Die Galeristin - Siegfried Schneider - E-Book

Die Galeristin E-Book

Siegfried Schneider

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Beschreibung

Es ist eine Frage der Ehre, sagt Die Galeristin Nicole Angerer, die ein wertvolles Gemälde von Antoine Watteau, dessen Provenienz unbekannt ist, seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgeben will. Zum Teufel mit deiner Ehre, sagt ihr Geschäftspartner und Liebhaber Stefan Gaiser, der ein großes Geschäft wittert und angeblich schon einen Interessenten hat, der bereit ist, 3 Millionen für das Bild zu zahlen. Ist der Streit um das Bild das Motiv für den Mord an der jungen Frau, die am nächsten Morgen tot in ihrer Galerie aufgefunden wird?

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Inhaltsverzeichnis

25. Jänner

26. Jänner

27. Jänner

28. Jänner

29. Jänner

30. Jänner

31. Jänner

Anmerkungen

25. Jänner

Der letzte Tag ihres Lebens begann mit einem Lächeln. Nach mehreren schlaflosen Nächten stand für Nicole Angerer fest, was zu tun war. Sie würde sich von ihrem Mann Gernot scheiden lassen, das Sorgerecht für die Kinder beantragen und ihren Geliebten zum Teufel jagen. Ein Gefühl der Erleichterung überkam sie. Als hätte sie den Schlüssel zu der Tür gefunden, hinter der das Leben weiterging.

Die gebürtige Französin lebte seit zwölf Jahren in Meran.

Sie war mit einem angesehenen Architekten verheiratet, hatte zwei wohlgeratene Kinder und war mehrheitliche Teilhaberin einer Kunstgalerie. Alles schien in geordneten Bahnen zu verlaufen. Bis vor einem halben Jahr die Bombe platzte, die in ihrer Umgebung für erhebliche Erschütterungen sorgte.

Knall auf Fall hatte sie ihre Familie verlassen und war mit Stefan Gaiser, ihrem Geschäftspartner, zusammengezogen, mit dem sie ein Verhältnis angefangen hatte.

Nicole hatte ihn, im Beisein ihres Mannes, bei einer Benefizveranstaltung im Kurhaus kennengelernt. Der 40-jährige Nordtiroler, ein charmanter Blickfang, eloquent und aufmerksam, war nach Meran gekommen, um das Management eines Hotels zu übernehmen. Daraus wurde aber nichts. Gaiser blieb trotzdem in Meran. Sie sah ihn hin und wieder bei verschiedenen Anlässen. Bis er sie eines Tages um ein Tête-à-Tête bat. Nicole ließ sich, mehr aus Neugier, darauf ein. Von da an trafen sie sich häufiger, in aller Heimlichkeit, meistens außerhalb der Stadt, wo sie niemand kannte. Nicole Angerer steckte zu der Zeit in einer finanziellen Klemme, und als er ihr vorschlug, sich mit 20 Prozent an ihrer Kunstgalerie zu beteiligen, zögerte sie nicht lange. Woher er das Geld hatte, interessierte sie nicht. Jedenfalls hatte sie ihn nie danach gefragt.

Stefan Gaiser war ein Irrtum, musste sie sich inzwischen eingestehen, und es war höchste Zeit, sich von ihm zu trennen. So geräuschlos wie möglich. Keine langen Diskussionen, keine gegenseitigen Vorwürfe und vor allem keinen Streit um Besitzstände. Sie würden sauber trennen, was ihr und ihm gehörte. Höchstens mit einem kleinen Zugewinn für ihn.

Gaiser hielt sich zurzeit auf einer Kunst- und Antiquitätenmesse in Brüssel auf und wollte vor Mitte der Woche nicht zurück sein. Bis dahin hoffte sie, vollendete Tatsachen geschaffen zu haben. Doch es kam anders.

Nicole, immer noch beschwingt von ihrem Entschluss, alles hinter sich zu lassen, packte an diesem Januarmorgen nur ein paar persönliche Sachen ein, vor allem Wäsche und Kleidung sowie einige Papiere, die ihr wichtig schienen. Unten vor dem Haus wartete der Taxifahrer, der ihre Koffer in die kleine Pension in Gratsch bringen sollte, in der sie eine Weile wohnen würde, bis sich etwas anderes ergab.

Der Taxifahrer half ihr beim Einladen. In diesem Moment bog der Wagen von Gaiser um die Ecke und hielt unmittelbar hinter dem Taxi. Das hätte nicht sein müssen, dachte Nicole und spürte, wie ihr trotz der Kälte plötzlich ganz heiß wurde.

Gaiser sprang aus dem Wagen und kam wütend auf sie zu.

»Was wird das?«

Statt zu antworten, wandte sich Nicole dem Taxifahrer zu, dem die Szene offensichtlich peinlich war. Sie gab ihm die beiden Geldscheine, die sie in der Hand hielt. Den Preis hatte sie vorher ausgemacht.

»30 Euro. Der Rest ist für Sie. Die Adresse haben Sie?«

»Ja.«

Der Mann bedankte sich und stieg in seinen Wagen.

Nicole ließ sich aufreizend viel Zeit, bevor sie auf Gaisers Frage zurückkam.

»Nach was sieht es denn aus?«

Gaiser war sichtlich bemüht, seine Beherrschung nicht zu verlieren.

»Nach einem Abschied auf Französisch.« Er stieß mit der Fußspitze in den harten Schnee, der sich seit einigen Tagen an den Straßenrändern festgefressen hatte. »Ich habe es geahnt. Du warst schon bei meiner Abreise so … so merkwürdig.«

»So?«, gab sie schnippisch zurück, um ihre eigene Unsicherheit zu verbergen. »Ich weiß es erst seit heute Morgen.«

»Was weißt du?«

»Dass ich dich verlassen werde.« Sie knöpfte ihren Mantel zu und ging zu ihrem Wagen.

»Warte«, rief er ihr nach. »Wir können doch darüber reden.«

»Nicht hier auf der Straße.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Ich muss ins Geschäft.«

Gaiser ging ihr ein paar Schritte nach. Sie blieb stehen und sah ihn an. »Du hast eine anstrengende Fahrt hinter dir. Schlaf dich erst mal aus.«

»Ich denk nicht dran.«

Sie stieg ein und fuhr los. Im Rückspiegel sah sie, dass er ihr in seinem Wagen folgte. Beide kamen fast gleichzeitig vor der Galerie an. Nicole ging voraus, sperrte die Tür auf, legte ihren Mantel ab und betrat das Büro, das neben dem Verkaufsraum lag. Gaiser war einige Schritte hinter ihr. Er schien sich beruhigt zu haben. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, zündete sich eine Zigarette an und hielt ihm die Packung hin. Gaiser, der in der Tür stehen geblieben war, lehnte ab.

»Wo wirst du wohnen? Gehst du zu deinem Mann zurück?«

»Nein.«

Sie holte einen Terminkalender aus der Schublade und begann, darin zu blättern. Gaiser zog einen Stuhl heran und setzte sich vis-à-vis von ihr vor den Schreibtisch. Er spürte ihre Kälte und ihre Entschlossenheit und versuchte über einen Umweg, mit ihr in ein vernünftiges Gespräch zu kommen.

»Ist die Uhr wiederaufgetaucht?«

»Nein. Frag nicht so scheinheilig. Du hast doch gesagt, dass sie dir gestohlen wurde.«

»Ja, das stimmt«, sagte er und musste zugeben, dass das eine dumme Frage war.

Sie legte den Terminkalender zur Seite und musterte ihn.

»Hör zu. Es gibt noch etwas, was ich dir sagen muss. Ich werde meine Beteiligung an der Galerie aufgeben.«

Sie wusste, dass er das Geschäft nicht allein weiterführen konnte, weder finanziell noch fachlich. Umso überraschter war sie über seine Reaktion. Er protestierte nicht, blieb ganz ruhig. Nur in seinem Gesicht arbeitete es.

»Was sagst du dazu?«

»Ich bin einverstanden. Ich meine, wenn schon Trennung, dann auf der ganzen Linie. Vorausgesetzt …«

Er nahm die Visitenkarte, die auf dem Schreibtisch lag, und las: »Werner und Marlies Böckmann. Reinigung. Wer ist das?«

»Die Frau, die uns das Bild verkauft hat«, antwortete sie ungehalten. »Lenk jetzt nicht ab. Vorausgesetzt, was …?«

»Vorausgesetzt, wir verkaufen vorher den Watteau*. Ich habe einen Käufer, der bereit ist, drei Millionen dafür auf den Tisch zu legen. Den Erlös teilen wir. Halbe-halbe, versteht sich.«

»Der Watteau, der Watteau. Das Bild gehört uns nicht. Begreif das endlich.«

Vor zwei Wochen war eine Frau in die Galerie gekommen, mit einem Bild unter dem Arm, 40 x 50 Zentimeter groß, in Seidenpapier eingepackt. Sie brauche Geld, hatte sie gesagt, und jemand habe ihr diese Adresse gegeben.

»Lassen Sie mal sehen.«

Die Frau hatte das Bild vorsichtig aus dem Papier gewickelt, und zum Vorschein kam eine grandiose Scheußlichkeit, eine Bergseelandschaft in einem geschmacklosen, pseudobarocken Rahmen.

Eines von diesen Bildern, die zu Dutzenden auf Flohmärkten und bei Ramschverkäufen angeboten wurden. Gaiser hatte den Kopf geschüttelt, aber Nicole kaufte in einer Anwandlung von Generosität und Mildtätigkeit das Bild für 500 Euro an.

»Du bist verrückt«, hatte Gaiser gesagt. »Das taugt nicht mal für den Kamin.«

Sie gab ihm recht. Ein Geschäft war das nicht. Aber dann erlebten sie eine Überraschung, die Nicole den Atem verschlug und Stefan Gaiser sofort einen Schatz wittern ließ.

Hinter dem kitschigen Bergsee steckte ein zweites Bild, ein Rokoko-Motiv, das sie spontan an die ›Fêtes galantes‹* von Watteau erinnerte. Das Bild hatte keine Signatur, auch das sprach für Watteau, und es war außer zwei, drei kleinen Beschädigungen in einem guten Zustand.

Ihre Suche im Internet war erfolglos geblieben. Also hatte sie Arnold Palm, ihren alten Kunstprofessor in Basel, angerufen, ihm das Bild beschrieben, und ihm, um sicherzugehen, noch einige Fotos, die sie gemacht hatte, per E-Mail zugeschickt. Palm war sofort voll eingestiegen. Sie kannte seine Vorliebe für die französische Malerei. Noch am selben Tag wusste sie, dass es sich bei ihrem ›Fund‹ um ›Die Hochzeit des Apoll‹ handelte, ein Bild, das Watteau ein Jahr vor seinem Tod gemalt hatte, vermutlich eine Auftragsarbeit für den Conte de Charissée, und dass das Bild jahrzehntelang als verschollen galt.

Gestern hatte Palm angerufen, dass er auf dem Weg nach Meran sei. Es gebe Neuigkeiten.

Stefan Gaiser klopfte mit den Fingerspitzen ungeduldig auf die Tischplatte. »Halbe-halbe. Die drei Millionen sind nur ein Anfangsgebot. Wahrscheinlich ist noch viel mehr drin. Lockt dich das nicht?«

Nicole schlug den Terminkalender zu. »Meine Antwort ist Nein. Das Bild wird nicht verkauft. Ich werde die rechtmäßigen Besitzer ausfindig machen, und Palm wird mir dabei helfen.«

»Ist er in Meran?«

Nicole nickte nur. Sie fand, dass ihn das jetzt nichts mehr anging.

Gaiser nahm den Meterstab, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag und tippte sich damit an die Stirn. »Ihr habt sie doch nicht mehr alle. Das ist 80 Jahre her. Die leben gar nicht mehr.«

»Das werden wir rausfinden. Egal, wie viel das Bild wert ist, das ist eine Frage der Ehre.«

Gaiser stand auf und knallte den Meterstab auf den Tisch.

»Zum Teufel mit deiner Ehre. Hier geht’s um Millionen.«

»Die uns nicht zustehen.«

Gaiser sprang auf, um den Raum zu verlassen, blieb noch mal in der Tür stehen und drehte sich zu ihr um. »Dann sieh mal zu, wie du aus unserem Vertrag rauskommst. Ich lass mich nicht über den Tisch ziehen.«

Nachdem Katrin Hessler, eine junge Kunststudentin, die dreimal in der Woche auf den Laden aufpasste, aufgekreuzt war, machte sich Nicole Angerer auf den Weg zu ihrem Mann.

Das Gespräch mit Gernot Angerer in seinem Büro war anfangs entspannt und unaufgeregt. Er schien sich zu freuen, sie zu sehen.

»Wie geht es den Kindern?«

»Sie vermissen dich.«

»Ich sie auch.«

»Marc hat gestern die beste Französischarbeit in der Klasse geschrieben, und Daniel ist gut im Rechnen. Christine hat sie zur Belohnung ins Gardaland* eingeladen.«

Nicole spürte, wie leichter Zorn in ihr aufstieg. »Welche Christine?«

»Meine Schwester.«

»Ja, natürlich.«

Sie war Gernots Schwester vor ein paar Wochen auf der Straße begegnet, wollte sie begrüßen, aber Christine Angerer hatte sie ignoriert, war einfach weitergegangen, als kenne sie sie nicht.

»Sie kümmert sich ganz rührend um die beiden«, fuhr Angerer fort, nachdem er bei seiner Sekretärin einen Kaffee für Nicole bestellt hatte.

»Ich denke, sie arbeitet in der Apotheke.«

»Sie hat sich für ein halbes Jahr beurlauben lassen, um mehr Zeit für die Kinder zu haben.«

War das ein Vorwurf? Natürlich war das ein Vorwurf. Nicole wurde unruhig. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, gefiel ihr nicht. »Um es kurz zu machen. Ich möchte die Scheidung.«

»Damit habe ich gerechnet«, sagte Gernot Angerer mit leicht belegter Stimme und begann, sich eine Pfeife zu stopfen. »Ist es wegen Gaiser?«

»Nein, das ist aus.«

»Ich nehme an, du wirst nach Frankreich zurückgehen.«

»Ja. Vielleicht. Aber nur mit den Kindern.«

Von einer Sekunde zur anderen war die Luft zwischen ihnen eiskalt geworden. Angerer sah sie an, als hätte sie ihm gerade den Eingang zur Hölle gezeigt.

»Kommt gar nicht infrage«, stieß er hervor. »Schlag dir das aus dem Kopf. Die Kinder bleiben bei mir. − Ich bekomme das Sorgerecht.«

Nicole Angerer hatte noch einen Trumpf in der Tasche, den sie jetzt zog. »Sei dir da nicht so sicher. − Du hast dieses kleine Mädchen vergessen.«

Angerer wäre beinahe die Pfeife aus dem Mund gefallen.

»Das wirst du nicht tun.«

»Aber sicher werde ich das. Wenn du nicht nachgibst.« Sie stand auf, ignorierte den Kaffee, der gerade gebracht wurde, und ging, ohne sich zu verabschieden. Zwei Tretminen auf dem Weg in ein neues Leben, beide explodiert, konstatierte sie, als sie das Gebäude verließ. So schwer hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Für Stefan Gaiser stand fest, dass er etwas unternehmen musste. Er fuhr heim, nahm ein Bad, zog sich um und telefonierte. Zuerst mit Lamberti. Bruno Lamberti war Steueranwalt und Wirtschaftsberater und einer der wenigen gemeinsamen Freunde, die er und Nicole nach ihrer Trennung von Angerer hatten. Anfang des Winters hatten die beiden Männer begonnen, sich einmal in der Woche zum Squashspielen zu treffen.

»Bleibt’s bei heute Abend?«, fragte Gaiser, nachdem ihn die Sekretärin durchgestellt hatte.

»Ich denke, du bist in Brüssel.«

»War ich auch. Aber ich bin eher zurückgekommen.«

»Fein. Dann werde ich meinem Bruder absagen, der für dich einspringen wollte. Ist sowieso ein lausiger Spieler.«

Gaiser zögerte einen Moment. »Außerdem muss ich was mit dir besprechen.«

»Hast du Ärger mit Nicole?«

»Ja.«

»Dann bis heute Abend«, beendete Lamberti das Gespräch.

»Um sieben vor der Halle.«

Gaiser drückte die Off-Taste seines Telefons und rieb sich nachdenklich das Ohr. Als Nächstes war dieser Kunstprofessor aus Basel an der Reihe. Vielleicht konnte der ihm dabei helfen, Nicole umzustimmen. Was den Watteau betraf. Die private Trennung empfand er als geringeres Übel.

Gaiser probierte es im ›Meranerhof‹, in dem Palm beim letzten Mal abgestiegen war, und er hatte Glück. Sie stellten ihn zu ihm durch.

»Ja, bitte«, meldete sich Palms sonore Stimme mit dem unverkennbaren Schweizer Akzent.

»Guten Tag, Herr Professor. Gaiser ist hier. Ich hätte gern mit Ihnen gesprochen …«

»Tut mir leid. Ich bin in Eile«, kam es unterkühlt zurück.

Dann, nach einer kurzen Pause: »Worum geht’s?«

Gaiser schöpfte Hoffnung und versuchte, das Flattern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Um den Watteau.«

»Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Das müssen Sie mit Frau Angerer besprechen.«

Gaiser gab nicht auf. »Ich hoffe, dass Sie sie vielleicht davon abbringen können …«

»Nein«, unterbrach ihn Palm. »Das habe ich nicht vor. Nicole will die ehemaligen Eigentümer des Bildes beziehungsweise deren Erben ausfindig machen. Und das respektiere ich.«

»Das ist doch hirnrissig«, rutschte es Gaiser heraus.

»War’s das?«

»Ja«, sagte Gaiser kleinlaut, aber da hatte Palm schon aufgelegt.

Nicole traf Arnold Palm im Foyer des Hotels. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn. »Sind Sie gut untergekommen?«

»Ja. Dasselbe Zimmer wie beim letzten Mal. Mit Panoramablick. Optimal.«

Auf dem Weg in die Bar hakte sie sich bei ihm ein. »Bevor Sie mir Ihre Neuigkeiten verraten – ich habe auch eine. Ich habe mich von Stefan Gaiser getrennt.«

Sie nahmen in einer Sitzecke Platz, weit genug von den anderen Gästen entfernt, um sich ungestört unterhalten zu können.

»Jetzt versteh ich. Er hat mich angerufen.«

»Was wollte er?«

»Mich auf seine Seite ziehen. Aber da ist er bei mir auf Granit gestoßen.«

Nicole legte ihre Hand auf seinen Arm. »Danke.«

»Neuigkeiten. Ja.« Er zog ein Papier aus seiner Jackentasche und faltete es auseinander. »Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, nein, was red ich, des vorvorigen Jahrhunderts selbstverständlich, bis dahin hing der Watteau in diversen französischen Adelshäusern. Kauf und Verkauf, Auktionen etc. Alles nachweisbar. 1890 kam das Bild in den Besitz des lothringischen Industriellen Louis Bleichrodt, der später ins Rheinland übersiedelte. Letztmalig registriert wurde das Bild im Jahre 1929 in einem Ausstellungskatalog. Darin ist es als Leihgabe aufgeführt.«

»Aber?«

»Anfang der 1930er-Jahre ist die Familie in die Schweiz emigriert. Danach verliert sich jede Spur von dem Bild.«

Palm goss sich von dem Mineralwasser nach, das Nicole bestellt hatte, und nahm einen Schluck aus dem Glas. »Damals haben einige Kunstliebhaber ihre wertvollen Gemälde übermalt oder hinter unauffälligen Bildern versteckt, um sie vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.«

»Davon hab ich gehört. Weiß man, was aus der Familie geworden ist?«

Arnold Palm steckte das Papier wieder ein. »So weit bin ich noch nicht. Was ist mit dieser Frau, die euch das Bild verkauft hat?«

»Ich habe sie vor zwei Tagen ausfindig gemacht.« Sie zeigte Palm die Visitenkarte. »Sie und ihren Mann. Aber sie können uns auch nicht weiterhelfen. Das Bild stammt angeblich aus der Hinterlassenschaft eines Onkels, dessen Haushalt sie aufgelöst haben. Ich glaube …« Nicole brach ab.

»Du glaubst was?«

»Ich glaube, dass es ein Fehler war, mit den Leuten noch mal Kontakt aufzunehmen. Ich habe sie nur hellhörig gemacht. Die haben plötzlich ganz gierige Augen bekommen, als sie mein Interesse an der Herkunft des Bildes bemerkt haben.«

»Das bildest du dir ein«, sagte Palm und gab ihr die Visitenkarte zurück.

Nicole sah ihn an. »Ich hab noch ein Attentat auf Sie vor.

Sie kennen Kastan in Bozen?«

»Ich habe von ihm gehört.«

»Er ist nicht nur ein hervorragender Restaurator, er hat auch die technische Einrichtung, um die Echtheit eines Bildes zu überprüfen. Radiografie und Infrarot, aber auch die für eine Pigmentanalyse nach einem ganz neuen Verfahren, das in den USA entwickelt wurde. Nennt sich Terahertzstrahlung.«

»Kenn ich.«

»Ich wollte damit warten, bis Sie hier sind.«

»Du hast immer noch Zweifel?«

»Ich will ganz sichergehen, dass wir uns nicht lächerlich machen.«

Palm zuckte mit den Schultern. »Wenn du darauf bestehst …«

»Ich habe uns für heute Abend angemeldet. Sind Sie einverstanden?«

»Ja.«

»Gut. Ich hole Sie gegen halb acht hier ab.«

Eine halbe Stunde später kam Nicole Angerer mit einem Klimakoffer aus der Bank. Sie ging zu ihrem Wagen, legte den Kasten in den Kofferraum und entdeckte beim Einsteigen einen Strafzettel, der unter dem Scheibenwischer klemmte.

Sie ahnte nicht, dass sie die ganze Zeit aus einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Seite beobachtet wurde. Sie stieg ein. Im Wagen schaute sie auf die Uhr. Es war 20 Minuten nach vier.

Drei Stunden später war Nicole Angerer tot.

26. Jänner

Marga Kofler betrat gegen halb acht die Galerie. Der Ablauf war jeden Morgen der gleiche. Sie hängte ihren Mantel auf, ging in den Abstellraum, band sich die Arbeitsschürze um und holte Staubsauger und Putzzeug aus dem Schrank. Dann setzte sie sich an den kleinen Verkaufstisch in der Nähe des Fensters, breitete die Zeitung aus, die morgens immer vor der Tür lag, und las die Schlagzeilen des Tages. Erst jetzt schoss es ihr durch den Kopf, dass sie hereingekommen war, ohne dass sie das Sicherheitsschloss hatte aufsperren müssen. Und warum stand der Wagen von Nicole Angerer, ihrer Chefin, um diese Zeit vor dem Haus? Die plötzliche Unruhe, die sie erfasst hatte, zwang sie hoch. Irgendetwas war anders als sonst. Die Tür zum Büro, die normalerweise offen stand, war zu. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, öffnete die Tür einen Spalt weit und erstarrte. »Oh Gott!« Nicole Angerer lag mit weit aufgerissenen Augen neben dem Schreibtisch, den Mantel halb über die Schulter gezogen und um den Hals einen festgezurrten Schal. Die Wunde auf ihrer Stirn und das eingetrocknete Blut. – Marga Kofler konnte gar nicht hinsehen.

Sie taumelte, wie von einem Schlag getroffen, zurück, fingerte das Handy aus ihrer Manteltasche und wählte mit zittrigen Händen die Nummer der Polizei.

Die MeBo hatte den ersten Berufsverkehr schon hinter sich. Lukas Farner war auf dem Rückweg vom Ritten, wo er den gestrigen Abend im Haus seiner Eltern verbracht hatte. Seine Mutter hatte zum Abendessen eingeladen, einfach so, ohne besonderen Anlass, weil sie die Familie mal wieder an einem Tisch haben wollte, die beiden Söhne, die Schwiegertochter Claudia und den Enkel Leo, der seit dem Herbst in Bozen aufs Gymnasium ging.

Farner war über Nacht geblieben. Es gibt viel zu reden, wenn man sich nicht so oft sieht. Sein Vater war im Laufe des Abends an seine wohlbehüteten Weinreserven gegangen und hatte zur Feier des Tages einen San Guido Sassicaia, einen Brunello di Montalcino und einen 2007er Quintarelli Amarone Riserva aufgemacht. Danach kann man sich nicht mehr ins Auto setzen und nach Hause fahren. Er hatte nach langer Zeit zum ersten Mal wieder in seinem alten Zimmer geschlafen, und als er heute Morgen mit seinen Eltern am Frühstückstisch saß, war es ihm vorgekommen, als hätte jemand die Zeit um zwanzig Jahre zurückgedreht.

Doch damals gab es diese vierspurige Straße noch nicht.

Kurz vor Terlan überholte er einen Sattelschlepper mit polnischem Kennzeichen, ein breiter Koloss, für den auf der alten Staatsstraße 38 eine Fahrspur nicht ausgereicht hätte.

Aber hier war das kein Problem. Anfangs hatte es viel Widerstand gegen den Bau einer Schnellstraße zwischen Bozen und Meran gegeben, von Umweltschützern, Obstbauern und denen, die sowieso immer dagegen sind, egal, worum es geht.

Inzwischen war die MeBo eine der meistbefahrenen Straßen Südtirols und obendrein eine imposante Blickachse.

Vor ihm die schneebedeckten Dreitausender der Texelgruppe, linker Hand der Penegal, die Laugenspitze, das Vigiljoch, alle weiß angezuckert, und darüber ein stahlblauer Himmel ohne ein einziges Wölkchen. Am liebsten hätte er die ganze Schönheit dieses Wintermorgens mit ins Büro genommen. Seine fünf Jahre bei Europol in Den Haag waren weit weg. Im letzten September war er als Chefinspektor zurückgekommen und hatte die Leitung der Meraner Kriminalpolizei übernommen. Vielleicht, dachte er, muss man erst eine Weile fort gewesen sein, um dies alles hier, die Berge, den Himmel, das wohlige Gefühl der Geborgenheit, bewusster erleben und genießen zu können.

Die ersten Monate im Kommissariat am Kornplatz waren gut gelaufen. Das Team war okay – Reisinger, Furlan und die anderen, alles gute Leute, die ihm den Neuanfang leicht gemacht hatten.

Und er hatte sich mit der Stadt angefreundet, die so viel Sehenswertes bot. Nicht nur für Touristen.

Aber es gab in den zurückliegenden Wochen auch etwas, das ihm mehr zu schaffen machte als er zugeben wollte. Die Auseinandersetzungen mit Terranostra. Giovanni Terranostra, Maresciallo bei den Carabinieri, und er waren zusammen zur Schule gegangen und konnten sich nicht ausstehen. Anfangs hatte er gehofft, sie könnten sich aus dem Weg gehen.

Aber dann hatte Reno Martell, der Staatsanwalt in Bozen, angeordnet, dass Staatspolizei* und Carabinieri* im Mordfall Waldner zusammen ermitteln. Danach, bei dem Schlag gegen die albanischen Drogenhändler, nochmals. Und es hatte funktioniert.

Natürlich schlugen sie sich nicht mehr wie früher auf dem Schulhof die Nasen blutig, aber sie prügelten sich mit Worten. Wann immer der eine provozierte, schlug der andere mit scharfer Zunge zurück. Anspielungen und Gemeinheiten im Sekundentakt. Keiner blieb dem anderen etwas schuldig. Diese ständige Spannung zwischen ihnen war mal unterschwellig, mal offenkundig, aber immer spürbar. Wer ist schlauer? Wer macht den besseren Job? Wer hat einen besseren Schlag bei Frauen? Das reichte bis zur kindischen Frage, wer der bessere Weinkenner ist. Ein Wettstreit, eine Rivalität auf allen Ebenen. Befeuert noch durch die unterschiedliche Herkunft. Terranostras Großeltern waren in den 1930er jahren aus Kalabrien nach Südtirol gekommen, und Farners Familie stammte aus Bozen, vom Ritten, wo seine Eltern ein 4-Sterne-Hotel betrieben, das inzwischen sein älterer Bruder übernommen hatte. Für Außenstehende mochte das amüsant sein, wenn sie sich beharkten, für Lukas Farner war es Stress. Wahrscheinlich hätten sie einen Mediator gebraucht, um aus dieser Spirale rauszukommen.

Der Staatsanwalt hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er bei der Aufklärung von Kapitalverbrechen, insbesondere bei Mordermittlungen, weiterhin so verfahren werde. Polizia di Stato und Carabinieri in einem Boot. Zitat: »Ich erwarte, dass die besten Leute, egal ob in Uniform oder Zivil, Hand in Hand arbeiten. Also vergessen Sie Ihre persönlichen Befindlichkeiten.« Es war klar, dass er Giovanni und ihn damit gemeint hatte.

Der Anruf von Franz Reisinger erreichte ihn auf der Höhe von Gargazon. Er mochte den ›Alten‹, der zwei Jahre vor seiner Pensionierung stand, wegen seiner Scharfsinnigkeit, seines Humors und seiner uneingeschränkten Loyalität. Seine Erfahrung war für die Kollegen – und Farner nahm sich da nicht aus – von unschätzbarem Wert. Reisinger war ein Mannschaftsspieler, wie Gianni Furlan, der Fußballer, es mal auf den Punkt gebracht hatte. Und er kannte sein Revier, das Burggrafenamt, wie kein Zweiter.

»Wo steckst du?«

»Im Auto. Auf der MeBo.«

»Du kommst weit rum. Falls du es heute noch bis Meran schaffst … Wir haben einen Mord.«

Reisinger gab ihm den Namen des Opfers und die Adresse der Galerie durch, in der man die Besitzerin tot aufgefunden hatte. »Also gib Gas. Furlan und die Spurensicherung sind schon da.«

»Und die Carabinieri?«

»Man muss mit dem Schlimmsten rechnen«, stichelte Reisinger, der das ›Kasperletheater‹ zwischen Farner und Terranostra nicht so tragisch nahm.

»Anordnung von oben?«

»Ja. Der Staatsanwalt hat Blut geleckt. Er sagt, das hat zuletzt gut funktioniert, die Carabinieri und wir. Ich weiß, dir gefällt das nicht.«

»Nein.«

»Tja. Wir können’s nicht ändern. Noch was. Dein Freund, der Maresciallo, hat die Frau angeblich gekannt, sagt Furlan.«

»Und warum sagst du mir das?«

»Weil ich dich darauf aufmerksam machen will, dass er wahrscheinlich einen Vorsprung hat.«

»Das glaubt er doch immer. Was ist mit Gebhard?«

»Erzähl ich dir später. Pfiati.«

Bei der Ausfahrt in Sinich, die leicht bergauf ging, war ein Streudienstfahrzeug vor ihm. Farner hielt Abstand, um keine Lackschäden an seinem 64er Alfa Romeo Touring Spider zu riskieren. Oben an der Brücke bog der Winterdienst links Richtung Lana ab, und er hatte wieder freie Fahrt. Er sah die streikenden MEMC-Arbeiter, die aus Sorge um ihre Arbeitsplätze einen Informationsstand vor dem Tor der Siliziumfabrik aufgebaut hatten, und er kam, einige hundert Meter weiter, an dem Haus vorbei, in dem in den 1990er-Jahren eines der Opfer einer Mordserie gefunden wurde, die damals für schaurige Schlagzeilen gesorgt hatte. Wie können die Bewohner dieses Haus damit leben, fragte er sich, wenn man schon im Vorbeifahren immer daran denken muss.

Ein Krähenschwarm begleitete ihn wie eine Eskorte bis zu den ersten Häusern von Untermais und bog dann in Richtung Trauttmansdorff ab. Oder waren es Raben? Vom Auto aus konnte man das nicht so gut erkennen. Vögel, die gescheiter sind als viele Menschen. Jedenfalls in der Mythologie, die wie Odins Raben Hugin und Mumin den ganzen Tag unterwegs sind, um zu erfahren, was es Neues in der Welt gibt, und die die Wahrheit von der Lüge unterscheiden können. Womit sie für den Polizeidienst bestens geeignet wären, dachte Farner. Also gleich mit einspannen in die neuen Ermittlungen. Aber die da oben hatten offenbar andere Informationen und einen anderen Tatort, den sie anflogen.

Auf dem Ortseingangsschild war zu lesen, dass Meran die Partnerstadt von Salzburg ist. Seine Eltern hatten in Salzburg geheiratet, und das beantwortete die Frage, warum bei ihnen zu Hause so oft Mozart gehört wurde, beinahe von selbst. Wenn seine Mutter gut drauf war, trällerte sie die Arie der ›Königin der Nacht‹, allerdings mindestens eine Tonlage tiefer als die Callas, was bei seinem Vater immer einen Lachanfall ausgelöst hatte, der ähnlich klang. Dieses ›Hahahahahahahahaha‹ hatte Farner immer noch im Ohr.

9.32 Uhr. Die Digitaluhr links vor dem Autohaus zeigte ihm an, dass er spät dran war. Dann sah er die Streifenwagen der Carabinieri und der Stadtpolizei rechts und links der Straße sowie eine Ansammlung von Schaulustigen. Da musste es sein.

Die Galerie befand sich in einem ockerfarbenen Flachbau mit viel Platz vor und neben dem Haus. Ein seltener Luxus in dieser dicht bebauten Straße, ein richtiges Filetstück. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Investoren ihre Krallen danach ausstreckten, um ein schönes großes Kondominium* auf dem Grundstück zu errichten.

Lukas Farner hielt vor dem Absperrband, das quer über die Einfahrt gespannt war, und wartete, dass ihn der Kollege in Uniform durchließ. Jemand klopfte an seine Scheibe, ein Mann, den er vom Sehen kannte, ein Reporter vom hiesigen Stadtradio.

Aber er winkte ab. Er musste sich erst mal selber ein Bild machen, bevor er irgendwelche Fragen beantworten konnte.

Zwei Männer in Schwarz trugen einen Zinksarg aus dem Haus und schoben ihn in den Leichenwagen. Neben dem Kleinbus, mit dem die Leute vom Erkennungsdienst da waren, war noch Platz.

Er stellte seinen Wagen ab, schaute sich um und entdeckte Gianni Furlan, der neben einer mannshohen Holzskulptur stand und telefonierte. Furlan hatte von ihnen allen den besten Draht zu den Carabinieri, speziell zu dem Brigadiere* Sandro Valetta, der wie er aus der Gegend von Padua stammte. Sie spielten im selben Verein Fußball. Wenn es zwischen Farner und Terranostra geknallt hatte, hatten die beiden schon einige Male zur Schadensbegrenzung beigetragen.

Furlan beendete sein Telefonat und kam auf ihn zu. »Ich hab den Ehemann erreicht. Er kommt her.«

»Langsam, langsam. Erst mal Guten Morgen.«

Furlan steckte sein Handy ein. »Der Morgen ist doch schon fast rum … und richtig gut hat er auch nicht angefangen.«

Sie sahen dem Leichenwagen nach, der vom Gelände fuhr und auf die Straße einbog. Für einen Moment spiegelte sich die Sonne in der Heckscheibe, und man konnte nicht erkennen, ob das Licht von außen oder von innen kam. Farner wischte sich über die Stirn. Was für ein unsinniger Gedanke.

Ein leuchtender Sarg …

»Seit wann bist du hier?«

»Seit kurz nach acht. Eine halbe Stunde später war auch der Staatsanwalt schon da.«

»Wo ist er?«

»Wieder weg. Er hatte es eilig, ein Termin bei Gericht.«

Da gehört er auch hin, dachte Farner, der sich mit der Wichtigtuerei des Doktor Martell immer noch schwertat.

»Und vorher hat er sich noch mal eben die Mühe gemacht und ist hergekommen. Was tut man nicht alles für die Karriere.«

Gestern hatte in Bozen der Prozess im Mordfall Waldner begonnen. Der Termin war schon einige Male verschoben worden, obwohl die Faktenlage eindeutig war. Dafür hatten Giovanni Terranostra und er bei ihrer ersten gemeinsamen Ermittlung, zusammen mit ihren Leuten, gesorgt. Aber die Justiz in Italien hatte ihr eigenes Tempo, und wenn Anwälte auch nur den kleinsten Einwand finden, dann zieht sich das hin. Es war ja auch nicht das erste Mal, dass er sich über die unterschiedliche Beurteilung einer Straftat wunderte. Für den kommenden Donnerstag hatte ihn Martell als Zeuge der Anklage vor Gericht geladen, und im Fall von Ariane Falk, die er seit 25 Jahren kannte, war ihm gar nicht wohl dabei.

»Wolltest du ihn sprechen?«, holte ihn Furlan in das aktuelle Geschehen zurück.

»Muss nicht sein. Ich nehme an, das hat Terranostra schon besorgt.«

»Ja, und nicht zu knapp. Er hat Martell gesagt, dass er von diesen gemeinsamen Ermittlungen mit uns nichts hält.«

»Mit uns oder mit mir?«

»Mit dir. Aber der Staatsanwalt hat ihn auflaufen lassen und vor allen zur Minna gemacht.«

»Und der Maresciallo?«

»Hat den Schwanz eingezogen. Damit sind deine Aktien bei Martell enorm gestiegen. Wunder dich also nicht, wenn er dir den Hof macht.«

»So lange, wie’s dauert. Hat er mit der Presse gesprochen?«

»Ja, aber nur kurz. Keine Einzelheiten. Er hat ihnen versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten.«

Furlan sah zur Absperrung hinüber. »Einige von den Journalisten sind noch da und warten, wie sich das hier entwickelt. Nach dir hat auch einer gefragt. Er hat gesagt, du wärst ihm noch was schuldig.«

»So?« Das muss der gewesen sein, der vorhin mit ihm sprechen wollte. Aber er erinnerte sich nicht, worum es ging.

»Erzähl mal, was ihr bisher rausgefunden habt. Wenn’s geht, der Reihe nach.«

»Nicole Angerer«, begann Furlan, während sie langsam auf das Haus zugingen, »gebürtige Französin, 37 Jahre alt.

Ihr gehört die Galerie. Sie ist mit einem Schal erwürgt worden. Der Arzt sagt, gestern Abend, zwischen 19 und 21 Uhr.«

»Ziemlich viel Luft, wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf.«

»Ja. Die Putzfrau hat sie heute Morgen im Büro gefunden.«

Er zog einen Zettel aus seiner Jackentasche. »Sie heißt Marga Kofler.«

»Hast du mit ihr gesprochen?«

»Nein. Die Frau stand unter Schock und hat kein verständliches Wort rausgekriegt. Valetta hat sie erst mal nach Hause gefahren.«

»Bleib da dran.«

»Längst vorgemerkt.«

»Denkst du, es war Raubmord?«

»Nein. Wir haben ihre Handtasche mit sämtlichen Papieren, Kreditkarten etc. und 560 Euro Bargeld. Ob Bilder gestohlen wurden, weiß ich nicht.«

Vor der Tür blieben sie stehen.

»Den Rest wird dir der Maresciallo erzählen. Er ist schon ganz heiß auf dich«, grinste Furlan und wollte sich abseilen.

»Was hast du vor?«

»Drüben in der Tankstelle haben sie eine Überwachungskamera. Mal sehen, was die hergibt.«

»Gute Idee.«

Als Farner die Galerie betrat, sah er zwei helle, ineinander übergehende Räume, ein Dutzend Bilder an den Wänden, eine Sitzgruppe mit einem flachen Intarsientisch und vier orangefarbenen Sesseln in der Mitte des Raumes, Topfpflanzen in bunten Kübeln, ein Paravent, auf dem Monets ›Frühstück im Grünen‹ abgebildet war, und einen Kamin mit einer Sitzbank davor. Dazu ein naturbelassener Parkettboden, Lärche, schätzte er. Den gleichen hatte er in seinem Apartment. Die Galerie von Nicole Angerer glich eher einem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer als einem Geschäftsraum. Von dem Verkaufstisch neben dem Eingang mal abgesehen. Elmar Gilli, der Leiter der Spurensicherung, saß an dem Tisch und untersuchte einen Alukoffer auf Fingerabdrücke.

»Servus, Farner.«

Lukas Farner grüßte zurück. »Wie sieht’s aus?«

»Wir sind so weit durch. Ich muss nur noch diesen Koffer zum Reden bringen. Bis spätestens heute Mittag sagt er mir, wer ihn alles angefasst hat.«

»Klar«, lächelte Farner, denn das würde nur stimmen, wenn die Fingerabdrücke, die Gilli fand, in einer Datenbank zum Abgleich vorlagen.

»Was ist in dem Koffer?«

»Nichts. Er ist leer.«

»Hast du den Maresciallo gesehen?«

Gilli zeigte auf die Tür zum Büro. »Er ist da drin. Für wen ist der Bericht?«

»Fragst du das im Ernst?«

»Reicht dir das bis heute Nachmittag?«

»Überschlag dich nicht.«

Er betrat das Büro, das von zwei Neonröhren an der Decke hell erleuchtet wurde. Eine Designerlampe auf einem der beiden Schreibtische, die im rechten Winkel zueinander aufgestellt waren, sorgte für zusätzliches Licht.

Giovanni Terranostra stand vor einem offenen Schrank und blätterte in einem Aktenordner. »Ausgeschlafen?«

Farner ignorierte die Frage und das süffisante Grinsen in Giovannis Gesicht. Sachlich bleiben, nicht provozieren lassen, nahm er sich vor.

Es war lange her, aber Giovannis Vater, ein Eisenbahningenieur, hatte sich nach einer Schlägerei auf dem Schulhof mal für seinen Sohn bei ihm entschuldigt, und Farner erinnerte sich noch an jedes Wort. »Nimm’s ihm nicht übel«, hatte er gesagt, »er kann sich selber nicht leiden.« Sein eigener Vater hatte ihm die Schuld gegeben, weil er sich von Giovanni immer wieder herausfordern ließ. »Ich dachte, du bist gescheiter.« Auch das hatte er immer noch im Ohr.

»Furlan hat mit dem Ehemann gesprochen. Er wird gleich hier sein.«

»Benissimo.« Terranostra klappte den Aktenordner zu und stellte ihn in den Schrank zurück. »Die Signora hatte außerdem einen Geschäftspartner. Der Mann heißt Stefan Gaiser.

Schon mal gehört?«

»Nein. Die Frau kannte ich auch nicht.«

Das war ein kleiner Wink, aber Terranostra ging nicht darauf ein.

»Garibaldistraße 33. Merk dir das mal. Das ist seine Adresse.«

»Hat er kein Telefon?«

»Ich hab ihn nicht erreicht.«

Farners Blick fiel auf die Kreidestriche und Markierungstäfelchen auf dem Teppichboden sowie auf das eingetrocknete Blut.

»Da hast du was verpasst«, sagte der Maresciallo und schloss die Tür hinter Farner. »Ich kann dir ja mal beschreiben, wie sie dalag. Bluse und BH zerrissen, den Rock bis zur Hüfte hochgeschoben und das Höschen an den Fußknöcheln.« Es schien ihm Lust zu bereiten, die Geschichte in allen Einzelheiten auszubreiten.

»Das reicht.«

Aber es war nicht Farners Einspruch, der ihn aufhielt, sondern ein Hüsteln an der Tür. Dottore Ernesto Pironi – der Arzt, der die Leiche untersucht hatte – war zurückgekommen.

»Mi scusi. Hab ich mein Handy hier liegen lassen?«

Farner sah das Handy auf dem Schreibtisch und reichte es ihm.

»Das hier?«

»Sì, danke.«

»Wir sprechen gerade über die Tote. Ist sie vergewaltigt worden?«

Pironi legte seine Stirn in Falten. »Auf den ersten Blick sieht es so aus. Warten wir mal die Obduktion ab. Aber nicht gleich morgen. Ich hab noch zwei andere auf dem Tisch liegen.« Er wollte gehen, blieb aber in der Tür noch mal stehen. »Achten Sie bei Ihren Ermittlungen auf Kratzspuren.