Der Arzt vom Tegernsee 49 – Arztroman - Laura Martens - E-Book

Der Arzt vom Tegernsee 49 – Arztroman E-Book

Laura Martens

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Beschreibung

Dr. Baumann ist ein echter Menschenfreund, rund um die Uhr im Einsatz, immer mit einem offenen Ohr für die Nöte und Sorgen seiner Patienten, ein Arzt und Lebensretter aus Berufung, wie ihn sich jeder an Leib und Seele Erkrankte wünscht. Seine Praxis befindet sich in malerischer, idyllischer Lage, umgeben von Bergen, Hügeln und kristallklaren Bergseen – in Deutschlands beliebtestem Reiseland, in Bayern, wo die Herzen der Menschen für die Heimat schlagen. Der ideale Schauplatz für eine besondere, heimatliches Lokalkolorit vermittelnde Arztromanserie, die ebenso plastisch wie einfühlsam von der beliebten Schriftstellerin Laura Martens erzählt wird. Die große Serie Der Arzt vom Tegernsee steht für Erfolg – Arztroman, Heimatroman und romantischer Liebesroman in einem! Marisa Winter folgte ihrem Freund, der den Wagen mit den Koffern durch die Zollkontrolle des Münchener Flughafens schob. Sie fühlte sich unendlich müde und abgespannt, obwohl sie den größten Teil des Fluges von Kapstadt nach Deutschland verschlafen hatte. Außerdem kam es ihr vor, als hätte sie etwas Fieber. Im Moment gab es nichts, wonach sie sich mehr sehnte als nach ihrem Bett. "Ich bin gespannt, ob Angela schon hier ist", meinte Daniel Layher und blieb kurz hinter der Zollkontrolle stehen. "Sie kann ja nicht wissen, daß wir eine halbe Stunde früher als erwartet eingetroffen sind." "Wie ich Angela kenne, ist sie bestimmt schon da. Vermutlich trinkt sie irgendwo eine Tasse Kaffee." Marisa strich sich ihre braunen Haare zurück. Es war ihr sogar etwas schwindlig. Was kann das nur sein, dachte sie. "Was hast du, Liebling?" Daniel sah sie besorgt an. "Es ist nur der Flug. Vermutlich brauche ich eine Weile, bis ich wirklich wieder auf der Erde bin." "Du hast dich heute morgen schon nicht besonders wohl gefühlt." Marisa zwang sich zu einem Lächeln. "Es ist wirklich nichts, Daniel. Du wirst sehen, ein paar Stunden Ruhe, und mir geht es schon entschieden besser.

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Der Arzt vom Tegernsee – 49 –

Fast wäre es zu spät gewesen

Laura Martens

Marisa Winter folgte ihrem Freund, der den Wagen mit den Koffern durch die Zollkontrolle des Münchener Flughafens schob. Sie fühlte sich unendlich müde und abgespannt, obwohl sie den größten Teil des Fluges von Kapstadt nach Deutschland verschlafen hatte. Außerdem kam es ihr vor, als hätte sie etwas Fieber. Im Moment gab es nichts, wonach sie sich mehr sehnte als nach ihrem Bett.

»Ich bin gespannt, ob Angela schon hier ist«, meinte Daniel Layher und blieb kurz hinter der Zollkontrolle stehen. »Sie kann ja nicht wissen, daß wir eine halbe Stunde früher als erwartet eingetroffen sind.«

»Wie ich Angela kenne, ist sie bestimmt schon da. Vermutlich trinkt sie irgendwo eine Tasse Kaffee.« Marisa strich sich ihre braunen Haare zurück. Es war ihr sogar etwas schwindlig. Was kann das nur sein, dachte sie.

»Was hast du, Liebling?« Daniel sah sie besorgt an.

»Es ist nur der Flug. Vermutlich brauche ich eine Weile, bis ich wirklich wieder auf der Erde bin.«

»Du hast dich heute morgen schon nicht besonders wohl gefühlt.«

Marisa zwang sich zu einem Lächeln. »Es ist wirklich nichts, Daniel. Du wirst sehen, ein paar Stunden Ruhe, und mir geht es schon entschieden besser. Gott sei Dank ist morgen Sonntag und ich muß nicht sofort in die Bank.«

»Marisa! Daniel!« Angela Schumann, die Frau des Tegernseer Zahnarztes, winkte ihren Freunden zu. Mit eiligen Schritten kam sie ihnen entgegen, zog erst Marisa und danach Daniel zur Begrüßung in die Arme. »Wie freue ich mich, euch zu sehen. – Na, wie ist die Reise gewesen?«

»Einfach wundervoll«, antwortete Marisa. »Schön, daß du schon hier bist, Angela, und wir nicht warten müssen.«

»Ich bin schon den ganzen Tag in München«, antwortete die junge Frau. »Sonja und ihre Freundin Sharin besuchen Isabel Koch, eine frühere Schulkameradin. Sie hat letztes Jahr die Schule aufgegeben, um zu heiraten. Die beiden Mädchen werden bei Isabel übernachten und morgen von ihr und ihrem Mann nach Tegernsee zurückgebracht.«

»Ist diese Isabel auch erst achtzehn, wie deine Schwester?« erkundigte sich Daniel.

Angela nickte. »Ich finde es etwas jung, um zu heiraten, aber man kann sich da natürlich auch täuschen. Isabel scheint mit ihrem Mann sehr glücklich zu sein.« Sie griff nach dem Gepäckboy. »Laß nur, ich fahre ihn. Ihr müßt euch ein bißchen ausruhen.«

Gemeinsam verließen die jungen Leute das Flughafengebäude und wandten sich dem Parkplatz zu. Angela Schumann öffnete den Kofferraum ihres Wagens.

Daniel verstaute das Gepäck. »Also ehrlich, Angela, ich finde achtzehn viel zu früh, um zu heiraten. Später werden es die beiden bestimmt bereuen. Kaum aus der Schule und schon in die Ehe.« Er schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht jeder so freiheitsdurstig wie du, Daniel«, sagte Marisa und setzte sich in den Wagen. Müde lehnte sie sich zurück, schloß die Augen. Es war eine wunderschöne Reise gewesen. Sie hatte jeden Tag mit Daniel genossen und sie hätte ewig so weiterleben können, trotzdem war sie enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß ihr Daniel auf dieser Reise einen Heiratsantrag machen würde. Anscheinend dachte er überhaupt nicht daran. Ihm reichte es zu wissen, daß sie in Kürze zusammenziehen würden.

Auf der Fahrt nach Tegernsee erzählten Marisa und Daniel von ihrem Aufenthalt in Südafrika. Sie waren drei Wochen dort gewesen und hatten unendlich viel erlebt. Jeder Tag war ihnen wie ein kleines Abenteuer erschienen.

»Ich freue mich schon darauf, wenn ihr uns die Filme zeigt, die ihr in Südafrika gedreht habt«, sagte Angela. »Vielleicht kann ich Roland überreden, nächstes Jahr mit mir auch nach Kapstadt zu fliegen.« Sie lachte leise auf. »Ihr kennt ja Roland. Er fliegt nicht gern.«

»Wir werden uns Mühe geben, ihn dazu zu überreden«, versprach Daniel. »Ich bin sehr froh, daß Marisa und ich uns zu dieser Reise entschlossen haben.« Er nahm die Hand seiner Freundin. »Es ist wirklich schade, da sie nur drei Wochen gedauert hat. Leider konnte Marisa nicht länger Urlaub nehmen. Nächste Woche ist erst einmal ihre Kollegin an der Reihe.«

»Ich brauche ohnehin ein paar freie Tage, wenn wir umziehen«, warf Marisa ein und sah ihren Freund liebevoll an. »Nicht jeder kann es so einfach haben wie du und im Geschäft seiner Eltern arbeiten.«

»Du kennst meinen Vater. Ich bekomme auch nicht jederzeit Urlaub«, antwortete der junge Mann.

Marisa schloß die Augen. Mit einem Taschentuch tupfte sie sich den Schweiß von der Stirn.

»Hoffentlich wirst du nicht krank«, meinte Angela, die sie durch den Rückspiegel beobachtete. »Mir ist vorhin schon aufgefallen, wie blaß du bist.«

»Das fehlte mir gerade noch«, bemerkte sie.

Während sich Daniel und Angela weiter über Südafrika unterhielten, nickte Marisa ein. Sie wachte erst auf, als sie Tegernsee erreichten. Langsam wurde es dunkel. Die Lichter der Häuser spiegelten sich im Wasser. In der Ferne sah sie die ›Seemarie‹ auf der Fahrt nach Rottach-Egern.

Angela brachte Daniel Layher zum Haus seiner Eltern. Sie wohnten in der Innenstadt. Im Erdgeschoß des Hauses befand sich das große Buchgeschäft, das seiner Familie seit drei Generationen gehörte. Die Wohnung lag darüber.

»Ich kann es kaum noch erwarten, in unsere gemeinsame Wohnung zu ziehen«, sagte Marisa. Sie hatte Anfang des Jahres von einem Onkel, der in Berlin gelebt hatte, mehrere hunderttausend Mark geerbt und mit diesem Geld eine Wohnung im Narzissenweg gekauft. Vor vier Wochen war das Haus bezugsfertig geworden.

»Hast du schon daran gedacht, daß ihr in unmittelbarer Nähe von Lina Becker leben werdet?« sagte Angela.

»Der einzige Wermutstropfen«, bemerkte Marisa. Sie kannte Lina Becker von der Bank her und wußte auch, daß sie Patientin bei Dr. Schumann war.

»Wer ist diese Lina Becker?« erkundigte sich Daniel.

»Man nennt sie die Zeitung vom Narzissenweg«, erwiderte Marisa. »Ich würde sagen, die größte Klatschblase weit und breit.«

»Auf ihre Art durchaus ein Original«, fügte Angela hinzu. »Ihr Mann hat vor einigen Wochen ein kleines Buch herausgegeben. Es heißt ›Das Kind mit den großen Ohren‹ und beschreibt die Geschichte einer Familie.«

»Ein sehr origineller Titel.« Daniel lachte.

»Er hat meinem Mann und mir ein Exemplar mit einer Widmung geschenkt«, erzählte Angela.

»Da die Beckers Kunden unserer Bank sind, haben wir auch eines bekommen«, sagte Marisa. »Der einzige, der es bis jetzt gelesen hat, ist Herr Mergenthaler. Was kein Wunder ist, da er auch schreibt. Allerdings keine Prosa, sondern Lyrik.«

»Nun, über die Gedichte von Florian Mergenthaler kann man geteilter Meinung sein«, sagte Angela. »Davon abgesehen finde ich ihn sehr nett.« Sie hielt vor dem Haus der Layhers. »Alles aussteigen«, kommandierte sie.

Sie hatten kaum gehalten, als auch schon Daniels Eltern auf die Straße hinaustraten. Herzlich begrüßten sie ihren Sohn, dann zogen sie Marisa an sich. »Ich hoffe, ihr hattet eine gute Reise«, meinte Elisa Layher. »Du siehst ziemlich blaß aus, Liebes.«

»Ich bin nur ein wenig müde«, erwiderte die junge Frau. »Je eher ich ins Bett komme, um so besser wird es sein.«

»Du bleibst also heute abend nicht bei uns? Ich habe extra eine Walnußtorte gebacken.« Elisa Layher wandte sich Angela zu und drückte ihr die Hand. »Danke, daß Sie die Kinder vom Flughafen abgeholt haben.«

»Ich habe es gern getan, Frau Layher.«

»Sie sind natürlich ebenfalls herzlich zu einem Stück Walnußtorte eingeladen.«

»Leider kann ich auch nicht bleiben, Frau Layher. Mein Mann wartet auf mich.«

»Schade, da kann man nichts machen«, meinte Elisa bedauernd. Sie wandte sich erneut an Marisa: »Wie wäre es mit morgen? Kommst du zum Mittagessen?«

»Gern, Frau Layher«, antwortete die junge Frau. »Sie dürfen mir nicht böse sein. Es ist heute alles etwas viel für mich gewesen. So schön die Reise auch war, sie ist ziemlich anstrengend gewesen. Wir hatten nicht viel Zeit zum Ausruhen. Anscheinend kommt die Müdigkeit bei mir jetzt nach.«

»Das macht nichts, Marisa«, warf Georg Layher ein. »Wir freuen uns auf jeden Fall, wenn du morgen mittag bei uns bist.«

Daniel nahm seine Freundin in den Arm. »Bis morgen, Liebes, und schlaf gut.«

»Du auch, Daniel.« Die junge Frau verabschiedete sich von den Layhers und stieg in den Wagen. So gern sie die Eltern ihres Freundes auch hatte, es wäre ihr unmöglich gewesen, diesen Abend mit ihnen zu verbringen.

Sie fuhren nur drei Straßen weiter. »So, raus mit dir«, befahl Angela lachend und hielt am Straßenrand.

»Ein bißchen netter könntest du mich auch rauswerfen«, scherzte Marisa. »Kommst du noch mit nach oben?«

»Natürlich, ich trage dir deinen Koffer hinauf. Nein, keine Widerrede.« Angela stieg aus und nahm das Gepäck aus dem Kofferraum. »Und an deiner Stelle würde ich Montag Doktor Baumann aufsuchen, wenn es dir bis dahin nicht besser geht.«

»Ich kann mir momentan keine Krankheit leisten.«

»Wie ich vorhin schon sagte, danach fragt keiner«, meinte Angela und wartete, bis Marisa die Haustür aufgeschlossen hatte, dann folgte sie ihrer Freundin die Treppe hinauf.

*

Zur Feier des Tages hatte Elisa Layher nicht nur eine Walnußtorte gebacken, sondern auch ein hervorragendes Abendessen zubereitet. Als sie mit ihrer Familie am Eßtisch saß, bedauerte sie noch immer, daß Marisa nach Hause gefahren war.

»Ich kann es ja verstehen«, meinte sie, »aber es ist einfach schade. Da habe ich Rouladen gemacht, weil deine Freundin sie so gern ißt, und nun müssen wir allein damit fertig werden.«

»Wie du siehst, werden wir es.« Georg Layher nahm sich eine dritte Roulade. »Ich weiß allerdings nicht, ob ich nachher noch ein Stück Walnußtorte schaffe.«

»Tu mir das nicht an.« Seine Frau drohte ihm mit dem Finger.

»Morgen ist auch noch ein Tag«, bemerkte Daniel. Er hatte damit gerechnet, daß seine Mutter ein großartiges Abendessen zaubern würde, obwohl er ihr am Morgen noch am Telefon gesagt hatte, daß er nur eine Kleinigkeit wollte. Sie war nun einmal eine leidenschaftliche Köchin, und alles, was sie zubereitete, schmeckte hervorragend.

Nach dem Essen half der junge Mann seiner Mutter, das Geschirr in die Küche zu tragen, während sein Vater im Wohnzimmer den Kaffeetisch deckte. Daniel hatte keinen Hunger mehr, wußte jedoch genau, daß er seine Mutter kränken würde, wenn er nicht wenigstens von ihrer Torte probierte. Warum mußte sie es nur immer so gut meinen? Sie litt seit Jahren an Gallensteinen, und es tat ihr nicht gut, derartige Sachen zu essen.

»Deine Torte schmeckt fantastisch, Elisa«, lobte Georg Layher, nachdem er den ersten Löffel probiert hatte. Er wandte sich an seinen Sohn: »Du hättest heute morgen deine Mutter beim Backen erleben müssen. Die Hälfte der Walnüsse sind nicht im Kuchen, sondern in ihrem Magen gelandet.«

Elisa machte ein grimmiges Gesicht. »Du weißt, wie gern ich Walnüsse esse«, sagte sie zu ihrem Sohn. »Dein Vater sollte sich schämen, mich zu verraten.«

»Solltest du wegen deiner Galle nicht vorsichtiger sein, Mutti?« fragte Daniel. »Hast du nicht Angst, eine Kolik zu bekommen?«

»Mach dir keine Sorgen, Daniel, ich habe meine Krankheit ganz gut im Griff«, erwiderte sie. »Außerdem habe ich eine Extratablette genommen.«

Daniel bezweifelte, daß seine Mutter ihre Krankheit gut im Griff hatte, wußte allerdings auch, daß es besser war, nichts diesbezügliches zu sagen. Er wollte sie nicht kränken. Jedesmal, wenn sein Vater oder er etwas zu massiv darauf hinwiesen, daß es für sie besser sein würde, ihre Diät einzuhalten, reagierte sie beleidigt. »Sag mal, Daniel, du hast jetzt mit Marisa einen wundervollen Urlaub verbracht«, meinte sie. »Findest du nicht auch, daß es an der Zeit wäre, nun endlich zu heiraten?«

»So sehr ich Marisa liebe und so gut wir uns vertragen, ich denke nicht daran, schon jetzt meine Freiheit aufzugeben«, antwortete der junge Mann.

»In Kürze ziehst du mit Marisa zusammen. Dadurch gibst du auch ein Stück deiner Freiheit auf«, warf Georg Layher ein. »Warum machst du nicht gleich Nägel mit Köpfen? Irgendwann wirst du Kinder wollen. Glaube mir, Daniel, Marisa ist genau das Mädchen, das ich mir als Schwiegertochter wünsche.«

»Warum müßt ihr mich so bedrängen?« fragte sein Sohn ärgerlich. »Gut, Marisa mag die richtige Frau für mich sein, das will ich nicht abstreiten, trotzdem denke ich nicht daran, mich schon in das Joch der Ehe pressen zu lassen. Ich bin erst dreißig. Nein, das kommt überhaupt nicht in Frage.«

»Wenn ich so gedacht hätte, wäre ich noch heute ledig«, sagte sein Vater und nahm Elisas Hand. »Eines darfst du mir glauben, Daniel, ich habe es noch nicht eine Minute bereut, deine Mutter geheiratet zu haben.«

»Das will ich hoffen«, bemerkte Elisa lachend. Sie wandte sich an ihren Sohn: »Nächste Woche sollten wir darangehen, deine Sachen zusammenzupacken.«

»Du kannst es wohl kaum noch erwarten, mich loszuwerden«, scherzte Daniel.

»Ab einem gewissen Alter sollte ein junger Mensch auf eigenen Beinen stehen«, meinte seine Mutter. »Im Hotel Mama mag es zwar schöner und bequemer sein, man lernt dort nicht, für sich selbst einzustehen.«

»Ich werde dich gelegentlich daran erinnern«, antwortete Daniel. »Immer dann, wenn du jammerst, daß wir dich zu wenig besuchen.«

»Und jammern werde ich bestimmt«, gab seine Mutter zu. »Noch ein Stück Torte?«

»Nein, danke, Mutti. Ehrlich gesagt, es reicht. Ich werde Marisa anrufen und danach schlafen gehen. Wie gesagt, ich bin auch ziemlich müde.« Daniel stand auf und wandte sich dem Telefon zu.

Es war kurz nach zehn, als der junge Mann sein Zimmer aufsuchte. Während er duschte, dachte er darüber nach, daß seine Eltern gar nicht so unrecht hatten. Er konnte sich ein Leben ohne Marisa nicht vorstellen. Dennoch war er nach wie vor der Meinung, daß sie auch ohne Trauschein zusammenleben konnten. Er wollte seine Freiheit behalten, wenigstens ein Stück davon. Bei Freunden hatte er oft genug erlebt, wie schnell Ehen scheitern konnten und wie schwer es meistens war, sich aus ihnen zu lösen. Obwohl seine Eltern recht hatten, durfte er sich nicht beirren lassen, sondern mußte den Weg weitergehen, den er gewählt hatte.

Zwei Stunden später wurde Daniel vom Klingeln der Haustürglocke aus dem Schlaf gerissen. Hastig stand er auf, schlüpfte in seine Pantoffel und verließ das Zimmer. Er hörte, wie sein Vater unten mit Dr. Baumann sprach.

»Was ist denn passiert?« fragte er und ging den beiden Männern auf der Treppe entgegen.

»Deine Mutter hat eine schwere Gallenkolik«, erwiderte Georg Layher. »So entsetzliche Schmerzen hat sie schon lange nicht mehr gehabt. Ich vermute, daß ihre Kolik mit den Walnüssen zusammenhängt, die sie gegessen hat.«

»Höchstwahrscheinlich«, bestätigte Dr. Eric Baumann. Er nickte dem jungen Mann flüchtig zu. »Na, wieder aus Südafrika zurück? Hat es Ihnen gefallen?«

»Es war eine sehr schöne Reise.« Daniel trat beiseite, damit sein Vater und der Arzt an ihm vorbeigehen konnten.

Elisa Layher lag zusammengekrümmt in ihrem Bett. Ihr Gesicht glänzte vor Schweiß. Die Hände hatte sie in ihre Decke verkrampft. »Es tut mir leid, daß ich Sie mitten in der Nacht herjagen muß, Doktor Baumann«, sagte sie stöhnend. »Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Diese Schmerzen machen mich noch wahnsinnig.«

»Ich weiß, eine Gallenkolik kann schlimm sein«, erwiderte Eric und öffnete seine Tasche. »Gleich wird es Ihnen bessergehen. Ich werde Ihnen etwas gegen die Schmerzen geben.« Er zog eine Spritze auf. Es hatte keinen Sinn, Frau Layher Vorwürfe wegen der Walnüsse zu machen. Laut ihrem Diätplan waren Nüsse für sie verboten. Was half es, sie noch einmal darauf hinzuweisen? Vorsichtig injizierte er das Medikament.

Es dauerte eine ganze Weile, bevor es zu wirken begann. Nach und nach entspannte sich der Körper der Kranken. Elisa schloß die Augen. Sie spürte, wie langsam auch ihre Übelkeit nachließ. »Danke«, flüsterte sie, als ihr Georg die Stirn abtupfte.

»Meinen Sie nicht, daß es höchste Zeit wäre, etwas gegen Ihre Gallensteine zu unternehmen?« fragte Eric. »Es geht nicht an, daß Sie alle paar Wochen unter so einer entsetzlichen Kolik leiden. Außerdem könnte sich irgendwann ein Stein im Gallengang festsetzen. Abgesehen von den Schmerzen könnte das sehr schlimme Folgen für Sie haben.«

Daniels Mutter schüttelte den Kopf. Noch vor einigen Minuten wäre sie einverstanden gewesen, sich sofort operieren zu lassen, jetzt, wo die Schmerzen nachgelassen hatten, dachte sie nicht mehr daran. »Meine Mutter hatte auch Gallensteine«, sagte sie, »und hat sich nicht operieren lassen. Es ist immer gutgegangen. Ich bin überzeugt, sie würde noch heute leben, wenn sie sich nicht einen rostigen Nagel in den Fuß getreten und dadurch eine Blutvergiftung zugezogen hätte.«

»Eine Gallenoperation ist heutzutage eine einfach Angelegenheit, Fray Layher. Bitte, glauben Sie mir«, meinte der Arzt beschwörend.

»Ich bin auch der Meinung, daß der Herr Doktor recht hat«, warf Georg ein. »Möchtest du wirklich immer so leiden, Elisa?« Zärtlich strich er seiner Frau durch die Haare.

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie.

»Versprochen?« erkundigte sich Dr. Baumann.

»Versprochen«, flüsterte sie und reichte ihm die Hand.

Eric setzte sich noch ein paar Minuten zu seiner Patientin ans Bett, dann verabschiedete er sich. »Ich finde allein nach unten, Herr Layher«, sagte er, als ihn Georg nach unten begleiten wollte. »Bleiben sie bei Ihrer Frau.«

»Danke, Doktor Baumann. Und entschuldigen Sie bitte noch einmal, daß wir Sie mitten in der Nacht stören mußten.«

»Ich bin das gewohnt«, meinte Eric liebenswürdig. »Gute Nacht.« Mit eiligen Schritten verließ er das Schlafzimmer und wandte sich der Treppe zu.

Daniel hatte unten in der Küche auf den Arzt gewartet. Als er ihn die Treppe hinunterkommen hörte, stand er auf und ging ihm entgegen. »Wie geht es meiner Mutter?« erkundigte er sich.

»Schon bedeutend besser.« Eric sagte ihm, daß er ihr erneut zu einer Gallenoperation geraten hatte. »Bitte, Herr Layher, diese Operation wird für Ihre Mutter das Beste sein. Versuchen Sie, auf sie einzuwirken.«

»Versuchen kann ich es, Sie kennen ja meine Mutter«, meinte Daniel. »Sie kann ziemlich starrköpfig sein.«

»Dabei wäre eine Operation wirklich die beste Lösung für sie.« Dr. Baumann hob die Schultern. »Gute Nacht, Herr Layher.«

»Gute Nacht.« Daniel öffnete für Eric die Haustür. Er blieb stehen, bis der Arzt in seinen Wagen gestiegen und abgefahren war, dann schloß er hinter ihm ab und stieg die Treppe hinauf. Bevor er in sein Schlafzimmer zurückkehrte, wollte er nach seiner Mutter sehen.

*

Obwohl sich Marisa Winter am Morgen alles andere als wohl fühlte, ging sie zur Arbeit. Den ganzen Sonntag hatte sie im Bett verbracht. Sie hatte Fieber und leichten Schüttelfrost gehabt. Daniel hatte sie am Vormittag besucht und ihr gesagt, daß seine Mutter in der Nacht eine schwere Gallenkolik gehabt hatte und sie deshalb nur etwas leichtes zu mittag essen würden. Sie war froh, daß sie im Bett liegenbleiben konnte, und wußte, daß es ihr weder ihr Freund noch seine Eltern übelnehmen würden.

»Am besten, du bleibst ein paar Tage zu Hause«, hatte Daniel zu ihr gesagt, aber das konnte sie nicht. Sie wurde in der Bank erwartet. Sie mußte wenigstens versuchen, ihren Pflichten nachzukommen.

Die junge Frau kämpfte sich den ganzen Vormittag über mehr oder weniger durch die Stunden. Kurz vor halb zwölf suchte sie den Waschraum auf und nahm ein Aspirin. Als sie in den Gang trat, begegnete sie Brigitte Zange, die Sekretärin des Kreditsachbearbeiters.

»Sie haben auch schon mal besser ausgesehen, Frau Winter«, bemerkte sie. »Anscheinend ist Ihnen der Urlaub nicht bekommen.«

»Es wird eine Art Sommergrippe sein«, erwiderte Marisa. »So was kann jeden von uns treffen.« Sie mochte Frau Zange nicht. Die Sekretärin von Florian Mergenthaler war nicht zu unrecht wegen ihrer spitzen Zunge gefürchtet. Hinter vorgehaltener Hand nannten die meisten ihrer Kollegen sie Beißzange.

»Um mir eine Sommergrippe einzufangen, muß ich nicht unbedingt nach Südafrika reisen. Sie…«

Florian Mergenthaler kam aus dem Büro des Filialleiters. »Es wäre besser, wenn Sie nachmittags zum Arzt gehen würden, Frau Winter«, warf er ein. »Auch wenn ich Ihnen keine Angst machen will, immerhin sind Sie in Südafrika gewesen, und da denkt man natürlich auch an Malaria.«

»Malaria?« wiederholte die junge Frau erschrocken.

Brigitte Zange verschwand in ihrem Büro. Für Marisa wirkte es, als würde sie befürchten, sich womöglich anzustecken.

»Ich möchte die Pferde nicht scheu machen, dennoch sollten Sie lieber vorsichtig sein, Frau Winter«, meinte Florian. »Sie wären nicht die erste, die mit Malaria aus einem afrikanischen Land zurückkommt.« Er sah sie freundlich an. »Wie ist Ihr Urlaub gewesen? Wir hatten ja noch keine Zeit, um miteinander zu reden.«

»Wunderschön. Ein wahrer Traum«, begann Marisa zu schwärmen. »Diese Strände und was wir alles gesehen haben… Sie können sich nicht vorstellen, was für herrliche Wochen hinter mir liegen. Ich…« Ein eisiger Schauer rann durch ihren Körper. Fröstelnd zog sie die Schultern zusammen.

»Unterhalten wir uns ein anderes Mal über Ihren Urlaub«, schlug der Kreditsachbearbeiter vor. »Am besten Sie rufen gleich Ihren Arzt an. Sind Sie nicht auch bei Doktor Baumann in Behandlung?«

»Ja.« Die junge Frau nickte. »Es wird wirklich besser sein, wenn ich mir einen Termin bei Doktor Baumann geben lasse.« Sie kehrte in den Schalterraum zurück.

Im Laufe des Tages fühlte sich Marisa immer elender. Es fiel ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Deshalb war sie froh, daß sie bereits um vier Feierabend machen konnte, obwohl montags die Bank bis um fünf Uhr geöffnet war. Die junge Frau rief rasch ihren Freund an, um ihm zu sagen, daß sie zu Dr. Baumann fahren würde, und verabschiedete sie sich von ihren Kollegen.

Als Marisa kurze Zeit darauf vor dem Grundstück des Arztes hielt und ausstieg, kam Franzl, der Hund von Dr. Baumann, mit Eva-Maria Winkler, deren Adoptivtochter Janina und seinem Freund Bastian vom See zurück. Schwanzwedelnd rannte er ihr entgegen und gab erst Ruhe, als sie sich zu ihm hinunterbeugte und ihn ausgiebig streichelte.

»Er ist ein richtiger Schlingel«, meinte Janina. Sie kraulte Franzls Nacken. »Ich habe ihn fast so gern wie meinen Bastian.«

»Das glaube ich dir gern. Davon abgesehen muß man Franzl einfach gern haben«, sagte Marisa.

»Das stelle ich auch immer wieder fest«, bestätigte Frau Winkler. Sie schaute Katharina Wittenberg entgegen, die aus dem Doktorhaus kam.

Marisa rief der Haushälterin des Arztes einen Gruß zu und ging zur Praxis. Sie hörte noch, wie Franzl Katharina so ausgiebig begrüßte, als hätte er sie seit Jahren nicht gesehen.

Tina Martens schaute in ihr Meldebuch, als Marisa zu ihr an die Anmeldung trat. »Es sind noch zwei Patienten vor Ihnen an der Reihe, Frau Winter«, sagte sie. »Also werden Sie sich ein wenig gedulden müssen.«

»Das macht nichts«, meinte die junge Frau. »Ich bin froh, daß mich Doktor Baumann noch heute drannehmen kann.« Sie spürte, wie sich ihre Stirn erneut mit Schweiß überzog. Abwechselnd wurde ihr heiß und kalt. »Sieht aus, als hätte ich mir eine Grippe eingefangen.«

»Dann werden Sie wohl die nächsten Tage im Bett verbringen müssen«, sagte die Sprechstundenhilfe.

»Mein Chef wird sich freuen«, bemerkte Marisa und wandte sich dem Wartezimmer zu.

Die junge Frau war alles andere als begeistert, als sie feststellen mußte, daß auch Lina Becker zu den Patienten gehörte, die im Wartezimmer saßen. Außer ihr saßen nur noch zwei ältere Männer im Raum, die sie nicht kannte. »Guten Tag«, grüßte sie und setzte sich gezwungen neben Frau Becker. Sie wollte nicht so unhöflich sein, am anderen Ende des Raumes Platz zu nehmen.

»Schön, daß ich Sie treffe, Frau Winter«, meinte Lina Becker, glücklich darüber, jemanden zu haben, mit dem sie sprechen konnte. »Wann ziehen Sie denn nun in die Wohnung, die Sie in unserer Straße gekauft haben?«

»Am Samstag«, erwiderte die junge Frau.

»Es wohnen einige sehr interessante Leute im Haus.« Lina Becker lehnte sich genüßlich zurück. »Zum Beispiel Claus und Mariam Probst. Doktor

Probst arbeitet in der Röntgenabteilung unseres Krankenhauses. Er ist mit seiner Frau vor vier Wochen eingezogen.« Sie senkte die Stimme. »Mariam Probst hat Fürchterliches hinter sich. Sie ist die Enkelin der Bartels. Sie…«

»Ich kenne Doktor Probst und seine Frau«, antwortete Marisa. Sie wußte, daß Mariam in einer Sekte aufgewachsen war. Ihre Mutter war im Alter von zwölf Jahren von Leuten dieser Sekte entführt worden. Die Bartels hatten ihre Tochter niemals wiedergesehen. Wie durch ein Wunder war es Mariam Anfang des Jahres gelungen, der Sekte zu entkommen.

»Die arme Frau ist nach wie vor in psychotherapeutischer Behandlung«, fuhr Lisa fort. »Gott sei Dank ist es den Bartels gelungen, ihr etwas Lebensfreude zu geben. Und dann hat sie ja auch ihren Mann kennengelernt. Allerdings wäre aus der Liebe der beiden beinahe nichts geworden, weil Sektenmitglieder sie aufgespürt, entführt und in die Bretagne gebracht haben. Wenn Doktor Probst nicht gewesen wäre… Manche Leute müssen schon etwas mitmachen. Warum ist die Welt nur so schlecht? Warum…«

»Frau Becker, bitte ins Sprechzimmer zwei«, tönte Tinas Stimme durch den Lautsprecher.

Marisa atmete erleichtert auf, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. Kaum hatte Lina Becker das Wartezimmer verlassen, griff sie nach einer Zeitschrift und vertiefte sich darin.

Es dauerte etwa zwanzig Minuten, bis auch Marisa aufgerufen wurde. Sie griff nach ihrer Handtasche, die sie neben den Stuhl gestellt hatte, und ging ins Sprechzimmer von Dr. Baumann. Als sie die Tür hinter sich schloß, hörte sie noch, wie Heinz Seitter, der gerade gekommen war, die Sprechstundenhilfe fragte, ob man ihn ausnahmsweise sofort drannehmen konnte.

»Na, wie ist es in Südafrika gewesen, Frau Winter?« erkundigte sich Eric, als er der jungen Frau die Hand reichte. »Bitte, nehmen Sie Platz.« Er wies auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Marisa erzählte ihm, wie sehr ihr die Reise gefallen hatte. »Leider kommt, wie oft bei allem Schönen, das dicke Ende nach«, fügte sie hinzu. »Ich scheine mir dort unten irgend etwas geholt zu haben.« Sie starrte auf ihre Hände und hob dann ruckartig den Kopf. »Lachen Sie mich nicht aus, Doktor Baumann. Herr Mergenthaler meint, daß es Malaria sein könnte.«

»Warum sollte ich Sie auslachen, Frau Winter?« fragte der Arzt. »Die Vermutung von Herrn Mergenthaler ist nicht einmal so weit hergeholt. Auf derartigen Reisen besteht immer die Gefahr, sich mit Malaria anzustecken, es sei denn, man ist vorher geimpft worden.«

»Weder Daniel noch ich haben uns impfen lassen. Hoffentlich ist das nicht ein Fehler gewesen«, sagte Marisa.

»Nein, ich glaube nicht, daß es ein Fehler war, Frau Winter.« Eric setzte sich an den Schreibtisch. »Ich hatte bis jetzt erst einen einzigen Patienten, der sich wirklich in Afrika eine Malariainfektion geholt hat. Selbst während meiner Arbeit in Kenia habe ich nur wenige Europäer wegen Malaria behandeln müssen.« Er ließ sich ihre Symptome schildern. Einiges deutete tatsächlich auf diese Krankheit hin, anderes jedoch nicht.

»Ich dachte zuerst an eine Sommergrippe«, sagte Marisa.

»Und genau das wird es auch sein«, antwortete Eric. Er bat sie, sich freizumachen, damit er sie abhorchen konnte.

»Wenn es geht, möchte ich nicht krankgeschrieben werden«, sagte die junge Frau, als sie dem Arzt einige Minuten später wieder am Schreibtisch gegenübersaß. »Meine Kollegin ist heute in Urlaub gegangen.«

»Diesen Gefallen kann ich Ihnen leider nicht tun«, antwortete er. »Außerdem möchte ich Sie bitten, morgen früh nüchtern zu einer Blutuntersuchung zu kommen. Ich bin mir zwar fast hundertprozentig sicher, daß es sich um keine Malariainfektion handelt, aber wir wollen sichergehen.«

»Das ist mir auch lieber«, gestand sie.

Dr. Baumann schrieb ein Rezept und die Krankmeldung aus. »Am besten, Sie besorgen sich die Tropfen sofort und legen sich zu Bett.« Er sah sie streng an. »Sollen Ihre Beschwerden schlimmer werden, scheuen Sie sich nicht, mich anzurufen, Frau Winter. Und bitte, ignorieren Sie die Krankmeldung nicht. Auch mit einer Sommergrippe ist nicht zu spaßen.«

»Ich verspreche es Ihnen.« Marisa dachte mit Schaudern daran, wie sie ihrem Chef beibringen sollte, daß Dr. Baumann sie krankgeschrieben hatte.

*

Mittwochs putzte Erika Bohn gewöhnlich im Haus der Mergenthalers. Sie arbeitete gern für diese Familie, auch wenn es ihr nicht gefiel, daß Florians Mutter, der das Haus gehörte und die im ersten Stock wohnte, immer wieder in die untere Wohnung kam und aus nichtigen Gründen durch die Räume ging. Manchmal fragte sie sich, ob Olga Mergenthaler nur überprüfen wollte, ob sie sich nicht irgendwo ausruhte, oder ob sie befürchtete, sie könnte etwas mitgehen lassen. Da sie jedoch wußte, daß Anna und Florian Mergenthaler ihr vertrauten, ignorierte sie die Inspektionen der älteren Frau ganz einfach.

Es waren noch Sommerferien. An diesem Vormittag hielt sich Jessica Mergenthaler in ihrem Zimmer auf. Ihr sechzehnjähriger Bruder Jens besuchte einen Freund. Das kleine Mädchen saß am Schreibtisch und malte.

»Jessi, in zehn Minuten mache ich dein Zimmer sauber«, sagte Erika Bohn. »Willst du nicht in den Garten gehen oder dir im Wohnzimmer einen Videofilm anschauen?«

»Ja, das werde ich tun.« Jessica stand auf. »Jens hat für mich gestern einen Tierfilm aufgenommen.«

»Soweit kommt es noch, daß du vormittags den Fernseher einschaltest.« Olga Mergenthaler steckte den Kopf ins Kinderzimmer. »Wie können Sie meine Enkelin dazu auffordern, Frau Bohn? Die Kinder hocken viel zu viel vor dem Fernseher.« Sie reichte Jessica einen Zettel. »Besorg mir das bitte vom Bäcker.«

»Kann ich das nicht später tun, Oma?« fragte das Mädchen.

»Nein, ich möchte, daß du jetzt gehst«, erwiderte ihre Großmutter.

»Also gut.« Jessica schaute nachdenklich zu ihrem Bett. »Zwei Minuten, Oma, ich ziehe mir nur etwas anderes an.«

Kopfschüttelnd ging Olga Mergenthaler in die Küche, wo Erika Bohn bereits geputzt hatte. Erika war sich sicher, daß sie kontrollieren würde, ob sie auch oben auf der Tür abgestaubt hatte.

»Frau Bohn«, flüsterte Jessica.

»Ja, Jessi?«

»Unter meinem Bett müssen Sie nicht putzen«, sagte die Achtjährige. »Ich habe dort Geheimnisse für Weihnachten versteckt.«

»Bis Weihnachten sind es noch ein paar Monate«, bemerkte die Putzfrau überrascht.

»Trotzdem, es sind Geheimnisse.« Jessica hatte nicht vorgehabt, sich umzuziehen. Mit einem leisen Blick auf ihr Bett ging sie hinaus.

Erika Bohn legte großen Wert darauf, ihre Arbeit gründlich zu machen, außerdem war sie neugierig und fragte sich, was sich wohl so Geheimnisvolles unter dem Bett befinden mochte. Kaum hatte das Mädchen die Haustür hinter sich geschlossen, kniete sie auch schon auf dem Boden und schaute unter das Bett. Sie sah einen flachen Käfig. Rasch zog sie ihn hervor.

Du meine Güte, dachte sie. Kein Wunder, daß Jessi mich daran hindern wollte, unter das Bett zu schauen. Im Käfig befanden sich zwei junge Meerschweinchen. Sie konnten erst wenige Wochen alt sein.

Erika Bohn wollte den Käfig rasch unter das Bett zurückschieben, leider war es schon zu spät. Olga Mergenthaler hatte lautlos das Zimmer betreten und spähte ihr über die Schulter.

»Gibt es denn so etwas?« fragte Jessicas Großmutter empört. »Reicht es nicht, daß wir ein Meerschweinchen haben? Ich gehe jede Wette ein, daß weder meine Schwiegertochter noch mein Sohn etwas davon wissen.« Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Das kommt davon, wenn eine Mutter unbedingt arbeiten gehen muß. Kein Wunder, wenn den Kindern alles mögliche einfällt.«

»Es sind nur zwei Meerschweinchen, Frau Mergenthaler«, sagte Erika Bohn. »Was ist denn dabei? Sie wußte, daß Olga Tiere mochte. Warum machte sie also so einen Aufstand?

»Wenn man Sie so hört, könnte man glauben, Sie hätten nichts dagegen gehabt, wenn Ihre eigenen Kinder eine Meerschweinchenzucht aufgemacht hätten. Aber nicht mit mir! Nein, das kommt nicht in Frage. Ehe wir uns versehen, wird es in diesem Haus nur so vor Meerschweinchen wimmeln.«

»Lassen Sie Gnade vor Recht ergehen, Frau Mergenthaler«, bat die Putzfrau. »Jessi meint es nicht böse.«

»Das habe ich auch nicht behauptet, trotzdem kommt es nicht in Frage, daß wir Meerschweinchen züchten. Ich bin überzeugt, daß mein Sohn völlig meiner Meinung ist. Das Kind sollte froh sein, daß wir ihm erlaubt haben, ein Meerschweinchen zu halten. Was ist Jessica nur eingefallen, sich heimlich zwei weitere anzuschaffen?«

Als Jessica vom Bäcker kam, fuhr auch ihre Mutter gerade vor. »Ich bin für die Oma einkaufen gewesen«, sagte die Kleine. Sie stellte die Tasche ab und umarmte ihre Mutter. »Gehen wir heute nachmittag baden?«

»Warum nicht?« fragte Anna Mergenthaler. »Eventuell kommt auch Jens mit.«

»Das glaube ich nicht. Jens ist bestimmt den ganzen Tag bei seinen Freunden. Sie wollen irgendwelche Matheaufgaben lösen.« Jessica rümpfte die Nase. »Ich glaube nicht, daß mir Mathe jemals Spaß machen wird.«

»Dir nicht, doch dein Bruder ist ein wahres Mathegenie.« Anna schloß die Wagentür. »Der Papa müßte auch jeden Augenblick kommen. Ist Frau Bohn noch da?«

»Ich glaube schon. Sie wollte noch mein Zimmer putzen.« Jessica ergriff die Tasche.

Mutter und Tochter hatten kaum das Haus betreten, als Olga Mergenthaler in den Korridor trat. »In der Küche wartet eine Überraschung auf dich, Anna«, sagte sie bissig.

Anna seufzte innerlich auf. Wie es aussah, standen die Zeichen mal wieder auf Sturm. Sie war noch nie besonders gut mit ihrer Schwiegermutter ausgekommen und hatte längst bereut, ihrem Mann damals zugestimmt zu haben, zu seiner Mutter nach Rottach-Egern zu ziehen. Es gab kaum etwas, in das sich Olga nicht einmischte.

Jessica ging in die Küche. Erschrocken fuhr ihre Hand zum Mund.

»Weißt du, was das ist?« fragte Olga Mergenthaler und wies anklagend auf den Käfig, den sie auf den Küchentisch gestellt hatte. Sie wandte sich an ihre Schwiegertochter: »Dieser Käfig stand unter Jessicas Bett. Frau Bohn hat ihn entdeckt. Ich bin dazugekommen. Wie ich Frau Bohn kenne, hätte sie stillschweigend den Käfig wieder unter das Bett geschoben und kein Wort darüber verloren.«

»Ich wollte dich nicht verraten, Jessi«, sagte Erika unglücklich hinter ihnen.

»Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen nicht unter das Bett schauen.« Jessica preßte die Lippen zusammen.

»Wenn du dich mehr um deine Kinder kümmern würdest, Anna, statt vormittags in der Apotheke zu arbeiten, würde so etwas nicht vorkommen.«

»Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun, Mutter.« Anna legte den Arm um ihre Tochter. »Du scheinst zu vergessen, daß das hier unsere Wohnung ist. Natürlich ist es nicht richtig, daß Jessi heimlich, still und leise noch zwei Meerschweinchen angeschafft hat. Nur, das ist eine Sache, die nur Jessica und uns etwas angeht.«

»Dieser Meinung bin ich nicht«, widersprach ihre Schwiegermutter. »Ich möchte gefragt werden, wenn in diesem Haus noch mehr Tiere gehalten werden. Du weißt, daß ich nichts gegen Tiere habe, doch eine Meerschweinchenzucht muß nun wirklich nicht sein.«

Anna sah ihre Tochter an. »Kannst du mir sagen, was das soll?«

»Es sind die Kinder von Flips«, antwortete Jessica. »Susis Meerschweinchen hat vier Junge gehabt. Sie hat mir zwei gegeben, weil Flips der Vater ist. Außerdem haben Susis Eltern gesagt, sie dürfte nur zwei behalten.« Sie wies auf die Meerschweinchen. »Das ist Maja und das ist Thekla.«

Anna mußte lachen. Sie dachte an die Sekretärin ihres Mannes. Ihr Sohn hatte Brigitte Zange den Spitznamen Thekla verliehen, weil sie wie die Spinne aus dem Zeichentrickfilm ›Biene Maja‹ auf ein Opfer lauerte und sich am liebsten auf Florian gestürzt hätte.

Jessica schöpfte Hoffnung. »Darf ich sie behalten, Mama?«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage, Jessica Claire«, sagte Olga Mergenthaler, bevor ihre Schwiegertochter antworten konnte. Wie immer, wenn sie böse auf ihre Enkelin war, nannte sie das Kind bei seinem vollen Namen.

Jessica hörte den Wagen ihres Vaters vorfahren. Blitzschnell rannte sie aus der Küche und riß die Haustür auf. »Papa!« rief sie. »Papa!«

Sie hatte an diesem Tag Pech. Florian Mergenthaler kam nicht eben bester Laune nach Hause. Er hatte Ärger mit einem Kunden gehabt, der, um einen hohen Kredit zu bekommen, geradezu das Blaue vom Himmel gelogen hatte. »Was ist, Jessi?« fragte er und ahnte, daß neuer Ärger auf ihn wartete.

»Darf ich Maja und Thekla behalten?«

»Wer sind Maja und Thekla?«

»Flips Kinder«, erklärte seine Tochter.

»Flips Kinder?« Florian runzelte die Stirn. »Seit wann hat Flips Kinder?«

»Er hat sie zusammen mit Purzel, Susis Meerschweinchen«, erzählte Jessica, während sie ins Haus gingen. »Ich hatte sie unter meinem Bett versteckt. Frau Bohn und die Oma haben sie gefunden.«

»Florian, du wirst bestimmt nicht zulassen, daß Jessica eine Meerschweinchenzucht beginnt«, wurde er, kaum, daß er das Haus betreten hatte, von seiner Mutter überfallen.

»Ich meine, wir können über alles in Ruhe sprechen«, wandte Anna ein. »Und vor allen Dingen hat es Zeit bis später.« Sie sah ihrem Mann an, daß es in der Bank Ärger gegeben hatte. »Ruh dich erst einmal aus. In einer halben Stunde gibt es Mittagessen.«

Florians Blick fiel auf den langen Käfig. Er mußte zugeben, daß es sich bei den beiden Meerschweinchen um wirklich possierliche Tierchen handelte. »Einfälle hast du, Jessi«, sagte er.

»Also, ich meine, es ist eine idiotische Idee gewesen, ein Meerschweinchen beim anderen übernachten zu lassen«, bemerkte seine Mutter. »Es ist klar, was dabei herauskommen muß.«

»Susi und ich wollten, daß Purzel und Flips Kinder bekommen. Außerdem mögen sie sich.«

»Du hättest uns zumindest vorher fragen müssen, Jessi«, sagte Florian.

»Ich habe es dir erzählt, Papa«, protestierte seine Tochter.

»Wann?«

»Vor ein paar Wochen. Bestimmt hast du nicht richtig hingehört.«

Das konnte durchaus sein. Florian gestand sich ein, daß er in Gedanken oft woanders war. »Nun gut, du kannst die Meerschweinchen behalten, bis deine Freundin und du sie woanders untergebracht habt. Tu mir nur einen Gefallen und beeil dich damit.«

»Ich will sie nicht weggeben, Papa. Ich will sie nicht weggeben.« Jessica rannte heulend in ihr Zimmer.

»Eine Erziehung ist das heutzutage«, erklärte Mutter Mergenthaler empört. »Nun, das kommt davon, wenn Frauen unbedingt arbeiten gehen müssen.«

Anna kochte vor Wut. »Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du dich nicht ständig in unsere Angelegenheiten mischen sollst, Mutter?« fragte sie. »Es ist meine Familie. Nur uns geht es etwas an, ob ich arbeiten gehe oder nicht.«

»Ich glaube nicht, daß ich mir das bieten lassen muß, Florian.« Olga Mergenthaler stieg beleidigt die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Oben blieb sie allerdings stehen, um zu hören, ob ihr Sohn ein ernstes Wörtchen mit seiner Frau sprach. Er enttäuschte sie. Florian verschwand einfach in seinem Arbeitszimmer.

Erika Bohn seufzte laut auf. »Hätte ich nur nicht die Meerschweinchen gefunden«, sagte sie. »Im Grunde genommen ist es meine Schuld. Ich hätte nicht unters Bett schauen sollen.«

»Schon gut, Frau Bohn.« Anna legte eine Hand auf die Schulter der Putzfrau. »Es ist gut gewesen, daß Sie die Meerschweinchen gefunden haben. Die beiden brauchen Licht und Luft. Es wäre reine Tierquälerei, sie unter dem Bett zu halten.« Sie schaute auf Maja und Thekla hinunter. »Am besten, Sie tragen den Käfig auf die Terrasse und stellen ihn neben den ihres Vaters. Uns wird schon eine Lösung für die beiden einfallen.« Eilig trat sie ins Bad und schloß aufatmend die Tür hinter sich.

*

Am Freitag vormittag kam Angela Schumann mit ihrer Schwester zu Marisa, um ihr beim Packen der Sachen zu helfen. Der jungen Frau ging es nicht besonders gut. Sie hatte leichtes Fieber, Schnupfen und auch Husten. Was Marisa am meisten quälte und auch beunruhigte, war jedoch ihr morgendliches Erbrechen.

»Du siehst nicht aus, als könntest du nächste Woche arbeiten gehen«, meinte Angela besorgt. »Ich kann mir jedenfalls nicht denken, daß dich Doktor Baumann so bald gesund schreiben wird.«

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie unangenehm es mir ist, schon einen Tag nach meinem Urlaub krankgeschrieben worden zu sein.«

»Oh doch, das kann ich, Marisa, nur welche Krankheit fragt schon danach, ob sie angenehm ist oder nicht?« Angela lächelte ihrer Freundin beruhigend zu. »Der Filialleiter deiner Bank möchte bestimmt nicht, daß du so Kunden bedienst.« Sie zwinkerte Sonja zu. »Um ehrlich zu sein, momentan wirkst du mit deinem erhitzten Gesicht etwas abschreckend.«

»Meine Schwester ist so charmant wie immer«, warf das junge Mädchen ein.

»Laß nur, Sonja, deine Schwester hat schon recht«, meinte Marisa. »Ich sehe ja selbst, daß ich vermutlich Montag noch nicht arbeiten kann.« Sie hob die Schultern. »Sieht so aus, als müßten sie in der Bank ohne mich fertig werden.«

»Und das werden sie auch, Marisa«, erklärte Angela. Sie wandte sich an ihre Schwester: »Wir sollten langsam mit der Arbeit anfangen.«

»Ich kann dir sagen, Marisa, mit meiner Schwester wird es von Tag zu Tag schlimmer«, scherzte Sonja und verdrehte die Augen. »Sie ist der reinste Sklaventreiber.«

»Wenn ich Zeit habe, bedaure ich dich, Sonja«, sagte Angela und schlug ihrer Schwester auf die Schulter. »Am besten, du fängst schon mal in der Küche an und räumst das Geschirr in die bereitstehenden Kartons.«

»Klingt ganz so, als wolltest du mich loswerden, Angela.« Sonja warf ihrer Schwester einen spöttischen Blick zu, dann drehte sie sich um und verließ den Wohnraum.

»Stimmt, ich wollte mit dir unter vier Augen sprechen«, gestand Angela, als Sonja sie nicht mehr hören konnte. Sie legte den Arm um Marias Schultern. »Ich will dich zwar nicht erschrecken, doch hast du schon einmal daran gedacht, daß du ein Kind erwarten könntest? Ich meine, dieses morgendliche Erbrechen deutet darauf hin.«

Die junge Frau nickte. »Ja, ich habe daran gedacht«, gestand sie. »Und um ehrlich zu sein, dieser Gedanke erschreckt mich nicht. Ich liebe Daniel und könnte mir durchaus vorstellen, schon jetzt mit ihm ein Kind zu haben. Das Problem wäre, wie sich Daniel…«

Sonja steckte den Kopf durch die Küchentür. »Nicht, daß ich gelauscht hätte«, erklärte sie. »Leider, oder vielmehr zum Glück, habe ich ziemlich gute Ohren. Man könnte verhältnismäßig leicht feststellen, ob du ein Kind erwartest, Marisa. Immerhin gibt es den B-Test.«

»Von solchen Dingen solltest du noch gar nichts wissen«, scherzte ihre Schwester. »Da kann man nur sagen, die heutige Jugend.«

»Erlaube mal, ich bin achtzehn«, protestierte das junge Mädchen. »In meinem Alter weiß man seit Jahren über derartige Dinge Bescheid.« Sonja wandte sich an Marisa: »Wenn du möchtest, werde ich dir einen B-Test besorgen, Marisa«, bot sie an. »Ich könnte rasch in die Apotheke laufen.«

»Du siehst dich wohl schon als Tante, Sonja«, erwiderte Marisa lachend.

»Ich würde gern Taufpatin sein.«

»Genauso gern wie ich«, sagte Angela.

»Immer langsam«, meinte Marisa. »Meine Übelkeit kann auch mit der Sommergrippe zusammenhängen.« Sie sah ihre Freundin und deren Schwester ernst an. »Schwört mir, daß ihr auf keinem Fall Daniel etwas davon sagt. Und natürlich auch nicht Roland.«

»Ja, Roland etwas zu erzählen, wäre wirklich nicht gut«, pflichtete ihr Sonja bei. »Männer sind die reinsten Plaudertaschen.«

»Deine Meinung über Männer scheint nicht gerade die Beste zu sein, Sonja«, meinte Marisa.

»Na, wenn ich an die Jungen in meiner Klasse denke, so sollte ich tatsächlich nur das Schlimmste annehmen.« Das junge Mädchen lehnte sich gegen die Tür. »Soll ich nun den B-Test holen oder nicht?«

Marisa zauderte einen Augenblick, bevor sie nickte. »Ja, ich glaube, es ist besser.« Sie blickte zur Uhr. »Jetzt ist es schon zu spät. Die Apotheke wird bereits geschlossen haben. Nun, heute nachmittag ist auch noch Zeit dazu. Vor morgen früh könnte ich den Test ja ohnehin nicht machen.«

»Wir reden und reden, und getan haben wir noch nichts«, mahnte Angela.

»Eigentlich wäre Mittagszeit«, bemerkte Sonja. »Jedenfalls ist mein Magen dieser Meinung.«

»Ich würde sagen, daß wir in etwa einer halben Stunde essen«, schlug Marisa vor. »Deine Schwester und ich möchten zuerst noch das Bücherregal ausräumen.«

Sonja kehrte in die Küche zurück. Die beiden jungen Frauen hörten, wie sie Geschirr aus dem Schrank nahm. Sie selber wandten sich dem Bücherregal zu. Schon nach kurzer Zeit merkte man Marisa an, wie sehr die Arbeit sie erschöpfte. Ihr wurde so schwindlig, daß sie sich an einer Vitrine festhalten mußte.

»Es ist besser, du setzt dich hin, Marisa.« Angela wies zur Couch. »Meiner Meinung nach solltest du überhaupt nicht aufstehen. Sonja und ich werden mit dem Packen auch allein fertig. Der Umzug ist erst am Samstag, und außerdem weiß Roland, daß ich dir die ganze Woche jeden Tag ein paar Stunden beim Packen helfen werde. Also mach dir keine Sorgen, er ist damit einverstanden.«

Marisa kam nicht dazu, ihrer Freundin zu antworten, da es an der Wohnungstür klingelte.

»Ich mach schon auf!« rief Sonja und eilte in den Korridor. »Oh, du bist es!« Das junge Mädchen trat beiseite, damit Daniel Layher hereinkommen konnte. »Und etwas zu essen hast du auch mitgebracht.« Genießerisch zog sie den Duft ein, der aus der Tragetüte kam, die Daniel in der Hand hielt.

»Ich darf dich doch nicht verhungern lassen.« Gefolgt von Sonja betrat Daniel den Wohnraum des Appartements. »Schön, daß ihr da seid«, wandte er sich an Angela. »Ehrlich gesagt, ich habe richtig ein schlechtes Gewissen, weil ich Marisa nicht beim Packen der Sachen helfen kann. Leider geht es nicht anders. Ich kann meinem Vater nicht die ganze Arbeit in der Buchhandlung allein überlassen. Unsere Angestellte ist für ein paar Tage weggefahren.«

»Das geht schon in Ordnung«, wehrte Angela ab.

Der junge Mann stellte die Tragetüte ab und nahm seine Freundin in die Arme. »Wie geht es dir?« erkundigte er sich.

»Ganz gut«, erwiderte Marisa. »Ich habe ein bißchen Kopfschmerzen.« Sie schaute zur Tüte. »Ich wenigen Minuten wollte ich eine Pizza in den Ofen schieben. Ich glaube, keiner von uns hat etwas dagegen, statt dessen chinesisch zu essen.«

Sonja grinste spitzbübisch. »Was ich vorhin über Männer gesagt habe, nehme ich zum großen Teil zurück«, erklärte sie großmütig. »Und was das Packen betrifft, so werden wir schon allein damit fertig, Daniel.« Herausfordernd fügte sie hinzu: »Männer haben sowieso zwei linke Hände.«

»Der Mann, der einmal auf dich hereinfallen wird, ist bestimmt nicht zu beneiden«, scherzte Daniel belustigt.

»Verlaß dich darauf, ich würde ihm schon zeigen, wo es lang geht«, antwortete das junge Mädchen lachend.

»Man sollte alle männlichen Wesen rund um den Tegernsee vor dir warnen«, schlug Marisas Freund vor. »Ich werde nachher mal die Zeitung anrufen.«

»Du darfst meine Schwester nicht allzu ernst nehmen, Daniel.« Angela legte ein paar Bücher in den Karton, der ihr zu Füßen stand.

»Habe ich auch nicht vor«, versicherte der junge Mann schmunzelnd. »Eines Tages wird Sonja schon ihren Meister finden.«

»Das befürchte ich auch«, bemerkte Sonja und kehrte in die Küche zu ihrer Arbeit zurück. Daniel folgte ihr mit der Tragetüte.

»Sieht aus, als hättest du ein richtiges Juwel gefunden, Marisa«, meinte Angela leise zu ihrer Freundin.

»Ein Juwel mit kleinen Fehlern«, erwiderte Marisa nachdenklich. »Ich wünschte, Daniel hätte nicht solche Angst, seine Freiheit zu verlieren. Es ist schon ein großes Zugeständnis von ihm, mit mir die Wohnung zu teilen. An Heiraten denkt er nach wie vor nicht.«

»Nun, ich bin überzeugt, er wird seine Meinung ändern, wenn du tatsächlich ein Kind erwartest.«

Die junge Frau seufzte leise auf. Sie wußte nicht, ob sie sich über eine Schwangerschaft freuen sollte. Im Moment konnte sie sich Daniel noch nicht als Vater vorstellen. Sein Freiheitswille war viel zu ausgeprägt, um diese Verantwortung übernehmen zu wollen. Mit einem Kind würde er sich auf jeden Fall gebunden fühlen. Niedergeschlagen blickte sie aus dem Fenster.

*

Gleich nach dem Mittagessen am Dienstag nachmittag ging Elisa Layher in das Zimmer ihres Sohnes hinauf, um dessen Schränke auszuräumen. Die jungen Leute wollten am Samstag umziehen und bis dahin sollte alles eingepackt sein. Sorgfältig legte sie die Kleider ihres Sohnes in einen Koffer. Sie fühlte sich nicht besonders wohl. Elisa hatte weder ihrem Mann noch ihrem Sohn etwas davon gesagt, daß sie seit dem Morgen leichte Gallenschmerzen hatte. Deshalb hatte sie auch beim Mittagessen kaum etwas gegessen. Sie hoffte, daß sie nicht wieder eine Kolik bekommen würde. Heimlich hatte sie eine zusätzliche Tablette genommen.

Daniels Mutter richtete sich mühsam auf und streckte sich. Vielleicht hängt meine Übelkeit gar nicht mit der Galle zusammen, sondern Marisa hat mich mit Ihrer Sommergrippe angesteckt, dachte sie. Immerhin hatte die junge Frau davon gesprochen, daß es ihr fast jeden Tag übel wurde.

Elisa dachte an die Freundin ihres Sohnes. Marisa arbeitete seit dem Morgen wieder in der Bank. Die junge Frau hatte darauf bestanden, von Dr. Baumann gesund geschrieben zu werden. Sie konnte Marisa nicht verstehen, weil sie genau wußte, daß es für sie bedeutend besser gewesen wäre, sich erst einmal auszukurieren.

Nein, es schien doch die Galle zu sein! Elisa spürte heftige Schmerzen auf ihrer rechte Seite. Sie überlegte, ob sie Dr. Baumann anrufen und fragen sollte, ob Sie noch an diesem Tag einen Termin bekommen könnte.

Erst sollte ich es mit einer Tasse Tee versuchen, überlegte sie, ging in die Küche hinunter und füllte den Wasserkessel. Sie wollte ihn schon auf den Herd stellen, als sie einen heftigen stechenden Schmerz spürte, der bis in die rechte Schulter ausstrahlte und durch ihren ganzen Körper raste. Elisa konnte gerade noch den Kessel abstellen, sonst wäre er ihr aus der Hand gefallen.

Zusammengekrümmt stemmte sie sich mit den Händen auf den Küchentisch. Die Schmerzen kamen in Wellen und waren so stark, daß sie ihr fast den Atem raubten. Die Küche schien sich um sie herum zu drehen. Aus allen Poren ihres Körpers strömte Schweiß, während ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde.

Es dauerte ein paar Minuten, bis Elisa die Kraft aufbrachte, sich bis zur Haussprechanlage zu schleppen. Ihre Hand zitterte, als sie den Hörer abnahm und die Zwei wählte.

Daniel drückte auf den Einschalteknopf. »Ja, Mutti, was gibt es?« fragte er.

Elisa schaffte es kaum, etwas zu sagen. »Hilfe«, flüsterte sie in den Hörer.

»Mutti, was ist denn? – Ich bin gleich bei dir.«

Georg Layher, der gerade einen Kunden bediente, wandte sich seinem Sohn zu. »Ist etwas passiert, Daniel?« erkundigte er sich beunruhigt.

»Ich weiß es nicht, Vater. Mit Mutter stimmt irgend etwas nicht.« Der junge Mann eilte zu der Verbindungstür, die in die Wohnung führte.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Neufer«, bat Georg Layher. »Ich muß nach meiner Frau sehen.« Er rannte seinem Sohn nach.

Sie brauchten keine zwei Minuten bis zur Wohnung hinauf. Daniel riß die Tür auf. Er sah, wie seine Mutter zusammengekrümmt neben der Haussprechanlage stand. Sie zitterte am ganzen Körper.

»Um Gottes willen, was ist mit dir, Elisa?« Georg Layher war mit wenigen Schritten bei ihr. Er wandte sich seinem Sohn zu. »Daniel, geh hinunter ins Geschäft, bedien bitte die Kunden, die noch warten, und dann schließ ab.«

Der junge Mann wußte, daß es das Beste war zu tun, was ihm sein Vater auftrug. Mit einem letzten Blick auf seine Mutter, die gerade von ihrem Mann ins Wohnzimmer gebracht wurde, verließ er die Wohnung. Leise fiel die Tür hinter ihm zu.

Georg Layher führte seine Frau zur Couch. Vorsichtig half er ihr, sich hinzulegen. »Ich rufe gleich Doktor Baumann an«, sagte er. »Ist es die Galle?«

Elisa nickte. Noch immer war sie kaum in der Lage, zu sprechen. Die Schmerzen waren inzwischen so schlimm geworden, daß sie glaubte, das Höllentor hätte sich vor ihr aufgetan. Aufstöhnend vergrub sie ihr Gesicht in den Kissen.

Als Daniel in die Wohnung zurückkehrte, saß Georg Layher neben seiner Frau auf der Couch und drückte ihre Hand. Leise sprach er auf sie ein. »Hast du schon Doktor Baumann angerufen?« erkundigte sich sein Sohn.

»Ja, er ist bei einem Krankenbesuch in Kreuth«, antwortete Georg. »Zum Glück ist Frau Doktor Bertram dagewesen. Sie wird in wenigen Minuten hier sein.«

»Frau Doktor Bertram ist genauso kompetent wie Doktor Baumann.« Daniel trat an die Couch und legte liebevoll die Wange auf den Kopf seiner Mutter. »Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Mutti«, meinte er.

Seine Mutter schlug die Augen auf und sah ihn an. Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment wurden die Schmerzen erneut so stark, daß sie aufstöhnte.

Frau Dr. Bertram kam keine fünf Minuten später. Als die Haustürglocke anschlug, ging Daniel rasch hinaus und öffnete die Tür. »Schön, daß Sie schon da sind«, sagte er zu der jungen Ärztin. »Wir machen uns große Sorgen um meine Mutter. Solche Schmerzen hat sie noch nie gehabt.«

»Ich bin gekommen, so schnell ich konnte«, antwortete Mara. »Es wird ihre Galle sein. Ich weiß von Dr. Baumann, daß er Ihrer Mutter schon lange zu einer Operation geraten hat.«

»Vermutlich führt nun an einer Gallenoperation kein Weg mehr vorbei«, meinte Daniel und fügte hinzu: »Hoffentlich ist die Gallenblase meiner Mutter nicht geplatzt.« Er führte die Ärztin ins Wohnzimmer.

Mara Bertram sah sofort, wie ernst es um die Kranke stand. Sie stellte ihre Tasche ab, nickte Georg Layher grüßend zu und beugte sich über ihre Patientin.

Während die Ärztin seine Mutter untersuchte, verließ Daniel das Zimmer, weil er fühlte, daß seine Mutter ihn nicht bei der Untersuchung dabei haben wollte. Besorgt lehnte er sich gegen das Treppengeländer. Erst vor drei Jahren war der Vater eines früheren Schulfreundes an einer Bauchfellentzündung gestorben. Zu dieser Entzündung war es durch eine geplatzte Gallenblase gekommen.

Es dauerte etwa zehn Minuten, bis sich die Wohnzimmertür öffnete und Frau Dr. Bertram heraustrat. »Sie können jetzt zu Ihrer Mutter gehen, Herr Layher«, sagte sie. »Ich habe bereits das Krankenhaus angerufen. Der Krankenwagen müßte in wenigen Minuten kommen. So wie ich das sehe, hat sich bei ihrer Mutter ein Gallenstein im Gallengang festgesetzt. Daher hat sie diese fürchterlichen Schmerzen.«

»Haben Sie ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben?« fragte Daniel.

»Ja.« Mara nickte und kehrte zu ihrer Patientin zurück. »Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Layher«, bat sie. »Morgen wird die Welt schon wieder anders aussehen.«

»Hoffen wir es«, meinte Elisa Layher und schloß erschöpft die Augen.

*

Den ganzen Samstag über waren Marisa, Daniel und ihre gemeinsamen Freunde damit beschäftigt, den Umzug in das Mehrfamilienhaus im Narzissenweg zu bewältigen. Am späten Nachmittag hatten sie es geschafft. Auch die Möbel, die sie gemeinsam in einem Einrichtungshaus ausgesucht hatten, waren bereits geliefert worden.

Angela und ihr Mann hatten bei dem Umzug geholfen. Während Marisa und Sonja in der Küche standen, um Brötchen mit Käse und Wurst zu belegen, unterhielten sich die Schumanns mit Daniel, der bereits daran ging, im Wohnzimmer Bücher in die Regale zu stellen.

Sharin und ihr vierzehnjähriger Bruder Aytan standen auf dem Balkon der Wohnung und schauten zum Tegernsee hinüber. Aytan sprach über sein Lieblngsthema. Er wollte Arzt werden. Sharin war überzeugt, daß ihr Bruder es schaffen würde, zumal auch ihre Eltern alles taten, um ihn zu fördern.

»Na, Aytan, hast du nicht Lust, mir später einmal in meiner Praxis zu helfen?« erkundigte sich Dr. Schumann, als der Bub mit seiner Schwester ins Wohnzimmer zurückkehrte.

Aytan schüttelte den Kopf. »Ich will nicht Zahnarzt werden«, erwiderte er, »sondern ein richtiger Arzt wie Doktor Baumann.«

»Ich werde daran denken, wenn du das nächste Mal bei mir auf dem Zahnarztstuhl sitzt«, scherzte Roland Schumann. Er schlug Aytan auf die Schulter. »Doch ich kann dich sehr gut verstehen. Es ist nicht jedermanns Sache, anderen Menschen in den Mund zu fassen.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Es gibt nämlich auch Patienten, die zubeißen.«

Angela ging in die Küche. »Kann ich euch helfen?« erkundigte sie sich.

»Wenn du so fragst.« Marisa wies zu einem hohen Glas. »Du könntest Gurken schneiden und sie auf die belegten Brote legen.«

»Vergiß nicht, daß Sharin und Aytan einen Extrateller bekommen, Angela«, sagte Sonja.

»Das vergesse ich schon nicht«, erwiderte ihre Schwester. Da Sharin bei ihnen ein und aus ging, wußte sie genau, daß die junge Türkin kein Schweinefleisch aß. Sie wandte sich halb Marisa zu und sah, daß ihre Freundin an diesem Tag ungewöhnlich blaß war. »Fühlst du dich nicht wohl?« fragte sie besorgt.

»Jedenfalls nicht hundertprozentig.«

»Bist du schon bei der Baumann gewesen? – Ich meine, wegen deiner Schwangerschaft.« Der B-Test hatte ergeben, daß Marisa tatsächlich schwanger war. Sie hatte Angela gesagt, daß sie nicht daran dachte, zu einem Gynäkologen zu gehen, sondern ihre Schwangerschaft von Dr. Baumann überwachen lassen wollte. Schon ihre Eltern waren beim Vater von Dr. Baumann in Behandlung gewesen, und sie dachte nicht daran, einen anderen Arzt aufzusuchen, zumal Dr. Baumann auch Geburtshelfer war.

»Ich habe mir für nächste Woche einen Termin geben lassen«, antwortete sie.

»Bei Doktor Baumann bist du auf jeden Fall in guten Händen«, meinte Angela. Sie hielt große Stücke auf Dr. Baumann und wußte, daß sie es ihm niemals vergessen würde, wie er vor über einem Jahr Sharin geholfen hatte, als sie von ihren Eltern in der Türkei verheiratet werden sollte. Nur Doktor Baumann war es zu verdanken, daß Sharin in Deutschland bleiben durfte und eine Lehrstelle als Antiquitätenverkäuferin hatte. »Paß auf dich auf.«

»Das werde ich«, versprach ihre Freundin. »Mach dir keine Sorgen, so leicht wirft mich nichts um.«

Die Schumanns, Sonja, Sharin und ihr Bruder verabschiedeten sich kurz nach dem Essen. Ein langer Tag lag hinter ihnen, und außerdem fühlten sie, daß Daniel und Marisa gern allein sein wollten.

Die jungen Leute standen Arm in Arm auf dem Balkon und schauten zum Himmel hinauf. Daniel sagte seiner Freundin, daß er vor einigen Minuten mit seiner Mutter telefoniert hatte. Sie erwartete sie beide

am nächsten Tag im Krankenhaus.

»Ich bin froh, daß deine Mutter die Operation so gut überstanden hat«, meinte Marisa. »Schade, daß sie sich nicht schon längst hat operieren lassen. Es wäre ihr viel erspart geblieben.«

Daniel nickte. »Und nicht nur ihr«, bemerkte er. »Mein Vater und ich haben uns große Sorgen gemacht.« Er hob die Schultern. »Nun ja, zum Glück ist ja alles gut gegangen.« Liebevoll zog er seine Freundin an sich. »Ich weiß nicht, ob mein Vater es überstanden hätte, wenn meiner Mutter etwas passiert wäre. Du ahnst nicht, wie die beiden aneinander hängen.«

»Ich weiß, daß sie sich sehr lieben.«

»Manchmal denke ich, daß es von Anfang an ein unsichtbares Band zwischen ihnen gegeben haben muß. Einer kann ohne den anderen nicht sein.«

»Gibt es dieses Band nicht auch zwischen uns?« fragte die junge Frau und schmiegte sich an ihn. »Es ist wundervoll, dich an meiner Seite zu haben.«

»Genauso empfinde ich es auch«, sagte Daniel. »Und ich bin überzeugt, wir werden zusammen sehr glücklich sein.« Er strich ihr zärtlich durch die Haare. »Man braucht ganz gewiß keinen Trauschein dazu.«

Marisa nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Ganz so sehe ich es nicht«, bekannte sie. »Ich wäre schon gern verheiratet.«

Ihr Freund ließ sie abrupt los. »Du weißt, wie ich darüber denke, Liebes«, sagte er. »Es mag schizophren sein, aber du kennst meine Heidenangst davor, die Freiheit zu verlieren. Außerdem kann niemand voraussehen, ob eine Beziehung nicht scheitern wird.«

»Deine Eltern führen eine sehr gute Ehe, und meine Eltern haben ebenfalls eine gute Ehe geführt«, antwortete Marisa enttäuscht. »Ich dachte, du bist dir sicher, daß es auch zwischen uns ein unsichtbares Band gibt.«

»Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun«, verteidigte sich Daniel. »Kann sein, daß ich eines Tages anders darüber denke, nur jetzt will ich mich einfach noch nicht binden.«

»Und was wäre, wenn wir Kinder hätten?« fragte Marisa. »Ich halte es für sehr kompliziert, Kinder in einer Ehe ohne Trauschein aufzuziehen.« Sie legte die Arme um seinen Nacken. »Ich denke zwar nicht, daß du zu den Männern gehörst, die ihre Freundin eines Tages mit den Kindern sitzen lassen, nur ein bißchen Sicherheit braucht jede Frau.«

Daniel hielt die junge Frau ein Stückchen von sich ab. »So etwas würde mir tatsächlich niemals einfallen«, beteuerte er und zog sie zärtlich an sich. »Davon abgesehen haben wir keine Kinder. Ich fühle mich sowieso noch nicht in der Lage, schon Vater zu werden.«

»Wir werden auch nicht jünger«, bemerkte Marisa. »Ich bin vierundzwanzig, du dreißig.«

Der junge Mann sah sie irritiert an. »Sag mal, was soll das?« fragte er. »Ich dachte, wir seien uns darin einig, daß ein Trauschein nicht vonnöten ist. Wir sind zusammen, und nur darauf kommt es an.« Stirnrunzelnd fügte er hinzu: »Willst du mir etwas weismachen, daß du ein Kind erwartest?«

Marisa erschrak über seinen Ton. Es rann ihr kalt über den Rücken. Daniel schien plötzlich ein ganz anderer zu sein. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. »Nein, ich erwarte kein Kind«, behauptete sie. »Ich bin nur nicht gern eine Frau auf Abruf, mit der man in den Urlaub fährt, seine Nächte verbringt und die man jederzeit ungestraft verlassen kann.«

»Du mußt durchgedreht sein«, meinte Daniel perplex. Auch er trat einen Schritt zurück. »Meinst du denn, du könntest, nachdem wir jetzt zusammengezogen sind, die Welt auf den Kopf stellen?«

»Ich möchte nur etwas Sicherheit.«

»Was ist denn heutzutage schon sicher?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ich denke nicht daran zu heiraten und daraus habe ich niemals einen Hehl gemacht, Marisa. Wenn du damit nicht einverstanden bist, kann ich ja gehen.« Noch während er diese Worte aussprach, wurde ihm bewußt, daß er einen großen Fehler machte. Er liebte Marisa über alles und er wußte ja selbst, daß es unsinnig war, auf seiner Freiheit zu beharren. Gab Marisa nicht auch ihre Freiheit auf?

Die junge Frau war zu müde und erschöpft, um sich mit ihrem Freund zu streiten. »Ich halte dich nicht auf, wenn du gehen willst«, sagte sie.

»So ist das also«, meinte Daniel tief getroffen. Außer sich vor Zorn eilte er ins Schlafzimmer, riß einen Koffer aus der kleinen Abstellkammer und legte ihn aufs Bett, um seine Sachen zu packen.

Marisa stand an der Tür und sah ihm sprachlos zu. Sie konnte es nicht fassen, daß Daniel sie tatsächlich verlassen wollte. »Bist du denn verrückt?« fragte sie schließlich.

Ihr Freund schaute auf. »Du solltest darüber nachdenken, wieviel Porzellan du heute abend zerschlagen hast«, sagte er. »Es tut mir leid, daß ich überhaupt in deine Wohnung gezogen bin. Und es ist ja deine Wohnung hier hast du das Sagen, nicht ich.« Er schloß die Koffer und trat zu der jungen Frau. »Meine restlichen Sachen werde ich abholen lassen.«

Marisa trat beiseite. »Willst du mich erpressen?« fragte sie bestürzt. Daniel gab ihr keine Antwort, sondern ging zur Tür. Die junge Frau wollte ihn zurückhalten, wollte sich an ihn klammern, ihn bitten, nicht zu gehen, aber sie tat es nicht.