Der Adoptivvater - Gert Rothberg - E-Book

Der Adoptivvater E-Book

Gert Rothberg

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Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie ist Denise überall im Einsatz. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. In der Reihe Sophienlust Extra werden die schönsten Romane dieser wundervollen Erfolgsserie veröffentlicht. Warmherzig, zu Tränen rührend erzählt von der großen Schriftstellerin Patricia Vandenberg. Die Kinder von Sophienlust hatten einen Tagesausflug hinter sich. Eigentlich hätten sie jetzt müde sein müssen, aber es gab ja noch so vieles zu erzählen. Zu vieles hatten sie an diesem Tage erlebt. Immer wieder kamen sie darauf zurück. Schwester Regine hatte schon zweimal vergeblich gerufen: »Marsch, marsch, in die Betten.« Jetzt wurde sie etwas resoluter. Ein Kind nach dem anderen ging schließlich an ihr vorbei und sah sie vorwurfsvoll an. Die Kinderschwester lachte. »Morgen könnt ihr weiterplappern. Ich habe ohnehin schon eine halbe Stunde zugegeben, obwohl ich eurer Tante Isi versprochen hatte, euch bald in die Betten zu treiben.« Die kleine Heidi schmiegte sich an Schwester Regine. »Aber es war doch so schön. Da wollten wir eben noch davon erzählen.« Schwester Regine zupfte das kleine Mädchen an den Rattenschwänzchen. »Sicher träumt ihr von dem herrlichen Tag und erlebt ihn so noch einmal.« »Ich träume immer etwas ganz Schönes, Schwester Regine«, sagte Heidi. »Etwas Schlimmes mag ich nicht träumen, weil ich mich dann fürchte. Kommst du noch zu uns?« »Ja, ich komme noch in jedes Zimmer, Heidi, und sage euch gute Nacht.«

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Seitenzahl: 142

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sophienlust Extra – 124 –Der Adoptivvater

Gert Rothberg

Die Kinder von Sophienlust hatten einen Tagesausflug hinter sich. Eigentlich hätten sie jetzt müde sein müssen, aber es gab ja noch so vieles zu erzählen. Zu vieles hatten sie an diesem Tage erlebt. Immer wieder kamen sie darauf zurück.

Schwester Regine hatte schon zweimal vergeblich gerufen: »Marsch, marsch, in die Betten.« Jetzt wurde sie etwas resoluter. Ein Kind nach dem anderen ging schließlich an ihr vorbei und sah sie vorwurfsvoll an.

Die Kinderschwester lachte.

»Morgen könnt ihr weiterplappern. Ich habe ohnehin schon eine halbe Stunde zugegeben, obwohl ich eurer Tante Isi versprochen hatte, euch bald in die Betten zu treiben.«

Die kleine Heidi schmiegte sich an Schwester Regine. »Aber es war doch so schön. Da wollten wir eben noch davon erzählen.«

Schwester Regine zupfte das kleine Mädchen an den Rattenschwänzchen. »Sicher träumt ihr von dem herrlichen Tag und erlebt ihn so noch einmal.«

»Ich träume immer etwas ganz Schönes, Schwester Regine«, sagte Heidi. »Etwas Schlimmes mag ich nicht träumen, weil ich mich dann fürchte. Kommst du noch zu uns?«

»Ja, ich komme noch in jedes Zimmer, Heidi, und sage euch gute Nacht.« Schwester Regine sah der Kinderschar mit leuchtenden Augen nach. Jeden Tag spürte sie von Neuem, wie glücklich es sie machte, für die Schützlinge von Sophienlust sorgen zu können. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr die Arbeit in einem anderen Kinderheim mehr Freude machen würde.

*

Während die Kinder von Sophienlust den Tag gern noch etwas in die Länge gezogen hätten, saß auf der Unfallstation in Göppingen der achtundzwanzigjährige Medizinstudent Utz Ullmann und sah immer wieder auf die Uhr. Zu gern wäre er schon in sein kleines Zimmer zurückgegangen. Freilich, an Schlaf hätte er auch dort noch nicht denken können. Er stand gerade vor dem Examen und musste jede freie Stunde nutzen, um zu büffeln. Seine Kommilitonen, die wie er vor dem Abschluss ihres Studiums standen, hatten es längst aufgegeben, nebenbei zu arbeiten. Er aber konnte sich das nicht leisten. Er hatte keine Eltern oder andere Verwandten, die ihn unterstützten. Um sich notdürftig über Wasser halten zu können, arbeitete er als Fahrer eines Krankenwagens. Meistens übernahm er den Nachtdienst, um die Vorlesungen nicht versäumen zu müssen. An diesem Tag hatte ihm der zweite Fahrer versprochen, ihn um elf Uhr nachts abzulösen.

Aber die Zeit wollte nicht vergehen. Utz wäre es lieber gewesen, er hätte unterwegs sein können, statt hier mit den beiden Sanitätern auf den nächsten Einsatz zu warten.

In den letzten Stunden war es sehr ruhig gewesen. Sie hatten vor Langeweile schon Skat gespielt. Hoffentlich kam nun in letzter Minute nicht doch noch ein Einsatz.

Utz hatte das kaum gedacht, da schlug die Alarmglocke an. »Wagen zwölf, bitte. Verkehrsunfall Ecke Stuttgarter-Schwabenstraße«, erklang eine Männerstimme aus dem Funkgerät.

Utz stand auf. Er strich sich müde über das dunkelbraune Haar. Nun würde es wieder spät werden, denn sein Vertreter war noch nicht da. Schon wenige Minuten später hätte er die Fahrt übernehmen können. Aber einige Minuten zu warten, das konnte schon ein Menschenleben gefährden. Also sagte er: »Gehen wir.«

Der Sanitäter Paul Harms nickte ihm zu. »Aber fahre nicht wieder wie ein Verrückter. Das Martinshorn ist keine Garantie dafür, dass jeder die Straße für uns räumt.«

Der große stattliche Utz lächelte. Er kannte die Bedenken der Sanitäter schon, wenn sie mit ihm fuhren. Aber bei aller Waghalsigkeit war ihm noch nie ein Unfall passiert. Er musste einfach besonders schnell fahren, wenn er wusste, dass ein Verletzter auf Hilfe wartete. Es würde ihm nicht anders ergehen, wenn er Arzt sein würde. Bald würde er es ja geschafft haben. Eine Stelle als Assistenzarzt im Göppinger Krankenhaus war ihm schon sicher.

Trotz der riskanten Fahrt vermochte Utz noch an diese Dinge zu denken. Er glaubte, dass sich noch kein Medizinstudent so darauf gefreut hatte, endlich Kranke behandeln zu können, wie er. Dann würde er auch bald seine geliebte Selma heiraten können. Sie studierte ebenfalls Medizin und war trotz ihrer erst dreiundzwanzig Jahre schon im sechsten Semester. Aber sie hatte es leichter als er. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und brauchte die wertvolle Zeit nicht für Arbeit zu verschenken. Er selbst hatte sogar zwei Semester aussetzen müssen, um sich das Geld zum Weiterstudieren zu verdienen.

Der Krankenwagenfahrer Utz Ullmann wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sie waren an der Unfallstelle angekommen. Es bot sich ihnen das nun schon gewohnte Bild: zwei Streifenwagen der Polizei und – trotz der späten Stunde – mehrere Neugierige.

Auf dem Bürgersteig stand ein arg verbeulter Kleinwagen. Die Windschutzscheibe war zersplittert. Vor einem Hauseingang lag auf einer Decke ein Mädchen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Lastwagen. Er musste mit dem Kleinwagen kollidiert sein.

Utz sprang aus dem Krankenwagen. Die Polizisten kannten ihn schon und wussten, dass er Erste Hilfe leisten konnte. »Sie ist hochschwanger. Angeblich war sie auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte jemand.

»Ja, sie hat Wehen.« Ein Polizist half Paul Harms, die Trage aus dem Krankenwagen zu heben.

Utz kniete auf dem Bürgersteig. Das Licht einer Straßenlampe fiel auf die Verletzte. Aus einem schmalen, totenblassen Gesicht sahen ihn große Augen an. »Mein Kind«, flüsterte eine kaum vernehmbare Stimme.

Utz strich dem Mädchen über das blonde Haar. »In wenigen Minuten sind wir im Krankenhaus. Ihr Kind wird dort zur Welt kommen.«

Er half mit, die Verletzte auf die Trage zu heben.

Sie schüttelte den Kopf und presste beide Hände auf den gewölbten Leib. Ihr Gesicht war verzerrt.

»Können Sie den Krankenwagen fahren?« fragte Utz einen der Polizisten. »Ich möchte bei der Verletzten bleiben. Es scheint nötig zu sein.«

Der Polizist nickte und lief schon voraus.

Utz und der Sanitäter Paul Harms stiegen hinten ein und schlossen die Tür.

»Es wäre nicht das erste Kind, das ich unterwegs zur Welt bringe«, sagte der ältere Sanitäter. »Aber mir ist es schon lieber, Sie sind dabei, Utz. Sie verstehen doch mehr davon als ich.« Er öffnete die Handtasche, die neben dem Mädchen gelegen hatte, und fand einen Pass. »Antonia von Wangen?«, fragte er.

Das Mädchen nickte. »Ja, ich heiße Toni.« Dabei sah sie Utz an. Sie stöhnte. »Mein Herz … Ich habe ein krankes Herz. Ich werde das nicht durchstehen.« Sie schloss die Augen, dann schrie sie unterdrückt.

»Ganze zwanzig Jahre ist sie alt«, sagte der Sanitäter.

Utz schlug die Decke zurück und tastete Tonis Leib ab. Er geriet in Erregung, weil er spürte, dass Presswehen eingesetzt hatten. »Das schaffen wir nicht bis zum Krankenhaus«, sagte er leise zu dem Sanitäter. »Gib mir die Gummihandschuhe.« Er befreite das Mädchen von der Kleidung. »Jetzt müssen Sie ganz ruhig sein. Es geht um Ihr Kind. Ich kann Ihnen helfen. Ich bin angehender Arzt und habe schon monatelang auf einer Wöchnerinnenstation gearbeitet.«

In den nächsten Minuten blieb nur mehr Zeit für ein paar aufmunternde Worte. Utz sah den Sanitäter an und sagte leise: »Sturzgeburt. Gib mir sterile Tücher und eine Schere zum Abnabeln. Du weißt ja Bescheid.«

Zum Abnabeln kam Utz nicht mehr. Der Wagen hielt vor dem Krankenhaus. Toni und ihr soeben geborener Junge wurden in die Ambulanz getragen. Der Arzt und eine Hebamme kamen, um den beiden weiterzuhelfen.

Utz stand auf dem Gang und wischte sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Das war heute mein letzter Einsatz. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dabei einem Kind helfen würde, auf diese schöne Welt zu kommen.« Er sah den Sanitäter an. »Fahren wir zurück.«

»Sie würden doch lieber hierbleiben und hören, wie es der jungen Mutter geht«, sagte Paul Harms. »Das sehe ich Ihnen an.«

»Ja, ich mache mir Sorgen um sie. Sie scheint innere Verletzungen davongetragen zu haben. Nur dadurch konnte es zu der Sturzgeburt kommen. Zudem klagte sie noch über ihr Herz.« Utz ging langsam aus dem Krankenhaus und löste den Polizisten am Volant ab.

»Wieder einmal ein uneheliches Kind«, sagte der Sanitäter etwas später. »Wer weiß, ob das Mädchen einen Vater dazu hat. Sie ist eine Adelige. Von Wangen.«

Utz hörte kaum zu. Er sah immerzu das verzerrte blasse Mädchengesicht mit den großen Augen vor sich. Es verfolgte ihn noch im Schlaf.

*

Am nächsten Tag ging Utz nach der Vorlesung ins Krankenhaus. Zum ersten Mal wollte er sich nach jemandem erkundigen, den er im Krankenwagen gefahren hatte. Er konnte mit dem Arzt sprechen.

»Mein Kompliment, zukünftiger Kollege«, sagte der Arzt. »Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht. Das Kind hat keinen Schaden genommen.«

»Und die Mutter?« ,fragte Utz beunruhigt.

Das Gesicht des Arztes wurde sehr ernst. »Ich fürchte, wir werden sie nicht retten können. Sie hat einen schweren angeborenen Herzfehler und dazu eine Quetschung des Lungenflügels. Sie ist kaum ansprechbar. Aber eines hat sie getan: nach Ihnen gefragt. Wollen Sie die Patientin besuchen? Ich glaube, sie möchte sich bei Ihnen bedanken.«

»Wofür?«, fragte Utz erregt. In seinen grauen Augen stand Abwehr. »Ich habe nur meine Pflicht getan. Es war reiner Zufall, dass ich von einer Entbindung etwas verstehe.«

»Aber ich nehme an, dass es die Schwerkranke erleichtern würde, ein paar Worte mit Ihnen sprechen zu können, Herr Ullmann.«

Utz zögerte noch einige Sekunden, dann sagte er: »Gut, ich will sie besuchen.«

Eine Schwester führte ihn in das Krankenzimmer. Toni von Wangen lag allein darin. Das erschreckte Utz noch mehr. Er ging beinahe ängstlich auf das Bett zu.

Die Kranke war an einen Infusionsapparat angeschlossen. Ihr Gesicht sah eingefallen aus. Am Abend zuvor hatte es dagegen noch einen beinah frischen Eindruck gemacht.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte die Kranke leise. »Ich wollte mich bei Ihnen bedanken. Ohne Ihre Hilfe würde mein Kind vielleicht nicht leben, Herr …«

»Ullmann«, sagte Utz. »Es blieb uns keine Zeit zum Vorstellen. Ihren Namen kenne ich aber aus dem Pass. Ich freue mich, dass es Ihrem kleinen Jungen gut geht, Toni.« Utz musste das Mädchen jetzt so vertraut ansprechen. Es sah so hilfsbedürftig aus, dass er ihm am liebsten über den Kopf gestrichen hätte.

»Ja, mein Jörg wird leben«, flüsterte Toni.

»Der Junge hat schon einen Namen?«

Jetzt legte sich zum ersten Mal ein Lächeln über die Lippen der Schwerkranken. »Er soll wie sein Vater heißen.« Das Lächeln erstarb schon wieder. »Er ist vor sieben Monaten tödlich verunglückt. Wir konnten nicht mehr heiraten.«

»Sie sind nicht in Göppingen zu Hause?«, fragte Utz.

»Der Vater meines Kindes stammte aus Göppingen. Aber er hat keine Verwandten hier. Ich war auf mich allein gestellt, als er starb. Bis vor Kurzem habe ich noch in einem Büro gearbeitet. Ich hätte das auch noch nach der Geburt meines Kindes tun können. Aber nun …« Sie hatte Tränen in den Augen.»Ich werde nicht für mein Kind sorgen können. Das spüre ich, auch wenn die Ärzte mir Mut machen wollen.« Als sie sah, dass Utz etwas sagen wollte, bat sie: »Bitte, versuchen Sie nicht, mich auch zu belügen. Ich habe nicht viel Kraft zum Sprechen. Aber ich muss Ihnen noch etwas sagen.« Sie machte eine Pause, ehe sie mühsam weitersprach.

»Ich weiß niemanden, der sich um meinen Jungen kümmern würde. Wir beide sind einander zwar fremd, aber Sie haben Jörg und mir gestern geholfen. Darf ich Ihnen etwas anvertrauen?«

Utz nickte beklommen.

»Sie kennen meinen Namen, ich stamme aus einer alten und sehr begüterten Familie. Wir haben ein großes Landhaus bei Petersdorf in der Lüneburger Heide. Aber ich habe dort keine glückliche Kindheit gehabt. Auch meine Jugend war durch meine Stiefmutter Valerie von Wangen vergiftet. Sie hasst mich. Dabei geht es ihr um das Erbe. Nach dem Tod meines Vaters vor einem Jahr habe ich den gesamten Besitz geerbt. Meine Stiefmutter hat in unserem Haus ›Heidefrieden‹ nur ein Wohnrecht auf Lebenszeit.«

»Warum sind Sie nicht in die Geborgenheit dieses Hauses zurückgekehrt, als Sie ein Kind erwarteten?«, fragte Utz. »Wenn Ihnen dort alles gehört, hätten Sie doch …«

Toni unterbrach ihn. »Meine Stiefmutter ist stärker als ich. Deshalb konnte ich nicht dort leben. Sie hat mich verachtet, weil ich Jörg König geliebt habe. Er war Grafiker. Wir wären nie in mein Haus zurückgekehrt, solange meine Stiefmutter dort gelebt hätte.« Toni schöpfte tief nach Atem und sagte dann beschwichtigend: »Es geht schon noch. Ich muss das alles sagen, weil ich nicht möchte, dass mein Kind jemals mit meiner Stiefmutter unter einem Dach leben muss. Es müsste so freudlos aufwachsen wie ich.«

Ihre Hand tastete über die Decke. »Wenn Sie eine Frau wären, würde ich Sie jetzt bitten, sich meines Jungen anzunehmen. Es ist Geld da, von dem die Pflege bezahlt werden könnte.«

»Sie werden sich selbst um den Jungen kümmern können«, versuchte Utz noch einmal Toni zu ermuntern.

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Ich dachte, ich könnte mit Ihnen vernünftig sprechen. Es ist mir nicht damit geholfen, dass Sie Ausflüchte suchen. Wenn Sie angehender Arzt sind, müssen Sie erkennen, wie es um mich steht. Ich hätte nie ein Kind haben dürfen. Zudem habe ich gestern noch den schweren Unfall gehabt.«

Sie hat recht, dachte Utz. Sterbende beruhigt man nicht mit Phrasen. Sie sehen tiefer als wir anderen. Er beugte sich über Toni. »Es geht also um Ihr Kind. Es soll nicht zu Ihrer Stiefmutter kommen. Ich könnte dafür sorgen, dass es in einem guten Heim untergebracht wird.«

Toni schloss die Augen. »Ein Heimkind«, sagte sie bitter. Unter ihren Lidern zwängten sich Tränen hervor. »Warum sollte sich nicht jemand finden, der Jörg adoptiert und ihm Liebe gibt? Mehr Liebe, als man ihm in einem Heim schenken kann?«

Utz richtete sich auf. Er sah Selma vor sich, die er bald heiraten wollte. Warum sollten sie nicht diesen kleinen Jungen bei sich aufnehmen? Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass dieser Einsatz gestern Abend noch hatte gefahren werden müssen. »Ich bin verlobt, Toni, und werde bald heiraten. Würde es Sie beruhigen, wenn ich Ihnen verspreche, mich mit meiner zukünftigen Frau des Jungen anzunehmen?«

Die Schwerkranke öffnete die Augen. »Das würden Sie tun? Sie sind ein guter Mensch, das spüre ich.« Vor Erregung konnte sie nicht weitersprechen.

Die Schwester kam ins Zimmer und sah Utz vorwurfsvoll an. »Sie sollten etwas mehr Verstand haben, Herr Ullmann.«

»Ich bin schuld daran, Schwester«, sagte Toni, »dass wir so viel gesprochen haben.«

»Aber jetzt kann ich das nicht mehr zulassen.« Die Schwester sah Utz auffordernd an.

Er stand auf und beugte sich über die Kranke. »Ich komme morgen wieder, Toni. Es bleibt bei dem, was wir eben als Lösung ausgeknobelt haben.« Er bemühte sich, betont leicht zu sprechen.

»In meiner Handtasche ist der Schlüssel zu meiner kleinen Wohnung. Dort finden Sie alles, was Jörg braucht.« Jetzt war Toni kaum noch zu verstehen. »Bis morgen. Und danke.« Ihre großen Augen sahen Utz wieder mit dem Blick an, der ihn schon in der Nacht erschüttert hatte.

Utz zog die Hand der Kranken an die Lippen. »Ja, bis morgen, Toni.«

*

Es gab kein Morgen. In der Nacht nach Utz Ullmanns Besuch starb Antonia von Wangen. Utz erfuhr es, als er wieder ins Krankenhaus kam. Erst jetzt wurde er sich der Tragweite dessen bewusst, was er der Sterbenden versprochen hatte.

Wenig später wurde er noch eindringlicher daran erinnert. Die Nachtschwester hatte bei einem Arzt hinterlassen, was die letzten Worte der Sterbenden gewesen waren: »Herr Ullmann wird sich meines Jungen annehmen. Ich denke jetzt nur an die beiden.«

Ohne den kleinen Jörg besucht zu haben, verließ Utz das Krankenhaus. Er war jetzt nicht imstande, den Jungen zu sehen. Das brachte er erst am nächsten Tag fertig. Zu dieser Zeit war die Tote schon überführt worden. Die Polizei hatte sich mit Valerie von Wangen in Verbindung gesetzt, und diese hatte die Überführung nach Petersdorf in der Lüneburger Heide angeordnet. Man hatte ihr auch gesagt, dass Toni knapp vor ihrem Tod noch eine Pflegestelle für ihr neugeborenes Kind gefunden hatte. Valerie von Wangen schien darüber sehr erleichtert gewesen zu sein. Sie hatte nicht einmal gefragt, wer das Kind aufnehmen würde.

*

Utz hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Selma Erber, seiner Verlobten, zu sprechen. Sie lebte und studierte in Frankfurt. Aber an den Wochenenden kam sie meistens nach Göppingen.

Auch in dieser Woche erwartete Utz sie. Doch am Freitag rief sie an und bat ihn, nach Frankfurt zu kommen. Sie wollte in ihrem Elternhaus eine große Party feiern.

Utz sprach von der Unfallstation aus mit ihr. Er sagte erschrocken: »Aber Selma, wir hatten doch fest abgemacht, dass du zu mir kommst. Du weißt, dass ich es mir nicht leisten kann, zwei Tage von hier weg zu sein. Ich habe nächste Woche die schwersten Prüfungen.«

»Dass du auch immer nur an die Arbeit denken musst, Utz.« Selma schmollte. Das verstand sie sehr gut. Als einzige Tochter wohlhabender Eltern war sie verwöhnt und erwartete, dass ihr auch Utz jeden Wunsch erfüllte. Deshalb war es schon öfters zwischen ihnen zu Reibereien gekommen. »Mal hast du Dienst als Fahrer, mal musst du lernen. Andere stehen schließlich auch vor dem Examen und leisten sich noch einmal ein Vergnügen.«

»Das größte Vergnügen ist es für mich, wenn du bei mir bist und wir ein paar Stunden allein sein können, Selma.«