Der Ball spielende Hund - Agatha Christie - E-Book

Der Ball spielende Hund E-Book

Agatha Christie

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  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Als die wohlhabende Emily Arundell in ihrem Landhaus die Treppe hinunterstürzt, glauben alle, sie sei auf dem Ball ihres Terriers ausgerutscht. Emily aber hat ihre Verwandten unter Verdacht. Hat einer von ihnen versucht, sie zu ermorden? Noch im Krankenhaus schreibt sie einen Brief an Hercule Poirot. Als dieser bei ihm eintrifft, ist es für die alte Dame jedoch bereits zu spät. Doch auch Poirot glaubt nicht an einen Unfall ...

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Seitenzahl: 409

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Agatha Christie

Der Ball spielende Hund

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Christa Schuenke

Atlantik

Dem lieben Peter, dem treusten aller Freunde und liebsten aller Gefährten, einem Hund, wie’s unter Tausenden nur einen gibt.

1Die Herrin von Littlegreen House

Miss Arundell starb am ersten Mai. Sie war nur wenige Tage krank gewesen, und doch hatte ihr Tod in Market Basing, dem kleinen Städtchen, in dem sie lebte, seit sie sechzehn war, kaum jemanden überrascht. Denn mit weit über siebzig war Emily Arundell das Letzte von fünf Geschwistern, und man wusste seit Jahren, dass sie von zarter Gesundheit war. Tatsächlich war sie vor etwas über achtzehn Monaten schon einmal fast an einem Anfall gestorben, der jenem glich, dem sie nunmehr erlegen war.

Nicht Miss Arundells Tod war überraschend; das Überraschende war etwas ganz anderes. Es war der Inhalt ihres Testaments, der für die unterschiedlichsten Gefühle – Erstaunen, freudige Erregung, tiefste Missbilligung, Wut, Verzweiflung und Groll – und für allgemeines Gerede sorgte. Wochen-, ja sogar monatelang sprach man in Market Basing von nichts anderem! Jeder hatte etwas zu dem Thema beizutragen, von Mr Jones, dem Kaufmann, der nur meinte »Blut ist dicker als Wasser«, bis hin zu Mrs Lamphrey vom Postamt, die bis zum Erbrechen wiederholte: »Da steckt was dahinter, so wahr ich hier stehe! Denken Sie an meine Worte!«

Was die Spekulationen im Zusammenhang mit der Geschichte befeuerte, war der Umstand, dass besagtes Testament erst am einundzwanzigsten April verfertigt worden war. Hinzu kam, dass Emily Arundell unmittelbar vor diesem Datum, nämlich über die Osterfeiertage, Besuch von ihren nächsten Angehörigen gehabt hatte, was, wie man noch sehen wird, zu allerlei höchst skandalösen Theorien Anlass gab und den Bewohnern von Market Basing eine erfreuliche Abwechslung in ihrem eintönigen Alltag bot.

Und dann war da noch eine Person, die in dringendem Verdacht stand, mehr über die ganze Sache zu wissen, als sie zugeben mochte: Miss Wilhelmina Lawson, die Hausdame von Miss Arundell. Miss Lawson allerdings gab an, genauso im Dunkeln zu tappen wie alle anderen. Auch sie, versicherte sie, sei vollkommen sprachlos gewesen, als das Testament verlesen wurde.

Was natürlich viele nicht glauben wollten. Wie dem auch sei, ob Miss Lawson nun tatsächlich so ahnungslos gewesen war, wie sie behauptete, oder nicht – die wahren Umstände kannte nur eine einzige Person, nämlich die Verstorbene selbst. Emily Arundell hatte die Sache, wie es ihre Art war, mit sich alleine ausgemacht. Nicht einmal ihrem Anwalt hatte sie die Motive verraten, die ihrem Handeln zugrunde lagen. Sie hatte sich damit begnügt, ihre Wünsche klar und deutlich darzulegen.

Diese Reserviertheit war Emily Arundells hervorstechendster Charakterzug. Miss Arundell war in jeder Hinsicht ein typisches Produkt ihrer Generation. Sie besaß sowohl deren Tugenden als auch deren Laster. Sie war selbstherrlich und nicht selten herrschsüchtig, aber auch ausgesprochen warmherzig. Ihre Zunge war spitz, ihr Handeln aber freundlich. Äußerlich war sie sentimental, innerlich aber scharfsinnig. Ihre Hausdamen, die sie übrigens recht häufig wechselte, schikanierte sie erbarmungslos, war aber andererseits sehr großzügig zu ihnen. Und sie besaß einen ausgeprägten Familiensinn.

Am Freitag vor Ostern stand Emily Arundell in der Halle von Littlegreen House und erteilte Miss Lawson allerlei Anweisungen.

Emily Arundell war ein ansehnliches Mädchen gewesen, inzwischen aber war sie eine gut erhaltene, ansehnliche alte Dame von gerader Haltung und energischem Auftreten. Der leichte Gelbton ihrer Haut erinnerte sie daran, dass sie nicht ungestraft schwere Speisen zu sich nehmen durfte.

»Na, Minnie«, sagte Miss Arundell also, »wo haben Sie die ganze Bande denn nun hingesteckt?«

»Nun ja, ich dachte mir – hoffentlich hab ich es richtig gemacht – Dr. Tanios und Gattin ins Eichenzimmer, Theresa in das Blaue Zimmer und Mr Charles ins alte Kinderzimmer …«

»Das alte Kinderzimmer kann Theresa haben«, fiel ihr Miss Arundell ins Wort, »und Charles bekommt das Blaue Zimmer.«

»Oh, ja, Entschuldigung. Ich dachte bloß, weil doch das alte Kinderzimmer etwas unbequemer ist …«

»Für Theresa wird es allemal reichen.«

Zu Miss Arundells Zeiten waren die Frauen stets an zweiter Stelle gekommen. Die Männer waren wichtiger gewesen.

»Schade bloß, dass die lieben Kleinen nicht auch mitkommen«, murmelte Miss Lawson sentimental. Sie liebte Kinder, obwohl sie völlig außerstande war, mit ihnen umzugehen.

»Vier Gäste reichen mir vollauf«, erwiderte Miss Arundell. »Im Übrigen ist es ganz abscheulich, wie Bella ihre Kinder verwöhnt. Sie denken nicht im Traum daran zu machen, was man ihnen sagt.«

»Mrs Tanios ist eine sehr liebevolle Mutter«, murmelte Minnie Lawson.

»Bella ist ein braves Mädchen«, entgegnete Miss Arundell aufrichtig anerkennend.

Miss Lawson seufzte. »Es ist gewiss nicht immer leicht für sie, in einer fremden Stadt wie Smyrna zu leben.«

»Wie man sich bettet, so liegt man«, sagte Emily Arundell abschließend und äußerst viktorianisch, um sogleich fortzufahren: »So, ich muss ins Dorf, um die Bestellungen fürs Wochenende zu besprechen.«

»Aber Miss Arundell, das kann doch ich – ich meine …«

»Papperlapapp. Ich gehe lieber selbst. Rogers hat klare Worte nötig. Minnie, das Problem mit Ihnen ist, Sie sind einfach nicht deutlich genug. Bob! Bob! Wo ist denn nur der Hund?«

Ein Foxterrier kam in freudiger Erwartung die Treppe heruntergeprescht. Er rannte ein paar Mal um seine Herrin herum, wobei er ein stakkatohaftes Gebell von sich gab.

Gemeinsam traten Herrin und Hund aus der Haustür und gingen den kurzen Weg bis zum Tor.

Einfältig lächelnd, den Mund leicht geöffnet, schaute Miss Lawson ihnen von der Tür her nach. Da vernahm sie hinter sich eine Stimme, die sie in scharfem Ton anfuhr: »Heh, Miss, diese Kopfkissen, die Sie mir da gegeben haben, die passen ja gar nicht richtig zusammen.«

»Was? Wie dumm von mir …«

Damit widmete sich Minnie Lawson wieder ihren häuslichen Pflichten.

Währenddessen schritt Emily Arundell, begleitet von Bob, majestätisch die Hauptstraße von Market Basing entlang. Überaus majestätisch sogar. In jedem Geschäft, das sie betrat, eilte ihr sogleich der Besitzer entgegen, um sie persönlich zu bedienen.

Immerhin war sie Miss Arundell von Littlegreen House. Sie war »eine unserer ältesten Kundinnen«. Sie war »eine Lady alter Schule, wie es heutzutage nur mehr wenige gibt«.

»Guten Morgen, Miss. Was darf ich für Sie – wie bitte? Zäh? Oh, tut mir sehr leid, das zu hören. Und dabei hätt ich doch gedacht, es sei ein hübsches kleines Rückenstück gewesen. – Ja, selbstverständlich, Miss Arundell. Wenn Sie das sagen, dann ist es auch so. – Nein, also wirklich, Miss Arundell, nie und nimmer käme ich auf den Gedanken, zu Ihnen den Canterbury zu schicken. – Ja, Miss Arundell, ich werde mich persönlich darum kümmern.«

Bob und Spot, der Hund des Metzgers, umkreisten einander langsam, leise knurrend, mit gesträubtem Nackenhaar. Spot war ein stämmiger Hund von unbestimmter Rasse. Er wusste, dass er mit den Hunden der Kundschaft nicht kämpfen durfte, erlaubte sich aber, ihnen mittels subtiler Andeutungen eine sehr präzise Vorstellung davon zu geben, welche Sorte Hackfleisch er aus ihnen machen würde, wenn man ihn denn nur ließe.

Bob, der ein mutiger Hund war, erwiderte in gleicher Weise. »Bob!«, sagte Emily Arundell scharf und ging weiter.

Beim Gemüsehändler waren gleich mehrere Lichtgestalten versammelt.

»Morgen, Emily«, sagte eine kugelrunde alte Dame, deren Haltung nicht minder majestätisch war als die der so Begrüßten.

»Guten Morgen, Caroline.«

»Du erwartest wohl deine jungen Leute?«, fragte Caroline Peabody.

»Ja, alle drei. Theresa, Charles und Bella.«

»So, ist Bella auch wieder mal im Lande, ja? Mit ihrem Mann?«

»Ja.«

Das Gespräch war schlicht und einsilbig, allerdings getragen von einem Wissen, das die beiden Damen miteinander teilten.

Bella Biggs, Emily Arundells Nichte, war nämlich mit einem Griechen verheiratet. Und in Emily Arundells Familie, die bekanntermaßen durchweg aus Militärs bestand, heiratete man einfach keine Griechen.

»Bellas Mann hat Köpfchen! Und er hat Manieren«, sagte Miss Peabody in der Absicht, eine verhohlen tröstliche Bemerkung zu machen (denn offen aussprechen durfte man dergleichen natürlich nicht).

»Seine Manieren sind eine wahre Freude«, pflichtete Miss Arundell ihr bei.

»Wie steht es eigentlich um Theresas Verlobung mit dem jungen Donaldson?«, fragte Miss Peabody, während sie auf die Straße traten.

Miss Arundell zuckte die Achseln. »Die jungen Leute sind ja so salopp heutzutage. Ich fürchte, das wird eine ziemlich lange Verlobung werden – das heißt, falls überhaupt was daraus wird. Er hat ja gar kein Geld.«

»Aber Theresa hat doch selbstverständlich ihr eigenes Geld«, sagte Miss Peabody.

»Aber ein Mann kann doch unmöglich vom Geld seiner Frau leben wollen«, erwiderte Miss Arundell steif.

Miss Peabody antwortete mit einem vollmundigen, kehligen Glucksen. »Das scheint die Männer heutzutage nicht mehr groß zu stören. Du und ich, wir sind hoffnungslos altmodisch, Emily. Ich möchte bloß mal wissen, was die Kleine in dem Burschen sieht. Als ob es nicht genug andere Muttersöhnchen gäbe!«

»Er ist ein sehr fähiger Doctor, glaube ich.«

»Aber dieser Kneifer – und diese steife Art, sich auszudrücken! In meiner Jugend hätten wir zu so was armer Wicht gesagt!«

Es entstand eine Pause, in der Miss Peabody im Geiste in die Vergangenheit hinabtauchte und Visionen von blendend aussehenden backenbärtigen Jünglingen heraufbeschwor …

»Schick mir den Charles doch mal vorbei, den jungen Spund – falls er denn Lust hat, mich besuchen zu kommen«, sagte sie seufzend.

»Selbstverständlich. Ich werd’s ihm sagen.«

Damit ging jede ihrer Wege. Sie kannten einander die beachtliche Zeitspanne von über fünfzig Jahren. Miss Peabody wusste von gewissen bedauerlichen Verfehlungen im Leben General Arundells, des Vaters von Emily. Sie wusste ganz genau, was für ein Schock die Heirat Thomas Arundells seinerzeit für seine Schwestern gewesen war. Und sie hatte eine sehr klare Vorstellung von gewissen Ärgernissen, die man bisweilen mit der jüngeren Generation hatte.

Freilich war zwischen den zwei Damen nie auch nur ein einziges Wort über diese Dinge gefallen. Beide hielten die Familienehre und den familiären Zusammenhalt hoch und bewahrten absolutes Stillschweigen über Familienangelegenheiten.

Miss Arundell ging nach Hause, Bob trottete friedlich hinter ihr her. Sich selbst gestand Emily Arundell ein, was sie keinem anderen je eingestanden hätte, nämlich, wie unzufrieden sie mit der jüngeren Generation ihrer Familie war.

Zum Beispiel Theresa. Seit sie einundzwanzig geworden war und allein über ihr Geld verfügen durfte, hatte Emily Arundell keinerlei Kontrolle mehr über sie. Seitdem hatte das Mädchen es zu einer gewissen traurigen Berühmtheit gebracht. Ihr Bild war häufig in der Zeitung. Sie gehörte in London zu einer Clique von munteren, fortschrittlich gesinnten jungen Leuten – einer Clique, die gern wilde Partys feierte und sich bisweilen vor dem Strafrichter wiederfand. Das war ganz und gar nicht die Art von Berühmtheit, die Emily Arundell bei einer Arundell gefallen konnte. Vielmehr erregte Theresas Lebensstil ihr höchstes Missfallen. Der Verlobung des Mädchens stand sie mit eher gemischten Gefühlen gegenüber. Einerseits fand sie, dass ein Parvenü wie dieser Dr. Donaldson einer Arundell nicht würdig sei. Andererseits hingegen musste sie, nicht ohne ein gewisses Unbehagen, einsehen, dass Theresa wohl kaum die geeignete Gattin für einen stillen Landarzt war.

Sie seufzte und ließ ihre Gedanken weiter schweifen – zu Bella. An Bella gab es rein gar nichts auszusetzen. Sie war ein braves Mädchen – eine liebevolle Ehefrau und Mutter, in jeder Hinsicht mustergültig – und ungemein langweilig! Und doch genoss nicht einmal sie das uneingeschränkte Wohlgefallen ihrer Tante. Denn Bella hatte einen Ausländer geheiratet – und zwar nicht irgendeinen Ausländer, sondern einen Griechen. Ein Grieche war nach Miss Arundells durchaus nicht unvoreingenommener Meinung beinah so schlimm wie ein Argentinier oder Türke. Dass Dr. Tanios Charme besaß und man ihm außerordentliche Fähigkeiten in seinem Metier nachsagte, nahm die alte Dame sogar noch ein wenig mehr gegen ihn ein. Denn sie misstraute Charme und billigen Komplimenten. Auch darum fiel es ihr so schwer, die beiden Kinder zu lieben. Äußerlich kamen die zwei ganz nach ihrem Vater – sie hatten aber auch so gar nichts Englisches an sich.

Und dann Charles …

Ja, Charles …

Es hatte keinen Zweck, die Augen vor den Tatsachen zu verschließen. Charles mochte noch so bezaubernd sein, man konnte ihm einfach nicht trauen …

Emily Arundell seufzte. Sie fühlte sich auf einmal müde, alt, bedrückt …

Sie ging davon aus, dass ihr nicht mehr allzu viel Zeit blieb … Ihre Gedanken kehrten zu dem Testament zurück, das sie vor ein paar Jahren gemacht hatte.

Legate für das Personal, für Wohltätigkeitsorganisationen, und die eigentliche Masse ihres nicht unbeträchtlichen Vermögens zu gleichen Teilen an ihre drei noch lebenden Verwandten …

Sie war immer noch überzeugt, dass ihr Vorgehen richtig und gerecht war. Allerdings beschäftigte sie die Frage, ob Bellas Anteil irgendwie sichergestellt werden könnte, damit ihr Mann nicht an das Geld herankam … Sie musste sich mit Mr Purvis beraten.

Mit diesem Gedanken durchschritt sie den Torweg von Littlegreen House.

Charles und Theresa Arundell kamen mit dem Auto, das Ehepaar Tanios mit der Bahn. Als Erstes trafen die Geschwister ein. Charles, hochgewachsen und gutaussehend, sagte in seiner leicht spöttischen Art: »Hallo, Tante Emily, wie geht’s dir denn, mein Mädchen? Gut schaust du aus«, und gab ihr einen Kuss. Theresa drückte ihre jugendfrische Wange gleichgültig an die alterswelke der betagten Dame. »Wie geht’s dir, Tante Emily?«

Theresa sah wahrhaftig nicht gut aus, fand ihre Tante. Ihr Gesicht wirkte ein wenig abgehärmt unter dem reichlich dick aufgetragenen Make-up – und diese Falten um die Augen …

Sie nahmen den Tee im Salon. Bellas Haare hatten die Neigung, in wirren Strähnen unter dem modischen Hütchen hervorzubrechen, das sie nach der falschen Seite trug. Sie musterte ihre Cousine Theresa unverwandt und versuchte mit geradezu mitleiderregendem Eifer, deren Garderobe buchstäblich in sich einzusaugen und in ihrem Gedächtnis zu speichern. Das lebenslange Los der armen Bella war, dass sie weder Geschmack noch Stil besaß, dafür aber eine geradezu leidenschaftliche Lust an schönen Kleidern. Theresa zog sich teuer und ein bisschen extravagant an und hatte eine exzellente Figur. Seit Bella aus Smyrna zurück war, gab sie sich die größte Mühe, Theresas Eleganz zu kopieren, konnte aber einfach nicht mit ihr mithalten – weder bei den Kosten noch bei den Schnitten.

Dr. Tanios, ein bärtiger, vergnügt dreinschauender Hüne, plauderte mit Miss Arundell. Er hatte eine warme, volltönende, ungemein sympathische Stimme, von der sich Männer und Frauen gleichermaßen angezogen fühlten. Beinahe wider Willen war auch Miss Arundell von ihr bezaubert.

Miss Lawson kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe. Sie sprang fortwährend auf, reichte Teller herum, machte sich am Teetisch zu schaffen. Charles, dessen Manieren untadelig waren, stand auf, um ihr zu helfen, erntete aber keinen Dank dafür. Als sich die Gesellschaft nach dem Tee zu einem Spaziergang in den Garten begab, flüsterte er seiner Schwester zu: »Die Lawson kann mich nicht leiden. Merkwürdig, oder?«

»Sehr merkwürdig«, sagte Theresa spöttisch: »Sehr merkwürdig. Gibt’s also doch noch eine Frau, die deinem bodenlosen Charme zu widerstehen vermag?«

Charles grinste – ein unwiderstehliches Grinsen. »Die Lawson ist zum Glück die Einzige …«, sagte er.

Miss Lawson schlenderte mit Mrs Tanios durch den Garten und fragte sie nach den Kindern aus, was Bellas einigermaßen triste Miene etwas aufhellen ließ. Sie vergaß sogar, Theresa zu beobachten, und erzählte lebhaft und beflissen. Mary hatte auf dem Schiff so etwas Seltsames gesagt … In Minnie Lawson fand sie eine überaus aufmerksame Zuhörerin.

In diesem Augenblick wurde ein blonder junger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und einem Kneifer auf der Nase aus dem Haus in den Garten geleitet. Er schaute ziemlich verlegen drein. Miss Arundell begrüßte ihn höflich.

»Hallo, Rex!«, sagte Theresa und hakte sich bei ihm ein. Die zwei gingen davon. Charles verzog das Gesicht und stahl sich beiseite, um ein paar Worte mit dem Gärtner zu reden, sein Verbündeter aus alten Zeiten.

Als Miss Arundell wieder ins Haus kam, war Charles dabei, mit Bob zu spielen. Der Hund stand auf der obersten Treppenstufe, hatte seinen Ball in der Schnauze und wedelte freundlich mit dem Schwanz. »Na, komm schon, mein Junge«, sagte Charles. Bob setzte sich und stupste den Ball langsam, aber sicher, immer weiter an den Rand der Stufe. Als er ihn endlich über die Kante gestoßen hatte, sprang er auf und war mächtig aufgeregt. Der Ball hüpfte gemächlich die Treppe hinunter. Charles fing ihn auf und warf ihn Bob wieder zu. Der kriegte ihn geschickt mit der Schnauze zu fassen. Die Vorstellung wurde wiederholt.

»Sein altes Lieblingsspiel«, sagte Charles.

Emily Arundell lächelte. »Das kann von ihm aus stundenlang so weitergehen«, sagte sie und nahm Kurs auf den Salon. Charles folgte ihr. Bob bellte enttäuscht. Charles warf durchs Fenster einen Blick nach draußen.

»Guck dir doch bloß Theresa an – mit ihrem jungen Mann«, sagte er. »Komisches Paar, die beiden!«

»Glaubst du, Theresa ist die Sache wirklich ernst?«

»Aber sicher«, sagte Charles im Brustton der Überzeugung, »sie ist ja ganz verrückt nach ihm! »Merkwürdiger Geschmack. Aber so ist das nun mal. Ich nehme an, es liegt daran, wie er sie ansieht. Nicht wie eine Frau aus Fleisch und Blut, sondern wie ein wissenschaftliches Forschungsexemplar. Das ist doch mal was Neues für Theresa. Bloß schade, dass der Kerl so arm ist. Theresas Vorlieben sind ja immer ein wenig kostspielig.«

»Ich bin sicher, dass sie in der Lage ist, ihren Lebensstil zu ändern«, sagte Miss Arundell trocken, »wenn sie es will – und schließlich hat sie ja ihr eigenes Einkommen.«

»Wie bitte? Ach ja, natürlich.« Charles warf seiner Tante einen beinah schuldbewussten Blick zu.

Am Abend, als alle im Salon versammelt waren und darauf warteten, sich zu Tisch zu begeben, hörten sie plötzlich von der Treppe her Lärm und lautes Fluchen.

Charles trat ein, er war knallrot im Gesicht. »Entschuldige, Tante Emily, ich bin doch nicht etwa zu spät? Also, dieser Hund – um ein Haar hätt er mich ganz übel zu Fall gebracht. Er hat seinen dämlichen Ball oben an der Treppe liegenlassen.«

»Du unachtsames kleines Hündchen, du«, rief Miss Lawson und beugte sich zu Bob hinunter. Bob sah sie verächtlich an und wandte den Kopf ab.

»Ich weiß«, sagte Miss Arundell. »Das ist wirklich gefährlich. Minnie, holen Sie den Ball und legen Sie ihn weg.«

Miss Lawson ging eilig hinaus. Bei Tisch bestritt Dr. Tanios die Unterhaltung größtenteils allein und erzählte ein paar Schnurren aus seinem Leben in Smyrna.

Nach dem Dinner begaben sich alle zeitig zu Bett. Miss Lawson – mit Strickzeug, Brille, einem großen samtenen Beutel und einem Buch – begleitete ihre Lady munter plappernd zu deren Schlafgemach.

»Wirklich ungemein amüsant, dieser Dr. Tanios. So ein angenehmer Mensch! Nicht, dass ich persönlich mir ein solches Leben wünschen würde … Wahrscheinlich muss man das Wasser dort immer erst abkochen … und es gibt bestimmt bloß Ziegenmilch – die schmeckt so ekelhaft …«

»Jetzt seien Sie doch nicht albern, Minnie«, herrschte Miss Arundell sie an. »Haben Sie Ellen Bescheid gesagt, dass sie mich um halb sieben wecken soll?«

»Aber ja, Miss Arundell. Und keinen Tee, hab ich ihr gesagt, aber meinen Sie nicht vielleicht, es wär doch klüger … Wissen Sie, der Vikar von Southbridge – ein durch und durch pflichtbewusster Mensch – hat mir klar und deutlich gesagt, dass niemand die Pflicht hat zu fasten …«

Abermals schnitt ihr Miss Arundell das Wort ab. »Ich habe bisher vor der Frühmesse nichts zu mir genommen, und ich werde jetzt nicht damit anfangen. Aber Sie können es ja halten, wie Sie wollen.«

»Oh nein – ich meinte doch nicht … Ich bin mir sicher …« Miss Lawson war ganz aufgescheucht und außer sich.

»Nehmen Sie Bob das Halsband ab«, sagte Miss Arundell.

Die Sklavin beeilte sich zu gehorchen.

»Was für ein reizender Abend«, sagte sie, noch immer bemüht, ihrer Herrin zu gefallen. »Alle genießen es, hier zu sein.«

»Pah«, machte Emily Arundell. »Die sind doch alle bloß gekommen, um sich zu holen, was sie kriegen können.«

»Aber meine liebe Miss Arundell …«

»Meine gute Minnie, ich mag ja alles Mögliche sein, aber ein Dummkopf bin ich nicht! Ich bin gespannt, wer als Erster mit dem Thema anfängt.«

Sie sollte nicht lange im Ungewissen bleiben. Als sie und Miss Lawson um kurz nach neun von der Frühmesse heimkamen, fanden sie im Esszimmer den Doctor und Mrs Tanios vor, doch von den beiden Arundells war noch nichts zu sehen.

Nach dem Frühstück, als die anderen gegangen waren, blieb Miss Arundell noch sitzen und übertrug ein paar Rechnungen in ein kleines Buch. Gegen zehn betrat Charles den Raum.

»Entschuldige die Verspätung, Tante Emily. Aber Theresa ist noch schlimmer. Die hat noch nicht mal die Augen aufgemacht.«

»Um halb elf wird das Frühstück abgeräumt«, sagte Miss Arundell. »Ich weiß schon, Rücksicht auf das Personal ist heutzutage aus der Mode, aber in meinem Hause gibt es so was nicht.«

»Sehr gut! Das ist der wahre Geist der unausrottbaren Tradition.« Charles bediente sich an den geschmorten Nierchen und nahm neben seiner Tante Platz. Sein Grinsen war so unwiderstehlich wie immer. Nicht lange, und Emily Arundell wurde sich des nachsichtigen Lächelns bewusst, mit dem sie ihn betrachtete. Und Charles, durch diesen Beweis ihrer Gunst ermutigt, kam unumwunden zur Sache.

»Hör zu, Tante Emily, ich belästige dich wirklich ungern, aber ich stecke in einem teuflischen Schlamassel. Ob du mir vielleicht aushelfen könntest? Hundert würden mir schon reichen.«

Die Miene seiner Tante war alles andere als wohlwollend. Man könnte sie schon beinah grimmig nennen. Emily Arundell scheute sich nicht zu sagen, was sie dachte. Sie sprach es offen aus.

Als Charles das Esszimmer verließ, wäre er um ein Haar mit Miss Lawson zusammengestoßen, die sich am anderen Ende des Korridors zu schaffen machte. Sie sah ihn neugierig an. Dann ging sie ins Esszimmer, wo sie Miss Arundell antraf, die dort saß – kerzengerade und rot vor Zorn.

2Die Verwandtschaft

Beschwingt rannte Charles die Treppe hinauf und klopfte an die Tür seiner Schwester. Ihr ›Herein‹ kam prompt, und er trat ein.

Theresa saß gähnend im Bett. Charles setzte sich zu ihr auf die Bettkante. »Was bist du doch für ein dekoratives Weibchen, Theresa«, sagte er anerkennend.

»Was willst du?«, fragte Theresa barsch.

Charles grinste. »Schlauköpfchen, wie? Tja, meine Kleine, ich hab die Nase vorn gehabt! Hab mir gedacht, ich greife schon mal vor, eh du ans Werk gehst.«

»Und?«

Charles spreizte die Finger und senkte verneinend die Hände. »Nichts zu machen! Tante Emily hat mich ordentlich zusammengestaucht. Sie hat angedeutet, dass sie hinsichtlich der Gründe, die ihre ihr liebevoll zugetane Verwandtschaft bewogen haben, sich hier um sie scharen, nicht die geringsten Illusionen hat! Und außerdem hat sie angedeutet, dass die besagte, ihr liebevoll zugetane Verwandtschaft enttäuscht werden wird. Nichts werde es geben, nichts außer Zuneigung – und davon nicht zu viel.«

»Du konntest es wohl nicht abwarten«, sagte Theresa trocken.

Charles grinste erneut. »Ich hatte Angst, du oder Tanios könnten mir zuvorkommen. So leid es mir tut, meine süße Theresa, ich fürchte, diesmal ist tatsächlich nichts zu machen. Dumm ist die alte Emily gewiss nicht.«

»Das hab ich auch nie angenommen.«

»Ich hab sogar versucht, sie ins Bockshorn zu jagen.«

»Wie meinst du das?«, fragte seine Schwester schroff.

»Hab ihr gesagt, sie soll bloß aufpassen, dass sie nicht eines schönen Tages einer umlegt. Mit in den Himmel nehmen kann sie ja den Zaster nicht. Sie könnte ruhig mal was springen lassen.«

»Charles, du bist ein Idiot!«

»Bin ich nicht. Ich bin eher ein Psychologe – auf meine Art. Dem alten Mädchen Honig ums Maul zu schmieren, hilft gar nichts. Sie hat’s entschieden lieber, wenn man ihr Paroli bietet, und außerdem habe ich lediglich vernünftig argumentiert. Wenn sie tot ist, kriegen wir das Geld ja sowieso – da könnte sie doch ruhig jetzt schon mal was rausrücken! Sonst wächst am Ende die Versuchung, sie aus dem Weg zu räumen, noch ins Unermessliche.«

»Und? Hat sie das eingesehen?«, fragte Theresa und schürzte spöttisch die Lippen.

»Weiß nicht genau. Sie hat es jedenfalls nicht zugegeben. Hat sich nur ziemlich unfreundlich für meinen Rat bedankt und gesagt, sie kann sehr gut selber auf sich aufpassen. »Na schön«, hab ich gesagt, »ich habe dich gewarnt.« Und da hat sie gesagt, sie wird dran denken.

»Also wirklich Charles«, sagte Theresa ärgerlich, »du bist so ein Idiot.«

»Verflixt und zugenäht, Theresa, ich war eben ein bisschen sauer! Das alte Mädchen schwimmt im Geld – buchstäblich! Wetten, dass die noch nicht mal ein Zehntel von dem ausgibt, was sie einnimmt – wofür auch? Und wir? Wir stehen da, sind jung und könnten das Leben genießen! Aber sie – die bringt’s fertig und wird hundert – aus reiner Bosheit … Ich will mich aber jetzt vergnügen … Und du doch auch …«

Theresa nickte. »Die verstehen das nicht«, sagte sie leise, mit gepresster Stimme. »Die Alten können einfach nicht … die sehen das nicht ein … Die wissen überhaupt nicht, was Leben heißt!«

Die Geschwister schwiegen eine kleine Weile. Dann stand Charles auf. »Na gut, meine Liebe«, sagte er, »ich wünsch dir, dass du mehr Erfolg hast. Was ich allerdings zu bezweifeln wage.«

»Ich setze ganz auf Rex«, sagte Theresa. »Ich muss es schaffen, die alte Emily von seinem Genie zu überzeugen und davon, wie ungeheuer wichtig es ist, dass er jetzt seine Chance kriegt, damit er nicht als kleiner Hausarzt irgendwo versauern muss … Ach, Charles, ein paar Tausend als Startkapital, jetzt sofort, das würde unser Leben dermaßen verändern!«

»Ich hoffe, ihr kriegt, was ihr wollt, aber ich glaub’s nicht. Du mit deinem wilden Leben hast ja schon so einiges durchgebracht. Ach, übrigens, Theresa, du glaubst doch auch nicht, dass die fade Bella und dieser dubiose Tanios irgendwas kriegen, oder?«

»Ich wüsste nicht, wie der guten Bella mit Geld gedient sein sollte. Sie läuft doch immer rum wie armer Leute Kind, und ihr Geschmack – so was von hausbacken.«

»Na ja«, sagte Charles vage, »ich nehme mal an, sie will irgendwas für ihre unerträglichen Kinder haben, Schulen, Kronen für die Vorderzähne, Musikstunden. Und außerdem, um Bella geht’s doch gar nicht – es geht um Tanios. Der hat garantiert einen Riecher für Geld, da geh ich jede Wette ein. In der Beziehung ist Verlass auf einen Griechen. Weißt du eigentlich, dass er Bellas Geld zum größten Teil schon durchgebracht hat? Spekuliert hat er damit – und alles verloren.«

»Glaubst du, die alte Emily wird ihm was geben?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, sagte Charles grimmig. Damit ging er aus dem Zimmer und schlenderte die Treppe hinunter. Bob war in der Halle. Freudig sprang er an Charles hoch. Hunde mochten Charles. Der Terrier rannte zur Salontür und sah sich um, ob Charles ihm folgte.

»Was ist denn los?«, sagte Charles und ging lässig hinter ihm her. Bob rannte in den Salon und setzte sich erwartungsvoll neben einen kleinen Sekretär. Charles ging zu ihm hinüber.

»Ja, was ist denn, was hast du denn?«

Bob wedelte mit dem Schwanz, richtete den Blick starr auf eine Schublade des Sekretärs und winselte flehend.

»Ist da was drin, was du gern haben willst?«

Charles öffnete die oberste Schublade. Seine Augenbrauen gingen in die Höhe. »Ja, da schau her«, sagte er. Seitlich in dem Schubfach lag ein kleines Bündel Geldscheine. Charles griff danach und zählte. Grinsend nahm er sich drei Ein-Pfund- und zwei Zehn-Schilling-Noten und steckte sie ein. Den Rest legte er ordentlich zurück.

»Das war eine gute Idee, Bob«, sagte er. »Wenigstens hat dein Onkel Charles jetzt seine Spesen wieder drin. Ein bisschen Bares ist immer willkommen.«

Als Charles das Schubfach wieder schloss, gab Bob ein leises, vorwurfsvolles Bellen von sich.

»Tut mir leid, mein Alter«, entschuldigte sich Charles. Er öffnete das nächste Fach und sah in dessen hinterer Ecke Bobs Ball. Er nahm ihn heraus. »Hier, bitte sehr. Viel Spaß.«

Bob fing sein Spielzeug auf und trottete aus dem Zimmer, und gleich darauf hörte man den Ball – rumms, rumms, rumms – die Treppe hinunterhüpfen.

Charles ging nach draußen in den Garten. Es war ein schöner sonniger, fliederduftender Morgen. Miss Arundell und Dr. Tanios spazierten zusammen zwischen den Beeten entlang. Der Doctor sprach von den Vorzügen einer englischen Erziehung – einer guten Erziehung – für die Kinder, und wie sehr er es bedaure, seinen Kindern keinen solchen Luxus bieten zu können.

Charles lächelte mit boshafter Genugtuung. Unbeschwert mischte er sich ein und schaffte es geschickt, das Gespräch in völlig andere Bahnen zu lenken.

Emily Arundell lächelte ihm durchaus liebenswürdig zu. Er bildete sich sogar ein, dass sie seine Taktik amüsant fand und ihn sogar auf eine subtile Weise dazu ermunterte weiterzumachen. Charles’ Laune wurde immer besser. Vielleicht würde es ja doch noch klappen, bevor er wieder wegfuhr – Charles war ein unverbesserlicher Optimist.

Am Nachmittag fuhr Dr. Donaldson in seinem Wagen vor, um Theresa abzuholen und mit ihr nach Worthem Abbey zu fahren, einem der beliebtesten Ausflugsziele der Gegend. Allerdings ließen die zwei die Abbey links liegen und gingen einfach weiter in den Wald. Dort erörterte Rex Donaldson Theresa in aller Ausführlichkeit seine Theorien und berichtete ihr von einigen seiner neusten Experimente. Sie verstand zwar herzlich wenig, lauschte aber wie gebannt seinen Worten und dachte bei sich: Wie klug er doch ist, dieser Rex – und einfach hinreißend!

Einmal hielt ihr Verlobter kurz inne. Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, ob er fortfahren sollte. »Aber ich langweile dich bestimmt mit diesem ganzen Zeug, Theresa«, sagte er.

Worauf diese mit fester Stimme erwiderte: »Aber nicht doch, Liebling, das ist alles so ungeheuer aufregend. Erzähl weiter. Du nimmst also Blut von dem infizierten Kaninchen?« Und dann fügte sie seufzend hinzu: »Deine Arbeit bedeutet dir so unglaublich viel, mein Schatz.«

»Natürlich«, sagte Dr. Donaldson. Theresa fand das keineswegs natürlich. Die wenigsten ihrer Freunde gingen überhaupt einer Arbeit nach, und wenn doch, taten sie sich mächtig schwer damit. Nicht zum ersten Mal streifte sie der Gedanke, wie komplett unzweckmäßig es doch im Grunde war, dass sie sich ausgerechnet in Rex Donaldson verliebt hatte. Wie einem so was nur passieren konnte, so was Absurdes, Erstaunliches, total Verrücktes? Aber das war eine müßige Frage. Es war ihr eben passiert.

Sie zog die Stirn in Falten und wunderte sich über sich selbst. Ihre Clique war so ein bunter Haufen gewesen – und so zynisch. Liebesaffären gehörten nun mal zwangsläufig zum Leben, aber warum musste man sie so ernst nehmen? Man verliebte sich in irgendwen und kam auch wieder darüber hinweg. Doch dieses Gefühl, das sie für Rex Donaldson empfand, das war anders, das ging tiefer. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie über diesen Mann nicht einfach so würde hinwegkommen können … Ihr Verlangen nach ihm war ehrlich und elementar. An ihm faszinierte sie einfach alles. Seine Gelassenheit, seine Distanziertheit – so ganz anders als sie mit ihrer hektischen Lebensgier – die klare, kühle Logik seines wissenschaftlichen Verstandes und noch etwas, das sie nur unvollkommen begreifen konnte, eine geheime Kraft, die in ihm steckte, die sich hinter seiner unprätentiösen, leicht pedantischen Art verbarg, die sie aber dennoch fühlen konnte und instinktiv spürte.

Rex Donaldson besaß Genie. Und dass in seinem Leben immer der Beruf an erster Stelle käme und sie für ihn stets nur ein Teil – wenn auch ein notwendiger Teil – seiner Existenz wäre, ließ ihn in ihren Augen nur umso reizvoller erscheinen. Zum ersten Mal in ihrem selbstverliebten, vergnügungssüchtigen Leben konnte sie sich damit zufriedengeben, nur die Nummer zwei zu sein. Die Vorstellung faszinierte sie sogar. Für Rex war sie zu allem fähig – zu allem!

»Immer dieses blöde Geld – das ist so was von lästig«, sagte sie missmutig. »Wenn Tante Emily doch endlich sterben würde, dann könnten wir auf der Stelle heiraten, und du könntest nach London kommen und hättest ein ganzes Labor voller Reagenzgläser und Versuchskaninchen und müsstest dich nie mehr mit ziegenpeterkranken Kindern herumschlagen oder mit irgendwelchen alten Damen und ihren Leberleiden.«

»Es gibt nicht den geringsten Grund, weshalb deine Tante nicht noch viele Jahre weiterleben sollte – wenn sie schön vorsichtig ist«, sagte Donaldson.

»Weiß ich doch …«, erwiderte Theresa bekümmert.

»Ich glaube, ich habe ausreichend vorgearbeitet«, sagte Dr. Tanios in dem großen Zimmer mit dem Doppelbett und den altmodischen Eichenmöbeln zu seiner Frau. »Jetzt bist du an der Reihe, meine Liebe.« Er goss aus einer altmodischen Kupferkanne Wasser in die mit Rosen bemalte Porzellanschüssel.

Bella Tanios saß vor der Frisierkommode und fragte sich, wieso ihre Haare nicht so schön aussahen wie Theresas, obwohl sie sie doch genauso frisierte! Sie ließ sich etwas Zeit mit ihrer Antwort. »Ich glaube nicht, dass ich das … dass ich Tante Emily um Geld bitten möchte«, sagte sie dann.

»Aber doch nicht für dich, Bella, es geht um die Kinder. Nachdem wir dieses Pech mit unseren Aktien hatten.«

Er hatte ihr den Rücken zugewandt und konnte darum ihren raschen Blick nicht sehen – ihren flüchtigen, verhuschten Blick.

»Wie dem auch sei«, sagte sie mit leisem Trotz in der Stimme, »ich glaube nicht, dass ich das möchte … Tante Emily ist ziemlich schwierig. Sie kann großzügig sein, aber sie mag es nicht, wenn man sie um etwas bittet.«

Tanios trocknete sich die Hände ab und kam vom Waschtisch herüber.

»Also wirklich, Bella, diese Dickköpfigkeit, das ist doch überhaupt nicht deine Art. Und überhaupt, wozu sind wir denn hergekommen?«

»Ich bin doch nicht – ich hatte nie vor – jedenfalls nicht, um sie um Geld zu bitten …«

»Aber du hast doch selbst gesagt, dass deine Tante unsere einzige Rettung ist, wenn wir den Kindern eine anständige Erziehung bieten wollen.«

Bella antwortete nicht. Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Ihre Miene aber hatte jenen leicht sturen Ausdruck, den viele kluge Ehemänner dummer Frauen aus Erfahrung kennen.

»Vielleicht macht Tante Emily ja von sich aus einen entsprechenden Vorschlag«, sagte sie schließlich.

»Schon möglich, allerdings hab ich bis jetzt noch nichts gesehen, was dafür spräche.«

»Wenn wir doch nur die Kinder hätten mitbringen können«, sagte Bella. »Tante Emily hätte unsere Mary sofort ins Herz geschlossen, und unser Edward ist ja so intelligent.«

»Ich glaube nicht, dass deine Tante besonders kinderlieb ist«, sagte Tanios trocken. »Vielleicht ist es ja gerade gut, dass die Kinder nicht mit hier sind.«

»Ach, Jacob, aber …«

»Ja, ja, meine Liebe. Ich kenne deine Gefühle. Aber diese vertrockneten alten Jungfern hier in England – pah, die haben keine Menschlichkeit. Wir wollen schließlich nur das Beste für unsere beiden, oder etwa nicht? Und Miss Arundell würde doch wahrlich nichts abgehen, wenn sie uns ein wenig unter die Arme greifen würde.«

Mrs Tanios wandte sich ab, ihre Wangen waren gerötet. »Ach bitte, bitte, Jacob, nicht dieses Mal. Ich bin mir sicher, dass das unklug wäre. Nein wirklich, ich möchte das nicht, auf keinen Fall.«

Tanios stand dicht hinter ihr, er legte ihr den Arm um die Schultern. Sie zitterte ein bisschen, dann war sie ruhig – beinah starr.

»Wie dem auch sei, Bella«, sagte er sanft, »ich glaube – ich glaube, du wirst schon machen, was ich will … Du weißt doch selbst, dass du’s am Ende immer tust … Ja, ich glaub schon, dass du am Ende tust, was ich dir sage …«

3Der Unfall

Dienstag, spät am Nachmittag. Die Gartentür war offen, und auf der Schwelle stand Miss Arundell und warf Bobs Ball weit über den Gartenweg. Der Terrier rannte los.

»Einmal noch, Bob«, sagte Emily Arundell. »Ein letztes Mal.«

Abermals rollte der Ball den Weg hinunter, und Bob raste hinterher, so schnell er konnte. Miss Arundell bückte sich, hob den Ball, den Bob ihr vor die Füße gelegt hatte, auf und ging damit ins Haus; Bob folgte ihr auf dem Fuß. Sie schloss die Gartentür, ging in den Salon, Bob immer noch dicht hinter ihr, und legte den Ball in die Schublade. Sie schaute kurz zur Uhr auf dem Kaminsims. Es war halb sieben.

»Na, Bob, was hältst du von einer kleinen Ruhepause vor dem Abendessen?« Sie stieg die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hoch. Bob begleitete sie.

Als Miss Arundell es sich auf der großen chintzbezogenen Couch bequem gemacht hatte und Bob zu ihren Füßen lag, seufzte sie erleichtert auf. Sie war froh, dass Dienstag war und ihre Gäste morgen wieder abreisen würden. Nicht, dass das Wochenende ihr irgendwelche neuen Erkenntnisse gebracht hätte, nichts, was sie nicht auch vorher schon gewusst hatte. Das Problem war vielmehr, es war nichts passiert, das ihr erlaubt hätte etwas von dem, was sie auch vorher schon gewusst hatte, zu vergessen.

»Mir scheint, ich werde alt«, sagte sie sich, und dann, leicht erschrocken und gleichzeitig überrascht: »Ich bin alt …«

Eine halbe Stunde blieb sie mit geschlossenen Augen liegen, dann brachte Ellen, das ältliche Hausmädchen, heißes Wasser, und sie stand auf und machte sich zum Essen fertig.

Heute kam Dr. Donaldson zum Dinner. Emily Arundell wollte Gelegenheit haben, ihn sich genauer anzusehen. So richtig konnte sie es immer noch nicht glauben, dass Theresa, dieses exotische Geschöpf, ausgerechnet diesen doch ziemlich steifen, pedantischen jungen Mann heiraten wollte. Und auch, dass dieser steife, pedantische junge Mann den Wunsch haben sollte, Theresa zu heiraten, auch das kam ihr ein wenig seltsam vor.

Freilich hatte sie im Laufe des Abends nicht das Gefühl, Dr. Donaldson besser kennenzulernen. Er war sehr höflich, sehr förmlich und – für ihren Geschmack – ungemein langweilig. Im Grunde ihres Herzens musste sie Miss Peabody beipflichten. »Da waren sie in unserer Jugend aber besser«, ging es ihr durch den Sinn.

Dr. Donaldson blieb nicht lange. Um 10 Uhr stand er auf und verabschiedete sich. Sobald er gegangen war, verkündete auch Emily Arundell, sie wolle sich zu Bett begeben. Sie ging nach oben in ihr Zimmer. Auch ihre jungen Verwandten gingen hinauf. Irgendwie schienen heute Abend alle ein wenig bedrückt zu sein.

Miss Lawson blieb unten, um die letzten Pflichten des Tages zu erledigen, Bob noch einmal vor die Tür zu lassen, mit dem Schürhaken die Glut im Kamin zu ersticken, das Schutzblech aufzustellen und den Kaminvorleger umzuschlagen, falls doch noch ein Funke herausfliegen sollte.

Ungefähr fünf Minuten später betrat sie ziemlich außer Atem das Zimmer ihrer Lady. »Ich glaube, ich habe alles erledigt«, sagte sie, während sie das Strickzeug, den Handarbeitsbeutel und ein Buch aus der Leihbücherei bereit legte. »Hoffentlich ist das Buch so recht. Von denen auf Ihrer Liste hatten sie keins da, aber die junge Frau dort meinte, dass Ihnen das hier sicher auch gefallen wird.«

»Das Mädel dort ist dumm wie Bohnenstroh«, sagte Emily Arundell. »Und ihre Buchempfehlungen sind unter aller Würde.«

»Oje. Das tut mir aber leid. Vielleicht hätte ich …«

»Unsinn, dafür können Sie doch nichts«, fügte Emily Arundell freundlich hinzu. »Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Nachmittag.«

Miss Lawsons Miene heiterte sich auf. Ganz begeistert sah sie aus, fast jugendlich. »Oh ja, vielen Dank. Wirklich nett von Ihnen, dass Sie mir freigegeben haben. Bei uns war’s ungeheuer interessant. Wir hatten die Planchette, und das, was sie geschrieben hat, war wirklich ungeheuer interessant. Es gab verschiedene Botschaften … Natürlich ist das nicht ganz dasselbe wie die Sitzungen … Julia Tripp hat großen Erfolg mit dem automatischen Schreiben. Etliche Botschaften von Dahingegangenen. Man – man muss ja wirklich sehr, sehr dankbar sein – dass so etwas gestattet ist …«

»Lassen Sie das bloß nicht den Vikar hören«, sagte Miss Arundell mit einem winzigen Lächeln.

»Nein wirklich, meine liebe Miss Arundell, ich bin der festen, felsenfesten Überzeugung, dass da nichts Unrechtes dabei sein kann. Ich wünschte nur, der liebe Mr Lonsdale würde sich die Sache einmal gründlich ansehen. Es kommt mir so engstirnig vor, etwas zu verdammen, womit man sich noch nie befasst hat. Die Schwestern Tripp – Julia ist durch und durch vergeistigt, genau wie Isabel.«

»Schon beinah zu vergeistigt, um noch lebendig zu sein«, sagte Miss Arundell. Sie hielt nicht viel von den zwei Damen, weder von Julia noch von Isabel. Sie fand es lächerlich, wie sie sich kleideten, dass sie Vegetarierinnen waren, sich also größtenteils von rohem Obst ernährten, hielt sie für absurd, und das Auftreten der beiden war in ihren Augen affektiert. Für sie hatten die Schwestern weder Traditionen noch Wurzeln – kurzum, ihnen fehlte der Stallgeruch! Ihre Ernsthaftigkeit indes fand sie durchaus amüsant, und im Grunde war sie gutherzig genug, der armen Minnie die Freude zu lassen, die diese Freundschaft ihr bereitete.

Die arme Minnie! Halb liebevoll und halb verächtlich betrachtete Emily Arundell ihre Hausdame. Wie viele solcher närrischen späten Mädchen hatte sie schon in ihren Diensten gehabt, und im Großen und Ganzen waren sie alle gleich: freundlich, verhuscht, dienstbeflissen und nahezu ohne jeglichen Esprit.

An diesem Abend aber war die arme Minnie wirklich ungewöhnlich aufgeregt. Ihre Augen glänzten. Sie huschte im Zimmer herum, fasste hier und da nach einem Gegenstand, ohne überhaupt zu merken, was sie tat, und ihre Augen leuchteten und strahlten.

»Ich – ich – ach, wenn Sie doch nur mit dabei gewesen wären …«, stotterte sie. »Wissen Sie, mir scheint, Sie glauben da noch nicht so richtig dran. Aber heute Abend, da gab es eine Botschaft – für E.A., die Initialen waren ganz deutlich zu verstehen. Die Nachricht kam von einem Mann, der schon vor langer Zeit dahingegangen ist – ein Offizier, sehr schneidig – Isabel hat ihn genau gesehen. Das war gewiss der liebe General Arundell. Und so eine schöne Botschaft, so voller Liebe und so tröstlich, dass man nur Geduld zu haben braucht, dann kann man alles erreichen.«

»Also, nach Papa hört dieser sentimentale Mumpitz sich aber ganz und gar nicht an«, sagte Miss Arundell.

»Ach, aber unsere Lieben ändern sich ja so enorm – wenn sie erst dort drüben sind. Dort ist nur Liebe und Verständnis. Und dann hat die Planchette noch was von einem Schlüssel buchstabiert – ich glaube, es war der Schlüssel von der Boullekommode – kann das sein?«

»Der Schlüssel von der Boullekommode?«, fragte Emily Arundell scharf, und ihre Stimme klang mit einem Mal hellwach.

»Ja, ich glaub, das war’s. Ich dachte mir, es geht vielleicht um wichtige Papiere, die da drin sind – so was in der Art. Es gab einmal einen hervorragend belegten Fall, da bekam jemand die Botschaft, man solle in einem bestimmten Möbelstück nachsehen, und in der Tat hat man ein Testament darin gefunden.«

»In der Boullekommode war kein Testament«, sagte Miss Arundell und fügte dann barsch hinzu: »Gehen Sie schlafen, Minnie. Sie sind müde. Und ich auch. Wir werden die Schwestern Tripp demnächst mal zum Dinner zu uns bitten.«

»Ach ja, das wäre nett! Gute Nacht, meine Liebe. Und Sie sind sicher, dass Sie alles haben? Ich hoffe bloß, Sie sind nicht zu erschöpft – mit all den vielen Gästen hier im Haus. Ich muss Ellen noch sagen, dass sie den Salon morgen gründlich lüften und die Vorhänge ausschütteln soll. Der ganze Rauch – es riecht ja grässlich dort. Ich muss schon sagen, das ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie das Rauchen im Salon erlauben!«

»Man muss schließlich gewisse Zugeständnisse an die moderne Zeit machen«, sagte Emily Arundell. »Gute Nacht, Minnie.«

Als Miss Lawson draußen war, fragte sich Emily Arundell, ob dieser spiritistische Mumpitz für Minnie wirklich gut war. Die Arme hatte ja ganz glasige Augen bekommen, und wie erregt und hektisch sie gewesen war. Komisch, diese Sache mit der Boullekommode, dachte Emily Arundell, während sie zu Bett ging. Mit einem verkniffenen Lächeln erinnerte sie sich an jenen Vorfall damals, vor langer Zeit. Wie nach Papas Tod auf einmal dieser Schlüssel aufgetaucht war – und wie die ganzen leeren Brandyflaschen herausgefallen waren, als man die Kommode geöffnet hatte! Alles Einzelheiten, von denen Minnie Lawson genauso wenig etwas wissen konnte wie Isabel oder Julia Tripp, und bei denen man sich fragte, ob am Ende nicht doch was dran war an diesem ganzen spiritistischen Mumpitz …

Miss Arundell lag in ihrem Himmelbett und war hellwach. In letzter Zeit konnte sie immer schwerer einschlafen, wies aber Dr. Graingers vorsichtigen Rat, es doch einmal mit einem Schlaftrunk zu versuchen, entschieden von sich. Ein Schlaftrunk war etwas für Schwächlinge, für Menschen ohne Mumm, die nicht mal den geringsten Schmerz ertragen konnten, keinen kleinen Schnitt in den Finger, kein bisschen Zahnweh und eben auch keine lästige schlaflose Nacht.

Sie stand oft auf, wanderte lautlos im Haus herum, nahm ein Buch zur Hand, rückte hie und da eine Nippfigur zurecht, ordnete die Blumen in einer Vase neu, schrieb ein paar Briefe. In jenen Stunden um die Mitternacht kam es ihr vor, als sei das Haus, derweil sie es durchstreifte, genauso munter wie sie selbst. Überdies waren ihr diese nächtlichen Wanderungen durchaus nicht unangenehm. Vielmehr kam es ihr so vor, als würden Geister sie begleiten, die Geister ihrer Schwestern Arabella, Matilda und Agnes, der Geist ihres Bruders Thomas, der so ein lieber Kerl gewesen war, eh dieses Weibstück ihn in die Klauen gekriegt hatte! Sogar der Geist des Generals Charles Laverton Arundell – des charmanten Haustyrannen, der seine Töchter anbrüllte und schikanierte und auf den sie dennoch ungeheuer stolz gewesen waren, weil er beim Indischen Aufstand mit dabei gewesen und überhaupt weit in der Welt herumgekommen war. Was machte es da schon, wenn er mitunter »nicht ganz so guter Dinge war«, wie seine Töchter sich beschönigend auszudrücken pflegten?

Dann wanderten ihre Gedanken weiter zu dem Verlobten ihrer Nichte. »Zur Flasche greifen wird der sicher nicht!«, dachte Miss Arundell. »Hat den ganzen Abend bloß Limonade getrunken. Das will ein Mann sein?! Limonade! Dabei habe ich extra eine Flasche von Papas bestem Portwein aufgemacht. «

Hingegen hatte Charles dem Portwein fleißig zugesprochen. Ach! Wenn man Charles doch nur vertrauen könnte. Wenn man nicht wüsste, dass bei ihm – ihre Gedanken rissen ab … Im Geiste ließ sie die Ereignisse des zurückliegenden Wochenendes noch einmal an sich vorüberziehen … Irgendwie war alles so beunruhigend …

Umsonst versuchte sie, die verstörenden Gedanken beiseitezuschieben. Sie richtete sich auf und schaute im Schein der Nachtkerze, die wie stets auf einer kleinen Untertasse brannte, nach der Uhr. Schon eins, und sie war immer noch kein bisschen schläfrig. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hauspantoffeln und zog ihren warmen Morgenrock über. Sie wollte nach unten, um noch einmal die Rechnungen der letzten Woche durchzugehen, damit sie morgen bezahlt werden konnten. Schattengleich huschte sie über den Korridor, wo nachts immer eine schwache Glühbirne brannte. Sie kam zur Treppe und wollte gerade nach dem Geländer greifen, als sie unerklärlicherweise stolperte, sich noch festzuhalten versuchte, was allerdings misslang, und kopfüber die Treppe hinabstürzte.

Der durch den Sturz der alten Dame hervorgerufene Lärm und der Schrei, den sie ausstieß, ließen das ganze Haus aus dem Schlaf hochfahren. Türen wurden aufgerissen, Lichter gingen an.

Miss Lawson kam aus ihrem Zimmer geschossen, das gleich vorn an der Treppe lag, und tappte, verhaltene Schreckenslaute ausstoßend, die Stufen hinunter.

Nach und nach kamen auch die anderen angelaufen – Charles, gähnend und in einem prächtigen Morgenrock; Theresa, in dunkle Seide gehüllt; Bella in einem marineblauen Kimono, zahllose kleine Kämme im Haar, damit »die Welle hielt«.

Emily Arundell lag da – völlig benommen und verwirrt, ein einziges Häufchen Unglück. Die Schulter tat ihr weh, der Knöchel ebenso – Schmerzen am ganzen Leibe. Sie nahm die Leute wahr, die sich um sie scharten und sie anglotzten: Minnie Lawson, diese Närrin, weinte und fuchtelte hilflos mit den Händen herum – Theresas dunkle Augen blickten ganz erschrocken – Bella stand da, hatte den Mund offen und schaute erwartungsvoll drein, und von irgendwoher, aus weiter Ferne, wie ihr schien, hörte Emily Arundell auch die Stimme von Charles, der sagte: »Das war der Hund mit seinem blöden Ball! Anscheinend hat er ihn hier liegenlassen, und sie ist darauf ausgerutscht. Seht ihr? Da ist er ja!«

Und dann nahm sie die Anwesenheit einer Autoritätsperson wahr, eines Mannes, der die anderen allesamt wegscheuchte, sich neben sie kniete und sie mit seinen Händen untersuchte – Händen, die nicht blindlings herumfummelten, sondern wussten, was sie taten.

Sie fühlte sich erleichtert. Nun würde alles gut werden. »Nein, alles in Ordnung. Nichts gebrochen«, sagte Dr. Tanios mit fester, beruhigender Stimme … »Sie ist nur tüchtig durchgeschüttelt worden und hat ein paar Blutergüsse abgekriegt – und einen schweren Schock natürlich. Aber sie hatte großes Glück, es hätte schlimmer kommen können.«

Er bat die anderen, beiseitezutreten, nahm Miss Arundell behutsam auf den Arm und trug sie nach oben in ihr Zimmer, wo er noch eine Minute lang ihr Handgelenk umfasst hielt, zählte, nickte und zu guter Letzt Minnie (die immer noch weinte und zu rein gar nichts nütze war), losschickte, um Brandy zu holen und Wasser für eine Wärmflasche aufzusetzen.

In diesem Augenblick war die zutiefst verwirrte, schmerzgeplagte, am ganzen Leibe zitternde Miss Arundell Jacob Tanios unendlich dankbar. Welch eine Erleichterung, sich in sachkundigen Händen zu befinden. Vertrauen flößte ihr der Doctor ein und Zuversicht, alles, was uns ein Arzt vermitteln sollte. Und doch war da noch etwas anderes – etwas, das sie nicht recht in Worte fassen konnte, etwas, das irgendwie verstörend war – aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie wollte trinken und dann schlafen, so, wie er es ihr riet. Trotzdem – irgendetwas fehlte – irgendjemand. Doch nein, daran wollte sie jetzt nicht denken … Die Schulter tat ihr weh – sie trank das Glas, das man ihr reichte, aus.

»Nun wird es ihr gleich wieder gut gehen«, hörte sie Dr. Tanios sagen – welch tröstliche Gewissheit in seiner Stimme lag.

Sie schloss die Augen, wurde aber gleich wieder von einem vertrauten Geräusch geweckt, einem leisen Bellen. Sofort war sie hellwach. Bob – dieser Schlingel! Er bellte vor der Haustür – sein ganz spezielles, gedämpftes, jedoch ein ums andere Mal hoffnungsvoll wiederholtes Bellen, als wollte er sagen: Bin die ganze Nacht draußen herumgestreunt, schäme mich sehr.

Miss Arundell horchte auf. Ach ja, alles im Lot. Sie hörte Minnie die Treppe hinunterlaufen, um den Hund einzulassen. Sie hörte, wie die Haustür quietschend geöffnet wurde, dann leises, wirres Gebrabbel – Minnies unnützes Schimpfen – »Oh, du böses kleines Hündchen – ganz, ganz böser kleiner Bobsie.«