Der Arzt vom Tegernsee 2 – Arztroman - Laura Martens - E-Book

Der Arzt vom Tegernsee 2 – Arztroman E-Book

Laura Martens

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Beschreibung

Dr. Baumann ist ein echter Menschenfreund, rund um die Uhr im Einsatz, immer mit einem offenen Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten, ein Arzt und Lebensretter aus Berufung, wie ihn sich jeder an Leib und Seele Erkrankte wünscht. Seine Praxis befindet sich in malerischer, idyllischer Lage, umgeben von Bergen, Hügeln und kristallklaren Bergseen – in Deutschlands beliebtestem Reiseland, in Bayern, wo die Herzen der Menschen für die Heimat schlagen. Der ideale Schauplatz für eine besondere, heimatliches Lokalkolorit vermittelnde Arztromanserie, die ebenso plastisch wie einfühlsam von der beliebten Schriftstellerin Laura Martens erzählt wird. Die große Serie Der Arzt vom Tegernsee steht für Erfolg – Arztroman, Heimatroman und romantischer Liebesroman in einem! Dr. Eric Baumann fuhr seinen Wagen durch die Hofeinfahrt und parkte direkt vor dem alten Bauernhaus, dessen Untergeschoß mit Szenen aus dem alten Testament bemalt war. Auf dem darüberliegenden, um das ganze Haus laufenden Balkon blühten die herrlichsten Geranien und hüllten alles mit ihrem betäubenden Duft ein.MagdalenaWalkhofer trat mit einem Korb voller Wäsche aus dem Haus. "Schön, daß Sie schon da sind, Doktor Baumann", sagte sie, stellte den Korb ab und bot ihm die Hand. Aufseufzend verdrehte sie die Augen. "Die Laune meines Bruders ist heute mal wieder unerträglich. Ich kann ja verstehen, daß es ihn wütend macht, noch immer auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, nur sollte er langsam begreifen, daß man einen so schweren Unfall, wie er ihn hatte, nicht einfach wegstecken kann."Das weiß Ihr Bruder im Grunde seines Herzens auch, Frau Walkhofer", meinte der Arzt, "aber für so einen tatkräftigen Mann wie ihn ist es sehr schwer, untätig herumsitzen zu müssen, während andere von morgens bis abends schaffen dürfen.Die Wirtschafterin lachte auf. "Ehrlich, Doktor Baumann, ich hätte manchmal nichts dagegen, auch einmal untertags die Beine ausstrecken zu können." Sie nahm den Wäschekorb wieder auf. "Sprechen Sie bitte mit dem Anton. Sagen Sie ihm, daß es nicht so weitergehen kann. Mit seinem ewigen Genörgele macht er uns noch alle verrückt."Ich werde ihm mal wieder die Leviten lesen", versprach Eric. "Fragt sich nur, ob es etwas helfen wird. Was der Anton nicht hören will, das geht ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen heraus."So ist er schon als Kind gewesen", erwiderte Magdalena. Sie nickte ihm zu und trug die Wäsche hinter das Haus.

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Der Arzt vom Tegernsee – 2–

Der Tag, der die Entscheidung brachte

Laura Martens

Dr. Eric Baumann fuhr seinen Wagen durch die Hofeinfahrt und parkte direkt vor dem alten Bauernhaus, dessen Untergeschoß mit Szenen aus dem alten Testament bemalt war. Auf dem darüberliegenden, um das ganze Haus laufenden Balkon blühten die herrlichsten Geranien und hüllten alles mit ihrem betäubenden Duft ein.

MagdalenaWalkhofer trat mit einem Korb voller Wäsche aus dem Haus. »Schön, daß Sie schon da sind, Doktor Baumann«, sagte sie, stellte den Korb ab und bot ihm die Hand. Aufseufzend verdrehte sie die Augen. »Die Laune meines Bruders ist heute mal wieder unerträglich. Ich kann ja verstehen, daß es ihn wütend macht, noch immer auf den Rollstuhl angewiesen zu sein, nur sollte er langsam begreifen, daß man einen so schweren Unfall, wie er ihn hatte, nicht einfach wegstecken kann.«

»Das weiß Ihr Bruder im Grunde seines Herzens auch, Frau Walkhofer«, meinte der Arzt, »aber für so einen tatkräftigen Mann wie ihn ist es sehr schwer, untätig herumsitzen zu müssen, während andere von morgens bis abends schaffen dürfen.«

Die Wirtschafterin lachte auf. »Ehrlich, Doktor Baumann, ich hätte manchmal nichts dagegen, auch einmal untertags die Beine ausstrecken zu können.« Sie nahm den Wäschekorb wieder auf. »Sprechen Sie bitte mit dem Anton. Sagen Sie ihm, daß es nicht so weitergehen kann. Mit seinem ewigen Genörgele macht er uns noch alle verrückt.«

»Ich werde ihm mal wieder die Leviten lesen«, versprach Eric. »Fragt sich nur, ob es etwas helfen wird. Was der Anton nicht hören will, das geht ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen heraus.«

»So ist er schon als Kind gewesen«, erwiderte Magdalena. Sie nickte ihm zu und trug die Wäsche hinter das Haus.

Anton Löbl, der Besitzer des Löblhofes, hatte vor einigen Wochen einen schweren Unfall mit seinem Traktor gehabt und nur wie durch ein Wunder überlebt. Auf eigenem Wunsch war er vorzeitig aus dem Krankenhaus in Tegernsee entlassen worden. Da er noch immer kaum laufen konnte, hatte man ihm eine Schlafstube im Untergeschoß des großen Bauernhauses eingerichtet. Von dort aus versuchte er jetzt, Familie und Gesinde unter Kontrolle zu halten.

Dr. Baumann klopfte an die halb­offene Tür.

»Komm nur rein, Eric!« rief der Bauer.

»Woher wußtest du, daß ich es bin, Anton?« fragte der Arzt und trat ein.

»Weil ich deinen Wagen gehört habe.«

»Du hast Ohren wie ein Luchs, Löbl«, bemerkte Eric und stellte seine Tasche auf das Bett. »Was tust du um diese Zeit in der Schlafstube? Warum gehst du nicht ein bißchen an die frische Luft?«

»Gehen?« Die Stimme des Bauern vibrierte vor Hohn. »Hast du wirklich gehen gesagt, Eric? – Ich frage mich, ob ich mit diesen Beinen überhaupt jemals wieder gehen kann. « Er schlug sich hart auf die Oberschenkel.

»Eines Tages wirst du wieder richtig laufen können, Anton«, erwiderte Dr. Baumann und öffnete die Tasche. »Du mußt noch etwas Geduld haben.«

»Du hast gut reden, Eric.« Anton Löbl starrte aus dem offenen Fenster auf die grünen Hänge, die sich in einiger Entfernung hinter dem Haus hochzogen. »Es ist verdammt schwer, tatenlos zusehen zu müssen, wie hier alles verkommt.«

»Jetzt bist aber ungerecht.« Baumann bat den Bauern, seinen rechten Arm freizumachen. »Deine Schwester und der Paul lassen den Hof ganz gewiß nicht verkommen. Bisher hast du dich noch immer auf die Magdalena verlassen können. Hast du denn vergessen, wie sie nach dem Tod deiner Frau mit ihrem Stiefsohn auf den Hof gekommen ist, damit du mit deiner Tochter nicht alleine dastehst? Sie wäre auch auf dem Hof ihrer Schwiegereltern willkommen gewesen. Immerhin haben sie es ihr lange Jahre übelgenommen, daß sie mit dem Paul zu dir gezogen ist.«

»Die Magdalena und der Paul sind schon in Ordnung«, mußte der Anton Löbl widerwillig zugeben. »Und auch über die Franziska kann ich nicht klagen.«

»Und warum machst du ihnen dann das Leben so schwer?« fragte Eric und zog eine Spritze auf. »Sie können nichts für deinen Unfall. Glaub mir, Anton, sie sind durch die Hölle gegangen, als du im Krankenhaus lagst und keiner sagen konnte, ob du mit dem Leben davonkommen wirst.«

»Für mich ist es auch nicht leicht gewesen. Ich… au! Kannst du nicht vorsichtig sein, Eric?« Anton Löbl starrte den Arzt empört an. »Du mußt deine Aggressionen nicht an mir auslassen.«

»Seit wann bist du so empfindlich?« Eric legte die Spritze beiseite. »Wenn du willst, bring ich dich in den Garten. Es tut nicht gut, den ganzen Tag drinnen zu sitzen.«

»Du könntest mich auch in den Stall bringen, damit ich dort nach dem Rechten sehen kann.« Der Bauer stützte sich schwer auf die Lehnen des Rollstuhls. Es gelang ihm, sich aufzurichten. Schweratmend ließ er sich wieder in den Sitz zurückgleiten. »Mit den Krücken würde ich sogar ein paar Schritte gehen können. Du müßtest sie mir nur geben. Franziska hat sie mir heute morgen fortgenommen, weil ich versucht habe, allein mit ihnen zurechtzukommen.«

»Sie und der Paul machen jeden Tag Gehübungen mit dir. Das muß vorerst genügen.« Eric schloß seine Tasche. »Also, was ist? Soll ich dich in den Garten fahren?«

»Nein.« Anton Löbl preßte die Lippen zusammen.

»Anton, bitte, sei vernünftig. Du kannst noch nicht alleine gehen.« Dr. Baumann ergriff die Hand des Kranken. »Jeder Sturz würde dich um Wochen zurückwerfen. Deine Beinmuskeln müssen erst wieder kräftiger werden. Du kannst von Glück sagen, daß deine Tochter Krankengymnastin ist. Ohne Franziska wärst du noch lange nicht so weit wie jetzt.«

»Warum gehst du nicht endlich? – Du hast sicher noch andere Patienten, denen du Vorschriften machen kannst.« Anton Löbl setzte seine Brille auf, nahm demonstrativ die Zeitung vom Tisch und schlug sie auf. »Kaum zu glauben, was aus so einem netten Buben, wie du mal einer gewesen bist, werden kann. Dein Vater hätte mich längst wieder auf die Beine gebracht. Das war ein Arzt…« Er blickte grimmig über den Rand der Brille Eric an. »Wenn…«

»So leicht konnte meinem Vater niemand das Wasser reichen«, bestätigte Eric Baumann. »Aber leider ist er tot. Du wirst dich genauso damit abfinden müssen wie ich, Anton.« Er berührte die Schulter des Bauern. »Dann bis übermorgen. Wenn etwas sein sollte, ruf mich an.«

»Soweit kommt’s noch«, brummte Anton Löbl.

Dr. Baumann verließ das Haus. Der Hof war menschenleer vor ihm, doch hörte er die Stimme der Wirtschafterin aus der Scheune. Sie schien sich mit einem der Knechte zu unterhalten. »Frau Walkhofer!« rief er.

Magdalena steckte den Kopf durch die Scheunentür. »Möchten Sie nicht zu einem Kaffee bleiben, Doktor Baumann?« fragte sie und rieb sich die Hände an der Schürze ab.

»Nein, heute nicht«, antwortete Eric. »Ich komme übermorgen wieder.« Er winkte ihr zu und stieg in seinen Wagen. Keine zwei Minuten später hatte er bereits den Hof verlassen und fuhr die schmale Berg­straße entlang, die nach Tegernsee hinunterführte. Mit den Gedanken war er jedoch noch immer bei Anton Löbl. Es mußte doch einen Weg geben, den Bauern aus seinen Depressionen herauszureißen.

Dr. Baumann hatte Tegernsee fast erreicht, als er plötzlich Simon Weiß, einen alten Mann, der zu seinen Patienten gehörte, auf einer Bank links der Straße sitzen sah. Der Alte wirkte so verloren, daß Eric in der nächsten Parkbucht anhielt und die wenigen Meter zur Bank zurücklief.

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Weiß?« fragte er besorgt und setzte sich zu ihm auf die Bank.

Simon hob schwerfällig den Kopf. »Ach, Sie sind es, Herr Doktor«, meinte er matt und strich sich mit einer resignierenden Bewegung über die schütteren Haare. »Ich wollte in die Stadt hinunter, um was einzukaufen, da ist mir schwindelig geworden.«

»Was mich nicht wundert, Herr Weiß.« Eric fühlte den Puls des Alten. »Es ist viel zu heiß, um so weit zu gehen. Hin und wieder sollten Sie auch an Ihr krankes Herz denken. Zu was gibt es einen Bus?«

»Was soll’s.« Simon hob die Schultern. »In meinem Alter sollte man sich darum keine Gedanken mehr machen. Auf eine Woche mehr oder weniger kommt es nicht an. Seit dem Tod meiner Kathi kann mich ohnehin nichts mehr freuen. Ein Tag ist wie der andere…« Er seufzte auf.

»So sollten sie nicht reden, Herr Weiß«, mahnte Dr. Baumann. »Wenn Sie schon nicht an sich denken, sollten Sie es wenigstens an Ihre Tochter und Ihre Enkel. Nicht jeder alte Mensch hat das Glück, so geliebt zu werden.«

»Und deswegen soll ich meiner Tochter zur Last fallen?« Simon Weiß schüttelte den Kopf. »Je früher die Totenglocken für mich läuten, um so besser wird es sein.«

Eric sah ein, daß es nichts bringen würde, jetzt mit dem alten Mann ein langes Gespräch über den Sinn seines Lebens zu führen. Er stand auf und bot ihm die Hand. »Kommen Sie, Herr Weiß, ich nehme Sie mit in die Stadt hinunter.«

Simon Weiß zögerte einen Moment, bevor er die Hand des Arztes ergriff und sich von diesem aufhelfen ließ. »Es ist nichts, wenn man alt wird«, murmelte er vor sich hin, während sie zum Wagen gingen. »An dem Tag, an dem man meine Kathi zu Grabe getragen hat, hätte ich ihr folgen sollen.«

»Versündigen Sie sich nicht, Herr Weiß«, erwiderte Eric. »Stellen Sie sich vor, Ihre Kathi würde hören, was Sie so sagen. Sie hätte keine ruhige Minute mehr aus Angst, Sie könnten sich etwas antun.« Er half dem alten Mann, sich in den Wagen zu setzen. »So krank wie die Kathi gewesen ist, hat sie sich doch etwas Ruhe verdient, meinen Sie nicht?«

Simon Weiß starrte zum Tegernsee hinunter, auf dessem Wasser die Nachmittagssonne lag. »Sie ist eine gute Frau gewesen, meine Kathi.« Bedächtig fügte er fast lautlos hinzu: »Nein, ich sollte ihre Ruhe nicht stören.«

*

Kerstin Meinert legte noch einen Sommermantel oben in den Koffer, dann klappte sie ihn zu und stellte ihn zu dem anderen, der bereits neben der Schlafzimmertür stand. In ihr schien alles hohl und leer, so, als würde es sich bei ihrem Körper nur um eine Hülle handeln. Erschöpft strich sie sich die blonden Haare zurück.

Alisa öffnete die Schlafzimmertür. »Meine Puppen und meine Plüschtiere möchten alle mit«, verkündete sie. »Ohne sie können wir nicht wegfahren.«

Kerstin zwang sich zu einem Lächeln. »Wir können sie nicht alle mitnehmen, Schätzchen«, meinte sie. »Soviel Platz haben wir nicht im Wagen. « Sie nahm die Sechsjährige bei der Hand und ging mit ihr ins Kinderzimmer hinüber. Sämtliche Puppen und Plüschtiere ihrer Tochter saßen auf dem Bett. Auch wenn sie sicher war, es sich nur einzubilden, sie schienen ihr anklagend entgegenzuschauen.

»Ich habe sie doch alle lieb«, sagte Alisa.

»Das weiß ich, trotzdem mußt du dich für eine Puppe und eines der Plüschtiere entscheiden.« Die junge Frau fühlte, in was für einen Gewissenskonflikt sie damit ihre Tochter stürzte. Für Alisa waren die Puppen und Plüschtiere lebendige Wesen. »Es geht nicht anders, weil wir noch einiges von deinem anderen Spielzeug mitnehmen wollen.«

Alisa kämpfte mit sich. Sie überlegte, ob sie ihre Mutter nicht bitten sollte, alles andere Spielzeug zu Hause zu lassen, doch dann ergriff sie die Babypuppe, die sie zu Weihnachten von ihrem Vater bekommen hatte, und Simba, den König der Löwen, den er ihr erst vor vier Wochen von einer Geschäftsreise mitgebracht hatte.

»Wir sind bald wieder zu Hause«, sagte sie zu den anderen. »Ganz bestimmt.«

Das fragt sich noch, dachte Kerstin und tupfte sich mit einem Taschentuch kalte Schweißtröpfchen von der Stirn. So schwindelig war ihr schon lange nicht mehr gewesen. Doch sie wunderte sich nicht darüber. Immerhin bedeutete der heutige Tag einen gewaltigen Lebenseinschnitt für sie.

»Kann der Papa wirklich nicht mit uns mitkommen?« fragte ihre Tochter. »Ohne Papa mag ich nicht in den Urlaub fahren.«

»Du weißt, wieviel der Papa immer zu tun hat.« Kerstin nahm ihr Puppe und Plüschtier aus den Armen und legte sie in die offene Reisetasche, die neben dem Bett stand, dann öffnete sie den Kleiderschrank und begann, auch Alisas Sachen zu packen.

Alisa setzte sich an ihren Schreibtisch. »Warum hat der Papa mich nicht mehr lieb?« wollte sie wissen.

»Das bildest du dir nur ein, Schätzchen.« Die junge Frau richtete sich auf. »Was meinst du, wie er dich vermissen wird, wenn wir am Tegernsee sind?«

Alisa rieb ihr rechtes Schienbein. »Das glaube ich nicht«, erwiderte sie. »Vielleicht ist er froh, wenn ich nicht mehr da bin.« Sie zog heftig die Nase hoch.

Kerstin nahm ihre kleine Tochter in die Arme. Was sollte sie zu ihr sagen? Wolfgangs Verhalten Alisa gegenüber konnte man nur noch als lieblos bezeichnen, dabei war sie noch vor drei Wochen sein ein und alles gewesen. »Es wird schon wieder besser werden«, versuchte sie, die Kleine und auch sich selbst zu trösten.

»Mein Bein tut mir weh«, klagte Alisa.

»Zeig mal.« Kerstin hob Alisas rechten Fuß und strich sanft über das Schienbein. Ihre Tochter zuckte zusammen. »Seit wann tut dir das Bein wieder weh?« Vor vierzehn Tagen war die Kleine ausgerutscht und hart mit dem Schienbein gegen den Couchtisch gestoßen. Das Bein hatte ihr zwei, drei Tage weh getan, doch dann war der Schmerz vergangen.

»Seit jetzt.«

Es konnte stimmen oder auch nicht. Vielleicht schob Alisa den Schmerz nur vor, weil sie nicht ohne ihren Vater verreisen wollte. Nun ja, auf jeden Fall würde es besser sein, in Tegernsee mit ihr zum Arzt zu gehen.

Die Haustür klappte.

»Papa ist da!« Alisa rutschte vom Stuhl und rannte zur Treppe. »Papa! Papa, wir verreisen!« rief sie und polterte die Stufen hinunter.

Wolfgang Meinert stellte seine Aktenmappe ab und hob die Arme, doch dann ließ er sie wieder sinken. Er brachte es nicht fertig, seine Tochter wie früher aufzufangen.

Die Sechsjährige blickte enttäuscht zu ihm auf. »Mama sagt, daß du nicht mitkommst. Warum?« Sie stellte sich auf Zehenspitzen und versuchte, ihrem Vater einen Kuß zu geben, aber er ließ es nicht zu.

»Ich habe jetzt keine Zeit, Alisa«, erwiderte er und griff nach seiner Aktenmappe. Ohne ihr einen weiteren Blick zu schenken, stieg er die Treppe hinauf.

Kerstin kam aus dem Kinderzimmer. »Alisa hat es dir ja bereits gesagt«, meinte sie. »Wir fahren noch heute abend.«

Wolfgang öffnete die Schlafzimmertür und sah die Koffer. »Wie lange werdet ihr fortbleiben?« erkundigte er sich mit starrer Miene.

»Das kommt darauf an«, meinte sie bedeutungsvoll.

»Du mußt wissen, was du tust«, bemerkte er. »Seid ihr noch zum Abendessen da?«

»Ja.«

»Ich bin in meinem Arbeitszimmer.« Er drehte sich um und stieg die Treppe wieder hinunter.

Alisa, die inzwischen auch nach oben gekommen war, schaute ihrem Vater niedergeschlagen nach. »Er hat mich doch nicht mehr lieb«, flüsterte sie aufschluchzend. »Er mag mich überhaupt nicht mehr.« Sie klammerte sich an ihre Mutter. »Was habe ich ihm denn getan, Mama? Warum…«

»Bleib hier oben, Schätzchen.« Kerstin löste die Händchen ihrer Tochter. »Ich werde mit dem Papa reden.« Sie schob Alisa beiseite und folgte ihrem Mann. Als sie schweratmend am Fuß der Treppe angekommen war, klappte gerade die Tür seines Arbeitszimmers zu.

Kerstin umklammerte das Treppengeländer. Sie hatte das Gefühl, sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Nachdem sie Atem geschöpft hatte, ging sie zum Arbeitszimmer und trat ohne anzuklopfen ein.

Wolfgang Meinert stand mit dem Rücken zu ihr am Schreibtisch und sah gerade die Post durch, die am Morgen gekommen war. Er wandte sich nicht um.

»Wir müssen miteinander sprechen, Wolfgang«, sagte Kerstin und schloß die Tür hinter sich. »So geht es jedenfalls nicht mehr weiter.«