Der Balkon - Reinhard Bicher - E-Book

Der Balkon E-Book

Reinhard Bicher

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Beschreibung

Daniel und Sylvia – eine Liebe, die niemals einfach ist. Vom ersten Kuss zu Silvester bis zu endlosen Diskussionen auf dem Balkon von Daniels Elternhaus. Sie verlieren sich, suchen sich, finden sich wieder. Dazwischen: Nächte voller Alkohol und Schallplatten, hitzige Streitgespräche, Freundschaften, die kommen und gehen. Die Sache, die sie tief verbindet: die Liebe zur Musik. Jahre später rekonstruiert Daniel ihre Geschichte aus seinen alten Tagebüchern – ein Rückblick auf eine Zeit voller Exzesse, Sehnsucht und der Frage, ob man die große Liebe jemals wirklich hinter sich lässt.

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Seitenzahl: 270

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0753-9

ISBN e-book: 978-3-7116-0754-6

Lektorat: Emma J. Dharmaratne

Umschlagabbildung: Dipl. Ing. Dr. Martin Bicher; Acryl auf Leinwand

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Zuwachs

Spätwinter 1977; Samstag am Nachmittag:

„Daniel, sag einmal, sind deine Eltern in Wien?“

„Nein, Robert, die sind irgendwo in den Bergen, Grundstücke für den geplanten Hausbau anschauen. Angeblich übernachten sie dort in einer Pension.“

„Ah, das ist sehr gut!“

Nanu? Was hat der Freund bloß vor? Ein wenig misstrauisch blicke ich zum Fenster hinaus. Alles Grau in Grau; ein typischer, eher grauslicher Spätwintertag.

„Finde ich auch, aber sag bloß, ich soll heute am Abend schon wieder eine spontane Party veranstalten?“

Ich nehme den Telefonhörer etwas fester in die Hand.

„Du hast das ganz richtig erkannt. Ich hab nämlich über eine Freundin von der Uni vier ganz neue Leute kennengelernt. Da ist ein Mädchen dabei, das mich durchaus interessiert!“

„Na, von mir aus! Aber bringt bitte etwas zu trinken mit. Ich kann nämlich nicht schon wieder die Hausbar der Eltern und die Weinreserven meiner Großmutter plündern. Da würde ich diesmal echt Ärger kriegen. Wann wollt ihr denn kommen?“

„So gegen acht; geht das?“

„O.k.; dann geh ich vorher noch in unser Café und schaue, ob unsere Freunde, also die übliche Belegschaft, dort sind. Die könnte ich dann gleich mit zu mir abschleppen.“

„Passt; bis später! Ich hol übrigens die neuen Leute von einem Heurigen ab. Von dort bringen wir dann die Saufereien mit.“

„Sehr gut! Bis bald!“

Ich lege den Hörer auf die Gabel, schaue mich im Wohnzimmer um. Alles bestens!

Aus den anderen Zimmern hole ich schnell noch zusätzliche Sitzgelegenheiten, öffne den Plattenschrank, sortiere ein wenig herum, um möglicherweise interessante Scheiben griffbereit zu haben. Sodann marschiere ich in den Keller, öffne das Zahlenschloss des kleinen aber feinen großmütterlichen Weindepots. Es wird der alten Dame schon nicht auffallen, wenn wieder ein paar Flaschen fehlen. Ich nehme zwei Doppler Weißwein, verschließe sorgsam den Keller und fahre wieder in unsere Wohnung hinauf.

Das muss von meiner Seite aus reichen!

Es ist gegen sechs. Ich schlüpfe in Mantel und Schuhe, marschiere die paar wenigen Hundert Meter zu unserem Stammcafé, erblicke dort drei ehemalige Schulfreunde samt bestens bekanntem weiblichem Anhang, frage, ob sie zu der Party mitkommen wollen. Alle sind hocherfreut! Wir trinken gemeinsam noch einige Fluchtachterln. Dann machen wir uns auf den Weg zu mir.

Übrigens, es sind ja alles wirklich nette Leute, auch die Mädels, aber ein bisschen frisches Blut würde uns durchaus guttun.

Gegen halb acht sind wir dann alle bereits bestens gelaunt bei mir.

Kurze Zeit später, die Türglocke!

Es ist Robert.

Ich bleibe zum Empfang der neuen Leute gleich bei der Wohnungstüre stehen.

Von Weitem schon höre ich fröhliches Lachen.

Geräuschvoll hält der ziemlich überladene Lift.

Eine sympathische Mädchenstimme: „Sag, Robert, macht das deinem Freund wirklich nichts, dass du uns zu ihm eingeladen hast?“

„Nein, sicher nicht. Ich hab das ja mit ihm besprochen. Hier lang! Nur keine Schüchternheit!“

Fünf Personen biegen um die Ecke:

Zuerst Robert mit seiner Gitarre und einem Weinkarton. Bestens gelaunt zwinkert er mir zu. Dahinter im Schlepptau ein brünettes, sehr nett wirkendes Mädchen. Robert stellt sie mir vor: Das ist Claudia!

Anschließend ein lustiger Typ, Bob, laut Robert ein Urviech, ein Austauschstudent aus den USA. Tatsächlich spricht er bereits fast so gut Wienerisch wie seine Muttersprache!

Anschließend Sigi, ein sympathischer Wirtschaftsstudent.

Zum Schluss ein mittelgroßes dunkelblondes Mädchen. Erneut macht Robert bekannt: „Das ist Sylvia! Sie ist eine Freundin und Studienkollegin von Sigi.“

Ich winke allen freundlich zu.

„Hereinspaziert! Ich freue mich! Fühlt euch wie zu Hause!“

Alle betreten das Vorzimmer, legen ihre Mäntel ab. Gemeinsam gehen wir zu den anderen ins Wohnzimmer. Großes Hallo, dichte Atmosphäre! Immerhin sind wir ja zwölf Leute.

Robert nimmt mich beiseite, übergibt mir den Karton mit Weinflaschen; Grinzinger Wein!

„Der ist wirklich gut; wir haben uns an Ort und Stelle schon ein wenig davon überzeugen können.“ Aufgekratzt boxt er mich in die Rippen.

Ich werfe ein geräuschvolles „Danke vielmals allerseits!“ in die Runde und begebe mich in die Küche, um die entsprechenden Gläser zu holen und etliche Flaschen im Eiskasten kühl zu stellen.

Rasch kehre ich dann zu den anderen zurück, stelle Gläser und Flaschen auf den Tisch, verteile die Aschenbecher.

Die Stimmung ist bereits höchst aufgelockert. Also erübrigen sich besondere weitere gesellschaftliche Pflichten.

„Bitte bedient euch selbst! Oh weh, es fehlen ja noch zwei Gläser! Was bin ich doch für ein schlechter Gastgeber!“

Ich springe auf und laufe erneut in die Küche! Unverzüglich merke ich, dass ich nicht alleine bin. Sylvia ist mir gefolgt.

„Brauchst du vielleicht Hilfe?“

„Nein, danke; lieb von dir.“

„… hm, sag, Daniel, du bist doch Roberts bester Freund, stimmt’s?“

„Ja, warum fragst du?“

„Nur so …“

Ganz kurz, möglichst unauffällig werfe ich einen prüfenden Blick auf das dunkelblonde Mädchen:

Hübsch, sehr hübsch; fast als schön zu bezeichnen, dunkelblaue faszinierende Augen, feine Gesichtszüge, ziemlich perfekte Figur, ein toller Po.

Sie verwendet ein erlesenes Parfum; ihr Haar duftet nach Pfirsich. Beim Sprechen hat sie einen winzigen S-Fehler. Das macht ihre Stimme richtig sexy.

Ohne Zweifel ein Klassemädchen – aber wirklich sympathisch, das ist sie mir eigentlich nicht!

Sie räuspert sich kurz und beißt sich auf ihre Unterlippe.

„… na ja, ich wollte nur wissen, ob der Robert derzeit zu haben ist. Er gefällt mir nämlich irgendwie.“

Überrascht blicke ich das Mädchen an. Dafür, dass wir uns erst wenige Minuten lang kennen, ist sie recht direkt.

„Ja, durchaus! Ich würde mich an deiner Stelle jedoch beeilen. Bei ihm weiß man nie, wie lange dieser seltene Zustand anhält! Aber – bist du nicht mit Sigi zusammen?“

Sylvia zuckt ein wenig mit den Achseln, schaut kurz zu Boden.

„Das mit Robert habe ich mir fast gedacht! Und was Sigi angeht: na ja, so halb und halb …“

Ich nicke verständnisvoll, nehme die zwei fehlenden Gläser in die Hand.

„Aha; klingt nicht sehr erbaulich. Aber weil wir gerade dabei sind: Ist Claudia eigentlich mit Bob zusammen?“

Sylvia bricht in schallendes Gelächter aus:

„Claudia und Bob? Da lachen ja die Hühner! Nein, die beiden sind gute Freunde, sonst läuft bei denen gar nichts. Sag bloß, du hast Interesse?“

Ich weiß gar nicht warum, aber ich muss in Sylvias Lachen mit einstimmen.

„Nein, um Himmelswillen; ich hab sie ja soeben erst kennengelernt. Aber, weißt du, lieb wirkt sie schon.“

Immer noch lachend marschieren wir zu den anderen zurück.

Robert hat in der Zwischenzeit seine Gitarre gestimmt.

Wir singen, laut, falsch. Zwischendurch greife auch ich zum Gaudium aller in die Tasten meines Pianinos. Die Stimmung ist einfach großartig. Die Neuen passen wunderbar zu uns.

Alle vier sind sich einig:

„Bei euch ist es echt toll und lustig! Und die Live-Musik, die hat man auch nicht überall!“

Sylvia wendet sich mir zu und legt ihre Hand auf meinen Oberarm: „Na wartet nur! Wenn ich meine kleine Wohnung, die ich von meiner Großmutter übernommen habe, endlich bezogen hab, da gibt’s dann jede Menge Partys, da kann ich mich dann revanchieren! Zur Einweihung in ein paar Wochen müsst ihr jedenfalls alle kommen!“

Wir alle unisono: „Klar kommen wir!“

Gegen halb elf bitte ich um Minderung der Lautstärke. Die Nachbarn über uns sind für gröbere Unannehmlichkeiten bekannt. Robert legt die Gitarre zur Seite.

„Na dann legen wir halt eine Platte auf. Mir schmerzen ohnehin schon meine Finger!“

Ich begebe mich zum Plattenschrank. Sylvia und Claudia folgen mir.

Die Mädchen knien sich hin, durchforsten die Alben.

„Da schau, Sylvia! So viel Klassik! Und so viel Wiener Musik!“

„Aha… Da! Claudia, gib dir das: Beatles, Carpenters, Simon und Garfunkel, Roger Whittaker, aber auch Led Zeppelin, Deep Purple; und so viel Austropop! Und auch Sinatra, Dean Martin! Aber leider kein Neil Diamond! Komisch …“

Gespannt, interessiert sehe ich den Mädchen zu.

„Sagt, ihr zwei; seid ihr schon lange miteinander befreundet?“

Claudia wendet sich zu mir um, streift Sylvia mit einem liebevollen Seitenblick.

„Ja, klar! Die ganze Schulzeit bis zur Matura. Wir waren in der gleichen Klasse.“

Mein Blick wandert von einer zur anderen. Zwei so unterschiedliche Typen! Die eine bildhübsch, dezent geschminkt, sexy; die andere ganz natürlich, ein wenig burschikos, sympathisch, einfach liebenswert!

„Dann ist das also bei euch ähnlich wie bei Robert und mir?“

Die beiden Mädchen fast zugleich: „Sieht so aus …“

Ich muss lachen.

„So, und was soll ich jetzt auflegen?“

Sylvia greift nach der „Horizon“ der Carpenters.

„Diese bitte! Die kenne ich nämlich gar nicht. Und darf ich einmal auf den Balkon hinausschauen? Die nächtliche Stadt muss von hier ganz toll aussehen!“

„Klar! … Robert!“

Ich rufe den Freund, bitte ihn zu mir, zwinkere Sylvia zu.

„Bist du bitte so nett und zeigst der Sylvia den Balkon?“

„Na klar! Komm, Sylvia!“

Die beiden verschwinden, kommen jedoch recht bald wieder zurück. Die draußen herrschende winterliche Kälte hat sie offenbar rasch vertrieben.

Es ist gegen zwei Uhr; längst sind alle Flaschen ausgetrunken.

Die ersten Stimmen werden laut: „Wir sollten mit der Zeit aufbrechen …“

Im Wohnzimmer steht die Luft, der Zigarettenqualm. Wirklich viel sieht man zurzeit nicht.

Und nüchtern ist natürlich auch niemand mehr.

Also; Aufbruch.

Claudia und Sylvia kommen zu mir, bedanken sich für den schönen Abend.

„Dann sehen wir uns also nächstes Wochenende beim Heurigen!“

Ich nicke begeistert.

„Gerne! Ah ja, ihr seid ja aus der bekanntesten Wiener Weingegend. Da kennt ihr euch sicher bestens aus. Wird bestimmt toll!“

„Klar, du wirst schon sehen! Der Robert gibt dir jedenfalls Bescheid!“

„Fein, also bis bald!“

Allgemeiner Abschied …

Stille, Ruhe kehrt ein. Ich gehe auf den Balkon hinaus, blicke kurz über die Stadt, kehre jedoch alsbald wieder in das völlig verqualmte Zimmer zurück.

Komisch …

Feiner, jedoch betörender Duft steht im Raum, steigt mir in die Nase.

Er ist stärker als der Zigarettendunst, irgendwie neuartig, ungewohnt.

Sylvia ist nicht mehr da; und doch scheint sie im Raum zu stehen.

Unsinn, alkoholgesteuerter Blödsinn; ganz schnell vergessen …

Verdammt; warum bloß will sie mir nicht aus dem Kopf?

***

Housewarming

Na, so eine Krax’n!

Schrecklich, wie sich die alte Garnitur des G2 durch die Döblinger Hauptstraße müht.

Trotzdem betrachte ich interessiert die recht betagten, in weiterer Folge aber auch durchaus attraktiven Gebäude des mir völlig unbekannten Straßenzuges.

Auch diese Straßenbahnlinie ist mir eigentlich recht fremd.

Genauestens befolge ich die Wegbeschreibung, die mir Robert anlässlich eines kurzen, ungewöhnlich gestressten Treffens in die Hand gedrückt hat. Ich kenne mich in diesem Stadtbezirk absolut nicht aus. Alles hier ist für mich Neuland.

Ich blicke auf den kleinen Zettel, den ich seit dem Einsteigen auf der Zweierlinie krampfhaft in der Hand halte.

Diese Station müsste die Richtige sein! Tatsächlich!

Und dann nach links, steht hier.

Na gut …

Und nun bis Nummer 9.

Aha; sieht hübsch aus; eine nette Gartenanlage umgibt die dreistöckigen Wohnhäuser.

Je näher ich meinem Ziel komme, desto mehr freue ich mich, Sylvia, Claudia und auch die Burschen wiederzusehen.

Zügig, in freudiger Erwartung marschiere ich zur dritten Stiege, gehe in den zweiten Stock hinauf, läute bei Nummer 12.

Durch die Türe vernehme ich bereits ziemlichen Krach. Also; richtig falsch kann ich wohl nicht sein!

Vorsichtig nehme ich meinen Rucksack von den Schultern und entnehme ihm den gestern noch rasch besorgten hübschen Blumenstock mit Ursumbaraveilchen als Geschenk zur Housewarming.

Immerhin ist die Herrin des Hauses ja ein hübsches junges Mädchen.

Leider kenne ich sie überhaupt nicht; so weiß ich natürlich auch nicht, welche Blumen sie nun schätzt. Allerdings sind diese Veilchen derzeit angeblich sehr gefragt. Also, was kann da schon groß schief gehen …

Die Wohnungstüre öffnet sich. Eine Wolke aus Lärm und Zigarettendunst quillt mir entgegen.

Eigentlich hatte ich ja Sylvia erwartet, die mich empfängt, doch steht stattdessen Robert in der Türe. Er grinst mich an: „Servus, mein Lieber! Tritt ein, bring Glück herein!“

Ich bin überrascht und blicke ein wenig verlegen auf das Blumenstöckchen.

„Hoppla, damit hab ich jetzt nicht gerechnet – aber servus, du untreue Seele! Von dir hab ich ja seit Wochen schon nichts mehr Profundes gehört!“

„Ich weiß, entschuldige … reden wir einfach später weiter. Ich muss jetzt der Sylvia helfen. Sie flippt schon komplett aus. Es sind einfach zu viele Leute hier. Das schafft sie alleine nicht! Da nehme ich ihr gleich den Blumenstock mit. Sie freut sich sicher, und vielleicht baut sie das auf.“

„O.k. Passt schon!“

Ich reiche ihm den Topf und kratze mich hinter dem linken Ohr. Ist mir da irgendetwas völlig entgangen?

Na ja, ich war ja in der letzten Zeit eigentlich auch nicht unbedingt besonders gesellig. Ich musste für mein allerletztes Jahreskonzert bei meiner Klavierprofessorin üben, üben, üben.

Es hat mir jedoch richtig Spaß gemacht! Spielt doch die von mir durchaus ein wenig verehrte, höchst anziehende Brigitte mit der Professorin zusammen auf dem Pianino vierhändig den Orchesterpart. Ich darf auf dem Konzertflügel den Klavierpart geben: „Rhapsodie in Blue“ von Gershwin, ein teuflisch schwieriges Werk!

Dieses musikalische Zusammenspiel hat übrigens schon im Vorjahr mit Tschaikowskis Klavierkonzert vortrefflich funktioniert. Das Auditorium hat uns damals mit frenetischem Beifall gedankt!

Brigitte, ja, sie ist wirklich lieb. Wir mögen uns echt gerne und sie musiziert vorzüglich. Schade, dass sie noch immer ein bisschen mit einem alten Schulfreund verbandelt und außerdem recht fromm und keusch erzogen ist.

Also, viel geht da leider wirklich nicht …

Trotzdem sind die kurzen gemeinsamen Kaffeehausbesuche nach den Übungsstunden immer ein absolutes Highlight des Tages.

Komisch, letzthin hat die zwar schon ein wenig betagte, jedoch unglaublich fähige, strenge, trotzdem aber sehr beliebte Frau Professor listig lächelnd gemeint, wir mögen doch mit dem Umhalsen warten bis die Übungsstunde zu Ende ist. Hat die vornehme Dame etwas bemerkt, was uns entgangen ist, was wir vielleicht nicht wahrhaben wollten? Wollte sie sich gar als Kupplerin versuchen?

Sei es wie es sei …

Ich betrete jedenfalls den winzigen Flur, werfe Mantel und Rucksack auf einen mächtigen Haufen der verschiedensten Oberbekleidungen, gehe in das recht geräumige Wohnzimmer, blicke mich um. Mörderisch, was da los ist.

Mit einiger Mühe erkenne ich einige unserer Freunde vom Café, aber auch Claudia und Bob. Die beiden lungern in einer Zimmerecke auf dem Boden herum, quatschen, blödeln. Bob sieht mich, grinst mich an, steht auf, klopft mir freundschaftlich auf die Schultern: „Servas …“

Ich setze mich zu ihnen.

Der Lärm ist ohrenbetäubend. Kaum versteht man sein eigenes Wort.

Nun bemerkt mich auch Claudia, lacht mich an.

„Hey, schön, dass du da bist!“

„Grüß dich! Sag, wo ist denn die Hausherrin?“

„Ich glaube, die werkelt in der Küche herum. Schau, dort hinten, in diesem kleinen Gelass.“

Ich blicke mich um und bemerke tatsächlich Sylvia, die völlig aus dem Häuschen irgendwelche obskuren Brötchen mit gleichermaßen obskuren Aufstrichen beschmiert.

Robert steht bei ihr, streicht ihr übers Haar, versucht sie zu beruhigen.

„Eine Frage, Claudia: Was ist eigentlich mit Robert und Sylvia los? Was läuft da?“

„Ja, weißt du das nicht? Der Robert ist gemeinsam mit Sylvia hier eingezogen …“

Ich bin sprachlos.

Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Das ging ja schnell …

Irgendwie weiß ich nicht so genau, was ich davon halten soll.

Jedenfalls nehme ich dieses Faktum kommentarlos zur Kenntnis, erhebe mich kurz, um etwas Trinkbares zu ergattern.

Ich werfe einen verstohlenen Blick auf den Inhalt von Claudias Getränkebecher.

Undefinierbar …

„Sag, Claudia, was ist denn das für ein Gesöff?“

Das brünette Mädel bricht in schallendes Gelächter aus und grinst mich an: „Schwer zu sagen! Scheint eine Art Bowle zu sein, schmeckt aber ganz gut. Da, schau, auf dem Tisch dort seht ein Riesentopf mit dem Zeug! Ob es noch Becher gibt, weiß ich nicht. Zur Not kriegst du in der Zwischenzeit meinen. Ich bin ohnehin schon ein wenig beschwipst.“

Ich grinse zurück: „Danke; ich werde gegebenenfalls auf dein freundliches Angebot zurückkommen.“

Ich kämpfe mich zu dem Monsterpott durch, blicke vorsichtig hinein. Überraschenderweise ist noch genug von der seltsamen Flüssigkeit vorhanden, was mich einigermaßen misstrauisch stimmt.

Und tatsächlich gibt es keine Becher mehr.

Claudia tippt mir auf die Schulter, hält mir ihr Trinkgefäß und ein Brötchen vor die Nase: „Ich hab es ja gewusst; da hast du meinen. Und ich hab aus der Küche ein gerade eben frisch geschmiertes Brot für dich organisiert.“

„Oh, danke! Sag, ist das Zeug wirklich trinkbar?“

„Klar! Bislang hab ich keine Probleme!“

„Na schön. Risiko!“

Tatsächlich ist das Gebräu gar nicht schlecht!

So entwickelt sich also der weitere Abend höchst amüsant.

Einzig die Tatsache, dass mich Sylvia bislang weder registriert, noch begrüßt und sich schon gar nicht für das Blumenstöckchen bedankt hat, ärgert mich ein wenig.

Ich werfe einen schüchternen Blick in die Küche: Da steht doch tatsächlich die Hausherrin in der hintersten Ecke und knutscht mit Robert heftig herum!

Es ist recht spät geworden und die Bowle zeigt nachhaltig ihre Wirkung.

Obzwar schon etliche Leute gegangen sind, ist der Lärmpegel keineswegs schwächer geworden.

Ziemlich illuminiert meint Claudia, es wäre vielleicht ein alsbaldiger Aufbruch sinnvoll, da die letzte Straßenbahn Richtung Stadtzentrum in absehbarer Zeit fahren würde.

Ich stimme ihr zu, zumal auch mir das seltsame Gesöff ziemlich ins Hirn gestiegen ist.

Engumschlungen und wenig ansprechbar lungern Robert und Sylvia in einer Zimmerecke herum.

Wir nehmen es zur Kenntnis, suchen mühselig unsere Mäntel, finden sie tatsächlich und wollen abmarschieren.

Bob ruht schon geraume Zeit in Morpheus Armen, was auch auf etliche andere Festbesucher zutrifft.

Fragend blicke ich Claudia an.

„Egal, Daniel! Lassen wir ihn schlafen! Er ist ja kein Kleinkind. Wenn er wieder nüchtern ist, wird er schon nach Hause finden.“

Ich grinse mir eins.

„Komm, Claudia, ich begleite dich ein Stück!“

„Fein, lieb von dir!“

Herumblödelnd und vielleicht auch ein klein wenig wackelig schlendern wir einige mir völlig fremde Straßenzüge entlang, erreichen jedoch recht rasch eine Station der Linie 38.

Claudia wartet mit mir auf die letzte Straßenbahn.

Alsbald erscheint sie. Beim Öffnen der Türe quillt ohrenbetäubendes Grölen aus dem Zug.

Ich sehe Claudia fragend an.

„Da brauchst du dich gar nicht zu wundern. Dieser letzte Zug ist immer voller besoffener Heurigenbesucher aus Grinzing! Du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen.“

„Mal sehen … also dann, tschüss, Claudia! Bis bald! Aber – weißt du, ein wenig besorgt bin ich schon. Ich kenne Robert zu gut. Hoffentlich tut er der Sylvia nicht weh. Sie scheint Hals über Kopf in ihn verliebt zu sein.“

Claudia sieht mich an. Ihr Blick wird nachdenklich.

„Hm, ja, hoffentlich … na dann, servus, bis bald!“

Drei Tage später erhalte ich mit der Post ein Briefchen:

„Lieber Daniel!

Es tut mir schrecklich leid, dass ich Dich bei dem Fest weder begrüßt noch mich für die Veilchen, die ich übrigens sehr schätze, bei Dir bedankt habe.

Hoffentlich kann ich Dich mit diesem Schreiben versöhnlich stimmen und Du kannst mir verzeihen.

Alles Liebe und hoffentlich bis bald!

Deine zutiefst zerknirschte Sylvia“

***

Zwei Jahre später; Anfang Juni, Pfingsten 1979

Hitze, ungewöhnliche Hitze liegt über der Stadt. Am Pfingstsonntag, irgendwann am Nachmittag hole ich Sylvia von ihrer Wohnung ab.

Ich habe im Moment nicht den Funken einer Ahnung, was wir an jenem Tag unternommen, wo und ob wir überhaupt geschlafen haben, was eigentlich ungewöhnlich ist. Normalerweise geben mir meine alten Tagebücher zu wichtigen Vorkommnissen und prägenden Ereignissen weitaus mehr Aufschluss.

Diesmal allerdings leider nicht, alles ist im Nebel, irgendwie verschleiert, kryptisch sind die Vermerke, nur ganz wenige Sätze; unverständlich, waren wir doch zwei Tage und zwei Nächte zusammen. Einzig auf eine grundlegende Veränderung meinerseits, meine geänderte Einstellung, das Verspüren von neuen Selbstverständlichkeiten, eines neuen Selbstverständnisses nehme ich Bezug; sehr allgemein, wenig Aufschlussreiches, kaum wirklich Klärendes. Was meine ich bloß konkret damit?

Davor im Mai 1979

Mit Sandra ist die Sache so wunderbar einfach. Ich werde vergöttert, verwöhnt; es ist ganz im Gegensatz zu meiner derzeitig vorherrschenden, wieder einmal ziemlich unklaren Situation mit Sylvia völlig unkompliziert. Ein liebes Mädel, ich mag sie wirklich, einfach herrlich für den Mai, eine entzückende Liebelei.

In ihr habe ich ein ganz liebes, zärtliches, aber halt noch sehr junges Mädchen gefunden. Ich bin glücklich, wirklich glücklich. Nie hätte ich das in meiner derzeitigen Situation erwartet. Natürlich gibt es bei einem so jungen Mädel Schwierigkeiten mit ihren Eltern. Aber ohne Zores wäre die ganze Sache ja uninteressant. Gerade einmal 16 Jahre ist sie alt, schwarze Haare, dunkelbraune Augen – und wir sind einfach verliebt, und das im Mai! Gibt es etwas Schöneres? Neben Sylvia ist sie das einzige Mädchen, nach dem ich derzeit echt Sehnsucht habe. Sogar an das Portrait-Foto von sich, um das ich sie gebeten hatte, hat sie gedacht! Offenbar hab ich endlich einmal wirklich Glück gehabt!

Das ist aber offenbar gar nicht das entscheidende Thema.

Denn dann der nächste Eintrag:

Sylvia und ich bewegen uns schon seit einiger Zeit an der Schwelle zu einer neuerlichen Intimbeziehung, wieder einmal … aha… interessant … aber kein weiteres klärendes Wort.

Wieso gerade jetzt, parallel zu dem Flirt mit Sandra?

Was hat sich denn wirklich so gewaltig verändert?

Die Sache scheint ein wenig klarer zu werden:

Mit Sandra möchte ich bloß hin und wieder nett ausgehen, sie küssen, schmusen, vielleicht auch ein bisschen unverbindlich und harmlos herummachen; ist ja alles O.K. und legitim; passt ja auch zu ihrem Alter. Wirklich Unanständiges, Unpassendes habe ich wirklich nicht vor. Ich mag es diesbezüglich einfach nur locker und nett.

Nur ja nichts Kompliziertes!

Verdammt, mein Auto ist schon wieder kaputt. Dabei hätte ich mit Sandra so gerne einen schönen Ausflug gemacht. Ich werde Sylvia fragen. Ist zwar riskant, aber vielleicht borgt sie mir das Auto ihres Vaters. Irgendeinen Vorwand werde ich schon finden. Ich schiebe einfach einen lebensnotwendigen Transport ins neue Haus als Grund vor.

Ja, ja klar! Sie bringt mir den Kübel auch noch in die Josefstadt, gibt mir Schlüssel und Papiere und fährt mit der Straßenbahn heim.

Natürlich habe ich ein ziemlich schlechtes Gewissen; trotzdem macht das gewisse Risiko plötzlich Spaß.

Schau, schau; Machogehabe! Ganz etwas Neues …

Und dann ein paar wenige Tage später so ganz nebenbei, fast emotionslos, passager, völlig ohne klärenden Hintergrund:

Die Sache mit Sandra war erwartungsgemäß nicht von langer Dauer, einfach nur ein Flirt im Frühling. Das kluge Mädel hat natürlich genau gespürt, dass sie nicht die erste Geige spielt!

Meine Gegenwart und Zukunft sehe ich nach wie vor ganz woanders!

Nächster Eintrag, ebenso passager, nicht einmal ihr Vorname scheint von besonderer Wichtigkeit zu sein:

In der Zeit um den 1. Mai hat sich von heute auf morgen auf einer Party eine ganz liebe steirische Krankenschwester Hals über Kopf in mich verliebt; enorme Anmache, ein wenig plump, sehr hausbacken, höchst ländlich, für mich eher unangenehm, viel zu gefährlich; viel zu ernsthaft, viel zu schnell, wenig Prickelndes, Schmetterlinge im Tiefschlaf. Ich mag einfach nichts so schrecklich Aufdringliches!

Ergo:

Nichts wie weg; zurück zu Sylvia, zur Sicherheit, in den bestens bekannten, so vertrauten Hafen.

Dazu ein ziemlich deutlicher Vermerk: „Sie bedeutet mir alles und ich möchte sie nicht verlieren.“

Vielleicht nur ein Vorwand? Wofür? Bindungsängste? Mangelnde Bereitschaft für Neues? Unsicherheit?

***

Pfingstmontag 1979

Wir sind ins Schwimmbad gegangen; erstmals in diesem Jahr; trotz der derzeit herrschenden Gluthitze ist das Wasser noch ziemlich kalt, kein Wunder, das Frühjahr war ja scheußlich.

Immer wieder drängt mich Sylvia: „Daniel, komm doch, gehen wir schwimmen.“

„Brr. Das Wasser ist aber so kalt!“

„Na geh, sei nicht so fad!“

Sie lacht mich an, streckt mir ihre Rechte entgegen.

Natürlich gebe ich nach, ergreife die dargebotene Hand; gemeinsam laufen wir zum Wasser.

Wir haben es wirklich schön an diesem Tag, einfach nett …

Am Abend dann bei mir, in der verwaisten elterlichen Wohnung. Ich gehe zum Plattenspieler, nehme Frank Sinatras violettes Doppelalbum, lege das erste Vinyl auf. Sylvia steht neben mir, sieht mir zu. Noch immer ist es schrecklich heiß, schweißtreibend. Immer noch haben wir unser Badezeug an.

Kurz betrachte ich sie, bewundere wieder einmal ihre so hübsche Figur. Und sie lacht so fröhlich, so unbeschwert.

Es ist höchst erfreulich, dass sie den ganzen Tag lang nichts Alkoholisches angerührt hat. Wenn sie nämlich nüchtern ist, geht die Sonne für mich auf, dann ist sie das liebste, das tollste, das reizendste Mädchen auf der ganzen Welt überhaupt, einfach immer wieder zum Verlieben!

Zum wievielten Mal schon? Ich weiß es nicht …

„Summerwind“… Das Mädel reicht mir ihre Hände. Liebevoll, sanft nehme ich sie in meine Arme. Wir tanzen, tanzen durch das Wohnzimmer, durch das elterliche Schlafzimmer, tanzen an meinem Klavier, am Saxofon, an meinen Musikinstrumenten vorbei auf den Balkon hinaus. Alles ist so vertraut! Längst ist es dämmerig. Vor uns breitet sich die ganze Stadt aus; schon erleuchtet, traumhaft; ganz links außen das Rathaus, der Steffl; ganz rechts, nur noch schemenhaft die Höhen der südlichen Wienerwaldberge, der Föhrenberge.

Stille; ich gehe ins Wohnzimmer zurück, drehe die Platte um. Sylvia bleibt draußen, lehnt sich ans Geländer, blickt schweigend über die Stadt. Ich weiß, wie sehr sie diesen Ausblick liebt…

Und nicht nur sie … allerhand Seltsames, Eigenwilliges, oft auch extrem Komisches, durchaus Skuriles haben diese paar wenigen hoch über der Stadt befindlichen Quadratmeter schon erlebt.

Höchst amüsiert denke ich an Roberts, in hochgradig alkoholisiertem Zustand hierorts betriebenen akrobatischen Turnübungen, aber auch an das legendäre Melonenkerne-Weitspucken, hinunter auf den Parkplatz, auf die ebendort geparkten Autos. Gewonnen hatte jener oder jene mit den meisten „Pings“, also Treffern auf die diversen Karosserien. Vorweg vereinbarte Siegesprämie: eine Flasche Bier. Diese gab es dann natürlich nicht; sie und etliche andere waren noch vor Beendigung der Challenge bereits längst ausgetrunken.

Bei klarem Wetter kann man übrigens von hier aus sogar den Schneeberg deutlich sehen. Alle mögen – mochten immer diesen Balkon, diese Wohnung; Partys, Atomräusche, jede Menge jugendliche Blödheiten, die ersten Playboy-Hefte und auch anderes weit weniger anspruchsvolles einschlägiges Material.

Die Behaftung ist abgesehen von den mütterlichen Depressionen und der langjährigen berufsbedingten Abwesenheit des Vaters bis dato doch irgendwie positiv; die viele Musik, die ersten zarten Intimerlebnisse, intimste Gespräche mit Sylvia.

Mütterliche Depressionen: Das schreibt sich jetzt alles relativ leicht dahin. De facto ist es fürchterlich, verleidet mir etliche Jahre meiner späten Jugend, zieht mich und mein Selbstvertrauen mit dem Wissen, nicht ausreichend helfen zu können, hinab ins Bodenlose. Und auch schon in den Jahren davor passt ihr wenig an mir. Mir kommt fast vor, sie würde ihr Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem erfolgreichen Vater, dem alles nur so zufliegt, an mir auslassen. Jener ist dann ohnehin nicht da, nicht vorhanden, lässt mich mit der depressiven Mutter einfach allein. Und all das nur aus finanziellen Gründen – alles Geld der Welt kann das nicht wert sein.

Ein komplettes Jahr spreche ich kein Wort mit ihm, reduziere zu einer Zeit, wo ich ihn wahrlich gebraucht hätte, die Kommunikation auf Null. Viele Jahre schleppe ich das ganze Problem unbewusst mit mir herum.

Aus lauter Frust beginne ich sinnlos in mich hineinzufressen.

***

Spätestens ab dem Jahrtausendwechsel hat dann endgültig tiefes Dunkel das Kommando in der Josefstädter Wohnung übernommen.

Beide Elternteile hauchen hier ihre Seelen aus, der Suizid der Pflegerin meines Vaters, Jahre zuvor das Ableben der geliebten Großmutter 3 Stockwerke tiefer.

Jetzt noch, geraume Zeit später, betrete ich immer noch sehr ungern, eher widerwillig, sehr zögerlich diese ehemals elterlichen Räumlichkeiten. Dabei wohnen doch die Jungen, die Kleine hier. Sie, Leni, mein goldiges Enkelkind bewohnt sogar mein ehemaliges Jugendzimmer. Ihr Tischchen steht an der Stelle meines alten Betts, jener Stätte der ersten, der süßesten, zärtlichsten, einer einfach unvergesslichen Nacht mit Sylvia, wahrscheinlich, nein, mit Sicherheit der schönsten, Anfang Jänner 1978.

„Good times never seem so good …“

Wie so häufig erkennt man genau das erst viel später, zumeist zu spät.

Es ist einfach jammerschade um die vielen vorschnell vernichteten Blätter meines Tagebuchs, um so manches mutwillig zerstörte, ja geschändete Foto, Dia…

Wirklich maßgeblich erhellende Gedanken zu dieser so aufregenden Zeit sind aus diesem Grund schwer möglich, weil gerade diese Wochen in keiner Form, mit keiner Zeile sinnvoll nachvollziehbar im Diarium dokumentiert sind. Es existieren allerdings abseits des Tagebuchs etliche Texte und durchaus romantische Essays.

Anfang Jänner 1978

Beim Heurigen in Neustift sitzt eine große, eine lustige Runde. Langsam beginnen die ersten Leute abzuwandern, heimzugehen. Es ist spät; es ist kalt und ungemütlich draußen. Oftmals erhalten wir das Angebot, mit einem Auto mitgenommen zu werden. Dankend lehnen wir ab. Wir warten sogar absichtlich bis der letzte Bus abgefahren ist. Dann erst machen wir uns auf den langen Weg, der vor uns liegt.

Geld haben wir kaum mehr; wir brauchen es auch nicht. Einträchtig marschieren wir die ruhige Krottenbachstraße entlang; hin und wieder ein kleiner Zwischenspurt. Und wieder liegen wir uns ziemlich außer Atem in den Armen.

Bald beginnt es heftig zu schneien. Ich werfe einen zweifelnden Blick auf ihre hübschen, aber für diese Witterung völlig unbrauchbaren Schuhe. Das kann so nicht lange gehen …

Ich merke wie Sylvia langsam müde wird.

Ohne lange nachzudenken nehme ich sie auf meine Schultern; noch weit ist der Weg.

Mit der Zeit wird das so anmutige Mädchen immer schwerer, furchtbar schwer.

Genau an der Ecke zur Billrothstraße mache ich dann endgültig schlapp.

Trotzdem sieht sie mich bewundernd an und küsst mich.

Unser Geld reicht gerade noch für einen kleinen Espresso im Eckcafé.

Dann gehen wir heim, jeder von uns in die andere Richtung. Ich gehe zu Fuß, ohne Zigaretten, ohne einen Groschen Geld. Es stört mich nicht. Ich bin einfach nur unfassbar glücklich.

Im Nu bin ich daheim in der Josefstadt.

Wie schnell das gehen kann!

Ein paar Tage später sind wir bei Claudia zum Abendessen eingeladen. Ich hole Sylvia von zu Hause ab. Zuerst machen wir noch einen Sprung zum nächsten offenen Heurigen, trinken gemütlich ein Gläschen. Der Riesling ist köstlich; also kaufen wir zwei Flaschen. Wir können doch nicht mit leeren Händen bei der Freundin antanzen.

Und wir wollen doch etwas Gutes, etwas ganz Feines mitbringen …

Wieder einmal schneit es Leintücher. Lachend und herumalbernd marschieren, nein, stapfen wir Hand in Hand die verschneiten Straßenzüge entlang. Hin und wieder bleiben wir stehen und sehen uns Auslagen an. Dann wieder tollen wir wie Kinder voller Übermut herum, machen eine kleine Schneeballschlacht.

Fast ein Wunder, dass die Weinflaschen all das unbeschadet überlebt haben.

Als wir bei Claudia läuten, sehen wir schon aus wie Schneemänner.

Bei der Freundin ist es dann wie immer urgemütlich.

Nur ihr Vater schimpft ein bisschen mit uns, weil wir den teuren Grinzinger Wein gekauft haben. Er sagt immer, dass er eine viel günstigere Quelle aus dem Süden Wiens hat.

Es duftet herrlich nach Claudias Spezialauflauf! Bislang hat sie uns allerdings nicht verraten, welche Zutaten dafür notwendig sind.

Jedenfalls sind wir rasch getrocknet und aufgetaut.

Wie fast immer hören wir zuerst einmal Beethoven. Claudia ist da ein ähnlicher Fan wie ich; Sylvia weniger. Da ist also noch viel Überzeugungsarbeit notwendig.

Nach der „Egmont Ouvertüre“ ist dann zumeist die „Pastorale“ dran; so auch heute.

Beim musikalischen Übergang vom 4. Satz, also vom Gewitter zum 5. Satz, dem Schlusssatz im so lyrischen F-Dur, dem sogenannten Hirtengesang, gibt es eine kurze Phrase, ein musikalisches Zitat aus der Palmsonntagsliturgie: „Oh Haupt voll Blut und Wunden…“, so wunderschön, so eindringlich, so berührend, dass ich fast immer feuchte Augen bekomme.

Irgendwie ist mir das heute Sylvia gegenüber ein wenig peinlich. So stehe ich also lieber auf, gehe ein wenig verlegen zum Fenster, blicke tief berührt auf die verschneite Straße hinaus.

Ganz leise hat sich aber auch Sylvia erhoben. Sie tritt zu mir und nimmt sanft meine Hand. Gemeinsam, schweigend betrachten wir den Schneefall, bleiben ganz ruhig am Fenster stehen und hören die großartige Sinfonie bis zum Ende.

Unvergessliche Augenblicke einer unvergesslichen Zeit …

Mitte Jänner 1978

Wir sind im Konzert; Brahms, Wiener Philharmoniker, L. Bernstein; zum Abschluss der Antoni Choral – die Haydn-Variationen; ich liebe dieses fantastische Musikstück über alle Maßen.

Einfach großartig. Auch Sylvia ist ganz hingerissen.

Wir verlassen den Musikverein, wenden uns der Ringstraße zu. Zuerst noch etwas zaghaft nehme ich ihre Hand; es schneit ganz leicht; alles ist hübsch angezuckert. Es ist wunderschön; ich werde mutiger, der Griff meiner Hand fester. Sie sieht mich an, lächelt, erwidert den Druck meiner Hand. Wie spazieren in die Josefstadt, besuchen ein bekanntes, ein sehr gemütliches Kellerlokal, essen eine Kleinigkeit, genießen den blumigen Weißwein; wir sprechen über uns, reden darüber, wie es weitergehen könnte, sind etwas unschlüssig, sehen uns das eine oder andere Mal ein wenig zweifelnd an. Ist das richtig, wird das auch gut gehen, was wir da machen?

Wunderschön spielt der Musiker an der Zither. Sylvia schmiegt sich an mich, streichelt meine Hand. Der Duft ihres Parfums betört mich.

„Kommst du noch mit zu mir? Meine Eltern sind auf Winterurlaub …“

Ganz kurz denkt sie nach. Dann nickt sie.

„… aber du müsstest mich morgen in der Früh mit dem Auto heimbringen.“

„Klar …“

Wir zahlen, gehen zu mir nach Hause.

Ich lege die „Horizon“ der Carpenters auf. „Only Yesterday“; wir tanzen, küssen einander: unser zweiter Kuss.