Der Abenteurer und die Lady - Julia London - E-Book

Der Abenteurer und die Lady E-Book

Julia London

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Beschreibung

Der Skandal um ihre Familie hält jeden Ehekandidaten fern! Die zauberhafte Miss Prudence Cabot fürchtet, als alte Jungfer zu enden. Aus Verzweiflung beschließt sie, eine weit entfernt lebende Cousine zu besuchen. Doch auf dem Weg dorthin trifft sie einen waghalsigen Amerikaner, der ihr Herz in allergrößte Unruhe versetzt. Roan Matheson ist so ganz anders als die stocksteifen englischen Gentlemen. Er hat breite Schultern, ein freches Lächeln, warme, starke Hände … und küsst so zärtlich und verführerisch! Ein Abenteuer beginnt, das Prudence‘ Ruf für immer zerstören könnte - oder macht es sie vielleicht zur glücklichsten Engländerin auf Erden?

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Seitenzahl: 510

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IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2015 by Dinah Dinwiddie Originaltitel: „The Scoundrel And The Debutante“ erschienen bei: HQN Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 311 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Claudia Heuer

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 02/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733768300

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

Blackwood Hall, 1816

Es galt als eine Art ungeschriebenes Gesetz: Wenn eine junge Dame zweiundzwanzig wurde, ohne dass ein einziger Gentleman auch nur die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, sie zu heiraten, würde sie mit Sicherheit als alte Jungfer enden. Wenn sie allerdings erst einmal als alte Jungfer galt, dann gab es keine Rettung mehr. Sie wurde Gesellschafterin bei einer klapprigen Witwe und musste die restlichen Tage ihres Lebens zusammen mit dieser auf dem Land vertrödeln.

Die vornehme Gesellschaft betrachtete eine junge Dame, die mit zweiundzwanzig noch keine Aussichten hatte, mit größtem Misstrauen. Mit ihr konnte einfach etwas nicht stimmen. Wie hätte es sonst wohl sein können, dass eine junge Frau, die man bei Hofe und in der Gesellschaft ordentlich vorgestellt hatte, die zudem eine Mitgift erwarten konnte und auch über einigermaßen annehmbare Verbindungen verfügte, es nicht geschafft hatte, einen Gentleman für sich zu interessieren? Für so etwas gab es nur drei mögliche Erklärungen.

Sie sah unerträglich gewöhnlich aus.

Sie litt an einer schrecklichen Krankheit.

Oder ihre Aussichten waren von den skandalösen Machenschaften ihrer älteren Schwestern einige Jahre zuvor ruiniert worden. In diesem Fall war sie unwiederbringlich und völlig unten durch.

Miss Prudence Cabot vertrat diese dritte Möglichkeit in einem Gespräch, das nur wenige Tage nach ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag stattfand. Ihre skandalträchtigen älteren Schwestern, Mrs. Honor Easton und Grace Lady Merryton wiesen solche Vorwürfe jedoch entschieden zurück. Sie brachten lautstark Gegenargumente vor, wenn sie nicht gerade die Augen verdrehten oder sich sogar ganz weigerten, über dieses Thema zu sprechen. Die Stimmen der beiden wurden dabei so schrill, und sie veranstalteten ein solches Spektakel, dass Mercy, die jüngste der vier Cabot-Schwestern, sich gezwungen sah, nach ihnen zu pfeifen, als wären sie die unerzogenen Welpen, die sich um Lord Merrytons Stiefel balgten.

Aber ihre Schwestern konnten so lange auf sie einreden, wie sie wollten; Prudence war der festen Überzeugung, dass sie recht hatte. Seit dem Tag vor vier Jahren, als ihr Stiefvater gestorben war, hatten sich ihre Schwestern in ihrem zweifelhaften Verhalten gegenseitig überboten. Honor hatte in aller Öffentlichkeit und noch dazu in einem Spielsalon um die Hand eines stadtbekannten Draufgängers angehalten, der außerdem der Spross einer außerehelichen Verbindung eines Dukes war. Prudence verehrte George, aber das konnte den unweigerlich folgenden Skandal nicht verhindern, und der hatte dem guten Ruf der Cabots einen ersten empfindlichen Schlag versetzt.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatte Grace als Nächstes versucht, einem reichen Erben eine Falle zu stellen, damit er sie heiraten musste und mit seinem Vermögen die Familie vor dem Ruin retten würde. Doch sie hatte es geschafft, den falschen Mann in die Falle zu locken. In ganz London war monatelang von nichts anderem geredet worden. Auch wenn Grace’ Ehemann, Lord Merryton, nicht so kalt war, wie Prudence immer von ihm hatte sagen hören, hatte die Tatsache, dass er jetzt zur Familie gehörte, Prudence’ Aussichten nicht unbedingt verbessert.

Hinzu kam, dass ihre jüngste Schwester Mercy von lebhaftem Charakter war und eine respektlose Art hatte, sodass die Familie ernsthaft darüber nachdachte, sie in ein Internat für höhere Töchter zu schicken, um den Wildfang in ihr zu zähmen.

Prudence hatte in diesem ganzen Schlamassel zwischen allen Stühlen gesessen, gefangen zwischen den Skandalen und dem ungebührlichen Verhalten ihrer drei Schwestern. Es war ermüdend, sie fühlte sich vernachlässigt und ausgenutzt, weil sie alles in allem wie unsichtbar zwischen ihren anderen Schwestern stand – und so ging das bereits ihr ganzes Leben lang.

Das ist nun also der Lohn, sagte sich Prudence, den ich von meinen guten Manieren habe. Sie versuchte, die vernünftige in diesem Rudel unvernünftiger Schwestern zu sein. Stets war sie sich ihrer Verantwortung bewusst, sie hatte ihren Musikunterricht ernst genommen und sich aufopfernd um ihre Mutter und ihren Stiefvater gekümmert, während ihre Schwestern die Gesellschaft unsicher gemacht hatten. Sie hatte alles genau so gehandhabt, wie man es von Debütantinnen erwartete; sie hatte nicht das kleinste bisschen Ärger erregt, und zum Dank dafür war sie jetzt diejenige, die keiner heiraten wollte!

Nun ja, Mercy war wahrscheinlich genauso unvermittelbar, aber das schien sie nicht besonders zu kümmern.

„Unvermittelbar ist in diesem Zusammenhang nicht das richtige Wort“, stellte Mercy fest und rückte ihre Brille zurecht, damit sie Prudence einen tadelnden Blick über deren Rand hinweg zuwerfen konnte.

„Außerdem ist es vollkommener Unsinn“, meinte Grace gereizt. „Warum sagst du so etwas überhaupt, Pru? Bist du wirklich so unglücklich hier in Blackwood Hall? Hat dir denn der Jahrmarkt, den wir für die Pächter veranstaltet haben, gar keinen Spaß gemacht?“

Ein Jahrmarkt! Als ob ein alberner Jahrmarkt ihr in ihrem verzweifelten Zustand helfen würde! Auf diese Bemerkung hin schlug Prudence so heftig in die Tasten des Klaviers, an dem sie gerade saß, dass der dreibeinige Hund, den Grace gerettet und zu sich genommen hatte, vor Schreck einen Sprung machte und auf die Seite purzelte. Prudence fing an, sehr laut das nächste Stück zu spielen, und das tat sie so geschickt, dass die Musik alles übertönte, was Grace oder Mercy noch hätten sagen können.

Nichts, was eine der beiden hinzuzufügen hatte, konnte ihre Meinung jetzt noch ändern.

Später in derselben Woche kam Honor, Prudence’ älteste Schwester, mit ihren drei Kindern und George, ihrem eleganten Ehemann, aus London. Als Honor von den Unstimmigkeiten zwischen den Schwestern hörte, versuchte sie, Prudence davon zu überzeugen, dass noch nicht alles verloren war, auch wenn ihr bisher niemand einen Heiratsantrag gemacht hatte. Vor allem bestand Honor mit großer Entschiedenheit und Überzeugung darauf, dass ihr Verhalten und das ihrer Schwester nicht das Geringste mit Prudence’ Situation zu tun hatte. Dann erinnerte Honor sie auch noch daran, dass Mercy entgegen allen Erwartungen an der berühmten Lisson Grove Kunstakademie aufgenommen worden war, um dort die Alten Meister zu studieren.

„Aber natürlich haben sie mich aufgenommen. Ich bin ziemlich begabt“, stellte Mercy selbstbewusst fest.

„Lord Merryton musste dafür eine ganz hübsche Summe hinblättern, nicht wahr?“ Prudence rümpfte die Nase über den Hochmut ihrer Schwester.

„Nun ja“, musste Grace zugeben. „Aber wenn wir wirklich alle einen so skandalösen Ruf hätten, wie du behauptest, hätten sie sie trotzdem abgelehnt.“

„Sie hätten sich geweigert, Geld von Merryton zu nehmen?“ Prudence lachte spöttisch auf. „Um Gottes willen, es soll sie ja niemand heiraten.“

„Ich muss doch sehr bitten! Willst du etwa damit sagen, dass mein Talent überhaupt keine Rolle gespielt hat?“, wollte Mercy wissen.

„Schluss jetzt!“, befahlen Grace und Prudence wie aus einem Mund. Gekränkt schob Mercy die Brille auf ihrer Nase hoch und stapfte zur Tür hinaus. Ihr über und über mit Farbklecksen übersäter Kittel wehte hinter ihr her.

Doch Grace und Honor achteten kaum auf sie.

Dieser Streit setzte sich noch mehrere Tage lang fort, Prudence war schließlich ganz verzweifelt. „Liebes, du musst einfach daran glauben, dass du einen Antrag bekommst, und wenn es erst so weit ist, dann wunderst du dich nur noch über dich selbst und darüber, dass du wegen irgendwelcher Hirngespinste einen solchen Aufstand gemacht hast“, meinte Honor ein wenig herablassend, als die Schwestern ein paar Tage später beim Frühstück saßen.

„Honor?“, fragte Prudence in ausgesprochen höflichem Ton. „Ich bitte dich inständig – nein, Verzeihung: Ich flehe dich an, jetzt kein Wort mehr zu sagen.“

Honor schnappte nach Luft. Dann stand sie abrupt auf und stürmte derartig erregt und mit solcher Hast an ihr vorbei, dass sie etwas unsanft an Prudence’ Schulter stieß.

„Autsch“, machte Prudence.

„Honor meint es doch nur gut, Pru“, mahnte Grace. „Sie will dir helfen.“

„Ich will wesentlich mehr als das“, sagte Honor streng, die sich jetzt umgedreht hatte und zum Angriff überging. Es sah ihr absolut nicht ähnlich, klein beigebend das Schlachtfeld zu verlassen, wenn ein Streit im Gange war. „Ich bestehe darauf, dass du endlich aufhörst, Trübsal zu blasen, Pru! Es schickt sich nicht und ist außerdem mehr als lästig.“

„Ich blase kein Trübsal“, wehrte sich Prudence.

„Doch, das tust du! Du bist ständig schlecht gelaunt“, maulte Mercy.

„Und launisch“, fügte Grace hinzu.

„Ich sage dir das nur, weil ich deine Schwester bin und dich liebe, Schatz.“ Honor stützte sich auf den Tisch, damit sie Prudence in die Augen sehen konnte. „Du bist wirklich eine Plage!“ Doch sie lächelte dabei und richtete sich sofort wieder auf. „Zufällig habe ich einen Brief von Mrs. Bulworth bekommen; sie fragt, ob du sie besuchen und ihr Baby sehen möchtest. Fahr zu ihr! Sie wird ganz aus dem Häuschen sein vor Freude, und ich glaube, dass die Landluft dir auch nicht gerade schadet.“

Anstelle einer Antwort schnaubte Prudence nur verächtlich angesichts dieses lächerlichen Vorschlags. „Und weshalb, bitte schön, sollte mir Landluft guttun, wenn ich mich bereits auf dem Land befinde?“

„Im Norden ist die Luft doch ganz anders“, versuchte Honor die Sache zu retten. Grace und Mercy nickten mit eiserner Entschlossenheit, um der Schwester recht zu geben.

Prudence hätte ihnen nur zu gern erklärt, dass es das Letzte war, was sie tun wollte: ihre Freundin Cassandra Bulworth zu besuchen, die gerade ihr erstes Kind bekommen hatte. Wenn sie mit ansehen musste, wie glücklich ihre Freundin war, würde Prudence über ihre eigene Lage nur noch unglücklicher sein. „Warum schickt ihr nicht Mercy hin?“

„Mich?“, rief Mercy. „Das geht nicht! Ich habe nur noch ganz wenig Zeit, um mich auf das Studium vorzubereiten. Ich muss mein Stillleben noch fertig malen, das weißt du doch genau. Jeder Schüler an der Akademie muss eine vollständige Mappe haben, und ich habe noch immer kein Stillleben.“

„Und was ist mit Mama?“, wollte Prudence wissen, ohne auf Mercys Widerstand einzugehen. Es war wohl nicht von der Hand zu weisen, dass die Krankheit ihrer Mutter ständige Aufsicht erforderlich machte.

„Ihre Zofe Hannah kümmert sich um sie, und dann haben wir auch noch Mrs. Pettigrew aus dem Dorf“, erinnerte Grace. „Und Mercy ist auch noch da.“

„Ich! Ausgerechnet ich!“, rief Mercy erbost aus. „Ich habe doch gerade gesagt …“

„Ja, ja, wir wissen alles über die Vorbereitungen für die Akademie, an der du unbedingt studieren willst, Mercy. Ganz im Ernst, du führst dich auf, als wärst du der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der jemals eine Akademie besucht. Aber bis du anfängst, hast du noch über einen Monat Zeit; warum solltest du also nicht zumindest ein kleines bisschen Verantwortung für die Familie übernehmen?“, mahnte Grace. Dann wandte sie sich mit einem warmen Lächeln an Prudence. „Pru, wir wollen doch nur dein Bestes. Das ist dir doch wohl hoffentlich klar, oder nicht?“

„Ich glaube dir kein Wort!“, schnappte Prudence. „Und zufällig finde ich euch alle sehr lästig.“

Honor verschränkte erfreut die Hände vor der Brust. „Soll das heißen, dass du fährst?“

„Vielleicht mache ich das wirklich“, schnaubte Prudence. „Wenn ich noch länger in Blackwood Hall bleibe, werde ich vermutlich genauso verrückt wie Mama.“

„Oh, das sind ja fabelhafte Neuigkeiten!“, freute sich Grace.

„Du brauchst jetzt nicht gleich in überschäumende Begeisterung auszubrechen“, sagte Prudence geziert.

„Aber wir freuen uns doch so darüber!“, quietschte Honor. „Ich meine, wir freuen uns doch so für dich“, verbesserte sie sich schnell und eilte um den Tisch herum, um Prudence an sich zu drücken. „Ich glaube, deine Laune wird sich schlagartig verbessern, wenn du endlich hinaus in die Welt gehst, Liebes.“

Das konnte Prudence sich beim besten Willen nicht vorstellen. Hinaus in die Welt, das klang unheilverkündend. Glückliche Menschen, glückliche Freundinnen, alle dabei, ein neues Leben zu beginnen, wie Prudence es sich immer für sich selbst auch vorgestellt hatte. Bei diesem Gedanken wurde sie ganz traurig. Neid stieg in ihr auf, und sie konnte ihn nicht unterdrücken, ganz gleich, wie gern sie das getan hätte und wie viel Mühe sie sich gab. Und was noch viel schlimmer war, was sie als zutiefst demütigend empfand, war, dass ihre Eifersucht auf jeden, der glücklich zu sein schien, derart offensichtlich war. In letzter Zeit kam es ihr so vor, als ob sogar der Sonnenschein keinen anderen Zweck hatte, als sie zu verspotten, indem er sie an ihre verzweifelte Lage erinnerte.

Gerade als Mercy ansetzen wollte, sich darüber zu beschweren, dass sich alle um Prudence kümmerten, wo sie selbst doch ihre Zuwendung und Fürsorge viel dringender brauchte, beschloss Prudence, dass sie auf Besuch zu Mrs. Bulworth fahren würde. Zumindest musste sie dann nicht mehr Tag für Tag das fröhliche Geplapper ihrer Schwestern ertragen.

Grace kümmerte sich um die Reisevorbereitungen, und eines Nachmittags kündigte sie in großem Stil an, dass Prudence zusammen mit Dr. Linford und seiner Frau Richtung Norden aufbrechen würde, wenn diese sich auf den Weg machten, um Dr. Linfords Mutter zu besuchen. Die Linfords würden Prudence dann in dem kleinen Städtchen Himple absetzen, und Mr. Bulworth würde seinen Kammerdiener schicken, um sie abzuholen und sie auf das gerade fertiggestellte Anwesen der Familie zu bringen. Dort würde Cassandra Bulworth mit dem Baby auf sie warten. Sie war im gleichen Jahr wie Prudence in die Gesellschaft eingeführt worden, doch anders als sie hatte sie noch während ihrer ersten Saison mehrere Heiratsanträge erhalten.

„Aber Linfords Kutsche ist doch viel zu klein“, wandte Mercy ein und runzelte die Stirn, sodass ihre Brille auf ihrer Nase nach unten rutschte. Sie saß vor ihrer neuen Staffelei und skizzierte eine Obstschale für ihr Gemälde. Sie hatte den anderen vorher erklärt, dass die Alten Meister genauso vorgegangen waren. Zuerst machten sie Skizzen, und danach fingen sie mit dem eigentlichen Gemälde an. „Prudence wird dazu gezwungen sein, stundenlang Konversation zu betreiben“, sagte sie geistesabwesend, während sie ihre Skizze betrachtete.

„Und was ist so schlimm an einer Unterhaltung?“, wollte Honor wissen, die gerade dabei war, ihrer Tochter Edith Zöpfe zu flechten.

„Gar nichts, wenn du dich sehr für das Wetter interessierst, denn Dr. Linford redet über nichts anderes. ‚Es ist ein schöner Tag‘ und so weiter und so weiter. Aber Pru interessiert sich kein bisschen für das Wetter, oder, Pru?“

Prudence zuckte mit den Schultern. Sie interessierte sich generell nicht für besonders viel.

Am Tag ihrer Abreise brachte man ihren großen Koffer und ihre Reisetasche zur Kutsche hinunter, die sie nach Ashton Down bringen würde, wo Prudence um ein Uhr die Linfords treffen sollte. Sie hatte nur das Nötigste in ihre Reisetasche gepackt: ein paar Haarbänder, ein seidenes Unterhemd, das Honor ihr aus London von der Schneiderin mitgebracht hatte, von der sie ununterbrochen schwärmte, ein paar hübsche Schuhe und Kleider zum Wechseln. Sie verabschiedete sich von ihren ungewöhnlich fröhlichen Schwestern und machte sich um Viertel vor zwölf auf den Weg.

Der Kutscher von Blackwood Hall war zuverlässig wie immer, und so erreichte sie Ashton Down um zehn nach zwölf.

„Sie müssen nicht mit mir zusammen hier warten, James“, sagte Prudence, die jetzt schon erschöpft war. „Die Linfords werden sicher gleich hier sein.“

Der Kutscher zögerte. „Lord Merryton hat etwas dagegen, dass die Damen allein warten müssen, Miss.“

Aus irgendeinem Grund ereiferte sich Prudence über diese Bemerkung. „Sie können Seiner Lordschaft ja ausrichten, dass ich darauf bestanden habe“, zischte sie. „Wenn Sie bitte meine Sachen gleich hier abstellen würden“, fügte sie noch hinzu und zeigte, ohne genau hinzusehen, auf den Bürgersteig neben der High Street. Sie schenkte James ein Lächeln, rückte ihre Haube zurecht und machte sich auf den Weg die Straße hinauf zu einem Lebensmittel- und Gemischtwarenladen, um sich mit Süßigkeiten für die Reise einzudecken. Nachdem sie ihre Einkäufe erledigt hatte, verließ sie das Geschäft. Sie sah, dass ihr Gepäck wie verlangt auf dem Bürgersteig stand und die Kutsche von Blackwood Hall verschwunden war. Endlich!

Prudence hielt das Gesicht in die Sonne. Es war ein warmer, schöner Spätsommertag, deshalb beschloss sie, in dem kleinen Park gleich gegenüber von der Stelle zu warten, an der ihr Gepäck abgeladen worden war. Sie ließ sich auf einer Bank nieder, faltete die Hände über dem Päckchen mit den Süßigkeiten und betrachtete gedankenverloren die Blüten einiger Pflanzen in einem Kübel, der direkt neben ihr stand. Sie waren dabei, zu verblühen … Genau wie sie.

Prudence seufzte laut.

Als sie hörte, dass sich eine Kutsche näherte, erhob sie sich. Sie richtete sich auf, strich ihre Röcke glatt und steckte sich das Päckchen unter den Arm, dann sah sie die Straße hinunter in die Richtung, aus der sie die Kutsche der Linfords erwartete.

Aber es waren noch nicht die Linfords, sondern eine der beiden Postkutschen, die täglich nach Asthon Down kamen, die eine mittags und die andere später am Nachmittag.

Prudence ließ sich wieder auf die Bank fallen.

Auf der Straße vor ihr kam die Kutsche zum Stehen. Zwei Männer sprangen vom hinteren Tritt; einer von ihnen öffnete den Schlag. Ein junges Pärchen trat auf die Straße, die Frau hielt ein Kleinkind im Arm. Direkt hinter ihnen stieg ein Mann aus, der so breitschultrig war, dass er sich zur Seite drehen musste, um durch die Türöffnung zu passen. Er machte einen Satz ins Freie, landete sicher auf beiden Füßen und rückte dann seinen Hut zurecht. Er sah aus, als ob er gerade von den Ausgrabungsarbeiten an einer griechischen Ruine zurückgekehrt wäre; er trug Wildlederhosen, ein offenes Hemd und einen dunklen Mantel, der ihm bis zum Knie reichte. Sein Hut war offensichtlich von guter Qualität, wirkte allerdings etwas abgenutzt. Seine Stiefel machten den Anschein, als hätte sie seit Ewigkeiten keiner geputzt. Auf seinem markanten Kinn zeichnete sich deutlich ein Bartschatten ab.

Der Fremde sah sich langsam auf der Straße um, ohne auf die beiden jungen Männer zu achten, die sich beeilten, die Pferde zu wechseln und das Gepäck auszuladen. Der Passagier hatte offensichtlich etwas entdeckt, das ihn veranlasste, ans vordere Ende der Droschke zu treten und einen lautstarken Streit mit dem Kutscher anzufangen.

Prudence blinzelte verwirrt. Das war ja höchst interessant! Sie reckte sich und sah sich um, dabei fragte sie sich, was den Gentleman wohl so verärgert haben konnte. Weder in dem kleinen Park noch auf der High Street war irgendetwas Ungewöhnliches zu entdecken. Neugierig erhob sie sich so unauffällig wie möglich und schlenderte scheinbar ziellos auf die Postkutsche zu, während sie so tat, als würde sie die Blüten in den Beeten neben der Straße genauer betrachten. Sie wollte unbedingt hören, worüber sich der Fremde beschwerte.

„Wie ich bereits gesagt habe, Sir, Wesleigh befindet sich gleich diese Straße hinauf, es ist ein Fußweg von höchstens einer halben Stunde.“

„Aber Sie wollen nicht verstehen, worum es mir geht, guter Mann“, beschwerte sich der Gentleman, und sein Akzent verriet, dass er nicht aus England stammen konnte. „Wesleigh ist ein Haus. Keine Ortschaft. Man hat mir gesagt, dass man mich zu einem Anwesen bringen wird. Ein Anwesen! Das ist ein großes Haus mit Nebengebäuden und Leuten, die herumlaufen und das tun, was immer man in England eben so tut“, rief er aus und zeichnete dabei mit den Händen die Umrisse eines Hauses in die Luft.

Der Kutscher zuckte mit den Schultern. „Ich fahre so weit, wie man mich bezahlt, und ich habe kein Geld dafür erhalten, um nach Wesleigh zu fahren. Außerdem gibt’s da weit und breit kein vornehmes Haus.“

„Das ist unmöglich!“, tobte der Gentleman jetzt. „Ich habe genug dafür bezahlt, dass man mich verdammt noch mal an den richtigen Ort bringt!“

Der Kutscher antwortete nicht.

2. KAPITEL

Der Innenraum der Kutsche war für vier Passagiere gedacht, außerdem gab es extra Sitzgelegenheiten auf dem Dach, doch diese waren bereits belegt. So musste Roan sich hineinzwängen; er quetschte sich in die äußerste Ecke auf eine unglaublich harte Bank, dabei berührten seine Knie die knochigen Beine seines Gegenübers – ein alter Mann, der ihn unverhohlen musterte. Neben dem alten Mann saß ein Junge, der vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein mochte. Er hatte die Mütze so tief in die Stirn gezogen, dass Roan nichts weiter von ihm sehen konnte als eine scharf geschnittene Nase und ein schmales Kinn. Auf den Knien hatte der Bursche einen kleinen zerschlissenen Koffer, den er mit beiden Armen an sich drückte.

Neben dem Jungen saß eine von zwei stämmigen Frauen, deren Spitzenhäubchen etwas zu knapp auf ihren Köpfen saßen, wo sich dichte kleine Löckchen um die Ohren kringelten. Zwillinge schienen sie nicht zu sein, aber sie sahen einander so ähnlich, dass Roan sie für Schwestern hielt. Sie trugen identische Kleider aus grauem Musselin, und über ihre breit gewölbte Brust spannte sich eine solche Menge an Spitze, dass man auf den ersten Blick an Zierüberwürfe dachte.

Das Auffälligste an den beiden Frauen war ihre Fähigkeit, ohne Pause zu reden. Sie saßen einander gegenüber, und keine schien auch nur einmal Luft holen zu müssen – sie erzählten und erzählten, seit Roan in die Kutsche gestiegen war, und fielen sich gegenseitig ins Wort. Außerdem sprachen sie sehr schnell und mit so starkem Akzent, dass er kein Wort verstand.

Als die frischen Pferde eingespannt wurden, ruckte die Kutsche. Es gelang Roan dennoch, seine Taschenuhr hervorzuholen, ohne jemandem seinen Ellenbogen ins Auge zu stoßen. Es war gerade halb eins vorbei. Sie würden bald abfahren, doch die hübsche junge Frau mit den glänzenden haselnussbraunen Augen, die ihm geholfen hatte, war nirgendwo zu sehen.

Sie war seine Rettung gewesen an einem ansonsten schrecklichen Tag, das Einzige, was die ganze Anstrengung irgendwie weniger ermüdend gemacht hatte. Es war zumindest für ihn eine Überraschung, wie hübsch Miss Cabot war, wahrscheinlich sogar hübscher als alle Mädchen, die er vor seiner Abreise aus New York gesehen hatte, und ganz sicher hübscher als alle, denen er bisher in England begegnet war. Vielleicht war das nicht so ungewöhnlich, schließlich war er in Liverpool angekommen, und der Hafen dort galt ganz sicher nicht als der schönste Ort der Welt. Ihre wohlgeformte Figur gefiel ihm außerordentlich, ihr Mund war groß und ihre Lippen voll und rot, außerdem hatte sie dunkle Wimpern, die ihre schönen mandelförmigen Augen umrahmten, die ihn eher an den Sommer als an den Winter erinnerten. Er hatte sich nicht dagegen wehren können, dass seine Männlichkeit aufgewacht war, als er sie in diesem kleinen Dorf zum ersten Mal gesehen hatte.

Die ältere Frau neben ihm setzte sich zurecht und rückte von der Außenwand ab, sodass sie fast den ganzen noch freien Platz auf der Sitzbank einnahm; zwischen ihnen gab es höchstens noch zehn Zentimeter Luft, das reichte nicht einmal für eine so zierliche Person wie Miss Cabot. Hatte sie sich etwa einen Platz auf dem Dach suchen müssen?

Wie als Antwort auf diese Frage öffnete sich in diesem Moment der Schlag, und Miss Cabots Haube war zu sehen. „Oje“, meinte sie, als sie einen Blick ins Innere der Kutsche warf. „Mir scheint, hier ist kein Platz mehr.“

„Unsinn, natürlich ist hier noch Platz“, erwiderte eine der redseligen Frauen. „Wenn der Gentleman ein wenig zur Seite rückt, können wir Sie hier sehr gut unterbringen. Es wird vielleicht ein wenig eng, aber wir werden schon zurechtkommen.“

Roan erkannte, dass die Frau mit dem winzigen Spitzenhäubchen ihn gemeint hatte. Er warf einen Blick auf die Wand der Kutsche, an die er sich drücken sollte, und sah dann die Frau an, die mehr Platz auf der Bank eingenommen hatte, als ihr eigentlich zustand. „Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin bereits so weit zur Seite gerückt, wie es irgend geht.“

„Nur ein kleines Stückchen“, forderte die Frau und wedelte mit den Händen, machte jedoch keinerlei Anstalten, ihrerseits Platz zu schaffen.

„Vielen Dank.“ Miss Cabot stieg zögernd ein. Dabei streifte sie die Knie von Roan und auch die des alten Mannes. „Entschuldigung“, sagte sie, während sie sich den Weg bis in die Mitte der Kutsche bahnte. Dabei hinterließ sie einen Hauch ihres Parfüms.

Sie zuckte zusammen, als sie das schmale Stück Bank sah, das man ihr zugedacht hatte.

„Man kann nicht gerade von einem Sitz sprechen, nicht wahr?“, stellte eine der Frauen fest. „Aber Sie sind doch so ein schmales Persönchen. Sie werden schon hineinpassen.“

„Ähem …“ Miss Cabot lächelte Roan unsicher zu, und wie durch ein Wunder gelang es ihr tatsächlich, sich anmutig umzudrehen, ohne in der Enge jemanden zu berühren außer mit dem Saum ihres Kleides. Sie setzte sich vorsichtig auf die Kante der Bank, dabei hielt sie ihren schmalen Rücken sehr gerade. Roan bemerkte, dass sie mit den Knien die Knie des Jungen berührte, und man konnte dem Burschen an den Wangen ablesen, dass ihm das ebenfalls nicht entgangen war. Roan war in diesem Alter genauso gewesen – er hatte sich so schrecklich vor allen weiblichen Wesen gefürchtet, wie er verzweifelt versucht hatte, sich unauffällig in ihrer Nähe aufzuhalten.

„Sie können doch da nicht die ganze Zeit wie ein Vogel auf der Stange hocken. Das halten Sie nicht durch“, sagte Roan. „Bitte machen Sie es sich doch bequem.“

Miss Cabot drehte vorsichtig den Kopf, und obwohl Roan nichts von ihr sehen konnte außer ihrem Kinn und dem großen ausdrucksvollen Mund, spürte er, dass sie skeptisch war. Sie rutschte mit dem Hinterteil ein wenig hin und her und setzte sich ein paar Zentimeter weiter nach hinten. Die Frau rückte ein wenig zur Seite. Miss Cabot wand sich noch einmal, und Roan fühlte die Anspannung, die ihn erfasste, während sie sich mit dem Hinterteil in die schmale Lücke zwischen ihnen zwängte. Als sie es schließlich geschafft hatte – ihr zerbrechlicher Leib war gegen seinen harten Körper gepresst –, konnte er nicht anders, er musste an makellos weiße Hinterteile denken. Besonders ihres. Er stellte sich ihren Po glatt und herzförmig vor. Dann stellte er sich vor, wie er spielerisch in ihr festes Fleisch beißen würde …

Hör schon auf damit! Das war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, lüsterne Gedanken an eine Frau, die vielleicht gerade so alt war wie seine kleine Schwester.

Roan biss die Zähne zusammen und versuchte, seinen Arm wegzuziehen, doch es war ihm mit jeder Faser bewusst, dass er ihre zarte Gestalt an seinem harten Leib spüren konnte. Innerlich stritt er mit sich selbst, ob das daran lag, dass er ein Draufgänger und Halunke war, oder daran, dass er auf der langen Überfahrt über den Atlantik nichts als Männer gesehen hatte und anschließend nur auf holprigen englischen Straßen wie dieser hier unterwegs gewesen war. Er hatte seit Wochen keine Frau mehr angefasst.

Im Grunde genommen stimmte beides. Er mochte wirklich ein Halunke sein. Aber seit der Ankunft von Miss Susannah Pratt in New York hatte er auch keine lustvolle weibliche Gesellschaft mehr genossen.

„Also dann!“, sagte Miss Cabot, die gute Miene zum bösen Spiel zu machen versuchte und noch einen Anlauf unternahm, sich etwas bequemer hinzusetzen. Sie faltete ihre Hände im Schoß über dem kleinen Päckchen, das sie dabeihatte. „Wenn die Straßen so schlecht sind, wie man immer behauptet, werde ich wie ein Korken aus der Flasche schießen.“

Niemand entgegnete etwas, zweifellos befürchteten alle, dass sie recht behalten würde. Der Junge ihr gegenüber sank in seinem Sitz zusammen und versteckte sich in seinem Mantel. Der Alte starrte Roan noch immer aus seinen schwarzen Knopfaugen so unverhohlen an, dass Roan sich fragte, ob ihm seine erotischen Fantasien anzusehen waren.

„Alles in allem ist es aber ein guter Tag für eine Reise, nicht wahr?“, meinte Miss Cabot fröhlich.

Roan hoffte inständig, dass sie nicht zu denjenigen Frauen gehörte, die in allem das Gute sehen wollten und dies auch bei jeder Gelegenheit verkünden mussten. Er zog es vor, in Gesellschaft von Leuten zu reisen, die das Reisen ebenso mürrisch machte wie ihn selbst und die sich dabei genauso unwohl fühlten.

„Ein schöner Tag“, entgegnete eine der Frauen und fing so schnell und mit so viel Nachdruck an zu erzählen, dass Roan ihr nicht mehr folgen konnte.

Also nutzte er die Gelegenheit, Miss Cabot verstohlen zu mustern. Ihre Kleidung wirkte kostspielig. Er kannte sich auf diesem Gebiet aus, seitdem es zu seinen Aufgaben gehörte, die Schneiderrechnungen für seine Schwester Aurora zu bezahlen; er wusste, was Seide, Musselin, Brokat und feiner Wollstoff kosteten. Miss Cabot hatte feingliedrige Hände, wahrscheinlich machte sie die zartesten Stickereien damit. Er bemerkte, dass eine Strähne ihres Haars sich gelöst hatte und ihr über die Schulter hing – es hatte die Farbe von reifem Weizen.

Ob es sehr verwerflich war, wenn er sich eingestand, dass Miss Cabot genauso aussah, wie er sich Susannah Pratt immer vorgestellt hatte, bevor er sie schließlich kennenlernte? Goldblond und sehr elegant, mit einem Gesicht und einer Erscheinung, die in einem Mann die heftigsten Sehnsüchte auslöste? Susannah hingegen war dunkel, breit und unförmig. Roan hielt sich nicht für oberflächlich, er bewertete eine Frau nicht allein nach ihrem Aussehen, aber dass Miss Pratt außerdem auch nicht viel zu sagen wusste, war wenig hilfreich. Als sie aus Philadelphia gekommen war und am Arm ihres Vaters auf das Haus seiner Familie zuging, wollte er nicht mehr wahrhaben, dass er mit seinem und ihrem Vater übereingekommen war, dass eine Heirat zwischen ihren beiden Familien eine gute Sache sei.

Plötzlich machte die Kutsche einen Satz nach vorn, sodass Miss Cabot in seine Arme geschleudert wurde. Sie wandte ihm den Kopf zu, so weit es eben ging, und lächelte entschuldigend. „Verzeihung. Es ist wirklich eng hier drinnen, nicht wahr?“ Sie setzte sich wieder zurück; dabei hielt sie den Rücken absolut gerade und faltete die Hände im Schoß.

Doch es war aussichtslos, wenn sie versuchte, auf diese Weise ihre Würde zu wahren. Bei jedem Schlagloch und jedem Satz, den die Kutsche machte, wurde sie an ihn gedrückt – einmal musste sie sich sogar mit ihrer zarten Hand auf seinem Schenkel abstützen –, und jede Meile, die sie hinter sich brachten, ließ Roan spüren, wie zart und sanft sich ihr Körper anfühlte. Sie kam ihm fast unwirklich vor und doch gleichzeitig merkwürdig stark. Er sah zum Fenster hinaus und versuchte, nicht daran zu denken, wie sie wohl aussah, wenn sie nackt auf weichen weißen Laken lag, mit ausgebreitetem goldenen Haar und nach vorn gereckten Brüsten. Jedes Mal, wenn seine Gedanken sich in diese Richtung aufmachten, starrte er den alten Mann an.

Sie waren erst eine fürchterliche Stunde lang unterwegs, als eine der Frauen endlich ihren Redestrom unterbrach, einmal tief Luft holte und behauptete: „Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind Lady Merryton!“

Alle Augen, auch die von Roan, richteten sich sofort auf Miss Cabot.

„Aber nein!“, rief Prudence aus.

„Nein?“ Die Frauen wirkten nicht überzeugt.

„Nein! Ich versichere Ihnen, wenn ich Lady Merryton wäre, würde ich in meiner eigenen Kutsche fahren.“ Miss Cabot lächelte.

„Das stimmt wahrscheinlich“, pflichtete die Frau, die zuerst gesprochen hatte, ihr bei, sie wirkte enttäuscht.

3. KAPITEL

Prudence schlug mit dem Kinn hart auf, gleichzeitig versank ihre Hand in etwas Weichem. Als sie langsam wieder zu sich kam, dachte sie zunächst, sie hätte sich auf ein zusammengeknäultes Kissen gestützt. Aber als sie die Augen öffnete, stellte sie fest, dass ihr Kinn auf der Schulter von Mr. Matheson ruhte … und ihre Hand in seinem Schoß lag.

Er betrachtete sie amüsiert, während ihr langsam dämmerte, was geschehen war. Sie schnappte nach Luft, und er griff betont langsam nach der Feder, die ihn ins Auge gepikt hatte.

Prudence konnte fühlen, dass sie rot wurde, und setzte sich schnell wieder auf. Sie rückte ihre verrutschte Haube zurecht. „Was ist passiert?“, rief sie und zwängte sich aus der Enge zwischen Mr. Matheson und Mrs. Scales heraus nach vorne an die Kante der Sitzbank. Dabei gab sie sich verzweifelt Mühe, unter keinen Umständen diesen unglaublich maskulinen Mann zu berühren. Doch ihre Hüfte wurde noch immer so eng gegen seine Oberschenkel gedrückt, dass sie unter dem Wildleder seiner Hose jede Bewegung seiner Muskeln spüren konnte.

Es war geradezu beängstigend, wie sehr sie dies erregte. Prudence hielt einige Sekunden lang inne, sie bewegte sich keinen Millimeter, um dieses Gefühl völlig in sich aufzunehmen.

„Wahrscheinlich ist ein Rad gebrochen“, mutmaßte Mr. Matheson. Die Droschke neigte sich deutlich nach rechts und schaukelte beunruhigend hin und her. Der Kutscher fluchte wieder laut und vernehmlich, was den beiden Schwestern die Röte in die runden Wangen trieb.

Mr. Matheson streckte die Hand nach dem Türknauf aus und wuchtete sich mit einer solchen Kraft nach draußen, dass die anderen Passagiere aufschreckten. Auch Prudence beugte sich vor und spähte aus der geöffneten Tür. Die Neigung der Kutsche wirkte gefährlich. Prudence richtete den Blick wieder auf ihre Mitreisenden, und sie fragte sich, was wohl passieren würde, wenn die beiden Damen gleichzeitig versuchten auszusteigen. Wahrscheinlich würde das Gefährt einfach umkippen. Sie setzte zu einem Sprung an, um auszusteigen, und prallte dabei unbeholfen gegen einen der Kutscher, der gerade zu Hilfe eilte.

„Was ist denn passiert?“, erkundigte sich Prudence.

„Ein Rad ist gebrochen, Miss.“

Mr. Matheson stand mit den anderen Männern vor dem zerbrochenen Rad. Er hatte sich gebückt, um sich die Bescherung genauer anzusehen. Prudence fragte sich, ob er sich mit solchen Dingen auskannte oder bloß neugierig war.

Zwischen den Männern entbrannte eine hitzige Diskussion, als Mr. Matheson sich vorbeugte und mit einem Arm weit unter die Kutsche griff, während er sich mit der anderen Hand an der Karosserie abstützte. Ob es wohl viele Frauen erregte, wenn sich ein Mann auf so selbstverständliche Weise mit einem technischen Problem befasste? Prudence hatte jedenfalls noch nie gesehen, dass ein Gentleman sich in derartige Angelegenheiten einmischte.

Mr. Matheson richtete sich wieder auf und wischte die Hand an der Hose ab, dabei hinterließ er eine Spur von Schmieröl. Prudence fand das ganz und gar nicht abstoßend. Im Gegenteil, es war sogar merkwürdig anziehend.

„Mit der Achse ist alles in Ordnung“, stellte Mr. Matheson fest.

Die Männer fachsimpelten weiter und wurden immer lauter. Prudence kam es so vor, als würden sie sich gegenseitig widersprechen. Schließlich bat der Kutscher die Damen und den Alten, sich von der Kutsche fernzuhalten. Auch Mr. Matheson wurde weggescheucht.

Man spannte die Pferde aus, und die Kutscherburschen fingen an, alles Verwendbare zusammenzutragen, um das Gefährt abzustützen, während das Rad entfernt wurde.

„Meine Tasche!“, rief Prudence aus und stürzte den Burschen hinterher, um ihnen ihr Gepäck abzunehmen, bevor sie es zum Unterlegen benutzen konnten.

Mrs. Tricklebank und Mrs. Scales hingegen ließen sich auf ein paar großen Felsbrocken unter den tief hängenden Zweigen eines Baumes nieder. Sie kümmerten sich mit viel Aufhebens um den alten Mann und den Jungen. Für Prudence gab es keinen Platz mehr, und so hockte sie sich auf einen nahen Baumstumpf.

Die Frauen sahen zu, wie die Männer die Kutsche mit Hilfe von Steinen, Gepäckstücken und einem Apparat, den sie aus der Droschke geholt hatten, hochbockten und das Rad abmontierten. Mr. Matheson war zum Ort des Geschehens zurückgekehrt und machte sich nützlich. Prudence fragte sich, ob er sich beruflich mit Fuhrwerken auskannte. Sie konnte sich keinen anderen Grund vorstellen, warum er sich einmischte. Auch ohne ihn gab es genügend Leute, die sich darum kümmern konnten. Eine weitere einigermaßen plausible Erklärung war, dass es ihm irgendwie Spaß machte, sich mit solchen Dingen zu befassen.

4. KAPITEL

Als Roan zu der Baumreihe zurückkam, erschien ihm Miss Cabot noch zierlicher als zuvor, so sehr war sie in sich zusammengesunken. Wahrscheinlich hatte diese junge Dame doch etwas zu verbergen. Sie erinnerte ihn wirklich sehr an Aurora. Roan liebte seine Schwester über alles, er betete sie an – aber sie war der verrückteste Mensch, der ihm je begegnet war. Ohne sich auch nur im Geringsten Sorgen zu machen und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen ihres Handelns, lief sie ständig Gefahr, sich ihren Ruf und damit ihre Zukunft vollkommen zu ruinieren. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste er zugeben, dass er Auroras unabhängigen Geist bewunderte – er war innerlich eigentlich auch nicht viel anders –, aber er traute seiner Schwester nicht über den Weg.

Miss Cabot machte offensichtlich keine Anstalten mehr, wegzulaufen und ihm ein Rennen zu liefern, aber sie trat ein paar Schritte zurück.

Roan konnte es sich gerade noch verkneifen, sie am Arm festzuhalten und zu schütteln. Stattdessen stemmte er die Hände in die Seiten und starrte sie wütend an. „Also gut, die Schwestern sind weg. Sie können mir endlich verraten, was Sie angestellt haben.“

„Was soll das heißen? Ich habe überhaupt nichts angestellt“, wehrte sie sich. Ihre Beteuerung klang nicht sehr überzeugend.

„Diebstahl?“, fragte er geradeheraus.

Sie schnappte nach Luft.

„Mord?“

„Also wirklich, Mr. Matheson!“

„Jetzt schauen Sie doch nicht so entsetzt, Miss Cabot, es muss doch einen Grund geben, dass sie sich vor einem Doktor verstecken, der Ihnen eine Fahrt in einer viel bequemeren Kutsche bieten könnte.“

Miss Cabot wurde ganz blass. Sie hatte nichts zu ihrer Verteidigung hervorzubringen und kaute stattdessen auf ihrer Unterlippe herum, wie es nach Roans Ansicht alle Frauen taten, die Schuldgefühle plagten. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht, ob er ihr einen Vortrag über angemessenes Benehmen halten sollte oder selbst gern an dieser Lippe geknabbert hätte. Wenn er ehrlich war, kannte er die Antwort, doch dann musste er daran denken, dass Aurora – die auch immer auf ihrer Unterlippe kaute – mit einem anderen Mann in die gleiche Situation geraten konnte, und er schauderte innerlich.

„Geben Sie es schon zu – Ihr Platz wäre in dieser Kutsche gewesen.“

Sie hob den Kopf und verschränkte ihre Hände fest ineinander. „Ja.“

Durch Roans Kopf wirbelten unzählige mögliche Erklärungen, aber keine davon stellte ihn wirklich zufrieden. „Ist er … Haben Sie eine Affäre mit ihm?“

„Wie bitte? Nein!“, rief sie und wurde dunkelrot.

„Oder sind Sie mit ihm verlobt?“, fragte er, und in ihm blitzte der Gedanke auf, dass sie auch weggelaufen sein konnte, um genau dieser Verlobung zu entkommen. Die Ähnlichkeiten mit Aurora wurden immer deutlicher, es war zum Verzweifeln.

„Haben Sie denn seine Frau nicht gesehen? Er ist doch schon verheiratet.“

„Also, was ist dann los, Miss Cabot? Warum verstecken Sie sich hier hinter diesen Bäumen wie eine Verbrecherin?“, wollte er wissen, und langsam kochte Wut – die sich eigentlich mehr gegen Aurora richtete – in ihm hoch.

„Ich bin ganz bestimmt keine Kriminelle!“, wehrte sie sich zornig.

„Ach nein?“, argwöhnte er.

„Ich bin …“ Sie schluckte schwer, dann rieb sie sich den Nacken. „Es stimmt schon, Dr. Linford sollte mich eigentlich nach Himple bringen. Dort soll ich dann Mr. Bulworth treffen, der mich den Rest des Weges begleitet bis zu meiner Freundin Cassandra. Aber diese Postkutsche hält doch auch in Himple.“

Roan wartete darauf, dass sie weiterredete. Zumindest schuldete sie ihm eine Erklärung dafür, was sie überhaupt in dieser Postkutsche zu suchen hatte. Aber Miss Cabot zuckte nur mit den Schultern, ganz so, als wäre damit alles gesagt.

Das könnte ihr so passen!

„Und warum sind Sie nicht mitgefahren, wenn es so vorgesehen war? Warum steigen Sie stattdessen in eine überfüllte Postkutsche, in der Sie auf alle möglichen finsteren Gestalten treffen können, anstatt in einer bequemen Kutsche zu fahren?“, fragte er ungläubig.

Miss Cabot rieb sich wieder den Nacken. Sie schniefte. „Das ist wirklich ziemlich schwer zu erklären.“

„Schwer zu erklären? Die einzige Schwierigkeit ist, dass Sie nicht zugeben wollen, was Sie getan haben. Ich wage nicht einmal, mir vorzustellen, was Sie planen.“ Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und Wut brandete wieder in ihm auf. Er fasste sie plötzlich am Ellenbogen und zog sie mit einem Ruck zu sich heran. „Hat er etwa versucht … Hat er sich Ihnen gegenüber ungebührlich verhalten?“, fragte er lauernd und sah sich dabei über die Schulter hinweg zu den anderen um. Wenn das der Fall war, würde er sich ein Pferd von der Postkutsche schnappen und ihm hinterherreiten, bis er ihn eingeholt hatte. Er würde ihm das verdammte Genick brechen …

„Nein! Nein, ganz und gar nicht! Dr. Linford ist ein ehrenwerter Mann, ein hochanständiger Mensch noch dazu …“

„Was, in drei Teufels Namen, ist dann los?“

Miss Cabot richtete sich zu ihrer ganzen Größe auf, entzog ihm mit einem Ruck ihren Arm und sagte: „Verzeihung, Mr. Matheson, aber ich schulde Ihnen keine Erklärung.“

„Nein, das tun Sie nicht“, stimmte er ihr zu. „Genauso wenig wie ich Ihnen meine Hilfe schulde. Ich werde also den Kutscher anweisen, dass man Sie bei der nächsten Gelegenheit einem vertrauenswürdigen Begleiter übergeben soll …“

„Also gut, also schön! Ich wollte nicht mit den Linfords fahren, weil das so schrecklich langweilig gewesen wäre. Ich dachte, mit der Postkutsche wäre es …“ Sie machte eine vage Handbewegung, als hätte er sie längst verstanden und könnte sich alles Weitere selbst erklären.

Aber er hatte noch immer keine Ahnung, wovon sie überhaupt redete. Er beugte sich vor und sah sie prüfend an. „Wäre es was?“

„Wäre es …“ Ihr Blick wanderte zu ihm hinüber und maß ihn von unten bis oben, dabei wurde sie ganz rot. „ … aufregender“, murmelte sie schließlich.

Das ergab alles keinen Sinn! Diese junge Frau glaubte mit ihrem Spatzenhirn wirklich, dass eine Postkutsche aufregender war als der komfortable Wagen des Doktors? Dass eine Postkutsche mit ihrem beschränkten Raum und den schwitzenden Fremden angenehmer war als eine gepolsterte Sitzbank? Roan konnte nicht anders – er musste lachen. Aus vollem Hals.

Miss Cabots Augen funkelten zornig. „Es freut mich sehr, wenn ich Sie amüsiere.“

„Amüsiert? Ich bin nicht amüsiert, ich kann nur nicht fassen, wie albern Sie sind.“

Sie stieß vor Wut einen kleinen Schrei aus und drehte sich auf dem Absatz um; es sah zunächst so aus, als wollte sie geradewegs in den Wald hineinmarschieren. Doch Roan packte sie am Arm, ehe sie flüchten konnte, und hielt sie zurück. Sie stieß gegen seine Brust und fühlte sich weich und nachgiebig an.

„Ist ja schon gut, jetzt kommen Sie mal von Ihrem hohen Ross herunter“, sagte er. „Aber eine Postkutsche? Das ist die zweitschlimmste Art zu reisen, die ich mir vorstellen kann. Nur eine Seefahrt ist noch unangenehmer. Wie sind Sie nur darauf gekommen, dass das ein angenehmes Abenteuer sein könnte? Über glühende Kohlen zu laufen wäre wahrscheinlich deutlich schöner.“

Miss Cabot wand sich aus seinem Griff und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah ihn aus dem Augenwinkel heraus an. Sie war ganz rot im Gesicht. „Ich bedauere es aufrichtig, dass diese Erfahrung für Sie so unerfreulich gewesen ist, Mr. Matheson.“

Roan blinzelte. Plötzlich verstand er, was sie damit sagen wollte, und auch wenn er es sich selbst kaum eingestehen mochte, war er mehr als erfreut darüber. Zumindest fühlte er sich sehr geschmeichelt. Und froh war er, ausgesprochen froh. „Ich verstehe“, sagte er freundlich, ehe ihm bewusst wurde, dass er breit grinste.

„Sie verstehen überhaupt nichts.“

„Oh doch, das glaube ich schon. Sie wollten viel lieber mit mir zusammen fahren“, behauptete er und stupste sie spielerisch in den Oberarm.

„Bilden Sie sich bloß nichts ein!“, wies sie ihn hoheitsvoll zurecht.

„Es besteht kein Grund, sich etwas einzubilden, denn mir ist jetzt vollkommen klar, was hier los ist.“ Er verbeugte sich übertrieben tief. „Ich gebe gern zu, dass ich überrascht bin. Natürlich bin ich in der New Yorker Damenwelt heiß begehrt, was kein Wunder ist bei meinem guten Aussehen und meiner prall gefüllten Brieftasche …“ Jetzt versuchte er, sie zu necken, aber in seinen Worten steckte auch ein gutes Stück Wahrheit. Man brauchte bloß Mr. Pratt zu fragen, der würde alles sofort bestätigen. „Aber wenn eine Rose Englands mich so anhimmelt, dann flattert mein Herz wie ein Schmetterling.“

„Du lieber Himmel, ich sterbe gleich“, stöhnte Miss Cabot übertrieben und drehte den Kopf weg.

Roan musste lachen. „Oh, bitte nicht.“ Er legte eine Hand auf ihre Schulter und versuchte, sie umzudrehen, sodass sie ihn ansehen musste. „Sie sind viel zu schön, um jetzt zu sterben, und Ihre ganze Mühe sollte sich doch gelohnt haben.“ Er drückte ihre Schulter. Er wollte eigentlich gleich wieder loslassen, aber dann glitt seine Hand wie von selbst ihren Arm hinab zu ihrem Handgelenk.

Sie schnalzte mit der Zunge und drehte den Kopf in die andere Richtung.

„Ich will Sie doch nur ein bisschen necken, Miss Cabot. Ein Gockel kann nicht anders, er muss krähen, wissen Sie das denn nicht? Ich fühle mich wirklich sehr geschmeichelt.“ Er ließ ihr Handgelenk los und legte die Hand um ihre Taille, um sie an sich zu ziehen. „Wenn ich schon angehimmelt werde, dann bitte von jemandem, der so schön ist wie Sie.“

„Oh Gott“, murmelte sie; sie war jetzt feuerrot geworden. „Machen Sie sich nicht über mich lustig. Die ganze Sache ist mir schon peinlich genug.“ Und dennoch ließ sie seine Umarmung zu.

„Es ist mir vollkommen ernst. Auch wenn das alles sehr erfreulich für mich ist, wissen Sie ganz genau, dass es sich nicht gehört, wenn Sie sich mit Fremden hier in der Einöde herumtreiben. Sie könnten auf diesen Straßen sehr leicht einem Schurken in die Hände fallen. Wenn wir das nächste Mal halten, werde ich persönlich dafür Sorge tragen, dass Sie eine private Fahrt nach Hipple bekommen.“

„Es heißt Himple“, verbesserte sie ihn, und leider entzog sie sich ihm bei diesen Worten. „Und ich kann sehr gut selbst dafür sorgen, dass ich dort ankomme, das braucht Sie nicht zu kümmern.“

Wirklich genau wie Aurora! Es ist mein Leben, das ich ruiniere, Roan. Das braucht dich nicht zu kümmern.

„Dass Sie sich selbst um eine Fahrt bemühen, ist ja gerade das Problem, Miss Cabot. Sie wollen doch nicht wegen einer kleinen Unbedachtheit Ihren guten Ruf aufs Spiel setzen.“

„Nein, es ist kein Problem, Mr. Matheson“, entgegnete sie schnippisch. „Denn der Schaden ist bereits angerichtet. Ich bezweifle sehr, dass ich es jetzt noch schlimmer machen könnte.“

Was sollte das nun wieder heißen? Roan wusste nicht, was er von ihren Andeutungen halten sollte. Von welchem Schaden war hier die Rede? Oder hatte sie etwa wie Aurora einen Hang zur Dramatik?

„Hey! Die Postkutsche!“, rief jemand. Erleichterung klang in den Stimmen der anderen Passagiere, und alle brachen wie auf ein Stichwort in hektische Betriebsamkeit aus. Gepäck wurde zusammengerafft. Als die zweite Postkutsche hinter der ersten zum Stehen gekommen war, sah Roan den Männern einen Augenblick lang aufmerksam zu, dann blickte er Miss Cabot an. Er musterte sie von oben bis unten, ihre geschürzten Lippen und die rosigen Wangen. Warum nur machten die schönsten Frauen immer den meisten Ärger? Miss Pratt wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, sich so aufzuführen wie Miss Cabot. Wahrscheinlich war es genau das, was Miss Pratt zu einer perfekten Ehefrau machen würde. Oder nicht? Roan würde alles tun, um sich genau das einzureden. Er hatte Susannah noch keinen Heiratsantrag gemacht, aber man nahm allgemein an, dass das nur noch eine Formsache sein würde. Er selbst sah es so kommen, und zwar genau deshalb, weil Susannah heute hier nicht mit ihm zusammen unter diesen Bäumen stand.

Ja, und genau diesen Umstand würde er sich weiterhin immer wieder klarmachen.

Roan wandte den Blick von Miss Cabots haselnussbraunen Augen ab. „Ich sollte mich nützlich machen und das Rad reparieren gehen.“

„Ja, natürlich.“ Sie erwiderte seinen Blick und sah ihn aufmerksam an. Zögernd erschien ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Danke, dass Sie mich nicht an Dr. Linford verraten haben.“

Er seufzte. „Ich bin durch das Lächeln einer schönen Frau leider zu leicht zu beeinflussen. Jeder hat sein Kreuz zu tragen.“

Sie lächelte noch mehr. „Ich warte auf dem Felsen.“ Sie ging an ihm vorbei – vielmehr sie schwebte eher, so elegant waren ihre Bewegungen. Eine solche Anmut konnte man nirgendwo lernen, das wusste er aus Erfahrung. Sie setzte sich, hob ihre Reisetasche auf, stellte sie auf die Knie und verschränkte artig die Hände darüber. Sie blickte geradeaus und wirkte, als befände sie sich auf einer Gartenparty.

Roan konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er an ihr vorbeiging und ihr dabei die Hand auf die Schulter legte. „Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt.“

„Bei mir bedankt?“, wunderte sie sich und sah zu ihm auf.

„Für die große Wertschätzung, die Sie mir entgegenbringen“, klärte er sie auf und zwinkerte ihr zu.

Miss Cabot murmelte etwas in sich hinein, das sich sehr nach Gockel anhörte. Sie fügte noch etwas Unverständliches hinzu, wandte dann den Kopf ab und zupfte an einer Haarsträhne in ihrem Nacken.

Roan gesellte sich zu den anderen Männern und legte den Mantel ab. Der Kutscher der zweiten Postkutsche hatte Werkzeug dabei, das man brauchte, um ein Rad zu flicken. Roan wäre schneller fertig gewesen, wenn er die Arbeit selbst gemacht hätte. Er kannte sich mit gebrochenen Rädern aus; seine Familie und er betrieben einen Holzhandel und brachten mit ihren Fuhrwerken eine Ladung nach der anderen nach New York. Zum Teil kam das Holz aus Kanada. Die Arbeit war hart, die Bäume mussten gefällt und aufgeladen werden, und Roan hatte schon mehr als einmal aushelfen müssen. Das machte ihm nichts aus – er mochte körperliche Arbeit, weil er sich dabei stark und lebendig fühlte. Jedenfalls hatte er schon mehr Räder und Achsen zusammengeflickt, als diese Männer hier in ihrem ganzen Leben gesehen hatten.

Doch der Kutscher bestand darauf, dass alle seinen Anweisungen folgten.

Bald war das Rad repariert und an der Achse befestigt; die Männer begannen, das Gepäck aufzuladen. Als auch die Pferde eingespannt waren, bat der Kutscher die Fahrgäste einzusteigen.

Roan zog seinen Mantel an, dann griff er nach seiner kleinen Reisetasche und sah zu den Felsbrocken hinüber, wo er Miss Cabot einsammeln wollte.

Sie saß nicht mehr dort.

Roan ging über die Wiese und suchte die Baumreihe und die Straße nach ihr ab. Miss Cabot war nirgendwo zu sehen. Hatte sie die zweite Kutsche bestiegen? Er sah sich nach dem Gefährt um. Die anderen Fahrgäste machten sich ans Einsteigen.

Roan ging mit langen Schritten zur zweiten Postkutsche hinüber. „Entschuldigen Sie“, bat er und drängte sich durch die Passagiere hindurch, um ins Kutscheninnere zu sehen. Dort saß nur eine Frau mit einem kleinen Kind.

Roan wandte sich zu den anderen um. „Hat jemand von Ihnen eine Frau gesehen? Ungefähr so groß?“, fragte er und streckte den Arm aus, um ihre Größe anzuzeigen. „Mit einer Haube?“, fügte er hinzu und deutete dabei auf seinen Kopf.

Niemand hatte sie gesehen.

Roan war ratlos. Wo konnte sie nur sein? Er eilte zur ersten Kutsche zurück, wo gerade das Gepäck festgezurrt wurde. Einer der Männer streckte die Hand nach Roans Reisetasche aus, doch er hielt sie fest. „Haben Sie Miss Cabot gesehen?“, fragte er den Mann. „Sie ist in Ashton Down zugestiegen.“

„Nein, Sir“, antwortete der Mann. „Soll ich Ihre Tasche ganz nach oben legen?“

„Ich behalte sie bei mir, vielen Dank“, entgegnete Roan. Er ging um den Mann herum und schaute in die Kutsche. Zwei der Herren, die vorher auf dem Dach mitgefahren waren, hatten sich die Sitzplätze neben dem Jungen gesichert, der schon wieder in seinen Mantel gesunken war und seinen zerschlissenen Koffer umklammert hielt.

Keine Miss Cabot.

Eine Welle von Panik stieg in ihm auf. Er wandte sich an den Kutscher, der das Aufladen des Gepäcks beaufsichtigte und jetzt letzte Hand an das Geschirr der Pferde legte. „Haben Sie vielleicht Miss Cabot gesehen?“

„Die hübsche Frau?“, fragte der Kutscher und sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf.

Roan nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, warum er so verärgert war, wenn man sie als hübsch bezeichnete, und bestätigte: „Ja, genau die.“

Der Kutscher schüttelte den Kopf. „Sie geht wohl einem menschlichen Bedürfnis nach, würde ich sagen.“

Aber natürlich! Roan sah sich zu den Bäumen am anderen Ende der Wiese um.

„Kommen Sie schon, steigen Sie ein“, forderte der Kutscher ihn auf. „Wir sind spät dran.“

„Aber es fehlt noch jemand“, sagte Roan.

Der Kutscher sah zu den Bäumen hinüber. „Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Streunern hinterherzujagen“, meinte er barsch und schwang sich auf den Kutschbock. „Es war ja wohl deutlich zu sehen, dass wir abfahren wollen. Kommen Sie jetzt oder nicht?“

Roan starrte ihn wütend an. „Sie würden eine junge Dame einfach so im Nirgendwo stehen lassen?“, grollte er, während die zweite Kutsche an ihnen vorbeirumpelte und sich die Straße hinauf entfernte.

„Und was glauben Sie, wie lange ich warten soll, Yankee? Ich habe einen Fahrplan, den ich einhalten muss, und Passagiere, die heute noch ankommen wollen. Es gab auf der ganzen Fahrt noch nichts zu essen. Wenn wir in Stroud ankommen, wird es wahrscheinlich schon dunkel sein.“

Roan drehte sich um. „Miss Cabot!“, brüllte er. „Miss Cabot, kommen Sie! Sofort!“

Nichts. Keine Antwort. Sie warteten, währenddessen ging Roan unruhig neben der Postkutsche auf und ab.

„Kommen Sie, lassen Sie uns fahren!“, rief einer der Männer.

„Letzte Gelegenheit, Yankee“, sagte der Kutscher.

„Und was ist mit dem Gepäck?“, fragte Roan und zeigte auf die aufgeladenen Taschen und Koffer. Er hatte dabei geholfen, und unter den Sachen der anderen war auch sein großer Koffer.

„Alles Gepäck, das nicht mitgenommen wird, lassen wir an der nächsten Poststation zurück“, informierte ihn der Kutscher und griff nach den Zügeln. „Steigen Sie jetzt ein oder nicht?“, fragte er ein letztes Mal.

Roan sah über seine Schulter hinweg zur Wiese hinüber.

„Ach Mann, jetzt reicht es mir. Ich kann nicht mehr warten!“ Der Kutscher ließ die Zügel auf die Pferderücken schnalzen, stieß einen schrillen Pfiff aus, und die Postkutsche setzte sich in Bewegung; die Räder knarrten, und eine Staubwolke wurde aufgewirbelt, die Roan schließlich die Sicht nahm. Mit seiner Tasche blieb er allein am Straßenrand zurück.

Wo, zur Hölle, ist sie? Roan drehte sich einmal im Kreis und suchte die Landschaft ab, in der sich nichts regte außer zwei Kühen, die auf der anderen Straßenseite grasten.

Und warum, zum Teufel, sollte ihn das eigentlich kümmern? Reichte es nicht, dass er seine florierenden Geschäfte in New York unbeaufsichtigt lassen musste, um Aurora hinterherzulaufen? Er hatte auch immer ein Glück! Sein Vater war zu alt, um seine ungezogene Tochter im Zaum zu halten, und Roans Bruder Beck war noch jünger als Aurora. Er war also der Einzige gewesen, der Aurora finden und nach Hause bringen konnte, wo sie Mr. Gunderson heiraten sollte, wie sie es versprochen hatte.

Wahrscheinlich liebte Aurora Mr. Gunderson trotz all ihrer Beteuerungen einfach nicht. Es war Roan ohnehin merkwürdig vorgekommen, dass seine Schwester sich ausgerechnet in diesen Mann verliebte, denn die Verlobung war von ihrem Vater generalstabsmäßig eingefädelt worden.

Rodin Matheson war ein Visionär, und er hatte sich fest vorgenommen, das Familienvermögen so zu mehren, dass es noch für viele Generationen der Mathesons ausreichen würde – Tanten, Onkel, Cousins und Enkelkinder eingeschlossen. Indem seine Tochter in das Baugeschäft der Gundersons einheiratete, wollte er sicherstellen, dass Mathesons Holzhandel noch auf Jahre hinaus das Material für die Bauvorhaben in New York lieferte.

Roan hielt das für einen genialen Plan, und Aurora hatte sich schließlich einverstanden erklärt, nachdem sie sich ein paarmal mit Sam Gunderson getroffen hatte. „Ich verehre Mr. Gunderson“, hatte sie geschwärmt.

Vielleicht stimmte das … jedenfalls für den Augenblick. Aber das war genau das Problem mit Aurora – sie lebte nur für den Augenblick, und ihre Meinung änderte sie beinahe im Minutentakt.

Dass Roan und seine Tochter Susannah ein schönes Paar abgeben würden, war vom alten Pratt gekommen. Mr. Pratt war der Gründer und Inhaber von Pratts Gießerei, und Rodin hatte sich ein großes Bauimperium ausgemalt, das aus allen drei Firmen bestand. Er hatte Roan erklärt, dass Pratts Gießerei, Gundersons Baugeschäft und Mathesons Holzhandel gemeinsam so viel Geld verdienen konnten wie noch nie, indem sie das Bauunternehmen einer noch immer wachsenden Stadt wurden.

Es war ein berauschender Vorschlag. Roan hatte Susannah noch nie gesehen, aber er hatte erfahren, dass sie den Sommer in Philadelphia verbrachte, und Mr. Pratt hatte beteuert, dass seine Tochter bezaubernd war, eine hübsche, angenehme junge Dame, die eine perfekte Ehefrau abgeben würde. Roan hatte sich bis dahin keine Gedanken gemacht, was eine perfekte Ehefrau auszeichnete – er gab sich normalerweise nicht mit Sentimentalitäten ab, und wenn es um die Ehe ging, betrachtete er sie als etwas, das eben getan werden musste. Genauso wenig hatte er darüber nachgedacht, wen er wohl eines Tages heiraten würde, während sie die Expansion von Mathesons Holzhandel vorantrieben. Er hatte immer geglaubt, dass Eheleute sich lieb gewannen, wenn sie eine Weile zusammengelebt hatten. Zuneigung war für ihn die einzige Voraussetzung für eine Ehe. Seine Eltern hatte sich im Verlauf ihrer Ehejahre gegenseitig schätzen gelernt, und es kam ihm so vor, als ob sie damit glücklich waren. Roan sah keinen Grund, warum es ihm anders gehen sollte. Und an Kinder hatte er erst recht keinen Gedanken verschwendet – er konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht willens und in der Lage war, seinen Teil dazu beizutragen.