Der Baron - Siegfried Schneider - E-Book

Der Baron E-Book

Siegfried Schneider

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Beschreibung

Seit Jahrzehnten gehört „Der große Preis von Meran“, eines der bedeutendsten und höchstdotierten Hindernisrennen Europas, zu den Höhepunkten des Jahres. Die Stadt an der Passer wird dann jedes Mal zum Mekka aller Pferdeliebhaber. Aber diesmal überschattet ein tragischer Todesfall das sportliche und gesellschaftliche Großereignis. Der Fabrikant und Rennstallbesitzer Berthold Warstein ist zwei Tage vor dem Rennen unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen. Lukas Farner und Giovanni Terranostra ermitteln, dass Der Baron, wie er genannt wurde, einen Feind hatte, der eigentlich keiner war.

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Personen

Staatspolizei, Kommissariat am Kornplatz

Lukas Farner, Chefinspektor

Franz Reisinger

Gianni Furlan

Ivo Gebhard

Hans Eller

Desmond Hallmeier

Elmar Gilli, Leiter der Spurensicherung

Carabinieri

Giovanni Terranostra, Maresciallo

Sandro Valetta, Brigadiere Capo

Simon Rupp

Ludwig (Luigi) Baumgart

Remo Martell, Staatsanwalt

Verena Reisinger, Tochter von Franz Reisinger

Bernd Nathusius, Freund von Verena Reisinger

Rita Bassano, Streifenpolizistin

Berthold Warstein (Der Baron), Fabrikant und Rennstallbesitzer

Silvia Strasser, seine Lebensgefährtin Melanie Warstein, seine Tochter Eva Warstein, seine Ex-Frau

Agnes Belitzky, Haushälterin bei Warstein

Marlene Troger,

Geschäftspartnerin von Silvia Strasser

Heidrun Lackner, Warsteins Sekretärin

Jakob Kranz, Warsteins Chauffeur

Roland Bruckner, Angestellter bei ›Verdina‹, Freund von Melanie Warstein

Walter Hendrich, Personalchef bei ›Verdina‹

Rudolf Seiters, Angestellter bei ›Verdina‹

Harry Menzel, Pförtner und Sicherheitsmann bei ›Verdina‹

Dr. Johannes Trapp, Kollege von Verena Reisinger

Arthur Götsch, Tierschützer

Aldo Contini, Pferdezüchter in Rovereto

Dr. Hans Margreiter, Warsteins Anwalt

Dr. Ettore Costello, Anwalt, Ex-Partner von Eva Warstein

Gary Brentano, Trainer und Jockey in Warsteins Rennstall

Meinhard Schellenberger, Stallmeister in Warsteins Rennstall

Dr. Reinhard Maurer, Tierarzt Damian Roggisch, Freund von Jakob Kranz

Inhaltsverzeichnis

Freitag, 24.9.

Samstag, 25.9.

Sonntag, 26.9.

Montag, 27.9.

Dienstag, 28.9.

Mittwoch, 29.9.

Donnerstag, 30.9.

Freitag, 1.10.

Samstag, 2.10.

Anmerkungen

Freitag, 24.9.

Über dem Tag lag von Anfang an ein Schatten. Für Berthold Warstein war es ein Tag der falschen Entscheidungen. Und eine davon war tödlich.

Dabei hätte dies der Auftakt zu einem besonderen Wochenende werden sollen. Den 22. Geburtstag seiner Tochter Melanie wollten sie heute feiern, und – eine Überraschung sollte es werden. Auf dieser Feier, im Kreis seiner Familie, wollte er Silvia, der Frau, mit der er seit zwei Jahren zusammenlebte, einen Heiratsantrag machen. Dazu kam der geschäftliche Erfolg, die guten Verkaufszahlen des ersten halben Jahres, die ihn in eine Hochstimmung versetzt hatten. Und am Sonntag stand der ›Große Preis von Meran‹ auf dem Programm, bei dem eines seiner Pferde, die Stute ›Bella Ragazza‹, zu den heißen Favoriten zählte.

Aber wer sich auf der Siegerstraße wähnt, übersieht leicht Steine und Schlaglöcher, und Warstein, den sie alle ›Baron‹ nannten, neigte ohnehin dazu, missliebige Dinge zu ignorieren oder erst mal beiseitezuschieben.

Mit seiner Firma ›Verdina‹ gab es keine Probleme. Im Gegenteil. Das Geschäft mit Naturkosmetik florierte besser denn je. Sein Vater, ein zugewanderter Österreicher adeliger Herkunft, hatte das Unternehmen vor vierzig Jahren gegründet, und Berthold Warstein hatte daraus sukzessive eine der führenden Kosmetikmarken gemacht. Von seinem Vater hatte er auch die Leidenschaft für den Pferderennsport geerbt.

Zum Wochenende gab es immer eine kleine Aufmerksamkeit für Heidrun Lackner, seine Sekretärin. Heute waren es Blumen, Herbstanemonen, die Silvia heute Morgen, gleich nach dem Frühstück, im Garten gepflückt hatte.

Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Firmengeländes ab, nahm seine Arbeitsmappe und das Blumensträußchen vom Beifahrersitz und machte sich auf den Weg in sein Büro.

Neben der Pförtnerloge stand Jakob Kranz, sein Fahrer, den er gestern entlassen hatte, weil ihn die Polizei mit zwei Promille am Steuer aus dem Verkehr gezogen hatte. Kranz bat ihn, die Entlassung zurückzunehmen, aber Warstein ließ ihn abblitzen. Vielleicht hätte er ihm den Vorschlag machen sollen, als Gärtner bei ihm zu arbeiten, bis er seinen Führerschein wiederbekam. In der Erregung war ihm das nicht eingefallen, denn Kranz war laut und ausfallend geworden, bevor er sich schimpfend davonmachte.

Heidrun Lackner bedankte sich, stellte die Blumen in eine Vase und eröffnete ihm nebenbei, dass sich zwei seiner leitenden Mitarbeiter krankgemeldet hatten. Ärgerlich, weil für diesen Vormittag ein Meeting angesetzt war, bei dem sie über die Marktanalyse des ersten Halbjahres sprechen wollten, über die guten Verkaufszahlen von ›Verdina Naturkosmetik‹ und über die Erweiterung der Produktpalette und der Vertriebswege. Warstein war sauer. Statt die Besprechung auf Montag zu verschieben, ordnete er für den frühen Abend eine Videokonferenz an, obwohl er sich damit selbst keinen Gefallen tat, weil er ja Melanies Geburtstag feiern und vorher noch zu seinen Pferden ins ›Borgo Andreina‹* wollte.

Dann brachte ihm der Besuch von Lars Wittmann auch noch das ganze Nachmittagsprogramm durcheinander. Er hatte den Chef einer Hamburger Marketingagentur erst in der nächsten Woche erwartet. Ein falscher Eintrag in seinem Terminkalender. Beim Mittagessen im ›Vögele‹*, das sich über zwei Stunden hinzog, erläuterte ihm der Mann sein Konzept, wie ›Verdina‹ den skandinavischen Markt erobern könnte. Da mussten die Pferde eben warten.

Anschließend wollte Wittmann die Laboreinrichtungen und den Produktionsbetrieb sehen, um sich für die Kampagne ein Bild zu machen. Auch das ging vor.

Der Nachmittag verging wie im Zeitraffer. Nachdem Wittmann gegangen war und Warstein einige dringende Anrufe erledigt hatte, kam Heidrun Lackner mit der Unterschriftenmappe. »Die Briefe müssen heute noch raus. Übrigens, Roland Bruckner hat Gesprächsbedarf.«

»Das passt mir heute nicht. Machen Sie mit ihm für nächste Woche einen Termin.«

»Es geht um Melanie.«

»Das denk ich mir. Nächste Woche.«

»Und dieser Contini hat wieder angerufen.«

»Was wollte er?«

»Wissen, ob Sie heute noch zum Rennplatz kommen.«

Warstein machte eine wegwerfende Handbewegung. »Dass der immer noch frei herumläuft.«

Für einen Besuch bei den Pferden war es jetzt zu spät. Er nahm sich die Akte Marian Zaharia noch mal vor. Das war ein junger Mann aus Bukarest, dreißig Jahre alt, studierter Biochemiker, dem er vor einem Vierteljahr zu einem Job in seinem Labor verholfen hatte. Praktisch von der Straße weg. Ein Glücksgriff, wie sich inzwischen gezeigt hatte. Jetzt stellte Zaharia bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht. Keine Frage, dass er ihn dabei unterstützen würde.

Und so raste die Zeit dahin, und ehe er sich’s versah, stand Heidrun Lackner in der Tür und wünschte ihm ein schönes Wochenende. »Die Blumen nehme ich mit«, sagte sie lächelnd und roch daran.

»So war’s auch gedacht. Viel Spaß.«

»Danke. Grüßen Sie das Geburtstagskind von mir. Und für Sonntag toi, toi, toi.«

»Keine Sorge. ›Bella Ragazza‹ macht’s.«

Als er um kurz vor sieben nach Hause kam, waren seine Damen schon abfahrbereit. »Hat jemand abgesagt?«

Silvia Strasser empfing ihn mit einem Kuss. »Nein, wir sind zu zwölft. Die anderen kommen direkt da hin.«

Berthold Warstein hatte die Bauernstube im ›Burggräflerhof‹ reservieren lassen. Da hätten leicht noch einige mehr Platz gehabt, aber er wollte, dass es bei einer Familienfeier blieb. Hinter Silvia drängten Agnes, die Haushälterin, die seit einigen Jahren zur Familie gehörte, und Melanie, das Geburtstagskind, zur Tür. Beide waren fein rausgeputzt, wie sich das für den Anlass gehörte. Warstein hatte seiner Tochter heute Morgen schon gratuliert, aber Melanie schaute jetzt, beim Hinausgehen, demonstrativ an ihm vorbei. Sie schmollte, weil er ihr nicht erlaubt hatte, Roland Bruckner zu der Geburtstagsfeier einzuladen. Das war eine Geschichte, über die er unbedingt mit ihr sprechen musste. Aber nicht heute an ihrem Geburtstag.

Silvia strich ihm über die Wange. »Zieh’ dich rasch um.«

Er nahm ihre Hand und berührte sie mit seinen Lippen. »Ich muss noch was erledigen. Fahrt schon mal vor.«

»Mach nicht so lange.«

»Halbe Stunde, länger brauch’ ich nicht.«

Die drei Frauen stiegen in Silvias Wagen und fuhren los. Warstein winkte ihnen noch kurz zu, dann ging er in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und brachte sein Tablet für die Videokonferenz in Stellung.

Die Verbindung stand sofort. Fünf seiner Leute waren zugeschaltet. Der sechste Platz blieb leer. Dass Walter Hendrich, der für die Personalabteilung zuständig war, dieser Sitzung fernblieb, ohne es für nötig zu halten, sich abzumelden, nahm Warstein als persönlichen Affront. War das Hendrichs Antwort auf den Krach, den sie kürzlich miteinander hatten?

»Weiß einer, was mit Hendrich ist?«, fragte Warstein in die Runde.

Allgemeines Kopfschütteln.

»Na schön, so wichtig ist er heute Abend auch nicht. Fangen wir an …«

In den ersten zwanzig Minuten lief alles glatt. Die Wortmeldungen gingen reihum, es wurde lebhaft diskutiert. Aber dann war die Verbindung plötzlich gestört. Die Unterbrechung zog sich hin, und Warstein beschloss, die Konferenz abzubrechen.

»Da hat jemand was gegen uns. Wir verschieben das auf Montag. Danke, meine Herren«, sagte er, aber weil er die anderen nicht mehr im Bild hatte, wusste er nicht, ob sie ihn gehört hatten. Mit der Technik hatte er es nicht so.

Im nächsten Moment läutete es an der Haustür.

»Sekunde, ich komme gleich.« Er schaltete das Tablet aus, schloss den Deckel und stand auf, um die Haustür zu öffnen.

Gianni Furlan amüsierte sich über den Mann am Nebentisch, der versuchte, mit einem Zahnstocher einer Fliege zur Flucht aus seinem Bierglas zu verhelfen. Was ihm schließlich auch gelang. Die Fliege bedankte sich mit einer Ehrenrunde bei ihrem Retter und war dann weg. Farner und die anderen am Tisch waren in die Getränkekarte vertieft und konnten sich nicht entscheiden. Etwas Spezielles sollte es sein.

Vor einer halben Stunde hatten sie sich mit den Carabinieri im ›Relax‹ getroffen, um auf die Beförderung von Sandro Valetta zum Brigadiere Capo anzustoßen. Ivo Gebhard hatte dafür sogar seine Orchesterprobe sausen lassen. Es war eine Selbstverständlichkeit für sie, Valetta ihre Anerkennung zu zeigen, die er sich für seinen Einsatz bei den gemeinsamen Ermittlungen erworben hatte. Nicht nur das. Wenn sich Maresciallo Terranostra eine Bosheit erlaubte oder eine gemeine Bemerkung, was immer wieder mal vorkam, dann war Valetta da und glättete die Wogen.

Was wäre Terranostra ohne Sandro Valetta, dachte Farner und war sich dessen bewusst, dass ein Team nur so gut war, wie die Männer in der zweiten und dritten Reihe. Auch bei ihnen in der Polizeizentrale am Kornplatz. Noch besser wäre, davon war er überzeugt, es gäbe diesen Hierarchiegedanken gar nicht. Gute Teamarbeit braucht keine Rangordnung.

Die Carabinieri waren ebenfalls zu dritt, Valetta, Simon Rupp und Ludwig Baumgart, genannt Luigi, ein neuer Mann, der vor Kurzem aus Schlanders gekommen war und dem der Ruf eines Spitzen-Judokas vorauseilte. Giovanni Terranostra glänzte durch Abwesenheit. Er war übers Wochenende nach Jesolo gefahren.

»Mit Sabrina.« Valetta hatte das nur so dahergesagt, aber damit sofort die Neugier der anderen auf sich gezogen.

»Wer ist Sabrina?«, wollte Furlan wissen.

Valetta zögerte. »Er wird mich zusammenscheißen, wenn ich etwas erzähle.«

»Komm, zier dich nicht«, forderte Furlan ihn mit einem sanften Rippenstoß auf.

Farner musste insgeheim lächeln. Früher hatte Giovanni mit seinen Weibergeschichten angegeben, jetzt wurden sie als Geheimnis gehandelt.

Werner, der Wirt, kam zu ihnen heraus, um ihre Bestellung aufzunehmen, und weil sie sich nicht einig geworden waren, empfahl er einen Südtiroler ›Lamarein‹ vom Weingut Erbhof Unterganzner in Kardaun, der nicht auf der Karte stand.

Valetta gab schließlich nach und erzählte die Geschichte von Giovanni Terranostra und Sabrina Bianchi. Die beiden hatten sich im Frühjahr bei einem Seminar in Bozen kennengelernt, dass sie Psychologin ist, Mitte dreißig, und einen Job an der Uni hat.

»Kennst du sie?«, fragte Furlan.

»Ja. Eine Frau, die zu ihm passt. Sie wohnen noch nicht zusammen, aber sie werden wohl noch in diesem Jahr heiraten.« Er gab Furlan den Rippenstoß zurück. »Wenn mich einer verpfeift, bin ich meine Beförderung wieder los. Also behaltet das gefälligst für euch.«

Damit war das Thema vom Tisch. Ivo Gebhard wandte sich an Valetta. »Ich habe gehört, dass ihr einen Anwalt am Kragen habt, der Mandantengelder unterschlagen und Testamente gefälscht hat.«

»Ja. Gianni kennt die Geschichte. Costello heißt der Typ. Jemand hat ihn angezeigt. Anonym. Der Staatsanwalt hat uns mit den Ermittlungen beauftragt. Wir sind der Sache nachgegangen und in einem Morast gelandet. Nachdem wir die Beweismittel sichergestellt hatten, ist der Mann in U-Haft gekommen. So weit, so gut. Aber dann schnallst du ab. Obwohl fast alle Anschuldigungen zutrafen, ist dieser Costello vor zwei Tagen wieder freigelassen worden. Weiß der Geier, was die da hinter den Kulissen gemauschelt haben. Den Maresciallo hat es fast umgehauen.«

»Das versteh’ ich«, sagte Farner. »Manchmal fragt man sich, ob unser Rechtssystem nicht mal in die Waschanlage müsste.«

Bei der Geburtstagsgesellschaft im ›Burggräflerhof‹ kam langsam Unruhe auf. Es war schon nach acht, und Berthold Warstein war immer noch nicht aufgetaucht.

»Ich weiß nicht, wo er bleibt. Es muss ihm was dazwischengekommen sein«, sagte Silvia Strasser, nachdem Bernd Nathusius, der Pate von Melanie, eine humorvolle Rede auf das Geburtstagskind gehalten hatte.

Melanie, die ihren Unmut überwunden hatte, bedankte sich bei Nathusius und den anderen, die zu dieser kleinen Geburtstagsfeier gekommen waren. Sie legte die Hand auf den Arm ihrer Mutter, die neben ihr saß, und fand auch für sie ein paar warme Worte. Eva Warstein hatte ihren Mann vor drei Jahren verlassen, als Melanie für ein Studienjahr in Kalifornien war. Aber sie hatte ihr das nicht übel genommen. So ist das, hatte ihr ihre Mutter nach ihrer Rückkehr aus Amerika erklärt, wenn die Gefühle füreinander allmählich abkühlen und das Versprechen, das man sich vor vielen Jahren gegeben hat, im Laufe der Zeit Risse bekommt und bröckelt. Ihre Mutter hatte einen neuen Partner und ihr Vater eine neue Frau. So weltfremd, dachte Melanie, kann man nicht sein, um ihr oder ihm einen Vorwurf daraus zu machen.

Und jetzt ließ ihr Vater sie alle warten.

Sie gab dem Kellner ein Zeichen. »Ich denke, wir sollten anfangen.«

Berthold Warstein hatte ein Fünf-Gänge-Menü mit Südtiroler Spezialitäten bestellt. Rohnenknödel mit Käsesoße und Spinatspatzlen, einen Südtiroler Schüttelbrotsalat mit Speck, eine Pfifferling-Cremesuppe oder eine Terlaner Weinsuppe, Wildgulasch mit Birnen oder Rindsfilet in der Salzkruste und zum Nachtisch ein Honigparfait oder Pannacotta mit Schwarzbeeren.

Alle freuten sich auf diese Köstlichkeiten, die Warstein in Absprache mit dem Küchenchef ausgesucht hatte.

Aber die nächsten Minuten wurden zu einem Albtraum, und keiner dachte mehr ans Essen.

Die Rezeptionistin stand plötzlich in der Tür und meldete aufgeregt, dass draußen auf dem Parkplatz ein Mann aus seinem Auto gestiegen und bewusstlos zusammengebrochen war. Sie holte tief Luft. »Es ist der Baron. Die Rettung ist alarmiert. Die müssen gleich hier sein.«

Nathusius, der am nächsten bei der Tür saß, sprang auf und rannte an ihr vorbei. Silvia Strasser und Melanie hinter ihm her. Vor dem Hoteleingang stellte sich ihnen ein Mann in den Weg, ein Hotelgast, der in bester Absicht niemanden durchlassen wollte. Aber Nathusius ließ sich nicht aufhalten und lief zu den beiden Männern, die auf dem Asphalt knieten und mit Herzmassagen und Mund-zu-Mund-Beatmung versuchten, den Mann auf dem Boden, dem sie eine Decke untergelegt hatten, wiederzubeleben. Es war, wie Nathusius sofort sah, tatsächlich der Baron.

»Er atmet wieder selbstständig«, sagte einer der beiden Männer und erhob sich. An seinen Händen war Blut.

In diesem Moment kam der Rettungswagen. Der Notarzt und zwei Sanitäter sprangen aus der Hecktür und übernahmen die weitere Behandlung. Als Warstein wenig später, auf einer Trage angegurtet und an einen Defibrillator angeschlossen, in den Krankenwagen geschoben wurde, wollte Nathusius mit einsteigen. Der Arzt war dagegen.

»Sind Sie ein Angehöriger?«

»Ja, gewissermaßen.«

»Ich kann Sie trotzdem nicht mitfahren lassen. Besser, Sie fahren hinter uns her. Ins Tappeiner-Krankenhaus. Eine Frage noch.« Er sah zum Hoteleingang und zu der Mauer, die das Grundstück umgab. »Der Mann hat eine Schusswunde. Ist hier auf ihn geschossen worden?«

»Sicher nicht. Das hätten wir gehört.«

Aus dem schönen Wochenende, das sie sich beim Abschied aus dem ›Relax‹ gewünscht hatten, wurde nichts. Farner war noch nicht bei seinem Wagen, den er auf dem kleinen Parkplatz vor der Stadtgärtnerei abgestellt hatte, als ihn der Anruf von Reisinger aus dem Tritt brachte.

»Mord?«

»Das weiß ich noch nicht. Am besten, du kommst gleich her.«

»Sagst du mir noch, wohin?«

»Zum Krankenhaus, Einfahrt Goethestraße, neben der Rampe.«

Einen Augenblick lang blieb er unschlüssig stehen und überlegte, ob er Furlan und Gebhard informieren sollte. Aber dann entschied er sich dagegen, weil er selbst erst sehen wollte, was da los war.

Die Stadt war voll. Wenn am letzten Septemberwochenende der ›Große Preis von Meran‹ anstand, eines der bedeutendsten Galopprennen in Europa, wurde es eng auf den Straßen. Und in den Hotels und Restaurants sowieso. Selbst auf dem Ritten, im Hotel seiner Eltern, war der Gästeandrang bei solchen Großereignissen noch zu spüren.

Farner brauchte über eine halbe Stunde, bis er nach einer nervigen Stop-and-Go-Fahrt endlich am Krankenhaus war. Und das abends um neun.

Den Mann, der, den Kopf in die Hände gestützt, neben dem Eingang saß, hätte er nicht erwartet. Bernd Nathusius, der Freund von Reisingers Tochter Verena, mit dem er sich seit dem Frühjahr zwei Mal in der Woche zum Tennis traf, hockte da wie ein schiffbrüchiger Matrose. Etwas abseits stand Franz Reisinger im Gespräch mit einem Arzt.

Nathusius berichtete ihm, was passiert war, von der Geburtstagsfeier im ›Burggräflerhof‹ und dass Warstein, der Gastgeber, sich verspätet hatte, auf dem Hotelparkplatz bewusstlos zusammengebrochen und auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben war. Innerlich verblutet.

»Der Arzt sagt, dass er eine Schussverletzung hat. Aber wo auf ihn geschossen wurde? Ich weiß es nicht. Da oben kann das nicht gewesen sein. Wir haben keinen Schuss gehört.«

»Eine Familienfeier, sagen Sie.«

»Ja. Melanie, die Tochter von Warstein, wollte ihren Geburtstag feiern.«

»Und was haben Sie mit der Familie zu tun?«

»Ich bin der Pate des Geburtstagskindes.«

Schräg über ihnen landete ein Rettungshubschrauber auf dem Dach des Krankenhauses, und es wurde so laut, dass man kein Wort mehr verstehen konnte.

Nathusius wartete, bis der Helikopter wieder abgehoben hatte und weggeflogen war. »Sie kennen die Familie Warstein nicht?«

»Nein.«

»Ihm gehört die ›Verdina‹.«

»Sagt mir auch nichts.«

»Ist auch eher was für Frauen. Naturkosmetik. Die Firma hat ihren Sitz in Bozen. Außerdem besitzt er einige erstklassige Rennpferde. An diesem Wochenende, beim ›Großen Preis von Meran‹, wollte er groß absahnen.«

Reisinger hatte sein Gespräch mit dem Arzt beendet und trat zu ihnen. »Hat dir Nathusius alles erzählt?«

»Ja. Eine mysteriöse Geschichte. Wir müssen uns wohl auf eine lange Nacht gefasst machen.«

»Der Staatsanwalt ist informiert, wird aber noch eine Weile brauchen, bis er hier ist. Die Spurensicherung ist auf dem Weg zum ›Burggräflerhof‹. Gilli hat heute Bereitschaft. Wissen die Angehörigen Bescheid?«

Nathusius nickte und stand auf. »Ich habe sofort nachdem ich vom Arzt erfahren habe, dass er tot ist, mit seiner Frau und mit seiner Tochter gesprochen.«

»Special Service«, sagte der Mann, der aus der Tür des Krankenhauses trat und nach oben zeigte, wo aus der Ferne noch Rotorgeräusche zu hören waren. Es war Reno Martell, der Staatsanwalt. »Eine Mitfluggelegenheit. Guten Abend, die Herren.«

Reisinger begrüßte ihn mit Handschlag. »Da haben Sie Glück gehabt. Mit dem Auto wären Sie noch längst nicht hier.«

»Eben.«

Nathusius hielt sich nicht lange bei ihnen auf. »Sagt mir, wenn ihr mich braucht. Ich warte in meinem Wagen.« Er ging nicht, er trottete. Wie einer, dem man die ganze Antriebskraft genommen hatte.

»Die Obduktion ist angeordnet«, sagte Martell und knackte dabei mit seinen Fingern. Eine unangenehme Angewohnheit. »Dr. Pironi macht das. Sie kennen ihn. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung.«

Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte seine Brieftasche heraus.

»Lassen Sie«, sagte Reisinger. »Wir haben die Nummer.«

Martell reagierte pikiert. »Sie wissen ja gar nicht, was ich Ihnen geben will. Hier. Da bin ich bis morgen Abend zu erreichen. Falls es brennt.«

Reisinger warf einen kurzen Blick auf den Flyer, den ihm Martell reichte, den Prospekt eines Golf-Hotels im Pustertal, und steckte ihn ein.

Der Staatsanwalt hatte noch ein Anliegen. »Jemand muss die Carabinieri informieren. Übernehmen Sie das?«

»Ungern«, sagte Farner.

»Ich meine, inoffiziell. Auf die Schnelle.«

Farner und Reisinger sahen sich an, sagten aber nichts.

»Wo ist das Problem?«, insistierte Martell ungehalten.

Farner räusperte sich. »Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, dass der Maresciallo übers Wochenende …«

Martell ließ ihn nicht ausreden. »Na wenn schon. Mir passt das auch nicht.« Er sah auf die Uhr. »Können wir?«

Der Staatsanwalt fuhr bei Reisinger mit, Nathusius stieg bei Farner ein. Der Verkehr hatte inzwischen merklich nachgelassen. Nur auf der Cavourstraße, zwischen dem ›Palace-Hotel‹ und der Georgenkirche, gab es noch einen längeren Stau.

Unterwegs klärte ihn Nathusius über die Familienverhältnisse bei den Warsteins auf. »Melanie, mein Patenkind, studiert in Innsbruck Politik und Geschichte und ist nur ab und zu bei ihrem Vater in Meran. Sonst gibt es meines Wissens keine Kinder. Eva, Melanies Mutter, hat Warstein vor einigen Jahren verlassen. Ob sie mit jemand anderem zusammenlebt, weiß ich nicht. Und Silvia Strasser, die neue Lebensgefährtin von Warstein, zwanzig Jahre jünger als seine Ex, ist Miteigentümerin einer Parfümerie am Theaterplatz. Ich erzähle Ihnen das mit allem Vorbehalt. Ich stehe ja nicht jeden Tag bei denen in der Küche.«

Am Brunnenplatz bog ein Linienbus vor ihnen rechts ab, und Farner musste die Schennastraße hinauf an jeder Haltestelle hinter dem Bus anhalten, weil es keine geeignete Stelle zum Überholen gab.

»Das nervt.«

»Wir hätten obenrum fahren sollen. Das wäre schneller gegangen.«

»Sie haben gesagt, dass Warstein ›der Baron‹ genannt wurde.«

»Ja. Sein vollständiger Name ist Berthold Warstein Edler von Wels, ein Anhängsel aus der Zeit, als Adelstitel in Österreich noch erlaubt waren. Mit mir hat er nie darüber gesprochen. Ich hatte auch den Eindruck, dass er keinen großen Wert auf seine adelige Herkunft gelegt hat.«

»Wie sind Sie zu der Patenschaft für seine Tochter gekommen?«

»Tja.« Nathusius lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück und ließ sich in die Vergangenheit fallen.

»Das ist lange her. Aber ich kann mich noch an jede Kleinigkeit erinnern. Manchmal geschehen Dinge, da fragt man sich, wer da Regie führt.«

Wenn er jetzt anfangen würde, hätte ich nichts dagegen, dachte Farner, und Nathusius tat ihm den Gefallen.

»Eines Nachts, auf der Straße zwischen Gargazon und Burgstall … Ich war damals im zweiten Semester auf der Uni und viel auf Achse. In dieser Nacht … ein sandfarbener Lancia vor mir schert plötzlich aus und knallt gegen eine Mauer. Das Auto fängt sofort Feuer. Anhalten, rausspringen und die Frau, die benommen über dem Lenkrad hing, aus dem brennenden Wagen ziehen, das war alles eins. Die Frau war schwanger, aber das wusste ich natürlich nicht. Sechs Monate später, am 24. September vor 22 Jahren, hat sie ihr Baby bekommen. Ein Mädchen. Und da haben mich die Eltern gefragt, ob ich Pate werden wolle. Ohne mich wäre Melanie wohl nicht auf der Welt.«

»Eine schöne Geschichte.«

An der Ecke, wo Farner von der Schennastraße abbiegen musste, lag eine leere Obstkiste mitten auf der Straße. Er hielt an. »Die muss ein Apfelbauer verloren haben. Dass da noch keiner drübergefahren ist.«

»Können wir die mitnehmen. Genau so eine brauch’ ich«, sagte Nathusius. »Ich bin nämlich gerade dabei, meinen Keller aufzuräumen.«

»Bedienen Sie sich!«

Nathusius stieg aus, nahm die Kiste und legte sie auf den Rücksitz. Dann fuhren sie weiter.

Auf der schmalen Zufahrtsstraße zum Hotel waren Wanderer noch spät unterwegs, einige von ihnen sichtlich berauscht, und Farner musste höllisch aufpassen, dass er unfallfrei an ihnen vorbeikam.

»Der Gast ist König«, lästerte Nathusius. »Einige von denen kosten das auch bis zum Abwinken aus. Die machen um keine Einkehrmöglichkeit einen Bogen. Und bei der Abreise wollen sie das Geld fürs Abendessen zurück, das sie im Hotel ausgelassen haben.«

»Ich bitte Sie, die haben Urlaub. Da schlägt man schon mal gern über die Stränge.«

Elmar Gilli und seine Männer vom Erkennungsdienst waren bei der Untersuchung von Warsteins Wagen, einem dunkelblauen BMW der 5er-Reihe. Farner hielt vor dem Hoteleingang. Nathusius stieg sofort aus, nahm die drei Stufen zur Tür auf einmal und verschwand im Innern des Hauses. Jemand hatte dafür gesorgt, dass sich keiner von den Hotelgästen draußen aufhielt.

Farner fand, nur wenige Meter von dem BMW entfernt, einen Platz, auf dem er seinen Wagen abstellen konnte. Als er ausstieg, trafen auch Reisinger und der Staatsanwalt ein.

Gilli hatte sie kommen sehen und unterbrach seine Arbeit. »In ein paar Minuten sind wir hier fertig. Wir lassen den Wagen abschleppen und für weitere Untersuchungen, falls nötig, zum Kommissariat bringen.«

Er zog seine Latexhandschuhe aus und steckte sie in die Tasche seines Schutzanzugs. Maßgeschneidert war der nicht. An einigen Stellen spannte er, und an den Schultern war er zu weit. Aber ›Fässchen‹, wie sie ihn nannten, störte das nicht. Diese Uneitelkeit, so empfand es Farner, war etwas, was ihn nicht unsympathisch machte, sondern aufwertete.

In wenigen Sätzen berichtete er, was sie in Warsteins Wagen gefunden hatten, beziehungsweise was nicht. »Blut an der Rückenlehne des Fahrersitzes, in Hüfthöhe und am Lenkrad, aber kein Projektil, keine Hülse und nirgendwo ein Einschussloch. Demnach ist nicht in seinem Wagen auf ihn geschossen worden.« Er zielte mit dem Zeigefinger auf den BMW. »Durch die offene Seitenscheibe von außen? Auch nicht. Dann wäre er in die Schulter, in den Hals oder in den Kopf getroffen worden und nicht in den Bauch.« Er sah Reisinger an. »Er wurde doch in den Bauch getroffen, oder?«

»Hat der Arzt gesagt. Ja, ein Durchschuss.«

»Er kann irgendwo auf der Fahrt hierher ausgestiegen sein, und es ist da passiert«, gab der Staatsanwalt seinen Kommentar dazu.

Reisinger stieß mit dem Fuß gegen einen leeren Abfalleimer, der sofort nachgab und umfiel. »Na dann gute Nacht. Da können wir lange suchen.« Er stellte den Eimer wieder auf und sah Farner an. »Was sagst du?«

»Ich schlage vor, wir fangen bei Warstein zu Hause an. Die Adresse brauchen wir.«

»Wir haben seine Sachen aus dem Handschuhfach«, sagte Gilli. »Kann sein, dass sie dabei ist.«

»Lass mal. Der da hat sie bestimmt.«

Farner hatte gesehen, dass Nathusius mit zwei Frauen aus dem Hotel gekommen war. Die drei blieben am Eingang stehen und sahen zu ihnen herüber. Farner wollte zu ihnen gehen, aber der Staatsanwalt hielt ihn am Arm fest.

»Ich darf mich dann verabschieden. Ich hab’s etwas eilig.«

»Wann geht der nächste Helikopter?«, spottete Reisinger.

»Schön wär’s«, ging Martell darauf ein. »Ich werde mir ein Taxi rufen. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

Wen denn sonst, hätte Farner, dem diese Floskel zum Hals raushing, beinahe erwidert. Für so einen Spruch muss man auch nicht extra mit dem Hubschrauber einfliegen und sich dann gleich wieder vom Acker machen. Aber was soll’s. Besser so, als wenn er ihnen bei ihrer Arbeit im Wege wäre.

»Er wird mir fehlen«, flachste Reisinger. »Wer sagt uns jetzt, wo’s langgeht?«

Farner gab sich einen Ruck und ging zu den dreien, die sich nicht vom Eingang weggerührt hatten. Nathusius stellte ihm die beiden Frauen vor.

»Mein Beileid.«

Silvia Strasser hielt die Hand von Nathusius fest, als suche sie Halt, während Eva Warstein, die einen Strohhut trug und nervös an der Schleife ihrer Bluse nestelte, Farners Blick auswich, als sei seine Beileidsbekundung nicht auch für sie bestimmt. Die zwanzig Jahre Altersunterschied, die Nathusius unterwegs im Auto erwähnt hatte, sah man ihnen nicht an. Beide hatten verweinte Augen.

»Chefinspektor Farner und seine Leute ermitteln, wie es zu dem tragischen Todesfall gekommen ist«, sagte Nathusius.

»Können wir reden?«, wandte sich Farner an Silvia Strasser.

Sie nickte.

»Wenn Sie mir den Ablauf des Abends kurz schildern würden … Wann und wo haben Sie Ihren Lebensgefährten zuletzt gesehen?«

»Gegen sieben, vor unserem Haus. Wir wollten hierher. Er war spät dran.« Ihre Stimme war belegt. Sie hüstelte ein paar Mal und hielt sich das Taschentuch vor den Mund.

»Wir können das auch verschieben«, bot Farner ihr an.

»Nein, es geht schon.« Dann berichtete sie, mitunter etwas abgehackt, wie das zu Hause bei ihnen gelaufen war, dass sie selbst, Agnes, die Haushälterin, und Melanie vorausgefahren waren, weil Warstein noch was zu erledigen hatte.

»Hat er gesagt, was?«

»Nein. Ich nehme an, dass es geschäftlich war.«

Farner schaute sich suchend um. »Wo sind die beiden anderen Damen?«

»Agnes ist vor einer Viertelstunde nach Hause gegangen. Sie hat es hier nicht mehr ausgehalten.«

»Nach Hause?«

»Ja, zu Fuß.«

»Können Sie sie erreichen?«

»Ja, warum?«

»Rufen Sie sie bitte an. Sie soll auf keinen Fall ins Haus gehen.« Er überlegte. »Sie soll vor dem Haus auf uns warten.«

Silvia Strasser holte ihr Handy heraus und entfernte sich einige Schritte.

»Und das Geburtstagskind?«

Eva Warstein, die ihren Strohhut abgenommen und hinter sich an einen Stuhl gehängt hatte, fühlte sich angesprochen und wiederholte, was sie Bernd Nathusius im Hotel schon gesagt hatte. »Melanie hat gleich nach dem Anruf von Bernd, als er uns gesagt hat, dass mein Mann … dass Berthold im Rettungswagen gestorben ist, mit ihrem Freund telefoniert, und der hat sie zwanzig Minuten später hier abgeholt.«

»Wie heißt der Freund?«

»Roland Bruckner. Er arbeitet auch in der Firma.«

»Warum war er bei dem Geburtstagsessen nicht dabei?«

»Soviel ich weiß, hat ihr Vater ihr den Umgang mit ihm verboten. Aber fragen Sie mich nicht, warum.«

Farner schrieb sich den Namen auf. »Wissen Sie, wo er wohnt?«

Beide Frauen – Silvia Strasser war inzwischen zurück – zeigten an, dass sie das nicht wussten.

»Gut, wir werden das herausfinden.« Und an Nathusius gewandt: »Können Sie dafür sorgen, dass Melanie Warstein morgen früh ins Kommissariat kommt?«

»Ich werd’s versuchen.«

»Wen haben wir noch?«

»Isolde Körfer«, antwortete Eva Warstein. »Die Schwester von Berthold, mit ihrem Mann und den beiden Enkelkindern. Aus Passau. Sie übernachten hier im Hotel und wollen morgen an den Gardasee weiterfahren.«

»Wann sind sie angekommen?«

»Heute Mittag. Sie haben gesagt, dass sie den ganzen Nachmittag am Pool verbracht haben.«

Sie machte eine kurze Pause, ließ aber erkennen, dass sie noch nicht fertig war. »Und Gesine Wolf, Melanies früheres Kindermädchen, aus Zürich angereist. Sie hat auch hier gebucht und will noch ein paar Tage in Meran dranhängen. Sie sind alle auf ihre Zimmer gegangen.«

»Okay, lassen wir sie schlafen.«

Silvia Strasser sah man an, dass sie auch nicht mehr in bester Verfassung war. Farner bat sie um ihre Adresse.

»Sie können hinter mir herfahren«, sagte sie und deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Da hinauf, oberhalb vom ›Saltnerhof‹.«

»Ich brauche sie für die Kollegen da drüben. Am besten, Sie schreiben sie mir auf.«

Sie verschwand im Hotel und kam kurz darauf zurück und reichte ihm einen beschriebenen Zettel.

»Wenn ich Sie noch um etwas bitten darf. Haben Sie zufällig ein Foto Ihres Mannes dabei?«

»Nein, bedaure. Zu Hause kann ich Ihnen eins geben.«

»Ich habe, glaube ich, eins …«, sagte Eva Warstein und suchte in ihrer Handtasche. »Hier. Es ist nicht mehr ganz neu.«

Farner schaute sich das Foto an, eine Porträtaufnahme, die einen Mann um die sechzig mit buschigen Augenbrauen, vollem Haar und einem schmalen Schnäuzer zeigte. Er steckte es in seine Brieftasche. »Sie bekommen es zurück, sobald wir den Fall abgeschlossen haben.«

»Bitte, wenn Sie dran denken.«

Er dachte ganz was anderes. Schon etwas verwunderlich, wenn die Ex ein Foto von Berthold Warstein dabeihatte und die Frau, die mit ihm zusammenlebte, nicht.

Eva Warstein bot sich an, Nathusius mit in die Stadt zu nehmen. Die beiden verabschiedeten sich auch gleich. Farner bedankte sich bei ihnen.

Nathusius hob den Daumen. »Viel Erfolg.«

»Die Kiste nicht vergessen«, rief Farner ihm nach.

Silvia Strasser ging ins Hotel zurück, um die Rechnung zu bezahlen und ihre Sachen zu holen.

Farner brachte Gilli den Zettel mit der Adresse.

»Kennst di aus«, sagte Gilli. »Da oben war ich schon mal, bei einem meiner ersten Einsätze in Meran. Ist gut und gern zwanzig Jahre her. Aber ich will dir jetzt nicht meine ganze Lebensgeschichte erzählen.«

»Schade.«

»Wir kommen nach, sobald der Abschleppwagen hier war.«

»Wo ist Reisinger?«

»In seinem Auto. Er telefoniert.«

Farner schaute in den dunklen Nachthimmel, und es schien ihm, als seien die Sterne blasser als sonst. Kann man sich so was einbilden? Plötzlich fiel ihm siedend heiß ein, dass er Anne Felderer versprochen hatte, sie vom Kurhaus abzuholen. Gidon Kremer und das ›Kremerata Baltica Chamber Orchestra‹ standen auf dem Programm der ›Meraner Musikwochen‹, die in drei Tagen zu Ende gingen, und er hatte es in diesem Jahr kein einziges Mal geschafft.

Warum gehst du nicht mit, hatte sie ihn noch am Nachmittag gefragt. Dass sich seine Arbeit leider nicht nach dem Programm der ›Musikwochen‹ richtet, hatte er ihr gesagt, egal, wer gerade fiedelt. Das Fiedeln hatte er sofort wieder zurückgenommen, weil er Gidon Kremer für einen großartigen Violinisten hielt. Wenn er es hätte einrichten können, hätte er sich dieses Sahnestück bestimmt nicht entgehen lassen. Aber Furlan, Gebhard und er hatten am Nachmittag einen Drogendealer im Büro, der auspacken wollte. Und am Abend waren sie mit den Carabinieri im ›Relax‹ verabredet, um auf Valettas Beförderung anzustoßen.

Sie hatte 22.30 Uhr gesagt. Auf gut Glück wählte er ihre Nummer. Anne Felderer musste mit dem Handy in der Hand auf seinen Anruf gewartet haben. Sie war sofort dran.

»Du bist pünktlich, mein Lieber. Wenigstens am Telefon. Das Konzert ist gerade zu Ende gegangen.«

»Wie war’s?«

»Ein Erlebnis. Schade, dass du nicht dabei warst. Du hast etwas verpasst.«

»Glaub’ ich. Hör zu, ich kann dich nicht abholen. Wir stecken noch mitten in der Arbeit.«

»Mach dir keine Gedanken. Der kleine Abendspaziergang wird mir guttun.«

Damit war klar, dass sie bei ihm übernachten würde. Das war so nicht abgesprochen. In letzter Zeit war es häufiger vorgekommen, dass sie abends nicht mehr nach Hause fuhr, sondern bei ihm blieb. Eine ungeklärte Situation war das, und er gab sich selbst dafür die Schuld. Er hätte längst mit ihr darüber sprechen sollen, wie es mit ihnen weiterging. Aber er traute sich nicht. Und Anne war zu anständig, ihn zu irgendwas zu drängen. Zu anständig oder zu geschickt?

Reisinger riss ihn aus seinen Gedanken. »Valetta wusste es schon. Der Staatsanwalt hat ihn informiert.«

»Und uns macht Martell die Hölle heiß, die Carabinieri zu verständigen. Ich möchte wissen, was den reitet.«

»Der Brigadiere sagt, er rechne nicht vor Montag mit Terranostras Rückkehr. Ich hab’ ihm gesagt, dass wir uns morgen Vormittag zu einer Lagebesprechung treffen wollen. Um elf in deinem Büro. Bist du einverstanden?«

»Ja. Du müsstest aber Nathusius anrufen und mit ihm eine bestimmte Uhrzeit ausmachen. Ich hatte ihm gesagt, dass er Warsteins Tochter morgen Vormittag ins Kommissariat bringen soll. Am besten vor der Besprechung mit den Carabinieri. Hast du auch mit Furlan gesprochen?«

»Das war schwierig. Ich weiß nicht, wo der sich rumgetrieben hat. Da war so viel Lärm im Hintergrund … ich hab’ ihn kaum verstanden. Er hat gesagt, dass er schon lange kein freies Wochenende mehr gehabt hat.«

»Der Arme hat mein vollstes Mitgefühl.«