Tages haben zwei Brüder, die Gebrüder Grimm, dies alles aufgeschrieben, was die Leute ihnen erzählten. Und glaubt mir, die Menschen früher hatten ein größeres Wissen als die Menschen heute, denn sie hatten noch die Zeit, über alles nachdenken zu können und mit ihren Artgenossen zu reden.

Nun, ich bin also die, die ihr auf der Erde als die Frau Holle kennt, und deshalb könnt ihr mich auch so nennen.

Erinnert euch doch einmal: Marie - welch ein Zufall, der selbe Name – fiel in einen Brunnen, der rund wie ein Tunnel war und ertrank dort. Sie kam danach auf eine wunderschöne Wiese. Ihr habt den Tunnel und die Wiese auch gesehen. Dort wurden Aufgaben gestellt, die sie zu erfüllen hatte. Sie musste Brot aus dem Ofen ziehen und reife Äpfel sammeln.“

Martha unterbrach sie.

„Wir haben aber keine Aufgaben gehabt.“

Die Holle fuhr fort: „Oh doch, die habt ihr auch gehabt, aber ihr habt sie selbst gewählt. Sieh mal Marie, wie viel Herz du gezeigt hast, als du schon tot warst.

Du hattest Mitleid mit dem Feuerwehrmann, du wolltest deine Mutter trösten und deine Freundin Tina, und du hast sogar Verständnis für den Mann gezeigt, der dich getötet hat.

Du warst böse auf den Freund deiner Freundin, aber dennoch kam bei dir Mitgefühl auf, als er traurig schaute.

Auch du, Martha, hast dich liebevoll um deinen Mann gesorgt, hast deiner Schwester und Geschäftspartnerin beigestanden und hast dich liebevoll um Marie gekümmert.

Und darum seid ihr bei mir richtig. Es wird euch hier gefallen.

Aber irgendwann werdet auch ihr wieder gehen wollen, so wie auch die Marie in dem Märchen. Ihr werdet euch eine Familie suchen, in die ihr hineingeboren werden möchtet. Aber das ist noch lange hin.

Es ist jedoch gar nicht mehr so lange, dann darfst du dein Mütterlein abholen und sie zu uns bringen. Dein Vater hat sich bereits einen neuen Körper für seine Seele gesucht. Aber ihr wird es trotzdem hier gefallen. Du wirst es sehen.

Ich werde deinen Mann, Martha, und deine Freundin, Marie, miteinander bekanntmachen. Was sie daraus machen, das ist deren Sache, aber vielleicht werden sie ja Freunde. “

Ja, das fanden die beiden gut.

„Ich wohne unter der Erde und schicke die Pflanzen und die Tiere auf die Erde. Die Würmer und die Rosen, die Bäume und die Brennnessel und alles andere. Damit die Menschen es gut haben, mache ich die Erde gut.

In früher Zeit, da wussten die Menschen, dass unsere Erde viele Schätze birgt, und sie wussten auch, dass man sorgsam damit umgehen muss. Ich sorge dafür, dass der Kreislauf in der Vegetation stimmt. Ich habe viele Helfer, die aber von den Menschen nicht gesehen werden. Außer von kleinen Kindern und wenigen Heilern oder Schamanen.

Die Menschen in der heutigen Zeit machen es mir manchmal sehr schwer. Ich schicke ein gesundes Heilkraut hinauf, und schon ist Gift da, das es wieder sterben lässt. Früher war vieles besser. Da wurden noch die Kühe im Winter mit in die Häuser genommen. Alle lebten miteinander, und alle wurden satt.

Heute essen die Menschen in Übermengen und auch noch schlechte Sachen, die ich nicht gemacht habe.

Sie trinken sogar den Kuhbabys die Milch weg, weil sie denken, es macht sie stark. Dabei habe ich doch alle so gemacht, dass sie ihre Nachkommen selbst versorgen können. In früheren Zeiten hat eine Mutter ihre eigene Milch den Kindern gegeben. Es könnte heute auch noch so sein, aber es ist ja weit aus bequemer, fremde Milch in eine Flasche zu geben. Und dann wundern sie sich, dass es in der heutigen Zeit Krankheiten gibt, die man früher gar nicht kannte. War damals mal etwas nicht in Ordnung in einem Körper, dann gab es auch ein Kräutlein, dass da helfen konnte. Die meisten Krankheiten machen sich die Menschen selber.

Irgendwann, da haben sie sich selbst zerstört, und ich kann wieder ganz neu anfangen. Ob ich den Menschen da wieder eine Intelligenz geben würde? Na ja, mal sehen.

Nun kommt mit, ich zeige euch mein Erdreich und all die anderen, die hier bei mir sind.

Dort ist ein Holunder. Das ist der Busch der Holle. Dort können wir hinein.“

Martha wollte wissen, ob sie denn nun nie mehr auf die Erde dürften, aber die Holle beruhigte sie.

„Und was müssen wir nun hier machen?“, fragte Marie.

„Ihr dürft alles tun, was euch glücklich macht. Was euch traurig macht, das ist nicht mehr für euch sichtbar. Ihr werdet als kleine Elfen in Glockenblumen spielen können. So klein, dass kein menschliches Auge euch sieht. Vielleicht mal ein kleines Kind, aber kein Erwachsener. Oder ihr fliegt mit dem Wind durch die Lüfte. Ihr werdet schon sehen.

Ihr könnt auch nach euren Lieben auf der Erde schauen, aber es wird euch nach einiger Zeit nicht mehr gefallen, weil sie euch nicht sehen und hören können. Aber wenn sie nach euch rufen, dann geht nur hin.

3.

Wieder und wieder schaute Tina die DVD vom letzten gemeinsamen Urlaub mit Marie an. Wie lebendig sie doch war! Noch immer konnte Tina es nicht glauben. Sechs Wochen sind es her. Sechs Wochen ohne Marie.

Marie, wo bist du nur? Wenn ich bloß wüsste, dass es dir gut geht.

Ein großes Foto von ihr stand auf ihrem Nachtschrank. Oft ging sie Frau Heidemann besuchen. Maries Mutter fand Trost bei einem älteren Priester. Dieser war Holländer und hatte immer die richtigen Worte des Trosts. Vielleicht sollte Tina auch mal zu ihm gehen. Auch wenn sie nicht zu seiner Gemeinde gehörte, so wusste sie, dass er auch Menschen hilft, die er noch nie gesehen hat.

Fast jeden Abend hatte sie mit Marie telefoniert. Sie sahen sich auch täglich bei der Arbeit, aber es gab soviel Privates zu bequatschen.

Marie hatte bis zu ihrem Tod in Roderstadt gewohnt, 55 km entfernt von Negnil. Tina wohnte hier schon seit zwei Jahren. Damals war sie zu Markus gezogen, und die beiden hatten sich dann eine größere und doch günstige Wohnung gemietet. Sicher, der Weg zur Arbeit war weit, aber die Liebe lässt alle Wege kurz werden.

Markus war ein schöner Mann, so gut gebaut und so liebevoll. Ein richtiger Frauenversteher.

Das fand wohl auch seine Nachbarin Katrin. Dass die beiden eine Liaison hatten, das hatte Tina nicht gewusst und wohl auch nicht sehen wollen.

Eines Tages war sie mit Marie zum Schoppen verabredet. Sie gingen in ein wundervolles Schuhgeschäft und Tina probierte ein paar schwarze high heels an. Sie bückte sich und – ratsch! Der enge Rock platzte an der Seite auf. Peinlich! Marie lachte laut.

„Oh nein“, sagte sie, „das kann doch nicht sein. Das kann doch nur dir passieren! Wie kann man nur solch piekfeine Sachen beim Schoppen tragen.“

Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Es nützte nichts. Sie mussten nach Hause fahren, damit Marie sich umziehen konnte. Tina duckte sich hinter einem Regal, während Marie ihr, immer noch lachend, eine Einkaufstüte zum Verstecken des Risses holte. Die Schuhe mussten warten.

Zu Hause angekommen blieb Marie im Auto sitzen, da gerade ein schönes Lied im Radio lief.

Verträumt lehnte sie sich zurück und summte mit: „Nights in white satin.....“, während Tina hastig im Haus verschwand. Kreidebleich und schwankend kam sie zurück.

Sie stammelte irgendwas und Marie wusste nicht, was ihre beste Freundin dort so Schockierendes gesehen hatte. Und schon kam die Aufklärung: Diese Katrin von nebenan kam aus dem Haus und knöpfte sich ihre Bluse zu. Dann tauchte Markus in der Tür auf und lief mit erhobenen Händen auf Tina zu und meinte, dass doch alles nicht so wäre wie es nun aussähe.

Tina schlug ihm ins Gesicht und schrie, dass er verschwinden solle. Sie wollte ihn nie wiedersehen.

Sie stieg zu Marie ins Auto und endlich kamen die Tränen. So ein Schuft!  Marie schlug vor, dass Tina mit zu ihr kommen sollte, aber so einfach würde sie das Feld nicht räumen. So ein gemeiner Kerl!

Nach einiger Zeit gingen die beiden Frauen dann ins Haus und gossen sich erst mal einen Cognac ein. Im Magen breitete sich sofort eine wohlige Wärme aus. Marie sagte zu Tina, dass sie diesen Windhund noch nie leiden konnte. Aber das war kein Trost. Sie liebte Markus und diese Situation tat so weh. Er stand nun in der Tür wie ein begossener Pudel und bat Marie zu gehen.

„Marie bleibt!“, schrie Tina und putzte ihre rote Nase.

„Du gehst!“

„Tina bitte. Lass uns doch reden. Ich weiß ja, dass es ein Fehler war. Es war ja nur einmal und es tut mir so leid. Sie hat mich völlig überrumpelt. Bitte Tina.“

Marie zog es vor zu gehen. Sie merkte, hier war sie im Weg. Sie sagte Tina, dass sie am Abend anrufen würde, und sie zu jeder Zeit bei ihr willkommen wäre.

Die beiden Frauen umarmten sich innig, und Marie fuhr los. Am liebsten hätte sie dem Blödmann eine runtergehauen, aber es war gut, dass sie es nicht getan hatte. Dieses musste Tina alleine entscheiden. Und wie sie entschied, das war dann für Marie okay.

Als sie am Abend anrief, hatte Tina noch einige Cognac auf und lallte, dass der Fremdgänger im Wohnzimmer auf dem Sofa liege und sie im Bett. Nie mehr würde sie mit ihm reden. Nie!

Aber dennoch war am nächsten Tag eine Aussprache. Tina ging es sehr schlecht. Entweder vom Alkohol oder von dem Anblick der Sexpraktiken. Sie wusste es nicht.

Markus versprach hoch und heilig, dass er diese Frau nie wiedersehen wolle. Er würde doch nur Tina lieben und dass er mit ihr alt werden möchte.

Nur zu gern wollte sie dieses glauben, aber sauer war sie noch immer. Am Abend musste er wieder aufs Sofa. Aber er war noch da, und das wunderte sie selber.

Tina bat Marie, die zwei Mal angerufen hatte, sie doch bitte bei der Arbeit krank zu melden. So konnte sie unmöglich die Kunden bedienen. Markus ging zu seiner Arbeit, und Tina konnte sich ganz ihrem Selbstmitleid hingeben. Sie saß stundenlang am Fenster und grübelte über ihre Zukunft nach. Wie gerne würde sie Markus verzeihen. Wie gerne!

Und dann sah sie plötzlich die Ursache des ganzen Übels aus dem Nachbarhaus kommen. Diese widerliche Person, die ihr ganzes Glück zerstören wollte.

Tina stürzte aus dem Haus auf die erschrockene Frau zu.

„Kannst du dir keinen eigenen Kerl suchen!“, schrie sie.

„Wage dich bloß nie mehr in die Nähe meines Markus. Verschwinde von hier. Du hast mein Leben zerstört. Markus will nie wieder was von dir hören!“

Diese Katrin schaute betreten zu Boden und meinte: „Das wird schlecht machbar sein. Ich bin im 3. Monat schwanger. Markus ist der Vater.“

Da sackte Tina der Boden unter den Füßen weg.

Markus zog noch am gleichen Tag aus. Er hatte mit Tina kein Wort mehr gewechselt. Anscheinend wusste er schon alles von Katrin. Er holte am Abend seine Sachen und kam nie wieder.

Vier Wochen später sind sie dann aus Negnil weggezogen, hatten gute Bekannte Tina erzählt. Aber ihr war es egal. Es tat so weh!

Zuerst wollte Tina wieder nach Roderstadt ziehen, aber sie hatte die Wohnung so hübsch eingerichtet, und hatte dort eine wundervolle Kräuterküche. Es gab hier wunderschöne Wiesen, und die Heilkräuter sammelte sie im Morgentau. Sie verarbeitete sie zu Tees oder Salben. In ihrem kleinen Garten wuchsen Salbei und Thymian, Ringelblumen und Kapuzinerkresse und so vieles mehr.

Viele Leute kamen zu ihr, wenn sie etwas für ihre Gesundheit benötigten. Geld nahm sie nicht dafür. Sie bat die Leute, ihr kleine Tiegel und Fläschchen zu bringen. Das taten sie gern und brachten ihr Marmelade, Honig, Kuchen oder selbstgebackenes Brot. Alles hätte so schön sein können.

Noch schlimmer als der Betrug von Markus war aber der Tod von Marie.

Sie, Tina Braune, 42 Jahre alt, war ein Verlierer. Sie verlor immer alles.

Am besten ist es wohl, wenn man kein großes Glück mehr erlebt. Je höher man steigt, umso tiefer fällt man dann, dachte sie.

 Tina hatte Stiefmütterchen gekauft, die sie auf das Grab ihrer  verstorbenen Freundin pflanzen wollte. Blaue und gelbe hatte sie ausgesucht. Die kleinen Gesichter der Blüten schauten sie an.

Sie streichelte sie und sagte: „Wir fahren zu Marie. Sie wird sich sehr freuen, denn ihr seid wunderschön. Und dann fahre ich zu Frau Heidemann. Es wird ein langer Tag.“

Sie packte eine kleine Schaufel und eine Harke zu den Blumen ins Auto. Eine Kerze hatte sie auch gekauft, und einen kleinen Kranz aus Gundermann, anderen Wildkräutern und Gänseblümchen hatte sie gebunden. Frau Heidemann hatte ein Kreuz mit Maries Namen darauf bestellt. Ob es wohl schon da war? Dann würde sie den Kranz über das Kreuz hängen.

Als Tina in Roderstadt ankam, kam sie an der Orchideengärtnerei vorbei, in der sie und Marie gearbeitet hatten. Nach Maries Tod hatte sie gekündigt, denn sie konnte dort nicht mehr sein und wusste, dass jede Orchidee eine Züchtung von Marie war. Manchmal waren die beiden Freundinnen sogar zusammen im Treibhaus und hatten pikiert oder getopft. Diese Arbeit von Marie hätte Tina auch weiter machen können, hatte ihr der Chef, Herr Kisten, angeboten. Er sah auch selber ein, dass sie mit dem verheulten Gesicht nicht hinter der Verkaufstheke stehen konnte.

Aber Tina konnte hier nicht mehr sein. Sie war zum Arbeitsamt gegangen und hatte sich arbeitslos gemeldet. Ihr Chef war so freundlich und hatte ihr eine Kündigung gegeben, so dass sie sofort Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte.

Tja, dachte sie, schon wieder etwas verloren. Aber sie hatte das Angebot, zu jeder Zeit wieder anfangen zu können. Für Tina einen Ersatz zu bekommen, war nicht so schwer. Wenn jemand Blumen liebt und ein Händchen dafür hat, dann macht es Freude, und die Arbeit ist schnell erlernbar. Aber Marie im Labor zu ersetzen, das war sehr schwer. Sie hatte selbst einen Nährboden entwickelt, und jeder Same ging auf.

Sie bestäubte die Mutterpflanzen mit soviel Liebe, als wären es ihre Kinder, die hier auf die Welt kommen sollten.

Vor ein paar Monaten hatte Tina versehentlich eine Mutterpflanze verkauft. Marie hatte sonst immer ein Schild an ihren Prachtexemplaren angebracht. Aber hier hatte sie es vergessen. Gott sei Dank kannte Tina die Kundin und holte die wertvolle Pflanze, die schon viele Samen gebildet hatte, wieder. Noch am Tag vor Maries Tod hatten die beiden herzlich darüber gelacht.

 Beim Anblick ihres Blumenladens kamen ihr schon wieder die Tränen.

Leise sang sie vor sich her: „All kinds of everything reminds me of you“. Sie schnäuzte sich die Nase und wischte sich die Augen. Immer dieses Heulen. Schluss damit! Jammern bringt sowieso nichts.

Buddha sagt: „Verweile nicht in der Vergangenheit, träume nicht von der Zukunft. Konzentriere dich auf den gegenwärtigen Moment.“

Jawoll, das wollte sie nun auch tun.

Als sie beim Friedhof ankam, bekam sie einen guten Parkplatz direkt neben dem schönen schmiedeeisernen Tor. Gut, dann brauchte sie wenigstens nicht so weit zu laufen mit ihrer Kiste mit den Stiefmütterchen darin.

Sie stellte alles auf den Bürgersteig, was sie zum Grab mitnehmen wollte, schloss ihr Auto ab und ging die Wege durch die gepflegten Gräber entlang. Schon von weitem sah sie den Baum, wo sich das Grab ihrer allerbesten Freundin befand.

Erstaunt stellte sie fest, dass ein Mann bei Maries Grab am Arbeiten war. Er trug einen dunklen Mantel und hatte dunkles, schütteres Haar. Aber als sie näher kam sah sie, dass er bei dem Grab neben dem von Marie beschäftigt war.

Sie sagte: „Guten Tag“ zu dem Mann, aber der reagierte nicht.

Auch gut, dachte Tina, dann eben nicht. Das Kreuz mit Maries Namen war bereits da. Wunderschön sah es aus.

4.

Tina ging zurück zu dem Grab und sah, dass der Mann, der bei dem Nachbargrab war, zwei Gießkannen vor dem Grab stehen hatte. Er drapierte gerade einen großen Blumenstrauß in einer silbernen Vase.

Tina fragte ihn höflich, ob sie wohl eine Kanne nehmen dürfe, denn es sei keine an dem Haken bei den Wasserhähnen.

„Nein!“ Das war das einzige, was der Mann ihr in einem frechen Ton ins Gesicht schleuderte.

Marie blieb die Luft weg. Das war ja wohl die Höhe! Die Kannen waren Eigentum des Friedhofs und nicht seine. Der konnte doch nicht einfach zwei nehmen, und sie hatte keine!

Tina wurde sauer.

In dem selben Ton wie der von ihm blaffte sie: „Sie haben zwei Wasserkannen und ich keine. Was bilden Sie sich ein?“

Sie ging zu einer gefüllten Plastikkanne und nahm sie ihm einfach weg.

Zunächst bemerkte es der Mann gar nicht. Er war wohl in Gedanken vertieft.

Aber als er aufschaute schrie er: „Das ist ja eine Frechheit! Sofort geben Sie mir das Wasser!“

Tina goss einfach weiter.

Der Mann im schwarzen Mantel kam mit einem Satz auf sie zu und schubste heftig gegen ihre Schulter. Sie stolperte über die Grabeinfassung, schlug mit dem Knöchel auf die spitze Kante und fiel auf den Weg vor Maries Grab.

Die Gießkanne flog auf das Grab, und das Wasser spritzte auf Tinas Blazer.

Der Mann nahm die leeren Kannen und ging noch mal Wasser holen, ohne Tina aufzuhelfen. Sie rappelte sich hoch, und ein bestialischer Schmerz durchzuckte ihren Fuß. Sie setzte sich auf die Grabumrandung und Tränen stiegen ihr in die Augen. Es tat so weh!

Vorsichtig zog sie ihre Sandale aus und dann das dünne Söckchen. Der Mann war mittlerweile zurückgekommen und ignorierte Tina. Endlich waren Schuh und Socke aus. Ein Seufzer des Entsetzens kam Tina über die Lippen.

Ihr Fuß war ein einziger Klumpen und feuerrot! Am Knöchel blutete es. Nun wurde der Mann auf den geschwollenen Fuß aufmerksam und begriff endlich, was er da angerichtet hatte.

„Das habe ich nicht gewollt“, stammelte er. „Bitte verzeihen Sie.“

Tina wollte aufstehen, denn dass dieser arrogante Typ nun auch noch auf sie herab blickte, das war zu viel.

Er wollte ihr helfen, aber Tina zischte: „Wehe, Sie fassen mich an, Sie Verbrecher! Gleich schlagen Sie mir auch noch die Harke über den Schädel!“

Das Aufstehen ging nicht, und sie jammerte und stöhnte vor Schmerz. So sitzenbleiben konnte sie auch nicht. Tina war völlig verzweifelt. Nicht mal ein Taschentuch hatte sie.

Der Mann bemerkte dieses und gab ihr ein weißes Stofftaschentuch. Tina schnäuzte sich sofort die Nase und wischte sich die Tränen ab. Was sollte sie bloß tun? Das Telefon lag im Auto. Aber wen sollte sie denn auch anrufen? Vielleicht ihren ehemaligen Chef?

Der Mann sagte nun leise zu Tina: „Mein Name ist Peter Weber. Ich bin Arzt. Bitte lassen Sie mich doch nach Ihrem Fuß sehen. Bitte!“

„Arzt? Sie sind Arzt? Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ärzte heilen, aber sie verletzen doch nicht!“

Aber was blieb ihr schon übrig? Widerwillig und ganz vorsichtig streckte sie ihm den geschwollenen Fuß hin. Und erneut durchzuckte sie ein schneidender Schmerz.

„Ich werde einen Krankenwagen rufen. Er muss geröntgt werden. Ich vermute, Ihr Außenknöchel ist gebrochen.“

Tina schaute ihn mit offenen Mund an. Krankenwagen?

„Nein“, sagte sie. „Das geht nicht. Ich muss das hier noch fertig machen.“

Sie zeigte auf die Kerze und die Blumen.

„Und ich muss mir eine Gießkanne holen, sonst können die Blumen nicht anwachsen. Danach muss ich zu der Mutter meiner verstorbenen Freundin.“

Tina schluchzte bitterlich. „Gehen Sie weg! Lassen Sie mich in Ruhe!“

Sie wollte ihre Sandale wieder anziehen, aber die passte nicht mehr.

Tina verzweifelte immer mehr.

„Was soll ich denn bloß tun? Wie komme ich zu meinem  Auto?“, fragte sie sich selber. Der Mann im dunklen Mantel fuhr sich nervös durchs Haar. 

„Sie können mit dem Fuß kein Auto fahren. Bitte lassen Sie sich doch helfen.“

Tina sah ein, dass es keinen anderen Ausweg gab. Sie nickte unter Tränen, und der Mann holte sein Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer.

„Hallo Andreas,“ sagte er, „schicke mir bitte einen Rettungswagen. Wenn es geht, dann komme auch mit. Ich habe etwas Schlimmes getan. Ich habe eine Frau verletzt. Bitte hilf mir. Ja. Ja. Ich erkläre es dir nachher. Auf dem Friedhof. Bitte kommt zum Grab meiner Frau. Nein, sie kann nicht laufen. Ich denke, es ist eine distale Fibulafraktur. Ja, gut. Ich danke dir. Bis gleich.“

Er nahm die Gießkannen und stellte sie vor Maries Grab.

„Ich werde Ihren Blumen reichlich Wasser geben und auch die Kerze anzünden. Wir müssen das Bein hochlagern.“

Er zog seinen Mantel aus und wickelte ihn dann umständlich um Tinas Blumenkiste.

„Versuchen Sie, das Bein dort hinauf zu bekommen.“

Aber es war, als ob jemand mit einem Messer in den Fuß stach. Es ging nicht, obwohl sie sich die größte Mühe gab.

In der Ferne hörten sie nun schon die Sirene des Krankenwagens.

5.

Als die Sanitäter mit einer Krankenliege den Friedhof betraten, folgten die Besucher des Friedhofs den Männern. Tina sah die Prozession, und ihr wurde fast schlecht.

Und dann sah sie ihn: Ein Bild von einem Mann! Der Wahnsinn!

Schnell bemerkte sie, dass er der Arzt war, mit dem der Verursacher des Schlamassels telefoniert hatte. Er kniete sich vor Tina und ihr Herz schlug so laut, dass er es bestimmt hören musste. Sie hätte sich am liebsten in seine Arme gelegt, aber das ging natürlich nicht.

Eine Passantin sagte: „Oh Gott, was ist denn bloß passiert? Und so was auf dem Friedhof!“ Tina platzte fast der Kragen.

„Ja, stellen Sie sich mal vor,“ zischte sie, „ich bin umgeknickt und habe einen dicken Fuß. Schade, dass nicht mehr passiert ist. Machen Sie doch gerne ein Foto, dann haben Sie beim nächsten Kaffeekränzchen was zum Zeigen. Und lassen Sie doch bitte das Kind da hinten nach vorne. Es sieht ja gar nichts!“

Der göttliche Notarzt lächelte und zeigte ihr seine makellosen, weißen Zähne. Ist der Mann schön, dachte Tina.

Die Menge löste sich schnell auf. War ja nichts Schlimmes geschehen, und man wollte ja auch nicht neugierig erscheinen.

Der Notarzt stellte sich nun vor: „Mein Name ist Dr. Andreas Bergheim, und ich bin Orthopäde im Klinikum Roderstadt. Dr. Weber hatte mich angerufen. Ich schaue mir Ihren Knöchel nun mal an.“ Seine Hände fühlten sich wunderbar kühl an auf ihrem heißen Fuß.

„Tja“, meinte er stirnrunzelnd, „das sieht gar nicht gut aus. Wir müssen Sie mitnehmen und röntgen, da geht kein Weg dran vorbei. Ich gebe Ihnen nun erst mal ein Schmerzmittel und Dr. Weber kühlt den Fuß.“

Er drückte dem ratlos dreinschauenden Mann einen Gelverband in die Hand, die dieser vorsichtig um Tinas Fuß legte. Sie wollte das Bein schon zurückziehen, aber der Schmerz hinderte sie daran. Sofort wurden durch die Kühle die Schmerzen etwas besser. Dr. Bergheim zog eine Spritze auf und schob sanft ihren Rock hoch.

„Es piekst jetzt ein wenig“, sagte er, aber die Spritze merkte sie kaum. Diese Hände! Sie würde sich hundert Spritzen von ihm geben lassen und sich tausend Mal von ihm den Rock hoch schieben lassen.

Die Liege wurde auf den Boden gelassen, und Tina wurde von den Sanitätern vorsichtig darauf gelegt. Ihr Fuß wurde hochgelagert und umwickelt.

Nun erst konnte Tina wieder reden: „Ich kann nicht mitkommen. Ich muss zu Frau Heidemann. Sie wartet auf mich. Und dann.... Mein Auto steht doch noch hier.“

Tina fing wieder zu weinen an. Sie schnäuzte erneut in das Taschentuch von Dr. Weber, der ihr sagte, dass er alles erledigen würde. Er wechselte noch ein paar Worte mit seinem Kollegen und dann brachten die Sanitäter sie zum Krankenwagen. Der Schmerz war nun auszuhalten.

Tina hoffte sehr, dass der Adonis auch mitfahren würde. Aber er bat sie, ihm ihre Autoschlüssel zu geben, weil er den Wagen vor der Klinik abstellen würde.

Das war eine gute Idee, dachte Tina, gab ihm die Schlüssel und richtete sich etwas auf, um ihm ihren Kleinwagen zu zeigen.

„Okay“, meinte er, „das kriegen wir hin. Wir sehen uns dann gleich.“

Er tippte Tina auf die Nasenspitze. Es durchströmte sie wieder ein wohliges Kribbeln. Er würde in ihrem Auto sitzen. Wow! 

Im Krankenwagen maß einer der Sanitäter Tinas Blutdruck. Er sagte ihr, dass er sehr hoch sei, was aber bei der Aufregung kein Wunder wäre.

Als sie das Krankenhaus erreichten, fuhren sie in den Keller, und eine Schwester erwartete sie bereits. Tina wurde durch den kalten Flur zum Fahrstuhl gerollt und in die Notaufnahme gefahren.

Die Schwester war sehr freundlich und fragte Tina, ob sie ihre Versichertenkarte dabei habe. Hatte sie natürlich nicht, denn alles lag ja im Auto. Sie fragte dann nach ihrem Namen und dem Geburtsdatum und Tina sagte es ihr. Dann fragte sie nach Krankheiten. Ob sie Medikamente nehme, ob sie rauche oder Alkohol trinke und ob sie im letzten halben Jahr geröntgt wurde. Tina konnte alles verneinen.

Auf die Frage, ob sie schwanger sei, musste sie lächeln. Was hatte das denn wohl mit dem gebrochenen Fuß zu tun? Aber Schwester Anna sagte ihr, dass es Probleme wegen dem Röntgen geben könne, wenn sie schwanger wäre.

Nein, schwanger war sie definitiv nicht und würde sie auch nicht mehr werden. Sie war doch schon 42 Jahre alt. Und von wem denn auch?

Ihr wurde nun der Verband abgenommen, und ihr dicker Fuß wurde auf eine Platte platziert. Drei mal wurde er geröntgt und Tina war froh, dass es vorüber war und sie den Fuß wieder in eine Position bringen konnte, die ein wenig angenehmer für sie war.

„Wann haben Sie zuletzt etwas gegessen?“, fragte Schwester Anna Tina nun. Jetzt wurde ihr klar, dass sie hungrig war.

„Heute früh nur einen Zwieback und 2 Becher Kaffee. Ich war den ganzen Tag im Stress. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie das fragen.“ Die Schwester lächelte und meinte, dass sie dafür sorgen würde, und sie gleich etwas zum Essen bekäme.

„Kann das so wieder zusammen wachsen?“, fragte Tina.

„Es kommt gleich Dr. Bergheim und bespricht alles mit Ihnen.“

„Würde er mich dann operieren, wenn es sein muss?“, fragte Tina erwartungsvoll.

Die Schwester nickte.

„Das denke ich mal. Sonst hätte er einen anderen Arzt geschickt. Dr. Bergheim ist ein sehr guter Arzt. Sie sind bei ihm in den besten Händen“.

Ja. Das war sie mit Sicherheit.

„Nun muss er wegen mir Überstunden machen, was? Seine Frau wird sich dafür bedanken.“

„Nein, nein. Der hat noch lange keinen Feierabend. Und eine Frau hat er auch nicht. Also haben Sie bloß kein schlechtes Gewissen.“

Perfekt! Das hatte sie wissen wollen. Er war Single, und sie schenkte Schwester Anna ein freundliches Lächeln. Alles war schon nicht mehr so schlimm.

Und dann kam er auch schon hereingeweht. Mit offenem Kittel und fantastisch gekleidet. Er hatte ihre Handtasche aus dem Wagen mitgebracht und gab ihr auch den Autoschlüssel.

„Alles zur vollsten Zufriedenheit erledigt, gnädige Frau“, sagte er und schaute auf den Fuß.

Tina bedankte sich und steckte die Schlüssel in die Handtasche.

„Oh, oh, oh“, meinte er dann, „da hat der Herr Chefarzt aber ganze Sache gemacht. Haben Sie schon jemandem erzählt, wie es heute zu dem Unfall gekommen ist?“, fragte er sie.

„Nein“, meinte sie, „es hat mich noch niemand danach gefragt. Wieso?“

„Wenn Sie mir persönlich einen dicken Gefallen tun wollen, dann sagen Sie es nicht. Dr. Weber hat viel zu verlieren und ist über den Tod seiner Frau immer noch nicht hinweggekommen. Er wird für alles aufkommen, das kann ich Ihnen versprechen.“

Tina schaute ihn von unten her an. Hatte der Augen! Natürlich würde sie ihm jeden Gefallen tun. Er war ja auch nicht schuld. „Nein, ich werde sagen, ich sei auf die Kante der Grabeinfassung gestürzt. Bin ich ja auch irgendwie. Es wurde nur ein wenig nachgeholfen. Na ja, ein wenig ist untertrieben. Bringen Sie das wieder in Ordnung?“

Er streichelte ihr Knie.

„Ja, ich werde alles tun, damit Sie später Marathon laufen können.“

„Huch“, meinte Tina mit einem verschmitzten Lächeln, „Sie können Wunder vollbringen? Das konnte ich vorher nicht.“

Sie öffnete ihre Handtasche und gab Dr. Bergheim ihre Krankenversichertenkarte.

„Die wollte Schwester Anna von mir haben. Können Sie sie ihr geben?“

„Klar, mache ich gleich. Oh, da kommt sie ja. Hier Anna, die KV-Karte von Frau Braune. Und informiere bitte Stefan, dass er ihr die Gipsschiene anlegt. Danach kommt sie auf die Privatstation.“

Schwester Anna schaute auf die Versichertenkarte und fragte, ob sie wirklich auf die Private solle. Der Arzt nickte ihr zu, und sie ging in das Nebenzimmer.

„Bekomme ich nun einen Gips?“, fragte Tina erwartungsvoll. Dr. Bergheim nickte.

„Ja, das wird sich wohl nicht vermeiden lassen.“

„Nein, nein“, meinte Tina, „ich freue mich ja darüber. So brauche ich wenigstens nicht operiert werden. Das ist doch super, wenn es im Gips wieder heilt.“

Betreten schaute Dr. Bergheim nun zu Boden.

„Das wäre schön. Aber wir werden wohl um eine OP nicht herum kommen.

Der Knöchel ist völlig zertrümmert. Wir müssen ihn mit Draht und Schrauben wieder herrichten, damit er wieder zusammenwachsen kann. Dieses wird dann später wieder entfernt.“

„Und warum operieren Sie nicht jetzt, bevor ich den Gips bekomme?“ fragte Tina.

„Das täte ich ja gerne, aber die Schwellung ist zu stark. Wir müssen erst mal sehen, dass der Fuß wieder ein Fuß ist und kein Fußball. Bitte vertrauen Sie mir. Ich mache alles so, dass es für Sie gut ist. Vertrauen Sie mir?“ Tina nickte.

„Ja“, hauchte sie, „bedingungslos.“

Wieder ein anderer Mann im weißen Kittel erschien und nahm sie mit. Er stellte sich als Stefan Luger vor und meinte, dass er ihr zartes Füßchen mit einer Schiene verzieren  würde. Wie witzig, dachte Tina und sagte kein Wort.

„Wie ist denn das passiert?“, fragte er nun.

„Sie waren wohl vor den hübschen Männern auf der Flucht und sind dabei gestürzt. Hahahahaha.“

„Nein“, meinte Tina, „so war es nicht. Ich habe einen Mann, der blöde Kacke geredet hat, in den Hintern getreten und bin stecken geblieben!“

So ein Blödmann! Aber anstatt nun die Klappe zu halten, lachte er erst recht los. Tina schnaufte wie ein Drache. Als er fertig war, fragte er sie, ob er noch ein Schleifchen drum machen solle.

Sie sagte ihm: „Wenn Sie nun noch ein Wort zu mir sagen, dann trete ich Ihnen mit dem gesunden Fuß sonst wo hin.“

Und wieder fing er schallend an zu lachen.

„Dann müssen wir den ja auch wieder eingipsen, wenn Sie richtig treffen!“

Endlich kam die Schwester wieder und holte sie ab. Tina fragte sie, was das denn für einer wäre. Es sei ja kaum auszuhalten mit dem.

„Ja“, lachte diese, „Stefan ist etwas speziell. Aber er ist ein ganz netter. Er will mit seinen coolen Sprüchen die Schmerzen der Patienten übertünchen.“

„Stimmt“, meinte Tina nun, „an meine Schmerzen habe ich gar nicht mehr gedacht. Hab mich nur über den aufgeregt.“

Nun war sie wieder besänftigt.

Tina wurde auf ihr Zimmer gebracht. Es war ein sehr schöner Raum mit Blick auf den Park. Zwei Krankenpfleger hoben sie von ihrer Liege in ein weiches, wohliges Bett. Die Bettwäsche hatte ein Muster aus lauter kleinen Wildblüten. Woher wissen die bloß, dass ich so etwas mag?, dachte Tina.

Nun wurde ihr Fuß hoch gelagert, und ihr wurde ein Tropf angelegt.

Eine Schwester kam und fragte sie, ob sie einen Wunsch habe. Ja, den hatte sie. Sie wollte etwas schlafen. Sie war todmüde. Aber vorher wollte sie Maries Mutter anrufen, dass sie in der nächsten Zeit nicht kommen könne.

Sie bat die Schwester, ihr ihre Handtasche zu geben und kramte ihr Notizbuch mit den Telefonnummern hervor. Sie wählte die Nummer und Frau Heidemann war auch sofort dran.

„Tina, ich mach mir schon solche Sorgen!“, sagte sie.

„Was ist denn bloß passiert?“

Tina erzählte ihr die ganze Geschichte und dass sie nun im Krankenhaus sei. Noch während des Telefonats kam eine ältere Schwester herein und stellte auf den Nachttisch ein Tablett mit einer köstlich duftenden Käsesuppe und diversen Brotsorten, drei Sorten Marmelade und Butter. Daneben stand ein Kännchen mit Tee.

Tinas Magen knurrte laut, und sie steckte sich ein Stück Brot in den Mund. Dann schloss sie die Augen. Lecker!

Sie verabschiedete sich von Maries Mutter und versprach, sich bald wieder zu melden.

6.

Dr. Peter Weber war noch auf dem Friedhof geblieben, als Tina mit dem Krankenwagen fortgebracht wurde. Er goss die Stiefmütterchen auf Maries Grab und zündete die Kerze an. Dann ging er zu Marthas Grab und sagte ihr, dass er sie vermissen würde. Das tat er seit ihrem Tod jedes Mal.

Heute fügte er noch leise hinzu: „Du warst mit einem riesigen Rindviech verheiratet. Was ich heute getan habe…

Ich wünschte, du wärst noch da. Bestimmt hättest du einen Weg gewusst.“ Dann brachte er die Kannen weg, packte alles ins Auto und fuhr los.

Ein Berg voller Arbeit wartete auf ihn. Als er dann im Klinikum ankam, fing es leicht zu regnen an. Wenn ich das gewusst hätte, dachte er, dann wäre ich gar nicht zum Friedhof gefahren zum Gießen. Dann wäre das alles gar nicht geschehen. Auf dem Flur vor seinem Sprechzimmer warteten zwei Personen auf ihn. Er ging zu seiner Sekretärin und fragte sie, was die Leute wollten.

„Gut, dass Sie da sind, Chef“, sagte sie.

„Das sind Herr und Frau Meyzer. Er hat einen Tumor im Kopf und will, dass Sie ihn operieren. Sie seien der Beste, hätten sie gehört. Sie würden nicht weggehen, bevor sie sich ihn nicht angeschaut hätten.“ Dr. Weber zog die Augenbrauen hoch.

„Ich operiere den nicht. Wenn eine Operation nötig ist, dann sind hier viele, die es machen können. Was spricht dagegen, dass die anderen drei ihn operieren?“, fragte er erstaunt.

Sie tippte auf ihren Bildschirm.

„Chef, wir sind voll. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazwischen nehmen soll. Wenn wir damit anfangen, dass die Leute sich hier einfach hinsetzen, dann können Ihre Kollegen Tag und Nacht operieren, und es reicht immer noch nicht.

Wo waren Sie denn bloß so lange? Es liegt eine Liste aller Anrufe auf Ihrem Schreibtisch. Bitte rufen Sie zurück. Ich habe es versprochen, denn sie sind alle sehr wichtig. Was soll ich denn nun mit den Leuten da machen? Die gehen nicht weg.“

„Ich kümmere mich darum. Danke Beate. Und noch was: Können Sie mir einen Kaffee besorgen?“

Bea nickte und ging wieder zu ihrem Schreibtisch, wo schon wieder das Telefon klingelte. Immer der gleiche Satz: „Klinikum Roderstadt, Neurologie. Mein Name ist Beate Müller.“

Wie oft hat sie diesen Satz heute schon sagen müssen. Und stets musste sie freundlich sein, denn die Personen, die anrufen, sind fast immer in großer Not.

Sie wusste, dass Dr. Weber ohne sie nicht zurecht kommen würde. Aber es war gut, dass Bea solch eine Arbeit hatte, die ihr Spaß machte und wo sie gutes Geld verdiente. Ihr Mann war seit einem halben Jahr arbeitslos, und sie hatten zwei Kinder, die noch im Schulalter waren.

So, und nun erst mal den Kaffee für den Chef ordern. Der scheint einen nötig zu haben, so wie der ausschaut, dachte sie.

Dr. Weber ging zu den wartenden  Leuten.

„Meine Sekretärin meinte, Sie wollten zu mir? Was gibt es denn?“ Pure Verzweiflung stand in den Gesichtern der jungen Leute.

Die Frau gab ihm eine CD und sagte: „Bitte helfen Sie uns. Mein Mann muss operiert werden. Keiner will es machen. Er wird sterben.“

Dr. Weber schaute auf die CD und meinte: „Ich will mir das Ganze gerne anschauen, aber Sie müssen sich einen Termin geben lassen und zu mir in die Sprechstunde kommen. Das ist der Weg.“ Er wollte in sein Sprechzimmer gehen, aber die Frau hielt ihn am Arm fest.

„Sie müssen uns helfen!“, schrie sie.

Eine Schwester brachte ein Kännchen mit Kaffee, und Bea nahm ihn ihr ab. Sie ging an die aufgebrachten Leute vorbei in das Chefzimmer und stellte das Tablett ab.

Sie sah, dass ihr Chef die Farbe wechselte. Gerade noch war er kreidebleich, und nun hatte sein Gesicht eine tiefrote Farbe. Oh weh, dachte sie, das geht nicht gut. Dr. Weber hatte die Hand schon erhoben, um die junge Frau von sich zu stoßen, aber blitzartig erinnerte er sich an die Situation auf dem Friedhof. Nie wieder würde er sich so vergessen wie heute Mittag. Kommen Sie schon rein“, sagte er barsch.

Sofort gingen die beiden in das Zimmer. Dr. Weber schaute sich die Aufnahme an und sah besorgt auf den Monitor. Das war nicht gut.

Er sagte: „Ihr Tumor sitzt an einer höchst ungünstigen Stelle. Wenn wir ihn entfernen, machen wir mehr kaputt als heile. Die Schmerzen werden wir Ihnen nehmen können. Aber entfernen werden wir ihn nicht. Vielleicht kann er verkapselt werden. Wir müssen sehen. Kommen Sie morgen in die Sprechstunde. Frau Müller soll Ihnen einen Termin geben. Rechnen Sie mit einer langen Wartezeit. Genaues kann ich erst dann sagen. Operieren werde ich sowieso nicht.“ Wieder fasste die junge Frau Dr. Weber am Arm und schüttelte diesen heftig.

„Sie müssen es tun!“ Sie schaute auf seine Kaffeetasse und wollte schon sagen, dass er lieber den Patienten helfen solle, anstatt hier nur Kaffee zu trinken.

Aber Dr. Weber zog seinen Arm zurück und sagte: „Wenn Sie mich noch einmal anfassen, dann können Sie sich einen anderen Arzt suchen!  Ich führe die Behandlung durch, aber ich werde nicht operieren“.

Gut, dass ich nichts gesagt habe von dem Kaffee, dachte Frau Meyzer. Erschrocken gingen die beiden zu Bea, die sich immer noch wunderte, dass ihr Chef die beiden in das Sprechzimmer mitgenommen hatte. Nun sollte sie denen einen Termin geben.

Man kann nur hoffen, dass jemand absagt. Sonst wird es ein langer Tag, dachte sie. Aber wenn er es so will! Wenn dieser gute Arzt doch bloß wieder operieren würde! Alle im Klinikum warteten darauf. Er gab seinen Kollegen zwar alle nötigen Anweisungen, aber er betrat nicht mehr den OP-Raum.

Als Peter Weber vom Schreibtisch aufstand, wurde es schon dunkel. Er knipste das Licht an und ging hinüber zu seinem Kollegen Andreas Bergheim.

„Ich bin noch gar nicht dazu gekommen, dir zu danken wegen der Sache heute Mittag. Ist alles glatt gelaufen mit ihr?“

„Ja, sie liegt auf der Privaten, Zimmer 8. Ich hoffe, dass die Schwellung am Montag weg ist. Dann werde ich sie operieren, und in einer Woche haben wir dann alles hinter uns. Du hast ganze Arbeit vollbracht, mein Freund. Totale Trümmerfraktur! Die Syndesmose ist gerissen.“ Er grinste über das ganze Gesicht.

„Hör mit dem Grinsen auf. Die Sache ist schlimm genug. Ich habe überreagiert,“ sagte Peter. Dr. Bergheim grinste wieder. „Überreagiert? Du hast einen Wutanfall bekommen, weil jemand in das Areal deiner verstorbenen Frau getreten ist.“ Peter schmiss seinem Freund ein hasserfüllten Blick zu. Andy war der Einzige, der so etwas zu ihm sagen durfte. Aber zu weit gehen sollte auch er nicht.

Auf dem Weg zurück in sein Büro überlegte Peter, dass er vielleicht mal bei seinem Opfer vorbeischauen könne.

Er ging zur Privatstation hinüber und blieb vor Zimmer 8 stehen. Sicherlich würde sie wieder ein Donnerwetter loslassen, und das auch noch mit Recht.

Er hatte sich total schofel verhalten, und das hätte jemandem in seiner Position niemals passieren dürfen. Aber nun ist es passiert.

Er klopfte leise an die Tür und trat ein. Er sah, dass sie schlief und trat vorsichtig an ihr Bett. Ihr Fuß war hoch gelagert. Sie trug nur ein T-Shirt. Sicherlich hatte man ihr noch keine Nachtwäsche gebracht. Morgen würde er ihr einen Blumenstrauß kaufen. Ja, das war eine gute Idee, um es wieder gut zu machen. Er legte noch am selben Abend einen Zettel auf Beas Schreibtisch, worauf er geschrieben hatte: Bitte besorgen Sie einen Blumenstrauß und lassen Sie ihn zur Privatstation Zimmer 8 liefern mit einem Vermerk: „Bitte entschuldigen Sie. W.“  Er hatte den Satz leise vor sich hingesprochen, und nun fühlte er sich viel besser.

Als Bea am nächsten Morgen den Zettel sah, schaute sie ihn ratlos an. Was hat Dr. Weber bloß gemacht? Die weibliche Neugier war groß. Sie würde es schon noch raus bekommen und schaute in den Computer, wer auf Zimmer 8 lag. Bettina Braune. Fibulafraktur. Hm...

Ob er sie mit dem Auto angefahren hatte?, überlegte Bea und rief ihre nette Kollegin Irene von der Privaten an, mit der sie lange Zeit zusammen gearbeitet hatte. Sie fragte nach einigen freundlichen Sätzen, wie denn der Unfall bei Frau Braune passiert sei, und ob da ein Fremdverschulden vorlag. Irene schaute nach und verneinte. Sie sei lediglich umgeknickt. Was das wohl bedeutete?

Aber im Moment hatte sie nicht die Zeit zum Nachdenken. Sie rief bei Fa. Kisten an und bestellte zwei Rispen Orchideen. Das war immer passend.

Die Sonne blitzte durch einen Spalt im Vorhang. Tina blinzelte und wusste zunächst nicht, wo sie war. Als sie ihren Fuß nicht bewegen konnte, fiel es ihr schlagartig wieder ein. Sie war im Klinikum Roderstadt.

Sie angelte nach einem Schalter, um Licht zu machen und erreichte die Fernbedienung. Sie drückte irgendwo drauf und hui – die Vorhänge öffneten sich. Nun testete sie auch die anderen Tasten. Das Licht im Vorraum ging an, das Licht ging wieder aus, das Licht im Zimmer ging an, die Jalousien öffneten und schlossen sich, der Fernseher ging an, das Bett fuhr rauf und runter und bei dem roten Knopf kam eine Schwester.

Sie stellte sich vor und schüttelte Tinas Kissen auf. Sie fragte Tina, ob sie nun gewaschen werden möchte. Es wäre noch früh, und sie sei dann zum Frühstück fertig. Das käme um 8 Uhr. Ja, duschen wäre nun gut und Zähne putzen. Sie sagte es der Schwester, aber diese schüttelte ihren Kopf.

„Duschen geht erst mal nicht, aber wir putzen Sie blitzblank.“ Nun fiel Tina ein, dass sie keine Wäsche und Waschzeug hatte. Nichts hatte sie hier, und als sie es der Schwester sagte, meinte diese, dass Tina erst mal Wäsche vom Klinikum erhalten würde. Das war ihr ganz schön peinlich. Die Schwester sagte, sie würde gleich zurückkommen und sie fertig machen.

„Wir kriegen das hin“, sagte sie und verließ das Zimmer.

Vor der Tür stieß sie fast mit Dr. Bergheim zusammen, der gerade erst das Krankenhaus betreten hatte.

„Guten Morgen“, sagte er fröhlich, „gibt es was Neues auf Zimmer 8?“ 

„Ja“, meinte die Schwester, „Frau Braune hat nichts zum Anziehen. Ich hole ihr erst mal hauseigene Wäsche.“ Dr. Bergheim nickte und klopfte an die Zimmertür.

„Guten Morgen, Prinzessin“, meinte er verschmitzt. Tina lachte.

„Prinzessin ist gut. Muffeline wäre richtiger. Ich habe nichts zum Anziehen und Waschen.“

Dr. Bergheim schaute sie an: „Gibt es jemanden, der Ihnen etwas aus Ihrer Wohnung bringen könnte?“ Tina schüttelte den Kopf. Sie kannte zwar eine Menge Leute und mochte diese auch gerne, aber sie wollte sie doch ungern in ihre Wohnung lassen.

„Ich habe vor einigen Tagen die Sachen meiner verstorbenen Freundin zum DRK gebracht. Vielleicht haben sie die ja noch. Die würde ich gerne haben wollen. Ich kann ja dort gleich mal anrufen und fragen, ob die Sachen noch dort sind.“ Dr. Bergheim fasste sich an die Nase.

„Bitte warten Sie einen Moment. Ich habe da eine Idee.“

Der Schwester, die gerade mit einigen Kleidungsstücken auf dem Arm zurück kam, sagte er: „Ja, das ist gut, ziehen Sie ihr zunächst die Sachen an. Wir sehen dann weiter.“

Er zeigte mit dem Zeigefinger auf Tina und sagte: „Ich komme später wieder. Es kann etwas dauern, vielleicht geht es erst heute Nachmittag. Aber ich komme. Schön hierbleiben.“ Tina lächelte ihn mit ihrem schönsten Lächeln an.

„Eigentlich wollte ich ja gleich die Treppe hinaufflitzen, aber wenn Sie mich so nett bitten, dann bleibe ich natürlich hier.“ Beide lachten und Andreas Bergheim ging mit dem Lächeln auf den Lippen in sein Sprechzimmer. Eine tolle Frau!

Dr. Bergheim ging zunächst in die Visite. Dieses dauerte fast 2 Stunden. Danach besprach er alles Wichtige mit seinen Kollegen und der Chefarzt der orthopädischen Chirurgie stellte den OP-Plan für die nächsten drei Tage vor.