Der Autor - Steffi Wieczorek - E-Book

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Steffi Wieczorek

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Beschreibung

Oh Anna, du warst wunderbar. Er leckt sich mit der Zunge genüsslich über den Mund und betrachtet sein Werk voller Stolz aus der Ferne. Dann dreht er sich um und zwängt sich durch die Reihen der Schaulustigen, die dichtgedrängt hinter dem rot-weißen Absperrband verharren. Ja, das war ich! Seht genau hin, mein Werk! Spannend, fesselnd, nervenaufreibend und mit ungeahnten Wendungen. Lukas Bick, charmant, liebevoll und Autor von gefühlvollen Liebesromanen. Doch da ist noch diese andere Seite, dunkel, gefährlich und tödlich.

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Seitenzahl: 290

Veröffentlichungsjahr: 2020

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September 2014. Dunkle Wolken ziehen auf. Bedrohlich schimmert die morgendliche Sonne zwischen den Wolkenlücken hindurch. Sirenen haben Anna aus ihrem tiefen, nur wenige Stunden dauernden Schlaf hochschrecken lassen. Das Heulen der Sirenen kommt näher.

Eine schreckliche Vorahnung macht sich breit. Schnell zieht sich Anna den Bademantel an, um nicht in ihrem süßen Negligé neugierigen Blicken ausgesetzt zu sein und öffnet die Tür zu ihrem Balkon.

Durch die Bäume blitzt immer wieder Blaulicht auf. Ausgerechnet hier an diesem idyllischen Ort. Sie steht wie gebannt auf ihrem geranienverzierten Balkon und ein eiskalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Die Sirenen verstummen und nur das blaue Licht blitzt durch die dicht aneinander gereihten Bäume. Emsiges Treiben vor dem Hotel.

Getuschel, Verwunderung, angsterfüllte Blicke. Anna dreht sich um, das Bett neben ihr ist leer. Verzweifelt ruft sie nach ihm, aber er antwortet nicht. Gestern noch dieser Sonnenuntergang, der bis zum Sonnenaufgang dauerte. Es war so wunderschön. Bei ihm fühlt sie sich so wohl und sicher. Eines Tages ist er ihr einfach so über den Weg gerannt, besser gesagt, er hat sie fast umgerannt und dabei ihre Einkäufe auf dem Gehweg verstreut. Stocksauer wollte sie ihm die Meinung sagen, während sie sich hinkniete, um ihre Einkäufe zusammenzulesen. Flüchtig blickte sie zu ihm auf und bekam kein Wort mehr heraus. Der Mann aus ihren einsamen Träumen stand plötzlich vor ihr und verzauberte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Dabei funkelten seine Augen so faszinierend und sein Lächeln war einzigartig.

»Sorry, das wollte ich nicht. Tut mir echt leid. Komm ich helfe dir, war meine Schuld. Ich heiße übrigens Lukas.«

Der Beginn einer wunderbaren Geschichte, die niemals enden darf. Lukas hatte etwas so Anziehendes an sich. Anna kam nicht mehr von ihm los und wollte es auch auf gar keinen Fall. Nie wieder!

Das ist jetzt ein paar Wochen her, die schönsten Wochen ihres Lebens. Er sieht nicht nur aus wie der Mann aus ihren Träumen, er ist es auch. So intensiv hatte Anna noch nie gefühlt. Lukas hatte Anna mit dieser Reise überrascht, ihr einfach am Abend vor der Abreise gesagt, dass sie ein paar Sachen packen sollte. Anna sagte sofort ja, ohne das Ziel zu kennen. Sie vertraute ihm blind, er hat sie in ihren Bann gezogen. Dabei ist er ein so geheimnisvoller Mensch. Doch Anna liebt ihn bedenkenlos.

Aber wo ist Lukas? Dieses ungute Gefühl wird stärker. Ist ihm etwas passiert? Ist er doch beim Joggen gestürzt? Tausende Fragen quälen sie und diese Angst lässt sie nicht klar denken. Überstürzt zieht sie sich an, diese Unruhe, diese Ungewissheit lässt Anna fast durchdrehen. Sie merkt noch nicht einmal, dass sie ihr Shirt verkehrt herum angezogen hat. Sie rennt die Treppe herunter, vorbei an den wild gestikulierenden Menschen, die sie keines Blickes würdigen. Sie rennt in Richtung Blaulicht, keine zweihundert Meter von dem Hotel entfernt. Gelbes Absperrband und viele Polizeiwagen, wild hin- und herlaufende Menschen mit und ohne Uniform, verheißen nichts Gutes. Angst kommt in ihr auf, ihr Herz schlägt erbarmungslos laut und schnell. Eine kleine Menschentraube von zufällig vorbeikommenden Wanderern hat sich gebildet. Wie gebannt starren sie hinter das Absperrband, das von Polizisten geschützt wird.

Sie geht näher. Keiner beachtet sie. Sie muss hinter das Band, vorbei an den Polizisten. Sie muss einfach, auch wenn sie nicht weiß warum. Vorbei an dem Mann, der wahrscheinlich gefunden hat, was er niemals finden wollte und der jetzt mit einem Uniformierten spricht. Es war sicher nicht der leere Korb, der auf dem Waldboden liegt, umringt von den vielen essbaren Pilzen, die frisch gepflückt sein Mittagessen werden sollten.

Der Schock steht ihm ins Gesicht geschrieben, während der Uniformierte mit einem Bleistift Notizen auf einem handlichen Block macht. Anna will es gar nicht wissen, gehört nicht zu diesen Gaffern, die sich am Leid anderer ergötzen und Facebook, YouTube oder sonstige Internetportale füttern, aber irgendetwas sagt ihr, sie muss dahin. Sie hebt das Band, bückt sich und geht einfach weiter. Keiner hält sie auf. Niemand interessiert sich für sie. Sie sieht ein weißes Tuch, das blutgetränkt verrät, hier muss etwas Furchtbares geschehen sein. Spätestens jetzt müsste doch jemandem auffallen, dass sie nicht hierhergehört.

Nichts.

Niemanden stört ihre Anwesenheit. Alle sind damit beschäftigt, Spuren zu sichern, Hinweise zu suchen, sich Notizen zu machen. Sie geht näher, steht genau neben dem Fundort. Plötzlich hebt einer der Ermittler das Tuch an und gibt dem gerade eingetroffenen Gerichtsmediziner die Sicht frei.

Oh Gott, nein.

Der Anblick lässt Anna erstarren. Schnell wendet sie sich ab. Eine blutverschmierte Kreatur, aufgeschlitzt und übersäht mit blauen Flecken, die Füße nackt, dreckig, aufgerissen. Wilde Tiere haben ihren Hunger an ihr gestillt. Ganze Fetzen Fleisch wurden an Armen, Oberschenkeln und Bauch herausgerissen. Fliegen haben den toten Körper in Beschlag genommen, Maden schlängeln sich durch den zerfleischten Körper.

Ein widerlicher, mitleiderregender Anblick und dieser süßlich vergammelte Geruch des Todes lassen Anna den Atem anhalten, sonst müsste sie sich übergeben. Nein, ein Unfall war das nicht!

Sie schreit laut auf, ihr Schrei lässt die Vögel aufschrecken und eine Schar Krähen flüchtet in den wolkenverhangenen Himmel.

Die Menschen um sie herum blicken verwundert den fliehenden Vögeln hinterher, doch sie wird mit keinem Blick beachtet, so als wäre es selbstverständlich, dass ein Zivilist hier herumsteht und sich das Werk eines Monsters aus nächster Nähe betrachtet.

Der Gerichtsmediziner hat sich die Einmalhandschuhe übergestreift und murmelt.

»Der Tod muss vor circa 72 Stunden eingetreten sein. Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen. Die Identifikation wird wohl schwierig werden bei diesem Ausmaß der Verletzungen, zwischen 25 und 30 Jahre würde ich sie schätzten.«

Ein Ermittler notiert die wenigen ersten Erkenntnisse und hofft auf die Obduktion.

»Irgendwelche besonderen Merkmale? Etwas, das uns bei der Identifikation helfen könnte?«

Der Gerichtsmediziner schüttelt mit dem Kopf. Die Tote ist nackt. Auf den ersten Blick sind keine Narben von Operationen oder Verletzungen zur erkennen. Langsam und sacht dreht er sie um, ganz vorsichtig, als wolle er verhindern, dass er ihr noch mehr Schmerzen zufügt. Ein zweiter Schrei von Anna lässt auch die mutigsten Vögel davonfliegen. Anna starrt wie gebannt auf den Leichnam. Sie blickt in dieses gequälte Gesicht, von dem nicht mehr viel übrig ist. Weit aufgerissene, blutunterlaufene Augen, dieser tote, verzerrte Blick. Selbst für den Ermittler ist dieser Anblick zu viel, er muss sich abwenden. Routiniert betrachtet der Gerichtsmediziner den Körper ohne jegliche Emotionen. Langsam streicht er ihr das Haar aus dem Gesicht. »Ich hätte da doch etwas für Sie. Vielleicht ist es bei der Identifikation behilflich.«

Der Ermittler muss seinen Ekel und Hass auf dieses Monster, das das getan hat, überwinden. Er hält sich den Arm vor Nase und Mund.

»Sehen Sie das? Ein sehr markantes Muttermal hinter dem rechten Ohr. Das dürfte Ihnen sicher helfen.«

Anna schreit ein drittes Mal, Vögel sind keine mehr da, die fliehen können. Die Aasgeier kreisen voller Vorfreude, angelockt von dem Geruch des Todes, in sicherer Höhe hungrig über dem Fundort. Anna ist kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Doch sie fällt nicht. Sie stiert nur auf dieses Muttermal. Der Gerichtsmediziner dreht sich weg. Anna geht näher, streicht über das Mal der Toten mit der linken Hand. Ihre Hand zittert, ihr Körper bebt. Mit der rechten Hand streift sie sich die Haare zur Seite und berührt das Mal unter ihrem rechten Ohr.

Nein!? Das ist unmöglich. Das kann nicht sein.

Die Frau unter dem Tuch ist ihr Ebenbild. Sie muss sich täuschen, es ist ausgeschlossen. Trotz der Verletzungen und dem Blut kommt es ihr so vor, als würde sie in einen Spiegel sehen und sich darin erkennen. Ein entsetzliches Gefühl überkommt sie.

Nein! Bitte, nein! Es muss ein ekelhafter, absurder Traum sein. Ich will aufwachen!

Sie begreift nichts mehr. Anna springt auf, wendet sich ab und möchte davonlaufen, doch sie bleibt wie angewurzelt stehen. Die Leiche sieht nicht nur aus wie ihr eigenes Spiegelbild, sie hat auch das gleiche Muttermal am Hals, neben dem am rechten Ohrläppchen.

Ich will aufwachen! Ich muss aufwachen!

Verzweifelt schreit Anna erneut auf. Doch niemand interessiert sich dafür. So als wäre sie nicht existent. Sollte sie es sein, die da vor ihr liegt? Geschunden, gehetzt, getötet. Anna muss weg hier. Es ist nur ein Albtraum, aus dem sie endlich aufwachen muss. Anna rennt vorbei an den Menschen, die aus der Ferne gierige Blicke auf die Leiche werfen und die, die versuchen herauszufinden, was passiert ist. Keiner dreht sich um. Niemand hält sie auf, fragt sie, was sie hier treibt. Anna ist nur Luft. Doch dann sieht sie Lukas in der Menge stehen. Er trägt seine Laufsachen, war tatsächlich am frühen Morgen joggen. Sie will zu ihm, doch sie kann nicht. Sie ruft nach ihm, doch er hört sie nicht. Er steht nur da.

»Lukas, hilf mir. Ich bin hier. Siehst du mich denn nicht?«

In diesem Moment dreht er sich um und rennt einfach desinteressiert weiter. Anna rennt ihm hinterher, ruft seinen Namen, doch es dauert nicht lange und Lukas ist zwischen den dichten Bäumen, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen, verschwunden. Anna bricht schreiend zusammen und hofft, endlich neben ihm aufzuwachen und diesen Albtraum vergessen zu können. Sie rafft sich auf, muss zurück zum Hotel. Wenn sie schon nicht aufwachen kann, muss sie wenigstens an den Ort zurück, an welchem Lukas sicher schon sehnsüchtig auf seine Anna wartet. Sie rennt vorbei an dem neugierigen Menschenauflauf zurück zum Hotel, wo immer noch wild diskutiert wird. Eilig geht sie an der Rezeption vorbei, die Stufen des in die Jahre gekommenen, aber trotzdem so perfekten, kleinen Hotels hinauf, öffnet Zimmer Nummer Dreiundzwanzig und lässt sich heulend und schreiend aufs frisch gemachte Bett fallen. Noch bevor sie die Augen schließen und darauf hoffen kann, dass Lukas sie aus ihrem widerlichen Albtraum endlich befreit, bemerkt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Anna springt augenblicklich aus dem Bett auf, sie rennt ins Bad und ungläubig zurück. Sie öffnet die Schranktüren und kramt in dem kleinen Nachttischchen herum. Nichts, einfach gar nichts. Alles ist weg. Sämtliche Sachen, ihr Handy, die Koffer. Nichts ist mehr da. Noch nicht einmal ein Staubkörnchen. Das Zimmer sieht unbewohnt und hergerichtet für den nächsten Gast aus. Vielleicht hat sie sich vor Aufregung in der Tür geirrt. Schnell reißt sie die Tür auf. Es ist Zimmer Dreiundzwanzig. Anna rennt wieder die Treppe hinunter. An der Rezeption werden gerade neue Gäste freundlich begrüßt. Anna ist das egal. Sie ist mit den Nerven am Ende, drängt sich nach vorn und mit verzweifelt wütender Stimme fragt sie, was das soll, wo ihr Gepäck und ihre persönlichen Sachen sind, schließlich war sie ja keine halbe Stunde weg. Trotz ihres Wutausbruchs interessiert sich keiner der Anwesenden für Anna und diese freundliche Begrüßungszeremonie wird nicht unterbrochen. Wutentbrannt rennt Anna hinter die Rezeption, greift nach dem Arm der Frau und springt entsetzt drei Schritte zurück. Sie hat ins Leere gegriffen. Sie muss es nochmal versuchen. Nichts, sie kann nicht zugreifen. Ihre Hand geht durch den Körper der Frau einfach hindurch.

»Das ist doch verrückt!«

Anna rennt zu dem großen Spiegel, der sich gleich neben der Eingangstür befindet. Sie blickt hinein, hofft, ihren verzweifelten Gesichtsausdruck und dicke Augenringe vom Durchleben dieses Albtraums zu sehen. Doch sie sieht nichts. Wild schlägt Anna mit den Armen gegen den Spiegel, wischt über die frisch geputzte Oberfläche. Aber es ist nichts zu sehen. Noch nicht einmal Handabdrücke. Einfach gar nichts. Anna kann nicht mehr, will nur noch weg hier, raus aus diesem Hotel. Doch die Tür lässt sich nicht mehr öffnen. Sie ist gefangen in ihrem Albtraum, aus dem es für sie kein Erwachen mehr gibt.

Drei Jahre ist es jetzt her. Nie wurde aufgeklärt, wer die unbekannte Tote war, was vor drei Jahren geschehen ist. Am Anfang hat Anna sehr gehofft, dass Lukas zurückkommt, sie sucht, sie befreit. Doch Lukas kam nicht.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 1

Oh Anna, du warst wunderbar.

Er leckt sich mit der Zunge genüsslich über den Mund und betrachtet sein Werk voller Stolz aus der Ferne. Dann dreht er sich um und geht. Zu gern möchte er diesen Anblick noch einmal nah genießen, doch er weiß, jetzt nicht, Anna ist Vergangenheit. Doch die Zukunft wird ihm eine neue Chance geben. Bald. Voller Vorfreude dreht er sich um und zwängt sich zwischen den anderen Schaulustigen hindurch, die sein Werk voller Neid bewundern.

Ja, das war ich! Seht genau hin, mein Werk.

Anna war sein drittes Meisterwerk. Zuvor hat er seine „Passion“ in einer anderen Gegend ausgelebt. Vor zwei Jahren war es in Portugal, im Douro-Tal. Er mietete sich eine kleine Hütte, unscheinbar und weit abgelegen. Es war eine Einheimische, die er durch Zufall am Supermarkt gesehen hatte. Sie sollte seine Auserwählte sein, er wusste es sofort. Doch sein erstes Mal wird er niemals vergessen.

Alles begann 2009 in Schottland, im Glenmore Forest Park, keine zehn Kilometer von Aviemore entfernt.

»Ich muss hier raus, ich kann nicht mehr.«

Ausgelaugt und nicht fähig, nur ein vernünftiges Wort zu Papier zu bringen, starrt er auf sein Notebook. Zeitdruck, Abgabefristen, Ideenlosigkeit bestimmen seinen Alltag. Der grelle Klingelton reißt ihn aus seiner Ideenlosigkeit. Er lässt es klingeln, denn er ahnt bereits, wer am anderen Ende der Leitung ist. Der Anrufbeantworter springt an.

»Ähm, ja, hallo, ich muss dich noch einmal an den Termin erinnern. Ach, komm schon, nimm ab. Ich weiß, dass du da bist.«

Wütend springt er von seinem Stuhl auf, läuft unruhig auf und ab. Dann geht er ins Schlafzimmer, beginnt ein paar Sachen zusammenzupacken.

»Ihr könnt mich alle mal! Ich muss hier raus!«

Ein Taxi bringt ihn zum Flughafen. Last Minute nach Inverness und von da aus mit dem Leihwagen Richtung Aviemore, wo er die Nacht in einem Hotel verbringt. Am nächsten Morgen mietet er sich im Glenmore Forest Park eine kleine, komfortable Blockhütte, abgeschieden, umgeben von Wald, mit einem faszinierenden Blick. Eine Traumkulisse und der richtige Ort, um abzuschalten. Er will einfach in Ruhe arbeiten, sucht die Einsamkeit, um wieder er selbst sein zu können.

An der Blockhütte angekommen, kann er das erste Mal seit langem wieder Lächeln. Er atmet tief ein, inhaliert förmlich den Duft von Freiheit, endlich kann er wieder durchatmen. Der Ausblick ist einzigartig, nicht weit entfernt plätschert ein Bach oder Fluss im Takt vor sich hin.

Sein Job ist anders, er braucht diese Ruhe, um arbeiten zu können. Er ist Autor, und sein Verlag drängt ihn. Die Verkaufszahlen sinken. Eigentlich ist sein Platz immer unter den Top Zehn der Bestsellerliste. Seine schnulzigen Liebesromane mit dem gewissen Etwas haben eine große, vor allem weibliche Fangemeinde. Doch die letzten zwei Bücher waren eher langweilig und emotionslos. Das neue Buch muss ein Volltreffer werden, sein Verlag hat bereits mit Konsequenzen gedroht. Hier wird er wieder schreiben können. Ideen hat er schließlich tausende im Kopf. Und schreiben kann er. Diese Einsamkeit und die brillante Aussicht auf ein wunderschönes, unberührtes Nichts lassen ihn hochmotiviert beginnen.

Doch so schön und einfühlsam so manches Kapitel klingt, es ergibt keinen Sinn, der rote Faden fehlt. Er starrt auf das Geschriebene, bis der Bildschirm langsam dunkel wird und in den Standby-Modus übergeht. Zwei Wochen tippt er und verwirft es wieder.

So hat er sich das nicht vorgestellt. Ständig fragt er sich, was nur mit ihm los ist. Ein oder zwei Mal wollte er unverrichteter Dinge abreisen. Er hat es satt, dann geht er eben zur Zeitung und arbeitet dort als Journalist. Vielleicht ist er einfach zu schlecht.

»Hi, wollte nur mal hören, wie es dir geht. Und, kommst du gut voran?«

Nicht das auch noch. Sein nerviger Verleger ruft an. Nachdem er tagelang seine Anrufe und Mails ignoriert hat, geht er ans Handy.

»Äh, ja hallo. Wenn du mich nicht ständig nerven würdest, wäre ich sicher schon weiter, schließlich bin ich nicht umsonst „geflohen“. In zwei Wochen hast du die ersten Kapitel. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe arbeiten!«

Bestimmt beendet er das Telefonat, ohne eine Antwort abzuwarten, klappt das Notebook zu und rennt sich den Frust in den schottischen Wäldern aus dem Leib.

»Dieser Idiot wird schon bekommen, was er will!«

Er kocht. Jeder erwartet irgendetwas von ihm. Doch am Meisten erwartet er von sich selbst. Er hasst es, zu versagen. Völlig verschwitzt kommt er zurück, duscht sich und nimmt sich den guten schottischen Whisky aus dem Schrank, der ist jetzt bitter notwendig. Nach dem dritten, vierten oder auch fünften Glas fängt er an zu schreiben. Voller Wut tippt er, ohne lange zu überlegen, denn der Alkohol in seinem Blut verhindert jede Möglichkeit, klar denken zu können. Er speichert und geht schwankend ins Bett.

Am nächsten Morgen oder eher Mittag, quält er sich mit einem dicken Kopf aus dem Bett, macht sich ein Katerfrühstück, dazu eine doppelte Portion Aspirin und beschließt, nochmal von vorn zu beginnen.

Zwei Wochen bleiben ihm noch. Fünf Kapitel sollten machbar sein. Dass er gestern noch geschrieben hat, ist ihm nicht mehr bewusst. Doch noch bevor er einen neuen Versuch startet, liest er.

„…Seine kräftigen Hände packten sie. Er verspürte diesen Drang und ihr angsterfüllter Blick machte ihn wild. Er zerrte sie mit unfassbarer Gewalt in sein Schlafzimmer und fesselte sie. Ihre Schreie erfüllten den Raum. Sie bäumte sich auf, er drückte ihr seine großen Hände auf den Mund und...“

Erschrocken klappt er das Notebook zu, steht auf und kann nicht fassen, was er geschrieben hat. Er ist ein Kitschromanautor mit dem gewissen Etwas, kein Widerling, der irgendwelche abartigen Fantasien niederschreibt. Noch bevor er weiterliest, markiert er diesen Unsinn und löscht ihn. Doch obwohl er über seine Worte mehr als schockiert ist, ist er doch neugierig geworden.

Schnell holt er den Text zurück und liest weiter. Fassungslos studiert er seine Buchstaben und findet auf einmal Gefallen daran. Mal abgesehen von seinen vielen Tippfehlern, die Tasten waren wohl für seinen Rausch zu klein, um zu treffen, ist er fasziniert von seinem Geschriebenen.

Diese Faszination ist aber anders. Es weckt in ihm Lust, nicht nur auf eine neue Art zu schreiben. Es ist die Lust, zu erleben, was er geschrieben hat. Schnell bessert er seine Fehler aus und schreibt da weiter, wo er im Rausch aufgehört hat.

Seite um Seite entstehen so. Und er ist mittendrin in seiner Geschichte im Glenmore Forest Park. Schnell stellt er fest, dass der Whisky ein guter Motivator ist, um die richtigen Buchstaben zu finden. Begeistert liest er am Morgen, was er am Abend im Rausch geschrieben hat. So vergehen Tage und seine Gedanken kreisen nur noch um sein neues Werk, das inzwischen selbst in seinen Träumen eine große Rolle spielt.

Wieder einmal verkatert wird er munter, die Sonne schickt gerade die ersten wärmenden Strahlen. Der Traum letzte Nacht war so realistisch, dass er vor sich selbst Angst bekommt.

Ich muss hier raus! Nein, das bin nicht ich?!

Schnell zieht er sich an, er muss diese Gedanken loswerden und rennt der Sonne entgegen. Langsam beruhigt er sich wieder. Die warmen Sonnenstrahlen, der Duft von Natur und das Auspowern haben ihm gutgetan. Barfuß ist er durch den eiskalten Bach gehüpft und er hat seinen Kopf kurz unter Wasser gehalten. Jetzt fühlt sich Lukas frei, frei im Kopf, ganz ohne diesen Gedanken an den Traum, der so real und faszinierend für ihn war. Zurück in der Blockhütte lassen eine Dusche und ein heißer Kaffee seinen Tag vollkommen werden.

Jetzt schreibt er, wie es erwartet wird. Liebevoll, voller Emotionen und natürlich in Richtung Happyend.

Ich kann es noch.

Stolz auf sich selbst betrachtet er das Geschriebene. Doch obwohl er auf den Whisky verzichtet, kommt Nacht für Nacht dieser Traum zurück, lässt ihn nicht mehr los. Konsequent weigert er sich, an diesem Buch weiterzuarbeiten, zu falsch wäre es. Nur löschen kann er dieses Geschriebene nicht. Irgendetwas hält ihn davon ab.

Inzwischen hat er seine Auszeit verlängert. Und nach den ersten Kapiteln war selbst sein Verleger begeistert.

»Jawohl, du bist super! Gut gemacht und weiter so! Das wird endlich wieder ein Bestseller, vielleicht sogar dein bestes Buch. Bleib solange es nötig ist, wenn du nur so weiterschreibst.«

Nachdem der Verleger per Mail die ersten Kapitel lesen konnte, folgte gleich der Anruf voller Lobeshymnen. Während des Telefonats waren die Dollarzeichen in den Augen des Verlegers deutlich zu erkennen.

Er schreibt weiter, ohne auch nur ein einziges Mal diese andere Datei zu öffnen. Die Reise ist fast zu Ende. Jetzt muss er zurück und er steckt fest, das große Happyend will ihm nicht wirklich gelingen, der gewisse Kick fehlt. Das Buch ist zwar fertig, doch das Happyend irgendwie nicht vollkommen. Eine Schreibblockade, die er jetzt nicht gebrauchen kann.

Sein Happyend wird er zu Hause überarbeiten. Er hat die nächsten Tage wichtige Termine. Morgen muss er fahren. Ein letztes Mal streift er durch die Gegend und genießt danach die Aussicht auf den Sonnenuntergang bei einem Glas Whisky.

Waren da Rentiere?

Gehört hat er davon, doch bisher noch keine hier gesehen. Der Romantiker in ihm ist wieder da. Schnell holt er das Notebook heraus und macht sich ein paar Notizen. Um komplett in dieser liebevollen Welt aufzugehen, reicht die Zeit nicht. Er muss früh los. Schnell speichert er.

Dann fällt sein Blick auf diese Datei, „Anders“ hat er sie genannt.

Okay, einmal lese ich es noch, dann verschwindet es! Das bin nicht ich, will ich nicht sein.

Je mehr er liest, umso tiefer taucht er wieder in diese Gedankenwelt ab. Sieht sein Geschriebenes wie einen Film vor sich ablaufen und es gefällt ihm. Er schließt die Augen und beginnt zu träumen.

»Hallo?«

Urplötzlich wird er aus seiner Gedankenwelt gerissen. Eine hübsche, junge Frau steht vor seiner Blockhütte und sieht verängstigt aus.

»Sorry, aber vielleicht können Sie mir helfen?«

Mal abgesehen von seinen Ausflügen in das zehn Kilometer entfernte Aviemore, um seine Essensvorräte aufzufüllen, hat er hier noch keine Menschenseele gesehen.

»Äh, ich glaub, ich habe mich irgendwie verlaufen.«

Etwas schüchtern bittet die Fremde ihn um Hilfe, denn die Sonne ist fast untergegangen und die Nacht bricht an. Mit einem kräftigen Schluck leert er das Glas Whisky und steht auf.

»Sie müssen dort entlang.«

Er weist ihr mit der Hand den Weg, möchte sie schnell wieder loswerden, denn er hat noch etwas vor. Er will, nein er muss dieses andere Buch weiterlesen, vielleicht sogar weiterschreiben. Nein, weiterschreiben darf er nicht, er muss es löschen, das ist nicht er, das ist nicht dieser liebevolle Kitschromanautor, der die Herzen seiner Leser zum Glühen bringt.

Nur noch einmal lesen und träumen. Das ist ihm nach dem letzten Schluck klar geworden. Doch zuvor muss dieser ungebetene Gast verschwinden. Das hübsche, junge Ding bedankt sich und macht sich auf den Weg. Er hat sich inzwischen noch einen Whisky nachgeschenkt und will gerade weiter sein anderes Werk genießen, da macht ihm sein schlechtes Gewissen einen Strich durch die Rechnung. Sie würde sich sicher verirren, allein findet sie niemals den richtigen Weg.

»He, warten Sie.«

Die junge Frau bleibt stehen.

»Sie können doch jetzt nicht allein weitergehen, im Dunkeln finden Sie niemals zurück. Kommen Sie her.«

Fast schon erleichtert und angetan von seiner warmen Stimme dreht sie sich um und kommt mit einem bezaubernden Lächeln zu ihm. Die anbrechende Dunkelheit hat ihr Angst gemacht und vielleicht begleitet er sie ja.

»Sie können heute Nacht hier übernachten, die Hütte hat ein separates Gästezimmer, also keine Angst.«

Er setzt dabei sein bezauberndstes Lächeln auf.

»Morgen früh reise ich sowieso ab, dann kann ich Sie mitnehmen.«

Ohne lange zu überlegen, bleibt sie.

»Mein Name ist Caroline, ich komme aus Holland, brauchte mal eine Auszeit. Es ist wunderschön in Schottland. Entschuldigen Sie, aber ich will Ihnen keine Umstände machen.«

Er lacht laut auf.

»Ich hätte mir Vorwürfe gemacht, wenn ich Sie allein in die Nacht geschickt hätte. Ich heiße Lukas, und auch ich war auf der Suche nach der Einsamkeit.«

Schnell ist das Eis gebrochen, alle Vorbehalte sind vergessen und Caroline aus Holland setzt sich zu Lukas und lässt sich ebenfalls ein Glas schottischen Whisky einschenken. Kurz vor Mitternacht zeigt Lukas ihr das Gästezimmer und die Beiden wünschen sich eine gute Nacht und angenehme Träume. Er geht zurück auf die Terrasse und schreibt fasziniert weiter, bis die Flasche mit dem Whisky leer ist, dann geht er ins Bett.

Was für ein Traum.

Noch etwas durcheinander und völlig aufgewühlt steht er auf. Voller Ekel müsste er sein, wenn er an diese Bilder denkt, die ihm sein Gehirn letzte Nacht vorgegaukelt hat. Doch er fühlt sich irgendwie befreit und befriedigt.

Jetzt muss er aber los, der Flieger startet in sechs Stunden und dann diese Kleine. Wie war noch ihr Name? Ach ja, Caroline aus Holland heißt sie, sie muss er auch noch mitnehmen. Schnell sammelt er seinen Kram zusammen, wundert sich, dass sein Bett dermaßen zerwühlt und seine Sachen lieblos und komplett verdreckt auf dem Fußboden verstreut liegen.

Oh Gott, der Whisky…

Er schlägt sich erschrocken und gleichzeitig belustigt die Hand gegen die Stirn. Er ist sicherlich im Rausch noch irgendwo in den Dreck gefallen. Er rafft das Dreckzeug zusammen, verstaut es in einer Plastiktüte und will Caroline aus Holland holen. Doch sie ist weg. Ihr Zimmer ist leer, das Bett sieht unbenutzt aus.

Da hat sie sich einfach verpisst, dieses kleine Luderchen, dabei war sie doch Hauptfigur in meinem Traum.

Lachend greift er nach dem Notebook und freut sich schon auf den Flug, denn dann wird er diesen Traum in Buchstaben wieder auferstehen lassen. Den Plan, alles zu verwerfen, hat er weit nach hinten geschoben.

Lukas hat am Abend vergessen, das Notebook herunterzufahren, das kleine, grüne, blinkende Licht macht ihn darauf aufmerksam. Schnell will er das Notebook ausschalten, er muss endlich los. Die Zeit rennt ihm davon. Schockiert starrt er auf den Bildschirm.

„...Der Anblick dieses gefesselten Körpers, der unfähig ist, vom Bett aufzustehen. Das Messer blitzt bedrohlich auf, bevor die Klinge unsanft ihren Körper berührt. Das Blut rinnt und er genießt ihre Schreie und den köstlichen Geschmack der warmen Flüssigkeit... Er jagt sie nackt in den Wald, ihre Schreie verhallen im Nirgendwo. Ihr Körper übersät von Spuren der Nacht.... Erschöpft fällt sie zu Boden und er über sie her.... Ein letztes Mal dringt er in sie ein und verbeißt sich dabei in ihren geschundenen Körper. Caroline aus Holland, ein köstliches Stück Fleisch...“

Er knallt mit Wucht den Bildschirm zu, rennt ruhelos und ab. Traum, Realität? Er weiß es nicht.

Caroline aus Holland, wo bist du? Sag, dass du einfach nur gegangen bist.

Er geht zurück ins Bad, kaltes Wasser muss helfen. Literweise schüttet er sich das kalte Nass ins Gesicht. Nichts, keine Erinnerung. Dann blickt er in den Spiegel. Diese stahlblauen Augen, die je nach Lichteinfall ihre Farbe ändern, lassen tief blicken, eiskalt wirken sie heute, dabei strahlen sie meist so viel Wärme und Vertrauen aus. Er starrt sich an, minutenlang. Dann sieht er im Spiegel etwas funkeln. Langsam und fassungslos dreht er sich um. Ein Messer, das achtlos neben der Dusche auf dem Fußboden liegt. Zögerlich greift er danach. Es klebt Blut daran. Doch anstatt gleich entsetzt und voller Reue die Polizei zu rufen und sich zu stellen, betrachtet er das Messer, schließt die Augen, träumt und leckt es genüsslich ab.

Caroline aus Holland, ich denk, du hast mich ziemlich glücklich gemacht und zu neuen Ideen inspiriert.

Kapitel 2

September 2017. Frei, endlich. Raus aus dem Alltag und den stressigen Job hinter sich lassen. Die gescheiterte Beziehung vergessen, die ihr wirklich nicht gutgetan hat und abschalten. Wahllos packt Sarah ihre Koffer und fährt. Raus aus der Wohnung voller mehr oder weniger schöner Erinnerungen.

Vor drei Wochen verließ er sie. Dieser Idiot. Er fühle sich eingeengt, hat er gesagt. Und Liebe war es wohl auch nie, behauptet er. Dabei hatte ihm Sarah alle Freiräume, die er wollte, gelassen. Eine neue Frau begleitet ihn bereits. Sarah hat die beiden gesehen. Seine letzten Sachen holte er vor ein paar Tagen. Sie dreht sich noch einmal um, verschließt die Tür und fährt einfach los.

Auf nach Bayern, Berge ich komme.

In die Alpen wollte sie schon immer mit ihm, doch das war ihm zu „idyllisch“, ständig fand er fadenscheinige Ausreden. Jetzt kann Sarah tun, was sie will, dahinfahren, wohin sie will und endlich zur Ruhe kommen. Drei Wochen hat sie Zeit. Den Kindle-Reader hat sie im Koffer verstaut. Jetzt wird sie sich endlich die Zeit zum Lesen nehmen. Mehr möchte sie nicht. Ein wenig die Aussicht genießen, wandern und lesen.

Voller Zuversicht, das richtige kleine, ruhige Hotel zu finden, fährt sie voll bepackt los. Je näher sie zu den Bergen kommt, desto besser wird ihre Laune, sie kann wieder mehr lächeln. Der Ex-Idiot rückt in weite Ferne. Perfekt.

Die großen Tourismus-Hotels lässt sie links liegen, fährt weiter. Die Straße wird schmaler, die schneebedeckte Gipfel der Alpen scheinen greifbar nah. Sie fährt diese gefährlichen Serpentinen nach oben. Kurz hält sie am Straßenrand, steigt aus und genießt die Luft, die Aussicht und das Gefühl der Freiheit.

Es ist Spätsommer, September, aber ungewöhnlich warm für diese Jahreszeit, selbst in den Bergen. Doch langsam kommen Bedenken in Sarah auf. Sollte sie diese Richtung weiterfahren? Hier sieht es wahrlich nicht so aus, wie wenn dieses kleine, süße Hotel, von dem sie immer geträumt hat, noch auf dem Weg liegen würde oder überhaupt existiert. Hier ist eigentlich nur eine große Menge Nichts. Sarah beschließt umzukehren. So langsam braucht sie eine Unterkunft. Es ist schon später Nachmittag. Wenn sie jetzt weiter die Serpentinen nach oben fährt, in der Hoffnung, doch noch ihr Traumhotel zu finden, wird es stockdunkel sein, bevor sie in der Touristenhölle ankommt, wenn ihr Traumhotelplan platzt.

Vielleicht hätte sie vorher Google befragen sollen, hier ist der Empfang ihres Handys leider gleich null. So sehr sie das vermeiden wollte, doch für ein oder zwei Nächte kann sie die Massenansammlung bergwütiger Touristen sicher ertragen. Dieser Deluxe-Alpen-Palast, der sicher keine Wünsche offenlässt, hat sicher noch ein weniger preisgünstiges Zimmerchen für sie frei. Morgen kann sie sich dann ganz entspannt nach einem kleinen, ruhigen, abgelegenen Hotel erkundigen.

Sie wendet und fährt zurück. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Wegweiser „Hotel zum Ausblick“. Sarah überlegt. Doch bei diesem Namen kann es nun wirklich kein besonderes Hotel sein. Selbst das Hinweisschild ist eher unscheinbar, unbedeutend und klein. Bei ihrem Weg nach oben hat sie es noch nicht einmal bemerkt. Sie biegt nach rechts in Richtung Nirgendwo ab und hofft, genau dieses einfache, abgelegene Hotel nach ihren Vorstellungen zu finden. Sarahs Weg führt mitten durch den Wald. Langsam bezweifelt Sarah, dass dieses Hotel tatsächlich noch existiert. Doch dann sieht sie es. Es sieht gepflegt und richtig rustikal aus. Ein kleines Alpenhotel, mit den typischen Balkonen und den Geranien, die gepflegt und üppig nach unten hängen.

Hoffentlich ist noch ein Zimmer frei.

Sarah will unbedingt hierbleiben. So hat sie es sich vorgestellt. Sie parkt ihr Auto und geht erwartungsvoll zur Rezeption, die nicht besetzt ist. Mit einem „Bing“ macht sie auf sich aufmerksam und schon eilt eine in die Jahre gekommene, ältere Frau mit einem schon fast erschrockenen Lächeln zu ihr, im Schlepptau den passenden älteren Herrn.

»Hätten Sie noch ein kleines Zimmerchen für mich? Ich würde gern eine Woche oder ein paar Tage hier verbringen.«

Das ältere Pärchen sieht sich an und nach einem kurzen Zögern, das Sarah nicht verborgen bleibt, antworten sie mit einem verhaltenen Ja und bieten Sarah an, sich das Zimmer vorher anzusehen. Wahrscheinlich haben die Herrschaften Angst, dass Sarah unzufrieden ist, sie mehr Komfort erwartet. Die ältere Dame bietet ihr einen Kaffee an, bittet Sarah, sich noch für wenige Augenblicke zu gedulden und verschwindet flinken Fußes. Sarah genießt den Kaffee, hofft, dass ihr das Zimmer zusagt und wartet etwas ungeduldig.

Kapitel 3

2012 - drei Jahre ist Caroline nun her. Sein Buch wurde ein Bestseller und ein weiteres folgte. Kuschelromane mit Happyend. Doch er hat auch sein anderes Buch fertiggestellt, lange überlegt, ob er es seinem Verlag vorlegen sollte. Lukas hat sich dagegen entschieden und es unter einem Pseudonym veröffentlicht, mit großem Erfolg. Und jeder fragt sich bis heute, wer wohl hinter diesem Pseudonym „Samuel Senkrad“ steckt. Bisher konnte er unerkannt bleiben.

Die Erinnerungen an Caroline werden mit jedem Tag stärker. Er muss es wieder erleben. Immer wieder nutzt er sein eigenes Buch als Bettlektüre, um wieder diese Träume zu haben, die er real erleben konnte. Nach und nach hat er sich, trotz des Vollrauschs, an Details erinnert. Und mit jedem noch so winzigen Detail ist der Wunsch größer geworden, es wieder zu erleben. Er muss es einfach noch einmal erleben. Auf seinen Lesungen, natürlich für die schnulzige Lektüre, sieht er diese willigen Leserinnen, die ihn regelrecht anhimmeln, ihm aus der Hand fressen würden, wenn er es zugelassen hätte.

Doch das ist keine Option für ihn, nachgedacht hat er darüber oft. Die Gefahr wäre einfach zu groß gewesen, dass diese andere Leidenschaft ans Tageslicht dringt.

Spätsommer, die Gedanken an sein erstes Mal sind dann besonders groß. Gerade hat er wieder ein Manuskript fertiggestellt. Er weiß, jetzt lässt ihn sein Verleger erst einmal in Ruhe. Jetzt kann er ausspannen, neue Ideen sammeln, den Kopf freibekommen. Es gibt Niemanden, bei dem er sich rechtfertigen müsste. Sein Verleger ist zufrieden. Familie hat er nicht. Lukas ist ein Einzelkind. Aufgewachsen ist er in einem Dorf in der Nähe von München.

Seine Mutter starb bei einem Verkehrsunfall als er 24 Jahre alt geworden war, damals hatte er gerade sein Studium beendet. Der plötzliche Tod seiner Mutter nahm Lukas sehr mit. Er stürzte in ein tiefes Loch, begann zu trinken und verkroch sich in der kleinen Wohnung, in der er mit seiner Mutter gewohnt hatte. Wochenlang wollte er niemanden sehen. Sein Lebensmut und sein größter Halt waren von einem Moment auf den anderen weg. Nichts war mehr wie zuvor.

Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Lukas Mutter nannte ihn nur eine namenlose, flüchtige, unbedeutende Bekanntschaft. Weitere Fragen ließ sie nicht zu. Andere Verwandte kannte Lukas ebenfalls nicht. Lukas wollte seinen Wurzeln auf die Spur kommen, wenigstens einen noch so entfernten Verwandten finden, doch jegliche Versuche endeten im Nichts. Trotz ausgedehnter Recherche ist es Lukas nie gelungen, etwas über das Leben seiner Mutter und seiner Herkunft herauszufinden.

Dabei war sich Lukas immer sicher, dass ihm seine Mutter einiges verheimlichte. Insgeheim hoffte er, dass er nach dem Tod seiner Mutter Dokumente, Unterlagen oder vielleicht sogar ein Tagebuch finden würde, um mehr über sie und sich selbst herauszufinden. Doch er fand absolut nichts. Ihre Vergangenheit ein einziges leeres Buch.