Es-Dur - Reinhard Bicher - E-Book

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Reinhard Bicher

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Beschreibung

Mehr als ein Jahrzehnt ist seit dem Ende der TV-Serie "Everwood" vergangen. Das jähe Ende der Produktion hat zentrale Elemente teilweise halbherzig, teilweise überhaupt nicht mehr thematisiert. Reinhard Bicher greift die Thematik auf und führt die Schicksale der Figuren fort: Während Andy Brown, der weltberühmte Neurochirurg, nun in Chicago seiner Berufung nachgeht, ist sein Sohn Ephram mit Amy Abbott verheiratet und lehrt an der Universität in Denver. Delia Brown, die junge Lektorin für Judaistik, recherchiert in Europa in Zusammenhang mit den Konzentrationslagern des Dritten Reichs.Einzig Madison Kerner ist letztlich durch viele unglückliche Umstände in New York in das Rotlichtmilieu abgeglitten ...

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Seitenzahl: 394

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Es-Dur
Reinhard Bicher
Erschienen im novum pro Verlag
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und -auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
© 2010 novum publishing gmbh
ISBN Printausgabe:978-3-99003-010-3
ISBN e-book: 978-3-99003-686-0
Lektorat: Mag. Sandra Zoglauer
Gedruckt in der Europäischen Union auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem -Papier.
www.novumpro.com
AUSTRIA · GERMANY · HUNGARY · SPAIN · SWITZERLAND
Vorwort
Die Basis für diesen Roman bildet die US-TV-Familienserie „Everwood“, eine herausragende Produktion Greg Berlantis, eines der Mitautoren von „Dawson’s Creek“. Aber auch Anna Fricke, ebenfalls Mitautorin dieses Jugenddramas, zeichnet als maßgebliche Mitarbeiterin bzw. Regisseurin bei „Everwood“ verantwortlich.
Die Serie war im Original in den USA von 2002–2006, in deutschsprachiger Synchronisation von 2005–2007 erstmals zu sehen.
Etwa zwölf Jahre sind nach dem Ende der Fernsehserie vergangen. Die handelnden Charaktere haben sich weiterentwickelt, -leben in den USA verteilt, gehen ihren Beschäftigungen nach, führen ein ganz normales, weitgehend sorgenfreies Leben, bis an der Westküste ein läppischer Autounfall unter Drogeneinfluss eine ganze Lawine an Ereignissen und Problemen auslöst, die ganze Weltbilder zum Wanken bringen und die Beziehungen der einzelnen Personen zueinander empfindlich stören.
Die Lüge, die Unterlassung, das Verschweigen von wichtigen Informationen, aber auch zwei Kriminalfälle prägen das Geschehen.
Als eine zentrale Figur dieses Romans entpuppt sich Peter Walkley, jener uneheliche und im Säuglingsalter, nur wenige Tage alt, zur Adoption freigegebene Sohn des zu diesem Zeitpunkt knapp sechzehnjährigen Ephram Brown und Madison Kerners.
Schauplätze dieses Romans sind neben dem Gebirgsstädtchen Everwood, in dem die Familie Abbott selbst lebt, auch -Denver, Wohnort von Ephram und Amy Brown und deren Kindern, -Chicago, neue Heimat und Wirkungsstätte des Dr. Andrew Brown, New York als ungeliebte Heimat von Madison Kerner, San Francisco, Wohnort der Familie Walkley, und Los Angeles als Sitz des Drogentherapiezentrums der Brüder Hartman.
Delia Brown ist Judaistin und recherchiert gemeinsam mit ihrem Freund und Kollegen in Europa in Zusammenhang mit den unfassbaren Ereignissen in den Konzentrationslagern der Dritten Reichs.
Mit der Handlung verwoben sind als Ausblick in die Zukunft sozial – und gesundheitspolitische Themen, aber auch die verschiedensten möglichen wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklungen nach der großen Rezession.
Breiter Raum wird auch der Musik in all ihren Facetten und den damit zusammenhängenden Lehrberufungen gewidmet.
Es besteht keine Notwendigkeit, die Serie „Everwood“ zu kennen; der Roman ist davon unabhängig. Wirklich maßgebliche Informationen, die gewisse Zusammenhänge näher erklären, werden im Kontext in Form von Rückblenden oder in Dialogen gegeben.
1
Mit drei kräftigen Schlägen mahnte die große Uhr am Campus der Colorado A & M zum Ende dieser Lehreinheit. Unverzüglich machte sich Unruhe breit, die unbequemen Holzstühle knarrten und die Studenten ließen geräuschvoll ihre Lernunterlagen in die diversen Rucksäcke gleiten, welche überall auf dem glatt gebohnerten Fußboden herumstanden.
„Und? Alles kapiert?“
Ephram Brown warf einen letzten prüfenden Blick in die Runde seiner Studenten, die jedoch allesamt bereits abgeschaltet hatten und sich anderen, persönlichen Interessen widmeten. Der junge Lehrbeauftragte gab auf, wendete sich rasch um und zog den Stecker des neben ihm stehenden elektronisch gesteuerten Projektionsgerätes aus der Dose. Langsam verschwanden die dicken schwarzen Noten einer Es-Dur-Kadenz von der weißen Leinwand.
Ephram seufzte leise und blickte seinen Studenten nach, die nun nach und nach den kleinen Hörsaal verließen.
Auch der Lehrer packte seine Unterlagen zusammen und seine Miene verfinsterte sich. Prinzipiell hasste er den Kontrapunkt, verabscheute diese endlos langweilige Lehrveranstaltung und würde keineswegs mit seinen Studenten tauschen wollen.
Trotz aller Aversion gegen den staubtrockenen, der Mathematik und Logik gehorchenden Stoff hatte er sich aber bislang immer bemüht, sein Seminar so interessant, so spannend wie möglich zu gestalten, es mit einer Unzahl an Fallbeispielen aufzulockern und so den Studenten für Musik und Komposition diesen Themenbereich auf diese Art und Weise nahezubringen.
Der Not und der Notwendigkeit gehorchend hatte er sich zur Leitung dieser Lehrveranstaltung verpflichten müssen, er hätte sonst vom Dekan der Universität niemals die Aufbaugruppe zur Meisterklasse im Fach Klavier überantwortet bekommen. Ephram hatte zwar mittelfristig auch von der Leitung der Meisterklasse selbst geträumt, doch war dieser Lehrstuhl zurzeit besetzt und er selbst mit seinen gerade zweiunddreißig Jahren einfach noch viel zu jung dafür.
Doch was nicht war, könnte ja vielleicht irgendwann doch noch einmal werden. Sein diesbezüglicher Ehrgeiz hielt sich derzeit ziemlich in Grenzen; Frau und Familie hatten einfach Vorrang vor anderen überwertigen Ideen, die seine derzeitig so -stabile Lebenssituation gefährden könnten.
Er nahm die Brille ab, die ihm sein Augenarzt erst kürzlich verordnet hatte, was allerdings seiner Eitelkeit nicht gerade zuträglich war. Dieser gehorchend hatte er seine beginnende Sehschwäche der laufenden und intensiv notwendigen Arbeit am Bildschirm und dem umfangreichen alten und zum Teil sehr vergilbten Notenmaterial sowie den vielen Korrekturen -zugeschrieben. Er fuhr sich durch sein dichtes halblanges braunes Haar, trat ans Fenster und blickte auf den belebten Campus hinaus. Das lustige, lockere Treiben der Studentenschaft erhellte seine Stimmung. Er packte ein Bündel Unterlagen, verstaute es flott in seiner Aktentasche, eilte auf den Gang hinaus, schloss die Tür hinter sich ab, lief die Treppen hinunter und stieß das mächtige verglaste Tor auf, welches das ausladende Nebengebäude der Universität von den Grünanlagen des Campus trennte.
Ephram trabte die wenigen Schritte hin zum Parkplatz der Lehrkräfte, blickte auf die Uhr, blieb stehen, atmete tief durch und sog die Frühlingsluft in sich auf. Er griff in die Innentasche seines Jacketts und zog das Etui seiner Pfeife hervor. Vorsichtig entnahm er der anderen Tasche sein ledernes Tabaksbeutelchen, nahm ein Häufchen Tabak zwischen seine Finger, roch daran und ließ es zufrieden in das Pfeifeninnere rieseln. Penibel stopfte er nun das Rauchutensil, führte es zum Mund, entnahm seinem rechten Hosensack ein schweres, vergoldetes Feuerzeug, entzündete den duftenden Tabak und zog genussvoll.
„Nikki, Harry, beeilt euch! Dad wird bereits warten!“
Amy Brown-Abbott, die bildhübsche Dame, mahnte ihre beiden Kinder zur Eile, wollten sie doch Ephram von der Universität abholen, um von dort direkt zur Feier anlässlich des sechzigsten Geburtstags ihres Vaters nach Everwood zu fahren.
„Ja, Mum, wir sind ja gleich so weit …“
Sie bedachte ihren Erstgeborenen mit einem prüfenden Seitenblick, strich dem blonden Jungen das Haar ein wenig zurecht, zog an dessen buntem Wollpullover herum, betrachtete seine Hose in Hinblick auf Sauberkeit und richtete den einen Hemdkragen zurecht, der sich am Pulli verhängt hatte. Sie warf selbst einen flüchtigen Blick in den Wandspiegel des Garderobenraumes, zupfte ein wenig ihr eng anliegendes pastellfarbenes Frühlingskostüm zurecht und langte nach einer Jacke. In Everwood, in den Bergen, könnte es um diese Jahreszeit noch recht kalt sein.
„So, Mum, wir können losfahren!“
Aufgeregt sprang das brünette sechsjährige Mädchen im Schottenrock bei der Garderobentür herein und stieß unbeabsichtigt mit seinem größeren Bruder zusammen.
„Pass doch auf, du dumme Gans!“
Indigniert schüttelte der Achtjährige altklug den Kopf.
„Schluss jetzt!“
Der Mutter wurde es zu bunt …
Sie packte ihre beiden Kinder bei den Händen und zog sie auf den Flur hinaus.
„Harry, du nimmst die Reisetasche, Nikki, du nimmst meine Handtasche. Nein, warte …“
Amy entriss ihrer Tochter die weiße Ledertasche und durchsuchte sie nach den neuesten Familienfotos für ihre Eltern, aber auch nach den Autopapieren und dem Schlüssel. Im Normalfall hatte diese nämlich Ephram bei sich, da zumeist er den gemeinsamen Wagen für den Weg zur Universität, aber auch zu seinen vielen privaten Klavierschülern benützte.
Gottlob, alles war vorhanden …
Erneut drückte die resolute Frau mit den langen mittelblonden Haaren ihrer Tochter die Tasche in die Hand und warf dem Mädchen einen kurzen eigenartigen Blick zu.
Ja, nun brauchten sie nur mehr ein gemeinsames Auto, Ephram verdiente mehr als genug. Anfangs, als die Kinder klein waren, hatte sie noch einen gut bezahlten Job als Journalistin gehabt, die sich mit sozialpolitischen Fragen auseinandergesetzt hatte, wofür sie auch vier Jahre lang die einschlägigen Fächer studiert hatte. Für die Kinder hatte man sich gottlob nur stundenweise mit einem Kindermädchen behelfen müssen, zumal Amy ihrer Tätigkeit zum großen Teil zu Hause nachkommen hatte können. Bloß ein Mal in der Woche hatte sie ein paar Stunden wegmüssen, zur Redaktionsbesprechung, mit ihrem eigenen Wagen …
Mit dem Eintritt Harrys in die Schule hatten dann die Prob-leme begonnen. Der Junge war hochbegabt und immer unterfordert. Amy hatte ab nun keine Zeit und keine Nerven mehr für ihren Job gehabt, zumal die kleinere Tochter ja auch noch mehr als vorhanden gewesen war und verstärkt Zuwendung eingefordert hatte.
Ephram hatte sodann entschieden: Amy könne getrost ihren Job an den Nagel hängen und sich ganz den Kindern widmen, ihr kleiner Stadtflitzer werde veräußert …
„Was hast du, Mum? Du siehst mich so eigenartig an?“
„Ach gar nichts, Nikki!“
Amy zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht und trieb ihre zwei Sprösslinge liebevoll in den Vorgarten hinaus, sie sperrte die Haustüre zu, wandte sich noch einmal um und prüfte eingehend, ob denn ja alle Fenster ihres hübschen Hauses am Stadtrand von Denver geschlossen wären.
Alles schien in bester Ordnung zu sein. Die Rollläden waren heruntergelassen, die Blumen und Pflanzen des Gärtchens gegossen. Amy strich ihren Kindern zärtlich übers Haar … Einträchtig begab man sich zum Auto, stieg ein und fuhr los.
Auch in Chicago hatte der Frühling Einzug gehalten.
Ein angenehmes Lüftchen wehte von den großen Seen her und begleitete das Ehepaar Brown die Gangway hinauf. Galant bot Andy seiner attraktiven Gattin den Vortritt an, was Nina mit einem gewinnenden Lächeln quittierte.
„Oh, Dr. Brown, wie angenehm, Sie wieder einmal als Gast bei unserer Fluglinie zu haben! Wie die Zeit vergeht …, ist schon wieder ein halbes Jahr um …“
Die leitende Flugbegleiterin bemühte sich in ausgesuchten Worten um den bekannten Fluggast.
„Grüß Gott, Mrs. Brown, freut mich sehr!“
Das Ehepaar nickte unisono, dankte mit jenem freundlichen Lächeln, für das beide Ehepartner allerorts bekannt waren, und nahm auf ihren Sitzen Platz.
„Wirklich ungewöhnlich. Die Stewardess hat recht, die Monate rasen dahin.“
Nina blickte ihrem Angetrauten in die Augen.
„Ja …“
Andy hatte im Moment wenig Lust auf Small Talk mit seiner Frau. In Gedanken war er längst in Denver, beim Sohn, der Schwiegertochter und bei den Enkelkindern.
Und auch in Everwood, wo man in wenigen Stunden endlich wieder zusammenkommen würde …
Dankbar dachte Andy Brown an seinen alten, seinen besten Freund Harold Abbott und er freute sich bereits jetzt riesig auf dessen Geburtstagsfeier.
Nina schien Andys Gedanken zu erraten.
„Du freust dich wohl schon sehr auf die Kinder? Schade, dass Sam diesmal nicht mitkommen kann.“
„Ja, wirklich schade. Auch die Abbotts werden recht traurig sein. Andererseits – seien wir doch froh, dass unser Junge nun endlich einen ordentlichen Job bekommen hat.“
Nina nickte zustimmend; Andy hatte wohl recht.
Als man vor etwa zwölf Jahren Everwood den Rücken gekehrt hatte, war der ohnehin unruhige Knabe endgültig entwurzelt worden. Er hatte lange gebraucht, um sich in der fremden Umgebung einzugewöhnen und in der Schule durchzusetzen. Unermüdlich hatte Nina gepredigt, er möge Geduld haben und es werde schon alles ins rechte Lot kommen.
Sam jedoch hatte dafür keine Ohren gehabt. Ein Schulwechsel war dem anderen gefolgt …
Der auffällige, ein wenig verhaltensgestörte Junge war auch über die Pubertätszeit hinaus wild und unsozial geblieben; es war ein Wunder und nur der Tatkraft seiner Mutter und seinem Stiefvater zu verdanken, dass er in der diesbezüglich nicht ganz ungefährlichen Großstadt nicht in falsche Kreise geraten war, zumal er seine wenigen sozialen Kontakte großspurig und von Geld beherrscht zu knüpfen pflegte. Delias Einfluss fehlte, das stand außer Frage. Es war schlimm für den Jungen gewesen, als diese ihr Studium begonnen hatte, nun auch noch längerfristig im Ausland weilte und damit als ordnende Kraft nicht mehr zur Verfügung stand. Die Erbanlagen seines leiblichen Vaters, dessen latente und späterhin dominante Homophilie dürfte der junge Mann jedoch nicht mitbekommen haben …
Mit viel Kapitaleinsatz und noch größerem menschlichen Verständnis hatte Andy dem Stiefsohn immer wieder unter die Arme gegriffen, hatte versucht, die Bevormundungen, die Fehler, die er bei seinem eigenen Sohn oftmals begangen hatte, zu unterlassen.
Letzten Endes hatte der Junge nun doch mit Ach und Krach den Schulabschluss geschafft und war jetzt nach vielen kurzfristigen Versuchen als Sachbearbeiter in einer Versicherungsgesellschaft untergekommen.
Aber auch für Andy Brown selbst war es nicht leicht gewesen. Nicht nur der Abschied von seinem Sohn war ihm schwer gefallen; nach den vier so prägenden und positiven Jahren in Everwood, dem Provinzstädtchen, war die Rückkehr in die Großstadt, in das geregelte Krankenhausleben auch nicht ganz problemlos gewesen. Obzwar er selbst ja mit der Leitung des neurochirurgischen Instituts der Universität seine berufliche Zukunft krönend abgesichert hatte und er die früheren Erfolge samt chirurgischer Meisterschaft gleichsam mitgenommen hatte, fehlte ihm das kleinstädtisch Rückständische, aber doch Dankbare und schöpferisch Fordernde.
Es fehlten ihm einfach die Leute, die er in- und auswendig kannte, mit denen er mitfühlen, mitlachen und mitleiden, für die er sich völlig einsetzten hatte können. Und es fehlte ihm die Familie Abbott …
Wenigstens Delia, sein geliebtes, damals dreizehnjähriges Töchterchen war mitgezogen, hatte ihren positiven Einfluss auf Sam geltend gemacht, hatte in Chicago weit bessere Möglichkeiten gehabt, ihre jüdische Religion auszuleben, was ihr die Pubertätszeit enorm erleichtert und sich sehr positiv auf ihre Leistungen in der Highschool und auf das Studienziel, die Judaistik, ausgewirkt hatte.
Doch auch die Tochter hatte Everwood und den Bundesstaat Colorado nicht vergessen. Alle Möglichkeiten, in Chicago zu studieren, hatte sie über Bord geworfen, als ihr die Colorado A & M ein diesbezügliches Angebot unterbreitet hatte.
Andy war es recht – so waren zumindest die Geschwister wieder an einem Ort zusammen …
Natürlich hatte ihm auch die neue Lebenspartnerschaft mit Nina über all das hinweggeholfen. Von Anfang weg hatte Andy Brown sich bemüht, seine zweite Ehe ganz anders zu gestalten als seine erste mit Julia, was für ihn viel leichter als damals war, zumal seine Karriere auf dem Höhepunkt stand und die Steuerungsmechanismen bei ihm selbst lagen.
So beschränkte er sich operativ auf die schwierigsten und hoffnungslosesten Fälle und kümmerte sich verstärkt um die universitäre Ausbildung der Studenten, und der Erfolg gab ihm bislang recht. Bei Dr. Brown zu lernen erfüllte alle mit Stolz, Zufriedenheit und Ansporn.
Und längst gab es nicht mehr die unentwegten kritischen Blicke des früheren Schwiegervaters, der ihn wegen seines übergroßen fachlichen Ehrgeizes und des damit zusammenhängenden inakzeptablen und ignoranten Verhaltens gegenüber seiner Familie viele lange Jahre nicht hatte akzeptieren können …
Erst bei ihrem letzten Zusammentreffen, in Everwood vor bald fünfzehn Jahren, war es Andy gelungen, den kritischen Chirurgen von jener grundlegenden Wesensveränderung zu überzeugen, die er als frei praktizierender Allgemeinmediziner im Provinzstädtchen durchgemacht hatte.
So hatte er jetzt, im reifen Alter, für seine zweite Frau und seinen Stiefsohn das, was er lange Jahre für Julia, Ephram und Delia nicht gehabt hatte: Zeit.
Andy Brown blickte kurz zum Fenster hinaus, lehnte sich aber sofort wieder bequem in seinem Sitz zurück und betrachtete einige Augenblicke heimlich prüfend seine leider schon ein wenig ungelenkig werdenden Chirurgenhände. Der Fünfundsechzigjährige seufzte kurz auf. Ein wahres Glück, dass er mit kommendem Jahr seine chirurgische Tätigkeit gänzlich aufgeben und sich ganz der Lehrtätigkeit widmen werde können.
Und wieder schien Nina den Gedanken ihres Ehemannes auf die Schliche zu kommen. Liebevoll streichelte sie seine Rechte und schwieg.
Niemals hatte sie ihre Ehe mit Andy und den Umzug in die Großstadt bereut. Natürlich war die Eingewöhnungs-phase schwierig und mit den Problemen des eigenwilligen Sohnes durchwachsen gewesen. Doch hatte sie Chicago lieben gelernt und würde partout nicht mehr gänzlich nach Everwood zurückkehren wollen. In der Anfangszeit war Nina vorsichtig gewesen. Sie hatte mit den hochrangigen Akademikern der medizinischen Schulen keine Erfahrung gehabt, rundum hatte es ihr an der nötigen Allgemeinbildung und dem gesellschaftlichen Auftreten gefehlt. Ihr attraktives, gepflegtes Äußeres, ihre Bescheidenheit, aber auch ihre Warmherzigkeit hatten ihr jedoch viele Türen geöffnet und sie so manches Herz aus Andys Kollegenschaft im Sturm erobern lassen. Mit den Jahren war sie damit ein geachtetes Mitglied der höheren Gesellschaft Chicagos geworden, ohne aber ihre Wurzeln, ihren natürlichen Charakter preisgeben zu müssen.
Das Haus der Abbotts glich einem Bahnhof. Es herrschte ein stetiges Kommen und Gehen. Während sich Rose, die unumstrittene Chefin des Hauses, in der Küche ihren legendären Kochkünsten hingab, erschienen unentwegt Patienten ihres Mannes, um Geburtstagsgeschenke abzugeben. Bright stöhnte, war er doch gerade dabei, das Esszimmer dem Anlass gemäß zu dekorieren und das wertvolle Silberbesteck und das stilvolle Porzellan auf Hochglanz zu polieren. Es war für den Dreiunddreißigjährigen gar nicht so einfach sich diese Zeit quasi freizuschaufeln. -Seine Übernahme der Amtsgeschäfte als Bürgermeister des Städtchens war noch nicht allzu lange her, das Erbe war schwer und die Arbeit massiv ausufernd, hatte sich doch die Stadt seit Irv Harpers Bestsellerbuch gewaltig weiterentwickelt und war zu einem echten touristischen Zentrum geworden. In den zehn Jahren, in denen der junge Mann zuvor in der Stadtverwaltung gedient hatte, war Everwood das Maß aller Dinge in Colorado geworden, was Qualität und leichte Erreichbarkeit der vielen Skistationen betraf. Unermüdlich war an neuen, dem traumhaften Landschaftsbild entsprechenden hübschen Hotelanlagen und an einem adäquaten Straßennetz gebaut worden. Es war allerdings auch Bright Abbotts unermüdlichem Einsatz zu verdanken, dass der Charakter des Städtchens trotz aller Neuerungen prinzipiell gewahrt geblieben war. Letztlich war es auf geniale Weise gelungen, sanften und intensiven Tourismus miteinander zu verschmelzen und gleichsam miteinander in Ergänzung und Kooperation leben und sich entwickeln zu lassen.
„Wohin mit dem ganzen Zeug, Mum?“
Lautstark und entnervt rief Bright seine Mutter, die verdiente Altbürgermeisterin, zur Hilfe.
„.Wird schon noch irgendwo Platz sein! Bitte doch deine kleine Schwester um Hilfe.“
Bright resignierte; er platzierte die diversen Pakete einfach auf dem Sofa im Wohnzimmer, trat in den Flur und schritt aus dem Haus. Lilly, die zwölfjährige Nervensäge, war sicher auf ihrem Zimmer, hatte Kopfhörer auf und konsumierte hämmernde Sounds. Auf diese Hilfe könnte er getrost verzichten …
Er ließ seinen Blick über den Vorgarten seines Elternhauses schweifen, betrachtete die vielen blühenden Blumen, die seine Eltern so liebten und pflegten, da bog ein Taxi um die Ecke und hielt genau vor dem Haus.
Der junge Bürgermeister runzelte die Stirn. Wer mochte das bloß sein?
Die Festgäste erwartete man erst in ein paar Stunden.
Die hintere Türe des „Yellow Brick Road“ öffnete sich, Brights Miene erhellte sich, seine Augen begannen zu leuchten; er lief los und Sekunden später fiel Hannah in seine Arme.
„Ich wusste gar nicht, dass du kommst, dass du den weiten Weg von Minnesota hierher auf dich nimmst …“
Bright lachte übers ganze Gesicht, außer sich vor Freude und Überraschung kamen die Worte über seine Lippen.
„Na ja – ich kann doch den Sechziger deines Vaters nicht übergehen!“
„Mein Gott, komm doch rein! Wo ist dein Gepäck?“
„Hier …“
Hannah reichte ihrem alten Seelenfreund ihre Reisetasche; ihr langes braunes Haar wehte im Frühlingslüftchen.
„Mum und Dad werden sich riesig freuen …“
Bright nahm die hübsche junge Frau bei der Hand und geleitete sie in sein Elternhaus.
Die Session war vorbei …
Peter Walkley lag am Strand der San Francisco Bay und blickte zu den Sternen hinauf. Gierig zog er an seiner selbst gerollten Zigarette; ein süßlicher Duft verbreitete sich.
Der Sechzehnjährige schloss seine Augen und entspannte sich …
Noch vor wenigen Minuten hatten ihm scharenweise bildhübsche Mädchen exstatisch zugejubelt; seine Band hatte großartige Musik geliefert, hatte ihn und sein Keyboard optimal unterstützt.
Seine neuen Arrangements der legendären Songs der Achtundsechzigergeneration und sein meisterhaftes Keyboard-Spiel hatten wieder einmal eingeschlagen wie eine Bombe …
Wie so häufig war er jedoch unverzüglich vor dem Rummel geflüchtet. Genauso, wie er die Musik über alles liebte, so hasste er die jubelnden Horden an den Stränden.
Peter zog nochmals kräftig an seinem Glimmstängel und langte nach der halb vollen Tequilaflasche, die neben ihm im noch warmen Sand lag. Er öffnete den Schraubverschluss und tat einen guten Schluck.
Ein letzter Zug; fasziniert beobachtete der Junge das zierliche blaue Rauchfähnchen, das sich in die Luft hinaufzwirbelte und nach wenigen Sekunden wie ins Nichts zerstob.
Müdigkeit überkam Peter; die nahezu fertig gerauchte Zigarette fiel ihm aus der Hand; im Nu war er eingeschlafen …
„Hey, Peter, wach auf! Du solltest längst zu Hause sein! Du kennst doch deine Eltern, die dulden nicht, dass du unter der Woche so lange ausbleibst! Du weißt, die Schule …“
Douglas, der Bassist und die Vernunft seiner Band, trat zu dem Schlafenden, rüttelte ihn an den Schultern und nahm die Flasche mit dem alkoholischen Getränk an sich.
„Ist ja gut, du Quälgeist …“
Langsam setzte sich Peter auf, strich sich durch sein wirres blondes Haar und erhob sich. Er taumelte, doch Douglas stützte ihn.
„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass dein verdammter Mix absolute Scheiße ist! Hör auf damit, du machst dich selbst kaputt! Wir brauchen dich … und fahr bitte nicht mit dem Auto …“
„Halt den Mund und scher dich selbst nach Hause!“
Herrisch fuhr Peter seinen etwas älteren Freund und Musikerkollegen an und stieß den Wohlmeinenden zur Seite.
Diesem waren die Gewohnheiten und das Wesen seines Bandleaders in dessen eingeschränktem Zustand keineswegs fremd; nach so gut wie jeder Session passierte das.
Douglas machte gute Miene zum bösen Spiel. Er schwieg und beobachtete Peter aus der Distanz. Dieser schlich den breiten Sandstrand hinauf in Richtung Straße. Schemenhaft war das schicke Cabrio des Keyboarders auszumachen, das am Straßenrand abgestellt stand, und die helle Sternennacht ließ auch die Silhouette des schlanken mittelgroßen Jungen erkennen, der mühe-voll tastend den Griff der Fahrertüre suchte.
„Lass das, Peter!“
Douglas’ lautstarke Bemühungen fruchteten nichts. Die Autotüre knallte, der Anlasser sang, die Auspuffe röhrten. Mit quietschenden Reifen war das Cabrio binnen kürzester Zeit in der Dunkelheit verschwunden.
„Bitte nichts Perverses; du weißt, ich mag das nicht!“
Madison Kerners Stimme klang rau und resolut. Es waren immer die gleichen Stammkunden, welche die kleine Bar im New Yorker Rotlichtmilieu frequentierten. Betuchte Familienväter oder kleine affengeile Wichser – gelebtes Doppelleben, unterdrückte Bedürfnisse oder Flucht vor Frau und Kindern: Madison war das egal. Die blonde fünfunddreißigjährige Kellnerin war zu Diensten, doch nicht um jeden Preis.
Noch immer hatte sie ihre Grenzen …
Fünf Jahre war es nun her, dass sie ihr Bruder seines schicken Appartements in Village verwiesen hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihr Leben halbwegs stabil verlaufen. Ihre Geschicklichkeit und Durchsetzungsfähigkeit hatten sie beruflich bis in ein schickes Café auf der 7th Avenue gebracht. Doch dann war Sendepause gewesen; der Bruder hatte eine Frau kennengelernt, war alsbald vor der Eheschließung gestanden, womit der Platz in dessen Wohnung Schnee von gestern geworden war.
Madison war gezwungen gewesen, sich eine neue Bleibe zu suchen. Für die sündhaft teuren New Yorker Mieten hatte ihr Einkommen nicht ausgereicht und für eine feste Beziehung war sie nach wie vor nicht bereit gewesen. Ein neuerlicher Einstiegsversuch in die Musikszene war ebenso nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Zu hart, zu dominant war die Konkurrenz im Big Apple, zu fortgeschritten war ihr Alter, zu lange war sie der Szene ferngeblieben, hatte den Kontakt dazu verloren. Vieles hatte dem herrschenden Zeitgeist widersprochen, der Ära der Erholung, des Umdenkens nach der großen Rezession. So war es bald notwendig geworden, als Zubrot ihren Körper feilzubieten. Die Abwärtsspirale hatte sich zu drehen begonnen, schneller, immer schneller. Endstation: die kleine Bar mit dem schäbigen Separee in Queens …
„Warte, ich komme gleich …“
Die Prostituierte zog sich aus der kleinen Kemenate, einem abgetrennten Nebenraum der Bar, in das Gelass zurück, das man im Entferntesten als Bad und WC bezeichnen konnte. Der Geruch an diesem Ort war widerlich. Die blonde Frau hantierte an den verrosteten uralten Wasserhähnen. Zischend und blubbernd entleerte sich ein dünner eiskalter Wasserstrahl. Madison wusch ihr Gesicht und blickte auf in den winzigen Spiegel, der oberhalb des schmutzigen Waschbeckens montiert war.
Sie beließ es bei einem kurzen Blick.
Tiefe Spuren hatte ihr Lebenswandel hinterlassen. Das früher so hübsche und attraktive als Musikerin und Sängerin so begabte Mädchen sah sich nun als alterndes verbrauchtes Flittchen. Nur mehr wenig erinnerte noch an ihre frühere Schönheit und an ihren Esprit.
Madison wollte weinen, doch es gelang nicht; keine Träne war mehr übrig, die tiefen Tränensäcke waren ebenso ausgetrocknet wie ihre Seele. So blieb es bei einem leisen Klagelaut …
Oftmals dachte sie gerade in diesen Augenblicken der tiefsten Verzweiflung an Ephram, die kurze und große Liebe ihres jungen Lebens, den Menschen, den sie als zwanzigjähriges Kindermädchen im Hause Brown mit seinen sechzehn Jahren zum Manne gemacht hatte, von dem sie schwanger geworden war und dessen Kind, den kleinen Sohn, sie ohne sein Wissen und Einverständnis unmittelbar nach der Geburt zur Adoption freigegeben hatte.
Durch Zufall waren sich die beiden später einmal in New York begegnet und die traurige Angelegenheit war zur Sprache gekommen.
Letzten Endes hatte ihr Ephram verziehen, doch was half es … Ihr Leben war verpfuscht und sie wusste nicht, wen sie mehr hasste, sich selbst oder Andy Brown, der ihr nahe gelegt hatte, Everwood zu verlassen und über die ganze Sache Ephram gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Er hatte auch angeboten, im Bedarfsfall finanziell für sein Enkelkind aufzukommen, was sie jedoch abgelehnt hatte, weil sie den Säugling zur Adoption freigeben hatte wollen.
„Wann geht unser Zug nach Wien?“
Nervös blickte Delia Brown auf ihre Armbanduhr.
„In gut einer Stunde; wir haben noch Zeit …“
„Schön.“
Dankbar sah die brünette Judaistin ihrem Kollegen und Freund in die Augen. Ihre Feldrecherchen in Mauthausen hatten mehr Zeit als gedacht gekostet und es war von dringender Notwendigkeit, heute noch in die angeforderten Dokumente an der Österreichischen Nationalbibliothek Einsicht zu nehmen, Unterlagen zum Holocaust, die ein Normalsterblicher kaum zu Gesicht bekommt.
Delia schloss ihr Notebook, nahm ihre Brillen ab und rieb sich die Augen. Sie trat ans Fenster des Studienraumes und blickte schweigend und nachdenklich auf die Baracken hinaus.
Ein halbes Jahr war es nun her, dass ihr, der jungen Lehrbeauftragten, die Colorado A & M den Auslandsdispens gewährt hatte und sie zusätzlich auch noch finanziell unterstützte. Der Universität schien offenbar ihre geplante Publikation sehr wichtig zu sein. Dementsprechend legte sich die kluge und fleißige junge Frau mächtig ins Zeug. So ziemlich alle Konzentrationslager in Europa hatte sie besucht, hatte in Auschwitz das Fürchten gelernt, geistig das Grauen einer Zeit durchlebt, von der nun kaum jemand mehr aktiv oder auch bei Sinnen am Leben war – die Sechsundzwanzigjährige war also angewiesen auf schriftliches Material und fotografische Dokumentationen.
Delia war mit Leib und Seele Jüdin. Dankbar dachte sie an ihre schon so lange verstorbene Mutter, die ihr von ihrem Glauben so viel mit auf den Lebensweg gegeben hatte, und ebenso dankbar war sie letztlich dem Vater, dem grundsätzlich christlich Erzogenen, der im Gedenken an seine jüdische Frau die ihm fremde Religiosität und Lebensweise der Tochter immer unterstützt und auch gefördert hatte.
Die junge Frau musste schmunzeln …
Der Gedanke an die organisatorischen Fähigkeiten ihres Vaters in Zusammenhang mit ihrer so heiß ersehnten Bat Mizwah verscheuchte kurzfristig die Kälte und das Grauen des Ortes, doch mit den Nebelfetzen, die von der Donau herbeizogen, war auch dieses kurze stimmungsmäßig positive Intermezzo recht rasch vorbei.
„Komm, Daniel, wir sollten uns Richtung Bahnhof begeben.“
Delia wandte sich vom Fenster ab und warf dem jungen Kollegen einen auffordernden Blick zu.
„Ja.“
Die braunhaarige Frau bemerkte den niedergeschlagenen Tonfall in der Stimme des befreundeten Kollegen.
„Na komm; wird schon nicht so schlimm …“
Daniel nickte, packte beider Laptops in die Reisetasche, verschloss sie sorgsam und nahm Delia bei der Hand. Gemeinsam verließen sie die Stätte.
„Louise! Nimmt denn das heute kein Ende? Louise!
Dr. Harold Abbott war der Verzweiflung nahe. Gerade heute, an seinem Ehrentag, an dem man doch Gäste aus nah und fern erwartete, beliebten Heerscharen von Patienten auf die verschiedensten Arten, jedoch alle urplötzlich, erkrankt zu sein. Nervös nestelte er an seiner Krawatte und an den Knöpfen seines langen weißen Arztmantels herum.
„Nur noch vier sitzen im Wartezimmer.“
Die alternde, langjährige Ordinationshilfe des ärztlichen Faktotums von Everwood versuchte einen Blick des Genervten zu erhaschen. Doch dieser hatte keinen Blick für sie mehr übrig.
Louise schwieg; zu gut kannte sie ihren Chef; zu viel hatten die beiden die Jahrzehnte über gemeinsam erlebt.
„Na schön, schicken Sie den Nächsten herein!“
Harold Abbott schnaubte hörbar und versuchte mit aller Kraft, einen Anflug an Freundlichkeit in sein Gesicht zu zaubern. Gegen seine sonstigen Gepflogenheiten als gewissenhafter Arzt war ihm im Moment so ziemlich alles gleichgültig. Die paar winzigen Wehwehchen, die da noch auf ihn warten mochten, hätten ja wohl bis nach dem bevorstehenden Wochenende Zeit gehabt.
Eine Sekunde lang dachte Harold an Andy Brown, wünschte sich, wie schon so oft in den vergangenen Jahren, der Freund und Kollege wäre hier an seiner Seite, doch mit dem Eintreffen des angekündigten Patienten an seiner Ordinationstüre verflog auch schon der tröstende Gedanke; die einsame Realität hatte den verdienten Mediziner eingeholt.
„Auf Wiedersehen; schönes und erholsames Wochenende …“
Süffisant kamen Harold die Worte über die Lippen; er stöhnte auf und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
Tatsächlich hatte nun der letzte Patient seine Praxis verlassen.
Louise steckte den Kopf zur Türe herein …
„Es ist alles fertig, Herr Doktor …, ich gehe jetzt. Ein wunderschönes Fest wünsche ich … und von mir natürlich auch die besten Wünsche. Und liebe Grüße an Herrn Dr. Brown!“
„Ja, danke, Louise.“
Einige Sekunden vergangen; es wurde still …
Dr. Abbott blickte auf und sah seine Ordinationshilfe bei der Türe hinaushuschen. Einen Augenblick bereute es Harold Abbott, gegenüber seiner Vertrauten so kurz angebunden gewesen zu sein.
Letztlich beließ er es bei einer abschätzigen Handbewegung. Er erhob sich von seinem Stuhl, schritt durch das Ordinationszimmer hin zum Anmeldeschalter, überzeugte sich flüchtig von der dort herrschenden Ordnung, entledigte sich der Arbeitskleidung, zog stattdessen sein bunt kariertes Sakko aus feinstem englischen Stoff an, eilte auf die Straße und sperrte die Eingangstür hinter sich zu.
Ein paar Augenblicke lang hielt er inne, prüfte mit der Rechten den ordnungsgemäßen Sitz des Knotens seiner Krawatte, knüpfte den mittleren Knopf seines Sakkos zu und warf einen Blick auf die andere Straßenseite hin zu seiner alten Wirkungsstätte. Längst hatte wieder ein anderer Arzt die Räumlichkeiten gemietet. Die kontinuierlich steigende Bevölkerung hatte dazu geführt, dass sich zusätzlich auch noch im Bereich der Hotelanlagen eine Praxis mit einem weiteren Allgemeinmediziner hatte etablieren können.
Harold war das mehr als recht. Er hatte seinen treuen Patientenstock – das reichte durchaus aus; nur, mehr Kollegen sollten es letztlich nicht werden, die der Bevölkerung und den Gästen ihre ärztlichen Dienste anböten.
Der Jubilar richtete sich zu voller Körpergröße auf, marschierte die paar wenigen Schritte zu seinem Auto, hob, die Passanten grüßend, die Hand und stieg ein. Beim Schließen der Autotüre hielt er abermals inne. Immer noch – nach nunmehr zwölf Jahren – vermisste er die Gemeinschaft mit Andy Brown, die flachsigen Gespräche, die tiefen Dialoge, die bemerkenswerte Freundschaft. Und er vermisste immer noch den Wagen des letzten Endes so wertgeschätzten Kollegen, der prinzipiell an unpassender Stelle ganz knapp neben seinem eigenen Automobil geparkt gestanden hatte.
Ein mildes Lächeln breitete sich über Dr. Abbotts Gesicht; er startete sein Fahrzeug; eilig fuhr er Richtung nach Hause.
Keine fünfhundert Meter war er gefahren, da machte ein anderes Auto kraftvoll hupend auf sich aufmerksam.
Verärgert blickte Harold in den Rückspiegel; er war sich keiner Übertretung der Verkehrsregeln bewusst …
Unverzüglich wandelte sich seine Mimik und ein breites Lächeln begann seinen Mund zu umspielen. Amy, Harry und Nikki winkten wie wild und Ephram grinste, die unvermeidliche Pfeife im Mundwinkel, hinter dem Steuer hervor.
Gemeinsam fuhr man die letzten paar Minuten bis zum -Hause der Abbotts.
Sekunden später lag man einander in den Armen; Rose eilte aus dem Haus heraus und auch Bright und Hannah …
Die Freude des Jubilars war riesig …
Ephram, Amy und die Kinder – die sah man ja doch öfters; Denver war ja nicht weit und die Enkelkinder kamen immer gerne einige Tage zu Besuch nach Everwood. Aber Hannah, die langjährige Freundin Amys und vor allem Brights, die kam wirklich nur alle heiligen Zeiten. Der Weg von Minnesota hierher war weit, die Mutter nach dem langsamen und schrecklichen Tod des Vaters an der Huntington-Krankheit auch nach über zehn Jahren noch ein seelisches Wrack, das umsorgt werden musste und häufig unkontrolliert auszurasten pflegte, und der Job als Psychologin forderte ihre ganze Aufmerksamkeit.
Trotz seines ambivalenten Verhältnisses zu den Vertretern der psychologischen Fachrichtungen war Hannah für Harold Abbott immer ein zur engsten Familie gehörendes Wesen geblieben.
„Freut mich wirklich ganz besonders, dass du gekommen bist, Hannah; damit habe ich wirklich nicht gerechnet!“
„Ist mir eine große Freude, Dr. Abbott!“
Höflich bot der Hausherr dem überraschenden Gast einen bequemen Platz an und setzte sich zu ihr. Und auch Bright und Amy ließen nicht lange auf sich warten. Zu vieles an Neuigkeiten war auszutauschen, zu viele Geschichten aus vergangenen Zeiten hervorzukramen.
„Wo steckt eigentlich unsere Lilly?“
Harold war verwundert, war doch das quirlige Ding immer in der Nähe, wenn etwas los war.
„Die wird auf ihrem Zimmer sein, Dad! Lass sie einstweilen, ich hole sie später. So quatscht sie uns zumindest ein paar Minuten nicht ununterbrochen drein.“
Bright wohnte zwar längst nicht mehr zu Hause; so richtig gewöhnt hatte er sich an das so unverhofft bekommene Schwesterchen jedoch nie. Sicher hatte er verstanden, warum seine Eltern unbedingt das Findelkind aufnehmen hatten wollen. Er hatte die Beweggründe seines Vaters, seiner Patientin, der verzweifelten leiblichen Mutter, zu helfen, verstanden und er hatte es der tiefen Menschlichkeit seiner Mutter zugeschrieben, dass diese Zeit und Wohlstand einem Menschlein hatte zukommen lassen wollen, das schon von der Wiege weg bei Gott nicht vom Glück gesegnet gewesen war.
Seine Pflichten als Bruder hatte er allerdings bei Amy absolviert, das sollte in seinen Augen wohl reichen.
Ephram hatte sich mit seinen Kindern zu Rose in die Küche gesellt; das lautstarke Geschnatter im Wohnzimmer ging ihm auf die Nerven. Da war es wohltuender, der Schwiegermutter beim Kochen und beim Herrichten der Schüsseln und Platten Gesellschaft zu leisten und hilfreich beizustehen.
Rose mochte Ephram sehr, hatte das immer schon getan. Er war der Schwiegersohn, den sie sich immer erträumt hatte. Er machte die Tochter glücklich, war seinen Kindern ein guter Vater und er war immer da, wenn Not am Mann war.
Das einzig Trennende waren die unterschiedlichen Interessen. Ephram hatte mit ihrer Leidenschaft, der Kunstgeschichte, nichts am Hut. Umgekehrt hatte sie wenig Bezug zur Musik. Diese Unterschiede waren vorhanden, das musste man zur Kenntnis nehmen. Trotzdem bemühte man sich um die Neigungen des jeweils anderen und profitierte letzten Endes durchaus davon.
„Schwiegermum, wo stecken eigentlich mein Dad und Nina?“
Nicht dass Ephram besorgt wäre, den beiden würde schon nichts passieren, doch die Tatsache, dass man sich bloß zweimal im Jahr zu Gesicht bekam, und das bei den Abbotts zu Thanksgiving und zu Harolds Geburtstag, das war Ephram längerfristig einfach zu wenig. Oftmals hätte man den ehemals so verhassten, letztlich aber nun doch geliebten Vater gebraucht, dessen Rat und dessen Lebenserfahrung. Natürlich gab es die Telekommunikation, die aber ein persönliches Gespräch niemals ersetzen könnte. Und er wusste auch von Amy, wie sehr sie Andy Brown verehrte und lieb gewonnen hatte.
Vielleicht würden sich zu diesem Anlass einige brauchbare neue Ansätze ergeben …
Die Unterhaltung im Wohnzimmer wurde immer lauter. Unterstützt von einigen Gläschen Scotch wurde Harold Abbotts Laune immer besser. Sein sonores Lachen tönte durch das ganze Haus.
„Entschuldigt die Störung …“
Die Wohnzimmertüre hatte sich geöffnet und kräftigen Schritts wie eh und je marschierte Andy Brown herein, ein breites Grinsen um die Lippen, wie immer hier in Everwood in Flanellhemd, blauen Jeans, mit wehenden weißen Haaren und ebensolchem Bart.
Die Unterhaltung verstummte, Harold sprang auf und schüttelte dem Freund minutenlang die Hand, Amy fiel dem Schwiegervater um den Hals und Hannah und Bright freuten sich nicht minder, den so hoch geschätzten und berühmten Neurochirurgen wiederzusehen.
Erneut stieg der Lärmpegel im Wohnzimmer …
Ephram nutzte die Gelegenheit und huschte ungesehen und ungehört bei der Flügeltüre herein. Er trat hinter den heftig gestikulierenden Vater und tupfte ihm auf die Schulter.
„Hi Dad!“
Ruckartig wendete dieser sich um …
„Ephram …!“
Peter sollte längst zu Hause sein; besorgt saß das Ehepaar Walkley auf der Veranda seines Hauses. Beide Ehepartner wussten um die Neigungen, die Musikalität ihres Sohnes; sie wussten aber auch um dessen Labilität.
Man bewohnte eine höchst komfortable Liegenschaft in Marion County, einem sündteuren Pflaster in einem Vorort San Franciscos. Die Familie, allen voran Mr. Walkley, der Banker, Investor, Erbe hochwertiger Weingüter im Staate Kalifornien, konnte sich das leisten.
Nervös nestelte Mrs. Walkley an ihrer schweren Goldkette herum. Sie hätte doch nicht unbedingt darauf bestehen sollen, dass der Junge unverzüglich nach seinem sechzehnten Geburtstag und nach mühevoll und mit ziemlicher finanzieller Unterstützung bestandener Führerscheinprüfung das schicke kleine -Cabrio geschenkt bekommen solle. Jedes Mal, wenn er nun damit unterwegs war, zu seinen Strandpartys fuhr und dort mit seiner Band musizierte, hatte die Mutter ein mulmiges Gefühl in der Magengrube.
„Was sollen wir bloß tun, Arthur? So kann es nicht weitergehen. Du musst endlich ein Machtwort mit Peter sprechen. Ich halte diese ewige Anspannung einfach nicht mehr aus.“
Eve Walkley richtete sich in ihrem Stuhl auf und blickte ihrem Ehemann angstvoll in die Augen.
Dabei hatte alles so hoffnungsfroh und problemlos begonnen …
Wie hatte man sich doch vor knapp sechzehn Jahren gefreut, als das Ansuchen, der Antrag auf Adoption, nach so vielen bürokratischen Hürden und endlosen Gesprächen mit den Behörden der Wohlfahrt endlich positiv beschieden worden war. Schnurstracks war das kinderlose Ehepaar nach Denver gereist, hatte den Säugling direkt aus dem Krankenhaus abgeholt, hatte die leibliche Mutter kennengelernt …
Behütet und umsorgt war der Junge herangewachsen und bald schon hatte sich seine unglaubliche Musikalität herauskristal-lisiert. Man hatte den Jungen gefördert, ihm nach Gutdünken den bestmöglichen Musikunterricht angedeihen lassen; man -hatte sogar akzeptiert, dass angesichts seiner besonderen Fähigkeiten die allgemeine Schulausbildung ein wenig zu kurz gekommen war; man hatte eine ganze Reihe schlechter Noten akzeptiert. Und wie in solchen Situationen üblich war der Vater mit der gut gefüllten Brieftasche eingesprungen und hatte jede Menge Nachhilfeunterricht über die Sommermonate und diverse außerschu-lische Sommerkurse bezahlt.
Und dann war Douglas, der Bassist, in Peters Leben getreten, zwei Jahre älter als er selbst und ein ebenso begnadeter Musiker. Schlagartig hatte sich das Leben des Jungen verändert. In der Schule wusste man naturgemäß auch über dessen Musikalität Bescheid und so war recht rasch die Band geboren, die sich ebenso rasch hin zu einer gewissen Professionalität entwickelt hatte.
Die Pubertät hatte den Jungen nun voll in den Griff bekommen; es zählten nur mehr die Musik und die wilden, die exzes-siven Partys an den Stränden.
Immer wieder hatte Arthur Walkley geduldig versucht auf seinen Sohn Einfluss zu nehmen, ihn ein wenig zu leiten, auf die rich-tigen Bahnen zu führen, doch er scheiterte, musste scheitern. Ihm war Musikalität fremd, er war Geschäftsmann, war immer dahin gehend erzogen worden, penibel, aufrecht, verantwortungsvoll zu sein. Eve war Peter immer eine gute Mutter, vielleicht ein wenig haus-backen, aber doch mit dem gleichen Verantwortungsgefühl agierend, wie es Arthur im Geschäftsleben tat. Doch auch ihr fehlte letztlich der Sinn für Kunst und damit auch das tiefe Verständnis für die Höhenflüge, aber auch für die naturgemäß daraus resultierenden Tiefschläge und Probleme eines so sen-siblen Hochbegabten.
Peter war kein Mensch von vielen Worten; oftmals zog er sich tagelang hinter sein E-Piano oder seinen Synthesizer zurück, komponierte, arrangierte wortlos, konzentriert, unansprechbar, die Schule vernachlässigend …
Anfangs hatte den Eltern dieses Verhalten Rätsel aufgegeben, späterhin hatten sie es ein wenig zähneknirschend zur Kenntnis genommen.
War es aus übergroßer Weichherzigkeit, war es aus Angst vor der Auseinandersetzung oder war es gar Feigheit, den sich entwickelnden Tatsachen nicht ins Auge sehen zu wollen – der Junge bekam die Freiheiten, die er sich herausnahm. Nur an den Schultagen, während der Woche, da hatte der Junge rechtzeitig zu Hause zu sein. Das hatte man sich jedenfalls ausbedungen.
Doch auch diese Vereinbarung hatte vor Kurzem zu bröckeln begonnen, war aufgeweicht und hatte letzten Endes zu genau jener Situation geführt, vor der sich das Ehepaar Walkley nun wiederfand: im endlosen, zermürbenden Warten …
Madison erwachte; einige Augenblicke später erhob sie sich und trat ans Fenster. Sie schob die Vorhänge zur Seite und warf einen verächtlichen Blick hinunter auf das eintönige Grau eines Hinterhofes. Die blonde Mittdreißigerin wandte sich um, betrachtete einige Sekunden ihr zerwühltes Bett, beließ es in diesem Zustand und tappte in die winzige Küche, die nur durch eine Falttür aus buntem Kunststoff vom Wohnschlafzimmer getrennt war. Sie stellte Kaffee zu und begab sich auf den Gang hinaus, wo die WC-Anlagen befindlich waren. Jetzt im Frühjahr, zur warmen Jahreszeit, empfand sie diesen Zustand als nicht sonderlich störend. Im Winter jedoch, wenn dann die Kälte durch Mark und Bein drang, verfluchte sie ihn oftmals, zumal sich die unangenehmen Auswirkungen in rinnender Nase und quälendem Husten niederschlugen, die ihrerseits für ihr Gewerbe nicht wirklich dienlich waren.
In die Küche zurückgekehrt zündete sie sich eine Zigarette an, setzte sich auf einen Schemel, der neben dem kleinen zweiflammigen Herd stand, und ließ den gestrigen Abend vor ihrem geistigen Auge vorbeistreichen. Die Freier waren gekommen und gegangen, alles Stammkunden; zu guter Letzt war sie in der Bar gelandet, wo in der Zwischenzeit der Chef selbst Dienst versehen hatte. Sie hatte ihre Honorare abgeliefert, ihre Anteile und die Trinkgelder des ganzen Tages entgegengenommen und mit einigen übrig gebliebenen Stammgästen den einen oder anderen Drink gekippt. Dann jedoch hatte irgendwann ihr Bewusstsein ausgesetzt; Madison wusste nicht mehr recht, wann und wie sie nach Hause gekommen war.
Ihre bohrenden Kopfschmerzen und ihr getrübter Blick waren jedoch deutliche Indizien dafür, dass es offenbar recht spät und der eine oder andere Drink zu viel gewesen war.
So ging das schon seit Längerem …
Der frisch verheiratete Bruder hatte längst schon keine Zeit mehr, wollte keine aufbringen, er kümmerte sich einfach nicht um sie, lehnte sie und ihren Lebenswandel grundlegend ab. Mit ihrem Auszug aus der Wohnung des Bruders hatte sich eine Spirale zu drehen begonnen, die sie immer weiter ins Chaos, in die Gosse, in die totale Isolation trieb und aus der sie kaum mehr ein Entrinnen zu erhoffen hatte, denn nun hatte sie tatsächlich niemanden mehr, der sich um sie scherte. Außer ihrem Chef, einigen Stammkunden und Freiern ging sie niemandem ab. Und sie hatte auch niemanden, mit dem sie ihre Probleme, die Unbillen ihres unwürdigen Lebens hätte teilen, niemanden, mit dem sie ernsthaft hätte sprechen, sich ernsthaft hätte auseinandersetzen können. Alles musste sie mit sich selbst ausmachen.
Madison füllte ihre Tasse mit dampfendem Kaffee und drückte die Zigarette in einem kleinen metallenen Aschenbecher aus, der neben dem Herd auf einer zerkratzten und fettig glänzenden Holzablage stand.
Sie griff zu einem Taschentuch und putzte sich die Nase.
Erneut warf sie einen Blick in den finsteren Hinterhof hi-nunter, den niemals auch nur ein Sonnenstrahl erreichen konnte, auf die schmutzigen Abfallkübel, die erbärmlich stanken, und auf den Unrat, auf die alten kaputten Möbelteile, die im finstersten Winkel des Hofes abgestellt, nein achtlos hingeworfen worden waren; eine Metapher für ihr ganzes Leben.
Sie drehte sich um, trank die Neige ihrer Tasse aus und spülte das Gefäß aus. Madison entledigte sich ihres Nachthemdes, schob den zerschlissenen Duschvorhang zur Seite, der die Duschwanne zur Küche hin abschirmte, und hantierte an den Armaturen herum. Wieder einmal kam nur kaltes Wasser aus dem verkalkten Duschkopf. Der Durchlauferhitzer war wieder einmal gestört. Seufzend wendete sie sich dem Gerät zu, nahm einen Kochlöffel und schlug kräftig auf eine ganz bestimmte Stelle ein. Das Ding gab einen Knacks von sich und sprang an.
Zufrieden wendete sich die Frau um und streifte mit einem Seitenblick ein gegenüberliegendes Fenster, dessen Gardinen sich augenblicklich zuzogen. Madison bedeckte ihre Blöße mit einem Tuch und öffnete für einen Augenblick das Fenster:
„Verdammter Spanner!“
Verärgert knallte sie es wieder zu und verschwand hinter dem Duschvorhang.
Immer wieder kam das vor; immer wieder saßen die Beschäftigungslosen oder Tagediebe mit Feldstechern bewaffnet in ihren verdunkelten Zimmern, beobachteten sie und geiferten nach ihr.
Warum sollte es gerade heute anders sein?
Ein Tag wie jeder andere lag vor ihr …
Wie immer bei solchen Anlässen, bei ihren Besuchen im bunten Gebirgsstädtchen, spazierten Ephram und Amy durch Everwoods Straßen und Gassen, inspizierten die Neuigkeiten und sammelten geistig ihnen negativ erscheinende Entwicklungen, um später Bright, den Bürgermeister, spaßeshalber heftig kritisieren zu können.
Im Hochgefühl des gestrigen Abends, des wundervollen und allseits mehr als zufriedenstellenden Geburtstagsfestes schritten sie Händchen haltend dahin wie ein frisch verliebtes Pärchen. Die Kinder hatte man bei den Großeltern gelassen; besonders Großvater Brown hatte darum gebeten, sah er doch seine Enkelkinder wahrlich nur höchst selten.
Einzig die beruflich bedingte Absenz von Delia hatte die Stimmung ein wenig getrübt. Besonders Andy Brown hätte seine Tochter so gerne wiedergesehen. Allerdings hatte man natürlich großes Verständnis; solch eine Chance bekam man ja nicht täglich, vielmehr überwog letztlich der Stolz auf die steile Karriere der jungen Frau und alle warteten schon sehnsüchtig auf die Ergebnisse ihrer Recherchen im fernen Europa.
„Erinnerst du dich noch an unsere Hochzeit, Ephram?“
Amy blickte ihren Ehemann aus ihren bemerkenswert -braunen Augen an.
„Natürlich.“
Ihre Hochzeit hatte selbstverständlich in Everwood stattgefunden, obwohl sie beide schon während ihres Studiums gemeinsam in Denver sesshaft geworden waren. Amy hatte sich jedoch diesen Ort, ihr Heimatstädtchen, für ihren großen Tag nicht nehmen lassen und auch Ephram war einverstanden gewesen.
Zu viele gemeinsame Erinnerungen verbanden sie mit diesen Stätten.
Feierlich war sie gewesen, die Eheschließung vor bald neun Jahren, eine Traumhochzeit schlechthin, zum optimalen Zeitpunkt, kurz nach Beendigung ihrer beider Studien.
Für Everwood war es ein Fest der absoluten Superlative gewesen, was auch nicht verwunderlich war, hatte doch die wunderhübsche Tochter des alteingesessenen Arztes mit dem so hochbegabten Sohn des berühmten und allseits beliebten und geschätzten Dr. Brown, dessen Umzug nach Chicago der Bevölkerung noch immer mehr als leidgetan hatte, den Bund fürs Leben geschlossen.
Tagelang waren die Väter zusammengesessen und hatten geplant. Und auch Großmutter Edna war noch mit von der Partie gewesen, hatte auf ihre manchmal recht seltsame und resolute Art das Ihre dazu beigetragen, um diesen Tag für beide, Amy wie Ephram unvergesslich werden zu lassen.
Harrys Geburt, die Geburt des erstgeborenen Urenkels, und dessen Säuglingsalter hatte sie noch aktiv, umsorgt von der Familie im Hause der Abbotts, miterlebt; dann war sie plötzlich und unerwartet gestorben, ohne dass der Sohn noch hätte ärztlich einschreiten können. Eines Nachts war sie eingeschlafen, nie mehr erwacht und somit ihren beiden Ehemännern in die Ewigkeit nachgefolgt.
Irv Harper, ihr zweiter Gatte, war allgegenwärtig in Everwood.
Sein Bestsellerbuch war seit seinem Erscheinen ein Markenzeichen des Gebirgsstädtchens, dessen Werbewirksamkeit über die vielen Jahre hinweg unbezahlbar geworden war. Überall, in allen Schaufenstern und Informationsvitrinen, waren Werk wie Konterfei des farbigen und im traditionalistischen Kleinstädtchen zu Lebzeiten nicht unumstrittenen Verfassers zu sehen.
Ein Mal jährlich, zu seinem Geburtstag, ehrte man ihn nun schon einige Jahre als einen ganz Großen Everwoods mit Gottesdienst und kleinem Volksfest, dessen Startschuss immer von Harold Abbott mit der historischen Flinte abgegeben wurde.
Wie auch die vielen anderen Feste des Städtchens war auch dieses recht rasch zu einer richtigen Tradition geworden. Man war einhellig dazu gestanden und hatte alsbald mit einer touristischen Vermarktung begonnen, fanden doch die oftmals seltsam und bizarr anmutenden Bräuche und Sitten des Ortes zunehmend Anklang bei den vielen Sommer- und Wintersportbegeisterten, waren sie doch für viele ein willkommener und oft heiterer Ausgleich zu den sportlichen Aktivitäten.
Amy und Ephram hatten ihren Rundgang beendet und kehrten zum Haus der Abbotts zurück.
Im Garten saßen Harold Abbott und Andy Brown und ließen sich die Frühlingssonne ins Gesicht scheinen.
Ephram beschleunigte seine Schritte, doch Amy zog ihn am Hemdsärmel zurück.
„Komisch, dass sich Tante Linda nicht gerührt hat. Nicht einmal ein Glückwunschschreiben hat sie geschickt. Es scheint, dass sie uns alle vergessen hat.“
„Ja, finde ich auch eigenartig; aber du kennst sie ja, den unruhigen Geist …“
Sanft riss sich Ephram los und warf seiner Frau einen aufmunternden Seitenblick zu.
„Hoffentlich geht es ihr gut. Eigenartig, dass dein Dad sich gar nichts anmerken hat lassen. In seinem Innersten ist er sicher sehr traurig und enttäuscht.“
„Wahrscheinlich … Es wird allerdings am besten sein, du sagst nichts, Amy. Weck keine schlafenden Löwen!“
Die blonde Frau nickte …
„Hallo, ihr zwei! Setzt euch doch zu uns und leistet uns Gesellschaft!“
Freudig hob Andy seine Rechte zum Gruß.