Seltsame Vögel - Reinhard Bicher - E-Book

Seltsame Vögel E-Book

Reinhard Bicher

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Beschreibung

Ende der 70er Jahre ist Daniel Anfang 20 und ein schwieriger Charakter, ein Multitalent, gutaussehend, hilfsbereit, höflich, aber oft mut- und orientierungslos sowie erschreckend faul. Mit der dunkelblonden, ehrgeizigen Studentin Sylvia entdeckt er das Lebensgefühl im bürgerlichen Wien der 70er Jahre. Im Laufe seines Lebens macht Daniel Karriere in der Pharmaindustrie und lernt die aufstrebende Jungärztin Eva kennen. In den 2020er-Jahren sind Daniel und Eva ein alterndes Ehepaar, da kommt es plötzlich zum großen Crash…

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Seitenzahl: 381

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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

Praterstern 3

Jugendsuenden 11

Intermezzo 189

Schnee von gestern 209

Praterstern 276

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2022 novum publishing

2. Auflage

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-142-4

ISBN e-book: 978-3-99048-143-1

Lektorat: Silvia Zwettler

Umschlagfoto: Dipl. Ing. Martin Bicher, technischer Mathematiker, geb. 1988, Sohn des Autors (Grafik: Tusche/Sepia, A3, 2015)

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Praterstern

PROLOG

„Zug fährt durch …“

Daniel schreckte auf und versuchte, seine Augen zu öffnen, was ihm mit einiger Mühe auch gelang. Er blinzelte in den nebeligen Herbsttag hinein, musterte argwöhnisch seine Umgebung. Unter sich verspürte er die harte, mit Zeitungspapier belegte Parkbank der Gemeinde.

Da war ja der abgetragene Rucksack mit seinen paar Habseligkeiten, nur alte abgetragene Kleidungsstücke und eine Mappe mit allerhand vergilbten Dokumenten, Zettelwerk und Schreiben; da stand auch das verrostete Fahrrad, seit undenklichen Zeiten angekettet an einen Lichtmast am Rande des ausladenden Fußgängerbereichs im Umfeld des Wiener Pratersterns, eines der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Donaumetropole. Das alte Ding war nicht sein Eigentum, es stand einfach dort, gehörte zu seinem persönlichen Ambiente. Sein Blick streifte flüchtig seine verschmutze, alte, löchrige Hose, deren ursprüngliche Färbung kaum mehr erkennbar war, seine dicke, jedoch fleckige dunkelgraue Jacke, und er kam letztlich beim Anblick einer grünen Doppelliterflasche nicht etikettierten Weißweins zum Ruhen, jener unvermeidlichen Flasche, die wie immer zu seiner Rechten stand, vor der Witterung geschützt und versteckt durch die Sitzfläche der Parkbank.

Daniel ergriff sie, führe sie zum Mund und trank durstig die Neige, die er am vergangenen Abend aufgespart hatte, um seinen allmorgendlichen Durst zu löschen.

Der Mann rülpste, stelle das Leergebinde an seinen ursprünglichen Platz zurück und setzte sich mühsam auf.

Er fuhr sich flüchtig durch sein schütteres weißes Haupthaar, strich langsam über seinen struppigen Bart und ließ seinen Blick über den großen Platz schweifen, der sich vor seinen Augen ausbreitete.

Es war ruhiger als sonst immer. Verwundert kratzte sich Daniel am Kopf und dachte scharf nach. Nein, Sonntag konnte es nicht sein, da hätten ihn vereinzelte Kirchenglocken geweckt, die irgendwo zu einer der selten gewordenen Morgenmessen gerufen hätten.

Nachdenklich senkte er ein paar Sekunden lang den Kopf, hob ihn aber gleich wieder und prüfte sodann seine unmittelbare Umgebung. Da standen wie immer die anderen Bänke, zum Großteil belegt von der Kollegenschaft, jenen Mitstreitern, denen das Schicksal ebenso wie ihm selbst mehr oder weniger übel mitgespielt hatte, wessen Verschulden es auch immer letztlich war.

Die meisten schliefen noch, schnarchten mehr oder weniger laut.

Einige hatten Blähungen, bliesen geräuschvoll ihre Darmgase aus und seufzten daraufhin erleichtert auf. Einige wenige regten sich und begannen bedächtig, ihre Habe zu untersuchen.

Ein oder zwei regten sich gar nicht.

Daniel runzelte die Stirn. Hoffentlich war da nicht passiert. Die Polizei hatte man nicht so gerne hier. Immer gab es da Unannehmlichkeiten und alle möglichen peinlichen Befragungen.

Öfters schon hatte der Mann erlebt, wie manche Kameraden in der Früh einfach nicht mehr aufgewacht waren. Immer war die Polizei gekommen, immer hatte es Ärger gegeben, immer waren dann Leute gekommen, die die Verblichenen weggeschafft hatten. Keiner wusste, wohin; es war auch ziemlich gleichgültig. Jene hatten es einfach überstanden, wurden vielleicht sogar ein wenig um ihr Schicksal, um ihr ruhiges Dahinscheiden zu nächtlicher Stunde beneidet.

Daniel zuckte mit den Achseln; er erhob sich, streckte sich ein wenig und trat hin zur benachbarten Bank.

„He Franz! – Morgen …“ Der Angesprochene blickte auf und schielte benommen.

Seine Augen waren glasig und blutunterlaufen.

„Was ist?“

„Heute ist es so ruhig, was ist heute für ein Tag?“

„Weiß ich nicht … egal …

„Franz denk bitte nach…“

„Vielleicht ist es Staatsfeiertag; und jetzt lass mich in Frieden.“

Daniel nickte und trabte zu seiner Bank zurück.

„Staatsfeiertag, Staatsfeiertag … Wäre gut möglich … Saustaat … was hat der schon zu feiern …“

Schwer ließ er sich auf den harten Kunststoff fallen, nahm den Plastiksack, begann darin zu kramen und zog ein Stück Dauerwurst hervor.

„… was hat der verdammte Staat schon für uns … alles weg … alles weg …“

Verärgert, resignierend schüttelte er den Kopf und zog behutsam, sorgfältig die Wursthaut ab, kramte sein altes Taschenmesser aus dem rechten Hosensack hervor, schnitt dünne Scheiben ab und begann mit seinen schwarzbraun verfärbten Zahnstummeln an diesen zu nagen.

Noch vor etwa einem Jahr, vielleicht bis Ende 2026 war alles ein wenig besser gewesen. Da gab es noch diverse Organisationen, die die immer unüberschaubarere Schar an Unterstandslosen mit dem Nötigsten versorgt hatte, da gab es zum Teil auch private Wohlfahrt, Leute, die kamen, um sogar das Wenige, was sie noch besaßen, zu teilen.

Diese wurden jedoch immer weniger.

Der Staat hatte längst schon nichts mehr zu geben; die Superreichen, die den überwältigenden Anteil aller Besitztümer Schritt für Schritt an sich gerafft hatten, die hatten längst der heillos zerstrittenen und verarmten EU den Rücken gekehrt, waren zum Großteil in die USA gezogen, die sich auf Grund ihrer altbewährten Geldpolitik und dem genialen staatlichen Zusammenhalt immer wieder aus allen Krisen herausmanövriert hatte. So weit war es bei der EU allerdings nie gekommen. Von einer kapitalen Krise war man in die nächste geschlittert. Statt zusammen zu wachsen, zusammen zu halten, hatte man sich immer weiter von einander entfernt.

Der sparsame und fleißige Mittelstand, die Kleinunternehmer waren ausgelöscht, es gab sie nicht mehr, Automatisierung, Digitalisierung, aber auch eine undurchschaubare Globalisierung hatte Millionen an Arbeitsplätzen vernichtet, zum Verschwinden gebracht. Enteignungsgesetze wurden beschlossen und wieder verworfen. Niemand fand mehr ein geeignetes Mittel, um das System zu retten, ein System, das auf Wachstum ausgerichtet war. Dieses gab es jedoch auch schon längst nicht mehr; woher auch, jeder Zuwachs der Bevölkerung betraf einzig und allein die Ärmsten aller Schichten. Woher die Kaufkraft? Woher ein Aufschwung? Alles bestand nur mehr aus Verdrängung; Märkte, Jobs, Wohnraum …

Die elektronischen Medien wurden nach dem Willen der wenigen Mächtigen gesteuert, zensuriert, bald hatte man kaum mehr Interesse daran.

Die Spaßgesellschaft, die allgegenwärtigen Gedanken an Bequemlichkeit, Wellness aber auch die lange Jahre selig machenden unkontrollierten, ausufernden Megaevents, all das war längst Vergangenheit.

Vielen Dank COVID 19, vielen Dank Klimakrise!

Rapide sank die Steuerleistung; machtlos musste die unfähige und unwillige, nur auf ihren Vorteil bedachte Politik zusehen.

Die Zeiten waren schlecht, blieben schlecht; armes altes Europa …

Und geblieben war in der einst blühenden, boomenden Stadt im Herzen Europas eine Unzahl Unterstandsloser, die sich ein Dach über dem Kopf innerhalb der vor dem endgültigen Kollaps befindlichen Immobilienblase in Europas Großstädten nicht mehr leisten konnte.

Dabei ging es hier, diesseits der Donau, rund um den Praterstern und in den Inneren Bezirken noch halbwegs geregelt zu. Das Leben war hier dahingehend noch durchaus lebenswert, dass man zu essen und zu trinken hatte und sich in mit seinen Mitstreitern weitgehend in seiner Muttersprache unterhalten konnte. Über den Strom hinweg nach Osten und nach Südosten des Stadtgebietes durfte man allerdings nicht hinausblicken…

Ja der Osten; Asien, das superreiche China, die ehemaligen Schwellenländer wie Indien oder aber auf der anderen Seite der Weltkugel auch Brasilien; das waren die gewaltigen, bevölkerungsreichen und kapitalkräftigen Märkte für die wenigen Multis, die es in Europa noch gab; allmächtige Multis. War es noch vor wenigen Jahrzehnten so, dass sich Lobbys um die Politik bemühten, mit diversen Mitteln versuchten, Einfluss auszuüben, so war jetzt daraus ein reines, ein alles beherrschendes Diktat geworden, das jedem Menschen in Europa bis ins kleinste Detail vorschrieb, was er zu tun, zu essen, zu trinken und zu verbrauchen hatte, wenn das nötige Geld dafür da war.

Erneut langte der Ziebzigjährige in den alten Rucksack, kramte wieder darin herum, nickte beifällig und zog eine ungeöffnete Bierdose hervor. Mühevoll und ungelenk fingerte er mit seinen zittrigen Händen an dem Verschlussnippel herum, zog ungeduldig, erfolglos daran, stieß einen derben Fluch aus, nahm einen neuen Anlauf. Ungeschickt riss er daran …

Die Aluminiumdose öffnete sich; geräuschvoll zischte, quoll der Gerstensaft aus der entstandenen Öffnung. Schwungvoll führte Daniel das Behältnis an seinen Mund, zog, saugte kräftig daran. Die Dose entglitt seinen Händen, rollte seine Hose entlang und fiel zu Boden.

„Verdammte Scheiße …“

Rasch bückte sich der Unterstandslose, um zu retten was zu retten war.

Verärgert sah er die gelbe Pfütze größer und größer werden, wollte nach der glitschig verschmutzen Dose greifen, doch diese entglitt seinen zittrigen Händen, rollte seelenruhig in Richtung des alten Fahrrades und entleerte sich letztlich zur Gänze auf den Beton des Bodens.

„Verdammt! Immer der gleiche Mist …“

Mühsam erhob sich Daniel, humpelte hin zur leeren Bierdose und kickte sie wütend in hohem Bogen mitten auf jene dem Feiertag und der frühen Tageszeit entsprechend kaum befahrene Straße, die das Areal um den Bahnhof Wien Nord umrundete, wo sie nach einigen geräuschvollen Bocksprüngen letztendlich zum Liegen kam.

Leisen, von allen unbemerkt näherte sich ein Elektroauto und streifte mit dem rechten Vorderreifen das leere Alugehäuse. Federnd sprang jenes weg, hoch in die Luft, wirbelte herum und senkte sich hin in Richtung Hauptallee, Eldorado der Jogger, die schnurgerade über etwa 4 Kilometer den grünen Prater, die Lunge der Großstadt durchschnitt.

Daniel hasste Elektroautos. Sein ehemals absolutes Gehör war leider nicht mehr das Beste; machtvoll plagte ihn der Tinnitus.

Still und unbemerkt kamen die Fahrzeuge, die sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt hatten, einher. Immer preisgünstiger waren sie geworden. Ob sie tatsächlich etwas taugten, das wusste Daniel nicht; es war ihm auch egal. Er selbst hatte längst keinen fahrbaren Untersatz mehr. Es war ihm auch recht, dass es gegenüber früheren Zeit viel weniger Straßenverkehr gab. Die Leute hatten kein Geld für teure, fast nicht mehr finanzierbare Treibstoffe; so gingen sie zu Fuß, die Luft war besser, reiner geworden.

Auch mit Daniels Sehschärfe war es längst nicht mehr gut bestellt.

Immer Gefahr im Verzug.

Hören, ja hören, das war früher immer wichtig für den gealterten Mann, begabten Musiker, Schriftsteller, Polyhistor, bewandert in jeder Stilrichtung der Musikgeschichte, komplex in vielen Fachgebieten ausgebildet.

Alles vorbei …

Seit Monaten hatte er nicht mehr Radio gehört. Es interessierte ihn nicht mehr. Hin und wieder fand sich eine aktuelle Zeitung, die jemand achtlos weggeworfen hatte.

In den meisten Fällen überflog er bloß die Schlagzeilen. Etwa Interessantes, etwas Positives stand ja ohnehin nicht drinnen. Zumeist waren es nur neue Regulative, Sparvorschriften, die von Seiten der Regierung verkündet wurden.

Überleben…

Dazu braucht man kein Radio, kein Fernsehgerät; keine wie immer geartete Elektronik; ein sechster Sinn hatte sich entwickelt, ebenso komplex wie einfach.

Der Geruchssinn gehörte ebenso dazu wie ein halbwegs intakter Tastsinn:

Wo war die Weinflasche oder die Bierdose, die Dauerwurst, das Brotstück?

Wie auch immer …

Ein lauter Schrei, ein dumpfer Fall, Stille …

Verwundert blickte Daniel in Richtung des unerwarteten Geschehens, kehrte jedoch rasch um und begab sich kopfschüttelnd zurück zu seiner Bank. Nur nicht hinsehen, nicht hinhören; macht zumeist nur Schwierigkeiten …

Missmutig ließ er sich auf die harte Sitzfläche fallen und betrachtete Stirne runzelnd erneut seine unmittelbare Umgebung.

Manch anderer hatte sich in der Zwischenzeit auch von seiner Liegestatt erhoben, verstört, verwirrt. Auch jene hatten den Kopf gehoben und in Richtung Hauptallee geblickt.

„Da liegt ja einer …“, „Was soll das?“ „Nur nicht hinschauen …“

Gemurmel …

Ruhe …

Dann wieder Geschrei, Rufe nach Polizei und Rettung.

Blaulicht, Folgetonhorn.

„Verdammt, was machen die da?“

Franz blickte nervös zu Daniel.

Dieser machte eine verächtliche Handbewegung …

„… da hat sich ein Jogger wieder übernommen …“

„… wirst schon recht haben …“

Franz starrte zu Boden und rieb sich die Nase.

Minuten verrannen; die Einsatzfahrzeuge entfernten sich, langsam wurde das Signalhorn der Rettung schwächer; verstummte.

Erneut kehrte Ruhe ein.

„Na siehst du; alles in Ordnung!“

Daniel nickt seinem Kumpanen zu.

Dieser zuckte mit den Achseln und wandte sich interesselos seiner Weinflasche zu.

Monika trippelte vorbei; Daniel sprach sie an, doch die Verwahrloste reagierte nicht; seit er sich hier herumtrieb, seit ein, zwei Jahren kannte er schon die Frau. Sie sah zwar alt aus, doch sie war es letztlich gar nicht. Seltsam … Daniel schüttelte den Kopf und seufzte; mal war sie gesprächig, mal kannte sie niemanden.

Doch jeder kannte sie. Hin und wieder kam sie um eine Zigarette betteln oder auch um einen Schluck Hochprozentiges. Daniel hatte in diesem Zusammenhang oftmals Glück; er trank keinen Schnaps und war demnach auch eher selten Ziel der Betteleien.

„Muss einmal eine hübsche Frau gewesen sein …“ Daniel blickte Monika ein paar wenige Augenblicke nach und zwinkerte Franz zu.

Dieser zuckte erneut mit den Achseln, rülpste und widmete sich einer Kastanie, rollte sie mit einem Fuß hin und her, rollte sie mit dem linken Fuß zu Daniel hinüber; dieser rollte sie zurück.

Die beiden Männer grinsten dümmlich, husteten lautstark und spuckten vor sich auf den Boden.

So ging das eine ganze Weile und nichts weiter geschah …

Jugendsuenden

Im Volksgarten blühten die Rosen.

Wieder einmal war Daniel überwältigt …

Die strahlende Sonne, der Maientag, diese Farbenpracht, dieser Duft …

Sein Blick glitt über die bereits vielfach besetzten Metallstühle, die an den Wegrändern adrett geordnet für Frühlingshungrige bereitgestellt waren. Sogar diese alten harten Sessel hatte der Frühjahrsputz und frischer grüner Anstrich zu neuem Erstrahlen verholfen.

Es waren so früh am Vormittag nahezu nur ältere Menschen, Rentner und Pensionisten, die ihren Weg in diese wunderbare und so traditionsreiche städtische Gartenanlage gefunden und sich nun auf den von der Frühlingssonne bereits angenehm durchwärmten Sitzgelegenheiten niedergelassen hatten.

Wer konnte es ihnen verdenken; der Winter war lang und kalt genug gewesen.

Die meisten Menschen schwiegen, andere unterhielten sich über anstehende Arztbesuche oder Spitalsaufenthalte, andere wieder kritisierten lautstark die Unausstehlichkeit, die Verfehlungen oder ganz allgemein die Unfreundlichkeit der diversen Nachbarn.

Daniel schüttelte verständnislos den Kopf. Reichte dieser herrliche Tag, der Sonnenschein und die Farbenpracht nicht aus, um die Laune der Leute zu heben?

Der junge Mann bedachte eine verhärmt blickende alte Frau in hellbraunem Ballonseidenmantel mit einem kurzen verächtlichen Seitenblick und wanderte zügig weiter.

Er wusste gar nicht, was letztendlich immer seine Schritte hierher an diesen ganz bestimmten Ort gelenkt hatte.

Es war allerdings schon immer so gewesen.

Viele dieser unvergleichlichen Stimmungen zwischen dem Morgen und dem frühen Vormittag hatte er während seiner Zeit als Oberstufenschüler hier in dieser Gegend erlebt, anstatt wie die meisten anderen Kollegen pflichtschuldig die Schulbank zu drücken…

Eigentlich hätte er auch heute schon längst an der Universität weilen und sein Pflichtseminar besuchen sollen.

Irgendwie aber hatte es ihn wieder hierher gezogen.

Die Uni mochte warten; sie würde wahrscheinlich noch länger stehen …

Das letzte Seminar hatte er ja auch schon versäumt und damit einmal mehr ein Semester nahezu in den Sand gesetzt.

Der noch nicht Zweiundzwanzigjährige blickte unschlüssig durch die Gegend. Er sah auf seine Armbanduhr …

Ja, sein Stammcafe müsste schon geöffnet haben.

Er zündete sich eine Zigarette an, beschleunigte seine Schritte, besuchte ganz kurz noch die monumentale Plastik der Kaiserin Elisabeth, umrundete mit einigem Abstand den Theseustempel und verließ die Parkanlage in Richtung Ballhausplatz.

Theseustempel …

Daniel schmunzelte in sich hinein. Immer noch, viele Jahre später hielt er nahezu automatisch diesen Respektabstand. Wie oft doch hatten ihm seine Eltern während der Schulzeit dringend nahe gelegt, diesen Platz zu meiden. Immerhin war dort damals, zu Anfang der 70er, die Wiener Drogenszene der 68er beheimatet. Diese Zeiterscheinung war allerdings an Daniel und seinen Alterskollegen, die in den so genannten bürgerlichen Bezirken westlich der Wiener Innenstadt unweit der Ringstraße lebten, ziemlich spurlos vorbeigegangen; alle waren einige Jahre zu jung dafür gewesen.

So gab man sich – zumindest in seinen Kreisen und einem geänderten Zeitgeist gehorchend – mit Zigaretten und Alkohol zufrieden, wobei man zumeist harte Getränke mied und den Konsum auf Bier und Wein beschränkte. Rauchen, ja das Rauchen war in und lag voll im Trend. Nur Mädchen oder junge Frauen, die untertags auf der Straße rauchten, sah man nicht gerne. Dieses Laster öffentlich zu präsentieren war zu dieser Zeit eher dem männlichen Geschlecht vorbehalten.

Ein wenig anders war allerdings die Situation in den noblen Wiener Außenbezirken; da gab es sehr wohl rauschende Partys, Drogenexzesse, weit ab von Kontrollen, ganz privat und abgeschieden, undenkbar für den innerstädtischen Bereich. Alles wäre hier auf Grund der dichten Besiedlung binnen kürzester Frist aufgeflogen…

*****

„Guten Morgen …“

„Guten Morgen, Herr Daniel … Heute keine Uni?“

Der Oberkellner Hans begrüßte den soeben im Lokal erschienenen jungen Mann sehr freundlich. Immerhin hatte man es diesem zu verdanken, dass sich vor mehreren Jahren eine ganze Clique aus Daniels Gymnasialklasse dieses Cafe zu ihrem Stammlokal auserkoren hatte. Zufall oder Daniels Willensstärke; als Schüler besuchte man zu dieser Zeit kein Altwiener Cafe; das klang, das war nostalgisch und damit verpönt.

„Doch, Herr Hans … später…“

Daniel log bewusst, denn der Oberkellner kannte seine Stammgäste recht genau.

Deren Wohlergehen lag diesem sehr am Herzen und deshalb wollte Daniel keine unnötige Diskussion.

Er nahm an einem der Tischchen Platz und fischte nach einer der Tageszeitungen, die wie gewohnt wohl sortiert auf einem Metalltisch in Daniels Griffweite lagen.

„Eine Melange, wie immer?“

„Ja, danke Herr Hans …“

„Herr Daniel, wie viel haben Sie eigentlich im letzten Jahr abgespeckt?“

Bewundernd blickte der Kellner den gertenschlanken, gut aussehenden jungen Mann an.

„So ungefähr 35 kg, Herr Hans …“

Dieser schüttelte den Kopf …

„Wie schafft man das bloß?“

„Mühsam, sehr mühsam … strenge Diät, keine Tropfen Alkohol…“

Daniel dachte nach …

Wofür hatte er sich das eigentlich angetan?

„… war für Sie sicherlich sehr wichtig, Herr Daniel …“

Diskret lächelnd zog sich der Kellner zurück und Daniel widmete sich der vor ihm liegenden Zeitung.

Der junge Mann war allerdings keineswegs bei der Sache. Die Worte des Oberkellners beschäftigten ihn.

Er überflog die Schlagzeilen, die Artikel, die Buchstaben ohne den Sinn und den Zusammenhang der Wörter, Zeilen und Sätze zu begreifen. Er blickte kurz auf, nestelte an seinem dunkelblauen Samtsakko herum, überprüfte nachdenklich den Sitz des Knotens seiner Krawatte und griff nach der Zigarettenschachtel, die neben der Tasse mit dem dampfendem Aufgussgetränk lag. Daniel atmete tief durch und sog den Kaffeeduft in sich auf. Gleichzeitig fingerte er an der bunten Schachtel herum, entnahm ihr eine Zigarette und führte sie zum Mund.

Er blickte kurz um sich, griff in die rechte Sakkotasche und holte sein Feuerzeug hervor. Nach zwei missglückten Versuchen brachte er den schweren vergoldeten Flammenspender endlich in Gang …

Daniel betrachtete das wertvolle Feuerzeug, runzelte indigniert die Stirne, zuckte sodann mit den Achseln, tat einen tiefen Zug und blies den Rauch zur Decke des Lokals hinauf. Er sah den Partikeln nach, die sich nach und nach verteilten, einen eigenartigen hellblauen Ring bildeten und mittels des Lufthauchs, der durch die sich öffnende Türe des Cafes hereinströmte, urplötzlich ins Nichts zerstoben.

Er legte die Zigarette an den Rand des metallenen Aschenbechers, der am Rande des Tisches stand, sah noch kurz der schmalen aufsteigenden Rauchsäule nach und legte die Zeitung auf das benachbarte Tischchen.

Daniel wendete sich zur Seite, bückte sich, kramte in seiner neben ihm auf dem Boden stehenden Tasche, holte Papierblock und Kugelschreiber hervor und begann gedankenverloren vor sich hinzukritzeln.

„Oh, sind wir heute in Schreiblaune?“

Augenzwinkernd hatte sich Herr Hans genähert, um seinem Stammgast zwei Gläser frischen Wassers zu bringen.

„Keine Ahnung …“

Daniel sah den Oberkellner kurz prüfend an, wandte sich aber sogleich ab und ließ seinen Blick auf den soeben gebrachten Gläsern ruhen …

„…aber – danke sehr, Herr Hans …“

„Keine Ursache …“

Für den langjährigen Zahlkellner eines Wiener Innenstadtcafés eine Selbstverständlichkeit.

Frisches Wasser zu servieren gehörte einfach zur Wiener Kaffeehauskultur; alles andere wäre eine sträfliche Unterlassung.

Daniel kratzte sich gedankenverloren hinter dem rechten Ohr und blätterte mit der Linken die Seiten seines Schreibblocks durch. Wo war die Kreativität der letzten Tage und Wochen geblieben? Fünf Mundartgedichte und drei Kurzgeschichten hatte er da geschrieben.

Der junge Mann fühlte sich leer, blockiert und völlig ideenlos.

Vielleicht hätte er sich in den letzten Monaten wirklich mehr seinem Jurastudium widmen sollen. Er hatte sich da wohl ziemlich treiben lassen …

Daniel fühlte mehr denn je zuvor die Schwierigkeiten eines Multitalentes voller Selbstzweifel.

Er war nämlich auch ein hervorragender Saxofonist.

Vor zwei Jahren hatte er das letzte Mal ein Jahresabschlusskonzert bei seinem Musikpädagogen mit Bravour absolviert.

Dann war Schluss …

Der Professor hatte gemeint, er könne ihn technisch und musikalisch nun nichts mehr lehren.

Daniel hatte den älteren Herrn sehr geschätzt. Er hatte nicht nur auf eine hervorragende fachliche Ausbildung Wert gelegt, sondern auch ganz generell auf Pünktlichkeit und gutes Benehmen. Nach der Matura hatte Daniel auch nichts mehr für seinen Musikunterricht bezahlen müssen. Dem akademisch ausgebildeten Lehrer hatte es einfach Spaß gemacht, mit dem talentierten jungen Musiker gemeinsam klassischen Jazz zu musizieren.

Eigentlich schade, dass das Selbstbewusstsein des jungen Mannes ein so schwach ausgebildetes war. Er hätte sich vor ein paar Jahren, direkt nach der Reifeprüfung, wirklich der Aufnahmeprüfung für ein Musikstudium an der Akademie unterziehen sollen.

Doch hatte er entgegen allen gut gemeinten Ratschlägen, die ihn hin zu einer künstlerischen Ausbildung gedrängt hatten, gekniffen.

Allerdings war Daniel zusätzlich sprachlich hochbegabt.

So hatte er sich also für ein Germanistikstudium und damit für die Sprachwissenschaft entschieden; letztlich ein fauler Kompromiss.

Denn, wie sich herausstellte, sollten der Betrieb an dieser Fakultät und die eher trockenen Lehrinhalte so gar nicht sein Ding sein. Er schätzte vielmehr das Jonglieren, das Spiel mit seiner geliebten deutschen Sprache.

Nach zwei wenig erfolgreichen Semestern brach er das Studium ab und wandte sich der Rechtswissenschaft zu.

Daniel schüttelte den Kopf, blickte erneut auf den aufsteigenden Rauchfaden seiner Zigarette und musterte nachdenklich die alte verschmutzte Tapete der gegenüberliegenden Wand.

Auch wenn er es sich absolut nicht eingestehen wollte – die Jurisprudenz war noch viel weniger nach seinem Geschmack.

„Servus alter Junge …“

„Hallo Robert…habe dich gar nicht kommen gehört …“

Daniel war verwirrt. War er doch tatsächlich derartig in Gedanken versunken gewesen, dass er das plötzliche und unerwartete Erscheinen des alten Schulfreundes überhaupt nicht wahrgenommen hatte.

„Auf welcher Wolke schwebst denn du gerade?“

„Nicht auf Wolke sieben, wenn du es genau wissen willst. Setz dich doch und bestell dir einen Kaffee!“

Daniels Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.

Mehr als zehn Jahre war er nun schon mit Robert eng befreundet.

Die beiden hatten unheimlich viel miteinander erlebt und auch gemeinsam die Schulbank gedrückt.

„Lernst du, oder schreibst du, Daniel? Ich will dich wirklich nicht stören, wenn dich gerade der Arbeitseifer gepackt hat.“

Robert kannte seinen Freund zu gut.

Er wusste über dessen schwierigen Charakter und dessen mangelnde Entscheidungsfreudigkeit viel zu gut Bescheid. Er wusste schon aus Schulzeiten, wie schlecht sich oftmals dessen Talente und Ehrgeiz mit seiner schier unglaublichen Faulheit vertragen hatten.

„Ach wo, du störst mich überhaupt nicht.“

„Warum wundert mich das gar nicht, alter Junge?“

Robert sah Daniel hintergründig an.

„Wie geht es dir übrigens mit der Sylvia?“

„Na ja, ging schon wesentlich besser, Robert …“

„Wie das?“

„Sie war gestern schon wieder so seltsam. Ich glaube, sie ist noch immer auf Drogen und Alkohol.“

„Na schöne Scheiße …“

Robert, der Technikstudent runzelte besorgt die Stirn.

Wie oft hatte er doch Daniel gewarnt, er möge auf Distanz zu seiner, Roberts, Exfreundin gehen. Irgendwie hatte er beiden Menschen gegenüber ein ziemlich schlechtes Gewissen. Die Art, wie er vor bald zwei Jahren mit dem Mädchen Schluss gemacht, sie von einem Tag zum anderen verlassen hatte, war wahrlich nicht die feine Englische gewesen. Und das alles wegen einer mehr als durchschnittlichen Studienkollegin, die keineswegs Sylvias Klasse hatte. Dass Daniel sodann für das Mädchen da sein würde, war für Robert schon vorher ziemlich offensichtlich gewesen.

Dass dieser sich allerdings Hals über Kopf, unsterblich in sie verlieben würde, war in dieser Tragweite allerdings nicht vorauszusehen gewesen. Daniel war zu dieser Zeit immer der zwar sympathische, aber doch eher dickliche, nicht wirklich sonderlich attraktive und demnach auch wenig gefährliche „Tröstertyp“, gewesen, dem die Mädchen in schöner Regelmäßigkeit immer genau dann zuliefen, wenn sich diese in seelischen Nöten oder in besonderem psychischem Aufruhr befanden.

Der junge Mann, das behütete, vielleicht auch ein wenig verwöhnte Einzelkind aus gutbürgerlichem Haus war für die Betreffenden immer die starke Schulter, der Fels in der Brandung, der Mensch, dem man allen Kummer, alle Sorgen und alle gebrochenen Herzen auf einmal aufladen konnte, der immer Verständnis und Trost zu spenden hatte. Waren die gröbsten Wunden dann „verpflastert“ und notdürftig verheilt, fanden die junge Damen rasch wieder ihre vermeintlich nächste große Liebe; Daniel hing dann für kurze Zeit oftmals noch sicherheitshalber am Haken, ließ sich auf spätere Zeiten, weil derzeit mangelnde Bereitschaft der Betreffenden zu einer neuen Beziehung, vertrösten. Letztlich wurde er dann in die Versenkung verbannt und blieb seelisch gezeichnet, verstört und mit einem neuen traurigen Kapitel seines erbärmlichen Liebeslebens behangen übrig.

All das hatte sich nun gewaltig verändert.

Robert warf einen kurzen bewundernden Seitenblick auf das neue, gepflegte, nahezu perfekte Äußere seines Freundes.

„… und, was unternimmst du nun?“

„Robert, ich glaube, ich kann und will da nicht viel unternehmen. Sylvia ist derzeit so kaputt. Sie redet nur noch Scheiß. Und ihre hellen Momente werden immer seltener. Sie hat da einen Studienfreund in einem Seminar, der dürfte eine gute Quelle für Stoff aller Art sein …“

Bekümmert blickte Daniel zu Boden. Er selbst hatte ja nie mit Drogen zu tun gehabt. Er kannte sich auf diesem Gebiet auch nicht aus.

Unsterblich hatte er sich in das verlassene Mädchen verliebt, was nachträglich gesehen etwas absolut Unvernünftiges gewesen war.

Vernunft …

Was hat Verliebtheit mit Vernunft zu tun? Wie oft hatte man ihn gewarnt, ihm gut zugeredet, er möge doch um Himmels Willen die Finger von dem Mädchen lassen? Deren Liga wäre er nicht gewachsen.

Die Emotion, das Gefühl war einfach stärker gewesen, hatte ihn ganz im Besitz genommen; blind, unbedarft und unerfahren war er in sein Verderben gerannt, und er hatte keine Ahnung, wie er jemals würde entkommen können.

Sylvia hatte ihn in ihrer emotionell so schwierigen Lage einfach gebraucht, verbraucht …

*****

„Also am tollsten war der Leopold Rudolf als Professor, was meinst du?“

Sylvia sah Daniel fragend an.

„Finde ich auch! Der‚Professor Bernhardi‘von Schnitzler ist überhaupt eines meiner Lieblingsstücke“

Daniel nickte zustimmend, half dem Mädchen aus dem Pelzmantel und hängte das Kleidungsstück auf einen Haken, der jederzeit für sie beide zu sehen war.

Er blickte auf seine Armbanduhr.

Halb elf …

Ein Glück, dass ihr Stammheuriger nicht vor Mitternacht Sperrstunde hatte.

Die beiden nahmen an einem hübschen kleinen Ecktisch Platz und Daniel bestellte.

Ja, der Besuch dieser Vorstellung im Theater in der Josefstadt war tatsächlich außergewöhnlich schön und anregend gewesen.

Gleich nach dem Fall des Vorhanges waren sie mit der Straßenbahn in jenen wunderbaren Wiener Außenbezirk gefahren, in dem Sylvia zu Hause war.

Sie bewohnte dort ein eigenes kleines Domizil, was für die Altersgruppe der zwanzigjährigen Studenten in den ausklingenden 70er -Jahren eher ungewöhnlich, und deshalb zweifelsfrei höchst attraktiv war.

Daniel liebte diese Gegend, das viele Grün, die hübschen Vorstadtgassen, die Villen, die vielen romantischen Heurigenschenken.

Im letzten Sommer hatte er schon einmal nach einer wilden Fete bei Sylvia übernachtet. Damals war sie allerdings noch mit Robert zusammen gewesen.

War das die Zeit, in der er sich bereits heimlich in das bildhübsche, so charmante dunkelblonde Mädchen verliebt hatte? Daniel wusste es nicht. Es war ja auch völlig nebensächlich.

Er nahm das vor ihm stehende, mit Nussberger Riesling gefüllte Henkelglas zur Hand und führte es zum Mund …

„Prost Sylvia!“

Freundlich nickte ihm das Mädchen zu.

„Prost!“

Daniel zuckte ein wenig zusammen. Sylvia klang wieder einmal so entzückend sexy. Offensichtlich war es der winzige Fehler bei der Bildung von Dentallauten, der zusätzlich zu ihrer dunklen, ein wenig rauchigen Stimme diese besondere Charakteristik ausmachte.

Daniel lehnte sich an die mit dunklem Holz vertäfelte Wand.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er die Blicke des blauäugigen Mädchens, die einige Augenblick lang unschlüssig die massigen Formen seines Oberkörpers streiften.

Nicht einmal das weite weiße Hemd, die modische Krawatte und das schwarze Sakko konnten letztendlich die Auswirkungen gewaltiger kulinarischer und alkoholischer Eskapaden der letzten Wochen und Monate wirklich verschleiern.

Immerhin hatte kürzlich in seiner Wohngegend inmitten eines klassisch gutbürgerlichen Wiener innerstädtischen Bezirks eine Pizzeria ihre Pforten eröffnet. Im Wien der 70er-Jahre war das noch eine echte Rarität, und es war der Verzehr einer dieser, für mitteleuropäische Begriffe durchaus noch recht neuartigen, runden, belegten, und zu dieser Zeit noch mit besonders reichlich Öl versehenen Hefeteigscheiben oftmals eine spätabendliche Aktion.

Man traf dabei Freunde und Bekannte und sprach gemeinsam auch dem damals noch recht teuren und eher selten zu erhaltenen Chianti zu.

Fast unmerklich zuckte Daniel seine Achseln und seufzte ein wenig.

„Was hast du denn? Ach, kannst du mir eine Zigarette borgen? Ich habe keine mehr.“

„Klar, Sylvia.“

Unverzüglich bot der junge Mann dem Mädchen seine geöffnete Zigarettenpackung dar.

„Danke.“

Fasziniert betrachtete Daniel die feinen Linien ihres hübsch geschnittenen Gesichtes, ihre leicht erhöhten Backenknochen, die leuchtenden wunderschönen dunkelblauen Augen …

Gott, es hatte ihn erwischt, wie wahrscheinlich noch nie in seinem ganzen bisherigen Leben.

„Darf ich noch etwas bringen, meine Herrschaften? Wir haben dann bald Sperrstunde.“

Daniel warf Sylvia einen fragenden Blick zu.

„Wollen wir noch eine Runde?“

„Ich weiß nicht – morgen früh habe ich ein unangenehmes Proseminar, Daniel. Aber, wenn du meinst …“

Daniel wies auf die leeren Gläser und gab der Servierkraft ein kurzes zustimmendes Zeichen.

„Wird uns schon nicht umbringen, was meinst du?“

„Na schön, aber dann musst du mich kurz entschuldigen.“

„Kein Problem, tu was du tun musst …“

Sylvia erhob sich von der Holzbank, wandte sich um und strebte eilig der auf der anderen Seite des Heurigenlokals befindlichen Toilettentür zu.

Daniel blickte dem Mädchen unverwandt nach. Wie doch deren weißer Rock die prachtvollen Formen ihres verlängerten Rückens betonten und die schwarzen Lederstiefel einen reizvollen farblichen Kontrast dazu bildeten.

Sylvia betrat die Toilette, verriegelte sorgsam die Türe hinter sich und atmete tief durch. Sie brauchte unbedingt ein paar Minuten Nachdenkpause.

Sie stützte gedankenverloren ihren Kopf mit ihren Händen während sie ihre Notdurft verrichtete, riss ein paar Blätter Toilettenpapier vom Spender ab und putzte sich die Nase. Sicher, es war sehr nett gewesen, dass Daniel sie kürzlich über Silvester besucht hatte, als sie sich mit einigen Studienkollegen auf Schiurlaub befunden hatte. Sie hatte sich wirklich sehr darüber gefreut.

Sie ahnte, dass Daniel nicht sehr viel Erfahrung mit ernsthaften längerfristigen Beziehungen und ganz allgemein mit dem weiblichen Geschlecht hatte. Welche Hoffnungen er sich da möglicherweise nun machte.

Gut ja, sie mochte den jungen Mann wirklich sehr gerne, sie genoss die gemeinsamen Theater und Restaurantbesuche, alles Aktivitäten, die eher nicht Roberts Dinge gewesen waren. Das waren in diesem Fall eher die gemeinsamen Nächte …

Sylvia stand auf, richtete ihre Kleidung und lehnte sich etwas ratlos an die Seitenwand der Toilettenkabine.

Ohne Zweifel, auch die gemeinsame kleine Weihnachtsfeier im engsten Freundeskreis und natürlich auch die Tatsache, dass Daniel sie am Christtag zur Abfahrt in den Skiurlaub zum Bahnhof begleitet hatte, das alles war auch sehr schön gewesen.

So unendlich traurig hatte er gewirkt, als sie ihm aus dem wegfahrenden Zug nachgeblickt hatte.

Trotzdem fühlte sie sich einfach nicht bereit, den nächsten Schritt zu gehen.

*****

„Entsetzlich … nicht zu glauben!“

Eins ums andere Mal klopfte sich Sylvia den Schnee von ihrem weißen Schianzug und ihrer bunten, hübsch gemusterten Haube.

„Sinnlos …“

Wenige Sekunden später die gleiche Prozedur.

Seit nunmehr gut 36 Stunden schneite es ohne Unterlass. Hier, in dem zu dieser Zeit durchaus noch romantisch verträumten Skiort im steirischen Ennstal ging nichts mehr, Schilifte hatten den Betrieb aufgegeben, Autos waren in den Schneemassen einfach steckengeblieben und auch zu Fuß war ein Weiterkommen bei Gott nicht wirklich einfach.

Das verzweifelte Mädchen tigerte, nein sie stapfte nervös auf dem Bahnsteig auf und ab, blickte immer wieder auf die etwas antiquierte Bahnhofsuhr. Und immer wieder kam ein Bahnhofsbediensteter mit einer Schneeschaufel, versuchte sein Möglichstes und schüttelte nur schweigend und ratlos den Kopf.

„Das gibt’s ja nicht, wo steckt der Daniel denn bloß?“

Ein wahres Glück dass sich der Junge aus Stainach – Irdning telefonisch kurz gemeldet hatte. Dort ging angeblich mit dem Auto auch nichts mehr. Man musste auf irgendeinen Zug warten, nur so war an ein Weiterkommen zu denken.

Sylvias Gefühlswelt schwankte zwischen Vorfreude, extremer Sorge und einer großen Portion schlechten Gewissens. Wenn sie doch damals anlässlich ihrer Abfahrt aus Wien nicht diesen höchst unvernünftigen Entschluss, den Jahreswechsel gemeinsam verbringen zu wollen, gefasst hätten. Und wieder blickte das mittelgroße ausnehmend hübsche, das so aparte Mädchen auf die große Uhr: 20.30. …

Demnächst würde ja die Silvesterparty starten, der sie beiwohnen wollte.

Egal, das war zurzeit nicht wichtig. Wenn nur der Junge endlich wohlbehalten ankommen würde, der Junge, den sie wirklich mochte, den sie in ihrer derzeitigen persönlichen Lage durchaus brauchte. Das hatte sie bei ihrer kleinen privaten Weihnachtsfeier am 23. Dezember mehr als deutlich gespürt und Daniel wohl auch im gleichen Maße merken lassen. Vernünftig oder nicht, man würde sehen.

Mit jeder Minute des einsamen Wartens stieg Sylvias Sehnsucht nach dem Jungen, von dem sie so viel hielt, den sie so hoch einschätzte, von dem sie so viel Freundschaft erwartete.

Doch was erwartete im Gegenzug der Junge?

Sylvia schob diesen Gedanken weg. Er war nicht produktiv und derzeit auch völlig nebensächlich.

Erneut stapfte sie mühsam hin und her und befreite erneut ihr Outfit von den Schneemassen, die sich schon wieder binnen weniger Minuten dort angesammelt hatten.

„Verdammt!“

Und wieder drehten die Reifen durch. Daniels Verzweiflung stieg ins Unermessliche. Es gelang nicht einmal, das Auto im Nahebereich eines mächtigen Haufens frischen Pulverschnees halbwegs am Rand der völlig unpassierbaren Bundesstraße abzustellen. Das Gefährt rutschte hin und her, war nahezu nicht zu bändigen. Der Junge verfluchte den Heckantrieb seines Fahrzeuges und die Tatsache, nur an den Antriebsrädern Winterreifen montiert zu haben, die überdies auch keineswegs mehr die Neuesten waren. Er wagte einen Blick durch die Windschutzscheibe, um sich einen Überblick zu schaffen, was gar nicht so einfach war, zumal sich zwischen den einzelnen Bewegungen der Scheibenwischer immer wieder eine Schneeschicht bildete, die freie Sicht nahezu unmöglich machte. Lediglich die Tatsache, dass so ziemlich alle Fahrzeuge vor oder neben ihm offenbar die gleichen Probleme hatten und kreuz und quer herumstanden, war mit einiger Fantasie auszunehmen. Einen Blick nach hinten riskierte Daniel gar nicht. Die Heckscheibe war ohnehin zugeschneit. Nun war guter Rat teuer …

Der knapp Zwanzigjährige stellte die Lautstärke des Autoradios zurück. Das steirische Lokalradio spielte zur Hebung der allgemeinen Silvesterlaune volkstümliche Schlagermusik; das musste Daniel wirklich nicht haben, und Ö3 war hier einfach nicht zu empfangen. Er wollte sich nur irgendwie konzentrieren können, eine Lösung finden, und er wollte endlich zu Sylvia.

In der Früh beim Wegfahren aus der Bundeshauptstadt hatte es geregnet. Das Weihnachtstauwetter hatte sich im Osten des Bundesgebietes bis Silvester verlängert. In den Nordalpen allerdings hatte man schon vor Tagen für die Zeit um den Jahreswechsel ein unvergleichliches Schneechaos vorausgesagt.

Daniels Eltern hatten noch warnende Worte von sich gegeben, hatten ja auf gutes Schuhwerk gepocht. Der Sohn jedoch hatte all das kurzerhand weggewischt. Zu wichtig, ungeheuer wichtig war für ihn diese Fahrt.

Zu Beginn ging’s ja noch halbwegs. Als allerdings die ersten sanften Berge des Wienerwaldes erreicht waren, wurde Daniel das erste Mal etwas mulmig im Bauch. Der Regen war in Schnee übergegangen und binnen kurzer Zeit lag bereits Schneematsch auf der Autobahn. Daniel drosselte das Tempo, er schlich dahin. Der Junge war ein guter Fahrer und für sein jugendliches Alter durchaus vorsichtig und angepasst. Durch viele Übungsfahrten mit seinem Vater wusste er, dass mit Gewalt nichts zu erreichen war. Daniel fügte sich also ins Unvermeidliche. Obwohl seine Sehnsucht nach Sylvia mit jedem mühsam gefahrenen Kilometer stieg, so schlichen diese ähnlich dahin, wie gegenteilig die Zeit verrannte. Maximal vierzig, fünfzig „Sachen“ waren auf der Autobahn drinnen. So war es also bereits weit nach Mittag, als endlich die Abfahrt Steyr, also das Ennstal erreicht war. Planmäßig hätte er bereits längst am Ziel sein sollen. Sylvia würde wohl schon „flippen“.

Ab nun jedoch kam es tatsächlich knüppeldick. Nicht nur der Schneefall hatte weiter zugelegt, auch der Verkehr hatte sich verdichtet. Alles wollte offenbar zu Freunden oder Verwandten, um einen vergnüglichen Jahreswechsel zu verbringen. Doch man hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Spätestens ab Selzthal stand nunmehr alles.

Daniel war der Verzweiflung nahe!

Eins ums andere Mal hieb er zornig und ungeduldig auf das Lenkrad, beruhigte sich aber immer wieder und dachte konzentriert über seine Möglichkeiten nach.

Stainach müsste er erreichen! Dort gäbe es seines Wissens nach einen recht wichtigen Bahnhof. Vielleicht ginge irgendwann ein Zug, vielleicht würde die Bundesbahn das schaffen, was auf der Straße nicht ging.

Und tatsächlich fand er sich Stunden später am Rande des riesigen Schneehaufens wieder, in Stainach, an der zur damaligen Zeit mehr schlecht als recht ausgebauten Bundesstraße, unweit des dortigen Bahnhofes.

War es nun Können oder Glück?

Ein kurzer Tritt aufs Gaspedal und Daniels Fahrzeug schlitterte unvermutet an den Straßenrand. Fast wie eingeparkt stand es plötzlich da. Bewundernd lugten die kreuz und querstehenden Leidensgenossen hin zu dem Glücklichen. Daniel atmete einige Male tief durch, stellte die Zündung ab, stieg aus, stapfte, nein, rutschte um sein Fahrzeug herum und machte sich am Inhalt des Kofferraums zu schaffen. Er nahm das Allernotwendigste, das Lebenswichtigste heraus, stopfte all das Zeug in seinen alten und schon etwas schäbigen Rucksack, überprüfte den Inhalt seiner Taschen nach Geld und Zigaretten, und er überprüfte das sehr mitgenommene Profil seiner Winterschuhe. Sorgenvoll runzelte er die Stirn. Haben wohl wirklich schon bessere Zeiten gesehen …

Egal! Der Junge knallte den Kofferraum zu, musterte schnell nochmals das chaotische Ambiente und schlitterte Richtung Bahnhof. Nicht nur einmal saß er auf seinem Hosenboden. Was für ein spontaner Geistesblitz, dass er daheim schon Schihose und Anorak angezogen hatte!

Es musste gegen halb sieben Uhr abends gewesen sein, als er den Bahnhof und damit auch die dort befindliche Telefonzelle erreicht hatte. Zitternd vor Kälte, Panik und Aufregung nestelte er in der Tasche seines Anoraks herum und fand endlich den Zettel mit Sylvias Telefonnummer.

„Ja sag einmal, wo steckst du denn?“

„In Stainach, es geht gar nichts mehr. Ich stehe am Bahnhof und warte. In einer halben Stunde soll angeblich ein Zug gehen. Ich habe keine Ahnung wie pünktlich der ist und wie lange er für die restlichen paar Kilometer braucht.“

„Ich hol dich ab.“

„Ok, bis bald.“

„Hoffentlich …“

Daniel knallte den Hörer auf die Gabel, stapfte zum Bahnsteig und wartete, ungeduldig, hektisch, nervös, sehnsüchtig.

Sylvia zitterte vor Kälte und Unsicherheit, vor Sorgen und vielleicht auch ein wenig Sehnsucht nach dem Jungen, der das alles für einen Besuch bei ihr auf sich genommen hatte. Die meisten anderen Leute ihres Alters wären wahrscheinlich gar nicht weggefahren oder hätten spätestens nach einer Stunde Fahrt wieder umgekehrt, um anderwärtig den Jahreswechsel zu feiern. So nicht Daniel!

Was war das plötzlich?

Die dunkelblonde Zwanzigjährige vermeinte ein leichtes Zittern, ein leises Beben zu verspüren. Zu hören war jedoch nichts, alle Geräusche hatten die Schneemassen verschluckt.

Tatsächlich!

Langsam näherte sich ein Zug. Personenwaggons, Viehwaggons, Tankwägen, Milchwaggons, alles zog die alte, mächtige und kräftig stinkende Diesellok mit sich.

Vorsichtig bremste das Ungetüm, der viele Schnee flog durch die Luft, schier endlos dauerte es, bis es endlich in der Station eingefahren war und letztlich stand.

Sylvia war atemlos vor Aufregung!

Wann würde sich wohl eine der Türen öffnen?

Endlich, endlich ging eine auf, ganz am Ende des Zuges.

Sylvia stapfte so schnell wie möglich in diese Richtung, da stand er auch schon vor ihr, der großgewachsene, zwar etwas korpulente aber so sympathische Junge, zerrauft, bleich, fix und fertig, am Rücken einen alten Rucksack tragend.

Sylvias Lippen bebten; schweigend schloss sie Daniel in die Arme, hielt ihn minutenlang fest und schluchzte leise.

„Es tut mir so leid! Was du wohl mitgemacht hast …“

„Hauptsache es ist bis jetzt alles gut gegangen … Ich hab schon befürchtet, ich müsste im Viehwaggon mitfahren.“

Daniel lächelte in sich hinein, trocknete zärtlich Sylvias feuchte Augen und wischte den Schnee von ihrer Haube.

„… gibt es irgendwas zu essen? Ich hab schrecklichen Hunger.“

Jetzt musste auch Sylvia lächeln.

„Na klar … komm!“

Sie nahm den Jungen bei der Hand, einträchtig stapften sie durch die Schneewehen, verließen den Bahnhofsbereich und erreichten recht bald ein kleines Lokal.

Es musste so gegen halb fünf Uhr in der Früh gewesen sein, als Daniel und Sylvia die Silvesterparty der Studienkollegin verließen. Das Fest war einfach toll! Ausgiebig wurde gefeiert, getanzt, reichlich Feuerzangenbowle und diverse andere zum Teil etwas obskure Mixgetränke in sich hineingeschüttet, ausreichend um den todmüden Jungen wieder einigermaßen zum Leben zu erwecken und ihm zusätzlich noch einen gehörigen Schwips zu verpassen.

Gemeinsam tanzte man vergnügt bei der Türe des Gästehauses hinaus, Daniel summte unentwegt den Donauwalzer vor sich hin und Sylvia lachte sich schief.

Beide waren glücklich, dass das alte Jahr endlich ein Ende genommen hatte. Es war für beide nicht wirklich erbaulich gewesen. Sylvia wurde von Robert verlassen und auch Daniel hatte neben einer ganzen Reihe von unangenehmen Erlebnissen seine liebe Not mit einem Mädel, der Tochter von Freunden der Eltern, welche die beiden unbedingt mit aller Gewalt verkuppeln wollten. Es war weniger deren mangelnde Attraktivität, als vielmehr deren ungeschicktes, ja oftmals plumpes Verhalten, das Daniel abstieß. So etwas hatte er immer vehement abgelehnt, damit konnte und wollte er nicht klarkommen. Zusätzlich hatte er sich in dieser unguten Situation immer wieder zum Gespött seines Freundeskreises gemacht, wobei auch Sylvia kräftig dabei mitgetan, den armen Jungen gerne gehänselt, aufgezogen und in den klaffenden Wunden dann mit Begeisterung herumgestichelt hatte.

„Schau, Daniel, es hat zum Schneien aufgehört!“

„Tatsächlich, man sieht ja auch schon Sterne!“

Kalt war es geworden, bitterkalt, aber wunderschön.

„Was hast du denn?“

Verwundert und fragend blickte Sylvia dem jungen Mann in die Augen, der immer wieder mit schmerzverzerrter Miene sein Hinterteil befühlte.

„Ach was, ich bin ja laufend ausgerutscht. Ich könnte meine verdammten Schuhe zum Teufel werfen. Die haben gar kein Profil mehr!“

Ein wenig neidisch betrachtete Daniel Sylvias hübsche dunkelrote Moonboots, die einfach großartig zu ihrem ganzen Outfit passten und ihr zusätzlich noch entsprechenden Halt boten. Auch musterte er besorgt die gerade nur notdürftig geräumten zum Teil auch abschüssigen Wege, die durch die beschauliche Ortschaft führten. Auf diesen blinkte nämlich nunmehr blankes Eis.

Sylvia lachte hellauf!

„Training ist alles! Immerhin haben wir noch ein schönes Stück bis zu unserer Unterkunft. Das bezaubernde Mädchen packte den Jungen bei der Hand, sprang übermütig mit ihm mitten hinein in einen mächtigen Neuschneehaufen, wo Daniel erneut unsanft auf seinem verlängerten Rücken landete.

„Aua, verdammt!“

Augenblicklich befreite sich Sylvia vom Schnee, sprang auf den halbwegs geräumten Weg zurück, hielt dem Jungen beide Hände hin und zog ihn zu sich hoch. Der feine Schnee staubte, wurde jedoch sofort vom eiskalten Hauch verblasen, der durch die Gassen der Ortschaft zog. Tausende von Sternen blinkten vom eisklaren Himmel herunter.

Das so hübsche Mädchen zog Daniel fest an sich, funkelte ihn mit ihren dunkelblauen Augen an.

Ihre Lippen näherten sich seinem Mund. Daniel spürte den heißen Atem seiner Angebeteten, zart drang der feine, der letzte Resthauch ihres teuren Parfums in seine Nase. Ihre Lippen umspielten die seinen, sie öffneten sich; erstmals spürte er das Spiel ihrer weichen Zunge in seinem Mund.

Daniel und Sylvia wussten nicht wie lange sie küssend da gestanden waren; es spielte auch keine Rolle. Sie spürten auch keine Kälte, sie spürten nur sich selbst.

Es graute jedenfalls schon der Neujahrsmorgen, als die beiden schweigend Hand in Hand Sylvias Unterkunft, ein einfaches steirisches Bauernhaus erreichten. Ebenso schweigend schloss Sylvia die schwere knarrende hölzerne Türe auf und wies Daniel das Wohnzimmer der Hausleute als dessen Nachtquartier zu. Sie selbst teilte mit zwei Studienkolleginnen ein schlichtes Zimmer, das direkt an Daniels höchst provisorisches Domizil angrenzte.

Erneut umarmte sie den Jungen:

„Danke für alles! Danke, dass Du bei mir bist. Das werde ich dir niemals vergessen!“

„Gute Nacht, Sylvia.“

Langsam entwand sich Daniel der Umarmung seines Traummädchens und strebte die paar wenigen Schritte seinem Quartier zu. Außer sich vor Glück und in der Gewissheit, das wohl erste Mal in seinem jungen Leben unsterblich verliebt zu sein, ließ er sich auf ein dort befindliches frisch bezogenes Sofa fallen. Mit dem Text des Carpenters – Titels „Only yesterday, when I was sad and I was lonely“ in den Ohren schlief Daniel ein.

*****

Sylvia blickte sorgenvoll auf ihre Armbanduhr.

Für einen neuen Freund fühlte sie sich nicht bereit, und Daniel war nicht Robert. Wie weit durfte sie gehen, was durfte sie zulassen?

Immerhin hatten sie beide recht kräftig dem Weißwein zugesprochen und sie, Sylvia, traute Daniel in Sachen Verhütung und ganz allgemein in sexueller Hinsicht nicht recht. Sie selbst hatte von dem Augenblick an, als sie von Robert im letzten Spätherbst verlassen worden war, die Pille nicht mehr genommen. Sie hatte diese ohnehin immer schlecht vertragen.

Obwohl sie schon einige Monate mit keinem Mann mehr intim gewesen war und sie durchaus Lust dazu zu verspüren vermeinte, empfand sie die heutige Situation als zu gefährlich.

Sylvia griff in ihre Handtasche und kramte geraume Zeit darin herum…

Nach einigem Suchen förderte sie den Tampon zu Tage, den sie trotz der Tatsache, dass sie zurzeit nicht unwohl war, immer zur Not dabei hatte. Diesen wollte sie verwenden. Vielleicht ließ sich so einiges verhindern.

„Na sag einmal! Wo hast du denn so lange gesteckt? Ich dachte mir schon, du bist vielleicht ins Klo gefallen.“

Daniel lachte hellauf, als er das Mädchen kommen sah.

„Komm, wir sollten austrinken und gehen. Die Wirtsleute sind schon etwas ungeduldig. Man will endlich schließen.“

„Ist ja gut, Daniel.“

Sylvia biss sich auf die Lippen. Sie hatte aus unklaren Gründen ein schlechtes Gewissen. Der junge Mann war in so guter Laune. Hatte sie ihm gar irgendwie unrecht getan? Wenn sie bloß wüsste, was sie wirklich von ihm wollte. Einen klaren Gedanken konnte sie im Moment ohnehin nicht mehr fassen.

„Aber eine Zigarette geht schon noch, oder?“

Sylvia warf der ungeduldig hinter der Theke hin und her wandernden Serviererin einen schüchtern fragenden Blick zu.

„Aber ja, Fräulein. Sie sind ja diesmal ausnahmsweise nicht die allerletzten Gäste hier.“

Die Kellnerin lächelte etwas gequält und wies auf einen anderen Tisch, auf welchem noch ein anderes Pärchen eng umschlungen und küssend saß.

„… könnte ohnehin noch länger dauern.“

Daniel und Sylvia hatten ausgetrunken.

Der junge Mann half dem Mädchen in ihren Pelzmantel und öffnete die Türe des Lokals.

„Auf Wiedersehen – schau doch, Sylvia, wie toll es schneit!“