Die Meranerin - Siegfried Schneider - E-Book

Die Meranerin E-Book

Siegfried Schneider

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Beschreibung

Gestorben an Allerseelen: Der Mord an der Schauspielerin Silvia Berger, einen Tag vor Beginn der Dreharbeiten zu ihrem neuen Film, lässt die Gerüchteküche in der Kurstadt Meran brodeln und stellt die Ermittler um Lukas Farner und Giovanni Terranostra, die nach wie vor ihre Probleme miteinander haben, vor eine ganz schwierige Aufgabe. Zumal der Tatort ein großes Rätsel ist. Der Mann, den sie für den Täter halten, hat ein wasserdichtes Alibi. Irrtum ausgeschlossen? Es gibt ja auch noch andere, die in Verdacht geraten, aus den unterschiedlichsten Motiven die „Meranerin“ umgebracht zu haben. Farner spricht hinterher von dem kompliziertesten Fall, seit er Chefinspektor in Meran ist.

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Seitenzahl: 272

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Personen

Dienstag, 2.11.

Mittwoch, 3.11.

Donnerstag, 4.11.

Freitag, 5.11.

Samstag, 6.11.

Sonntag, 7.11.

Montag, 8.11.

Anmerkungen

Personen

Staatspolizei, Kommissariat am Kornplatz

Claudia Farner, Schwägerin von Lukas Farner

Lukas Farner, Chefinspektor

Leo, Neffe von Lukas Farner

Franz Reisinger, Vize-Inspektor

Gianni Furlan, Vize-Inspektor Ivo Gebhard

Lydia Rombach, Nachbarin von Lukas Farner

Hans Eller Desmond Hallmeier Rita Bassano, die Neue in Farners Team

Silvia Berger, die »Meranerin«, Schauspielerin Hanna Arnoldi, Produzentin Roman Kessler, Regisseur

Elmar Gilli, Leiter der Spurensicherung Piero Martinelli, Spurensicherung

Toni Wasner, Chauffeur Heiner Thielmann, Szenenbildner Timo Borchert, Requisiteur

Rolf Lehmann, Requisite

Carabinieri

Gerd Fricke, Requisite

Giovanni Terranostra, Maresciallo

Rudolf Mayer-Hagen, Schauspieler

Sandro Valetta, Brigadiere Capo

Guido Straub, Kameramann

Simon Rupp, Brigadiere

Harry Stenzel, Tonmeister

Ludwig (Luigi) Baumgart, Brigadiere

Gabi Eckhold, Freundin von Silvia Berger

Max Riemer, Staatsanwalt

Felix Weinthaler, Cousin von Silvia Berger

Anne Felderer, Buchhändlerin, Farners Freundin Verena Reisinger, Tochter von Franz Reisinger Bernd Nathusius, Freund von Verena Reisinger Astrid Wiegand, Tennispartnerin

Lore Hutter, Sekretärin bei einer Bank Thea Körting, Partnerin von Lore Hutter Jörg Stapf, Hotelier, Hausherr auf Schloss Labers Yvonne Baumann, Rezeptionistin in Schloss Labers

Lorenz Farner, Bruder von Lukas Farner

Dienstag, 2.11.

Meran im Morgenlicht, eingerahmt von den Bergen. Wie gemalt. Silvia Berger stand auf dem Balkon ihres Hotelzimmers und genoss das Glücksgefühl, das dieses Bild in ihr auslöste. Aber ihr Blick ging auch nach innen. Und sie spürte, dass sie bei sich angekommen war. Mit zwanzig hatte sie sein wollen wie Greta Garbo als Königin Christine, mit dreißig wie Liz Taylor als Cleopatra, zwischendurch waren es auch mal Sarah Bernhardt und Ginger Rogers, denen sie nacheiferte, aber erst jetzt, mit Ende dreißig, war sie die, die sie ist – Silvia Berger, ab morgen als Margarete Maultasch* vor der Kamera.

Fast zwanzig Jahre hatte es gedauert, bis Träume und Realität im Einklang waren.

»Um elf ist die Pressekonferenz«, sagte Roman Kessler, der Regisseur, gut gelaunt beim Frühstück. »Nachmittags machen wir eine Stellprobe im Theater. Morgen ist der erste Drehtag, Donnerstag und Freitag Außendreh. Wenn alles gut läuft, haben wir das Ding Ende nächster Woche im Kasten. Ich wünsche uns allen eine schöne Zeit.«

Aber da ahnte noch keiner von ihnen, dass es ganz anders kommen würde.

Gestern, an Allerheiligen, waren sie aus München angereist, einige mit ihrem eigenen Wagen, weil eine Dienstreise nach Südtirol auch immer dazu verlockt, ein paar Tage dranzuhängen. Das Theaterstück ›So nicht, Herr Nietzsche‹, das schon auf mehreren deutschen Bühnen Erfolge hatte, sollte fürs Fernsehen verfilmt werden. In dem Dreiakter geht es um ein fiktives Treffen von Margarete Maultasch, der Gräfin von Tirol, Emmeline Pankhurst, der englischen Suffragette, und Alice Schwarzer, der deutschen Feministin.

Die drei Frauen diskutieren, streiten auch, was die Emanzipation im Laufe der Jahrhunderte gebracht hat – und was noch zu tun bleibt. Wie das Leben so spielt, läuft ihnen ausgerechnet der Philosoph Friedrich Nietzsche über den Weg, ein bekannter Frauenfeind, den sie sich gehörig zur Brust nehmen.

Die Handlung spielt in Meran. Für Silvia Berger war das ein Heimspiel. Sie war hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Schauspielerin hatte sie werden wollen. Vor zwanzig Jahren war sie nach München gezogen, dort hatte sie Karriere gemacht. Ihr letzter Besuch in Meran lag erst drei Monate zurück. Aus einem traurigen Anlass: dem plötzlichen Tod ihrer Mutter. In dem Zusammenhang gab es noch einiges zu klären. Sie wollte mit den Ärzten sprechen und mit dem Pfleger, der ihre Mutter in den letzten Monaten betreut hatte. Zudem war sie mit ihrer Freundin Gabi Eckhold verabredet, mit der sie über all die Jahre Kontakt gehalten hatte.

Kessler bestellte sich noch einen Kaffee und verlängerte seine kleine Ansprache. »Wir haben uns viel vorgenommen. Wir holen den Nietzsche von seinem Sockel, nein, das nicht, aber wir rücken ihn ein bisschen gerade. Und wir werden zeigen, dass Margarete Maultasch ihren Namen zu Unrecht hatte und in Wirklichkeit eine schöne Frau war. Nicht wahr, Silvia?«

»Ich habe das Casting nicht gemacht«, lachte sie. »Und wenn Marthe nicht krank geworden wäre …«

Jörg Stapf, der Hausherr, schaute herein und fragte, ob alles passe.

»Prosecco zum Frühstück. Wir genießen es«, sagte Hanna Arnoldi, die Produzentin. Sie hob ihr Glas und bedankte sich bei ihm, dass er Schloss Labers nach Ende der Saison für die Dauer der Dreharbeiten offen gelassen hatte. »Alle unter einem Dach. Das erspart uns lange Wege und erleichtert unsere Arbeit.«

In zwanzig Minuten sollte es losgehen. Silvia Berger stand auf und verließ den Frühstücksraum. Vor der Abfahrt in die Stadt wollte sie noch einen Blick in die alte Schlosskapelle werfen. Das kleine Gotteshaus aus dem 15. Jahrhundert, das dem heiligen Michael geweiht war, hatte für sie eine ganz persönliche Bedeutung. Ihre Eltern waren vor vierzig Jahren hier getraut worden, und sie selbst hatte in dieser Kapelle ihren ersten Kuss gebeichtet. Fünfzehn war sie da, und, wie sie damals fand, spät dran. An den Jungen konnte sie sich noch gut erinnern, Bernhard aus Wiesbaden, der mit seinen Eltern im Urlaub auf Labers war. Eine Zeit lang hatten sie sich auch geschrieben. Bis sie auf einem Schulfest an einen neuen Küsser geriet. Aber die Küsse und was da sonst noch passierte, beichtete sie nicht mehr.

Die Abfahrt verzögerte sich. Es dauerte etwas länger, bis die Spätaufsteher ihr Frühstück beendet hatten und sie losfahren konnten. Toni Wasner, der Fahrer, der sie mit dem Produktionsbus in die Stadt brachte, sorgte in der oberen Schennastraße für eine Schrecksekunde, als er voll auf die Bremse trat, um eine Weinbergschnecke, die auf dem Weg in den Winterschlaf quer über die Straße schlich, nicht zu überfahren. Er stieg aus, setzte das Tier an den Straßenrand und kehrte unter dem Applaus seiner Fahrgäste ans Steuer zurück.

»Les escargots. Wenn du sie auf dem Teller hast, machst du nicht so ein Bohei«, frotzelte Kessler, der neben ihm saß.

»Nur, wenn sie nicht richtig zubereitet sind.«

Zweihundert Meter weiter, am Brunnenplatz, kam ihnen eine Hochzeitskutsche entgegen. Hanna Arnoldi nahm das als gutes Omen. »Wer so was anfängt, glaubt, dass es gelingt. Und wir trauen uns auch.«

Das Interesse der Medien war groß. Es galt vor allem Silvia Berger. Wenn eine gebürtige Meranerin die Margarete Maultasch spielt, die legendäre Gräfin von Tirol, die im Mittelalter ihr Land den Habsburgern vermacht hat, ist das von Haus aus ein Knüller. Am Wochenende hatten einige Zeitungen bereits groß über dieses Filmprojekt berichtet.

Silvia Berger wollte bei diesem Presse-Meeting im ›Pavillon des Fleurs‹ aber auf keinen Fall neben dem Kollegen Mayer-Hagen sitzen, der den Nietzsche spielte. Sie hatte schon im Bus darauf geachtet, dass sie möglichst weit weg von dem Kerl einen Platz fand. Zwischen den beiden brannte es. Vor zwei Jahren hatten sie eine Affäre, aber sie hatte diese Beziehung schnell wieder beendet, als sie merkte, was für ein Chauvi dieser Mann war. Seitdem redete er schlecht über sie und beschimpfte sie, wenn sie sich begegneten. Was manchmal unvermeidlich ist, wenn man in demselben Beruf arbeitet. Wie das bei diesen Dreharbeiten gutgehen sollte, war noch ein Rätsel. Andererseits passte das genau zu ihren Rollen: der Frauenfeind und die Emanze.

Hanna Arnoldi, die das Problem kannte, hatte vorher eindringlich mit beiden gesprochen und an ihre Berufsehre appelliert. Jetzt hoffte sie, dass das eine interne Sache blieb und nicht in den nächsten Tagen als Klatschgeschichte in den Zeitungen stünde. Nach einer kurzen Begrüßung, einigen anerkennenden Worten über die Südtiroler Filmförderung und dem Dank an Rudi Ladurner*, der ihnen sein Theater für die Dreharbeiten zur Verfügung gestellt hatte, übergab sie an den Regisseur.

Kessler stellte die Darsteller vor, skizzierte den Inhalt des Stücks und sprach über den Reiz, aus diesem Thema kein Drama, sondern, ganz im Sinne des Autors, eine Komödie zu machen. Der Geschlechterkampf kann auch sehr komisch sein, sagte er, und verführe in seinen Auswüchsen geradezu zur Persiflage. »So nicht, Herr Nietzsche. Ich glaube, mit Anstand und Respekt kommt man weiter als mit der Peitsche. Das ist meine persönliche Meinung. Vielleicht haben andere ja ein besseres Rezept.«

Die allgemeine Heiterkeit, die diese Bemerkung auslöste, war eingeplant. Kessler war nicht nur ein erfolgreicher Regisseur, der sich mit seinen Filmen einen Namen gemacht hatte, sondern auch selbst ein unterhaltsamer Mensch.

Danach waren die Journalisten an der Reihe.

»Ladies first«, sagte Kessler und zeigte auf eine junge Frau in der zweiten Reihe, die ihre Hand gehoben hatte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Thema für Alice Schwarzer eine Komödie ist. Hat sie sich zu dem Theaterstück geäußert oder haben Sie sie dazu befragt?«

»Nein. Mit den beiden anderen Frauen haben wir ja auch nicht gesprochen.«

Wieder Lacher.

»Der Herr da hinten, den ich zweimal sehe«, sagte Kessler und zeigte auf einen Mann, der neben einem der großen goldgerahmten Spiegel saß.

»Die Meraner sind sehr gespannt, weil ihre Stadt die Kulisse für diesen Film sein wird. Wo, außer im Theater, werden Sie noch drehen?«

»Vor der Landesfürstlichen Burg, an der Wandelhalle, im Steinach-Viertel und in Trauttmansdorff. Die Kaiserin Sisi, die ja ihre eigene Emanzipationsgeschichte hat, tritt zwar in persona nicht auf, es wird aber in mehreren Szenen über sie gesprochen, und dafür ist Schloss Trauttmansdorff die passende Kulisse.«

»Lion Feuchtwanger* hat Margarete Maultasch als hässlich beschrieben, und bei Ihnen ist sie eine schöne Frau. Wer hat recht?«

»Historisch ist das nicht belegt, dass sie hässlich war. Wenn ich also die Wahl habe zwischen einer schönen und einer nicht so schönen Frau … Ich glaube, da müssen Sie nicht lange raten. Schöne Frauen haben mit Sicherheit ein größeres Publikum. Und das wollen wir ja.«

»Haben Sie das mit Rudi Ladurner abgesprochen, dass im Anschluss an die Dreharbeiten im ›Theater in der Altstadt‹ das Stück ›Mona & Lisa oder die Rache ist weiblich‹ auf dem Spielplan steht?«

»Nein, keine Absprache. Reiner Zufall. Aber da sehen Sie, wie aktuell dieses Thema ist.«

Einige Fragen waren auch an Silvia Berger gerichtet, die nur einmal ins Schleudern kam, als ein junger Journalist wissen wollte, ob sie sich in ihren Filmen in erotischen Szenen doubeln lasse.

Kessler half ihr lachend aus der Bedrängnis. »Sie sind völlig auf dem Holzweg, junger Mann. Sie hat mich sogar gefragt, ob wir nicht eine solch intime Szene in diesen Film einbauen könnten. Musste ich ihr leider abschlagen.«

An diesem Dienstag passte es Lukas Farner ganz gut. Sie hatten einen Fall abgeschlossen, und wenn nichts Gravierendes dazwischenkam, hatte er etwas Luft, um dem Wunsch seines alten Jus-Professors in Trient nachzukommen. Der hatte ihn gebeten, exemplarische Fälle, möglichst regional und aus jüngerer Zeit, aufzuschreiben, damit er sie in seinen Vorlesungen verwenden konnte.

Dafür brauchte er Akten, kein Problem, und nach Möglichkeit Augenzeugen. Er hatte mit Bernd Nathusius, seinem Tennispartner und dem Verehrer von Verena Reisinger, mal darüber gesprochen. Der arbeitete als Ingenieur bei den Etschwerken. ›Batman‹, wie er ihn nannte, hatte ihm Ulrich Brandtner empfohlen, einen jungen Mitarbeiter aus seinem Büro. »Der Brandtner hat vor drei Jahren einen denkwürdigen Bankraub miterlebt, der ganz sicher in diese Kategorie passt. Ich gebe dir seine Nummer, und du machst einen Termin mit ihm aus.«

Dieser Termin war heute, im ›Blauen Schiff‹, nur ein paar Schritte vom Kommissariat entfernt. Farner saß an einem Tisch, von dem aus er die Tür im Blick hatte. Sie hatten ausgemacht, dass Brandtner einen roten Schal trug, damit Farner ihn gleich erkennen konnte. Aber dass das wenig originell war, erlebte er in diesem Moment. Kurz hintereinander betraten zwei junge Männer das Lokal, beide etwa gleich alt und beide trugen einen roten Schal. Aber weil der zweite lachend auf den vor ihm zeigte, den Kopf schüttelte und dann auf sich, war die Sache dann doch rasch klar. Farner winkte ihm zu, und Brandtner kam an seinen Tisch. Sie begrüßten sich.

»Ulrich Brandtner. Guten Tag, Herr Kommissar.«

Farner zeigte auf den Stuhl. »Bitte setzen Sie sich.«

»Ich habe schon oft mit der Polizei zu tun gehabt«, sagte der junge Mann.

»Ach ja?«

»Mein Großvater war Polizist.«

»Wo?«

»In Bozen. Aber bei den Carabinieri. Mit einer schicken Uniform, um die ich ihn immer beneidet habe.« Er nahm den Schal ab und hängte ihn über die Stuhllehne. »Ich soll Sie von Dr. Nathusius grüßen. Er lässt fragen, ob es beim Tennis heute Abend bleibt.«

»Ja, wie abgemacht.« Farner fragte, bevor der Kellner kam: »Was trinken Sie?«

»Was trinken Sie?«

»Keinen Alkohol im Dienst. Nur manchmal. Ein Bier.«

»Dann ich auch.«

Der Kellner kam, und Farner bestellte zwei Bier.

Brandtner legte gleich los. »Den Namen der Bank lassen Sie besser weg. Die werden bestimmt nicht so gern an diesen Vorfall erinnert. Können Sie aber nachlesen. Es war nicht in Meran, sondern außerhalb.«

»Ist auch nicht so wichtig. Nur die Fakten müssen stimmen.«

»Dafür stehe ich gerade.«

Der Ober kam mit dem Bier. »Und zu essen, die Herrschaften?«

»Später.« Nachdem der Ober gegangen war: »Also erzählen Sie. Ich schalte mein Aufnahmegerät ein. Einverstanden?«

»Ja.«

Sie tranken aus ihren Gläsern.

»26. Juli 2007, ein Donnerstag. Ich weiß es noch wie heute. Es war kurz vor Schalterschluss. Ungefähr zehn Menschen waren in der Bank. Einige waren vor mir dran.«

»Hatte nur ein Schalter geöffnet?«

»Ja. Ich hatte keine Lust, so lange zu stehen. Ich hab’ mich in der Nähe des Fensters auf einen Stuhl gesetzt und angefangen, in einer Zeitung zu lesen. Plötzlich ist ein maskierter Mann mit einer Pistole reingekommen und hat gerufen: ›Alle an die Wand‹. Wir haben uns alle mit dem Gesicht zur Wand gestellt, und den Mann hinter dem Schalter hat er aufgefordert: ›Geld in den Tack. Dalli, dalli‹.

Daran habe ich ihn erkannt. An seinem Sprachfehler. Der Mann konnte kein S sprechen. Geld in den Tack. Einen Tag vorher hat an der Kasse vom Supermarkt, nicht weit von der Bank, einer neben mir gestanden, der auch kein S sprechen konnte. So oft kommt das ja nicht vor, und von der Statur her stimmte es auch.

Jedenfalls ging alles sehr schnell. Der Mann hat sich den vollen Sack gekrallt, und weg war er. Einer von den Bankkunden hat die Polizei gerufen, die dann auch schnell vor Ort war. Das Geld war weg, und der Mann hinter dem Schalter saß da wie ein Häufchen Elend. Mit meiner Hilfe, darf ich sagen, wurde der Bankräuber dann auch schnell ausgemacht und einen Tag später verhaftet.« Brandtner machte eine Pause und trank sein Glas leer.

»Noch eins?«

»Bitte. Reden macht durstig.«

»Aber es ist spannend.«

»Die Pointe kommt noch.«

Farner bestellte noch ein Bier für Brandtner und für sich ein Radler.

»Wie gesagt, einen Tag später wurde der Bankräuber verhaftet. Und wo? In der Wohnung des Schalterbeamten. Die Beute haben sie da auch gefunden. Der Mann hinter dem Schalter war nicht das Opfer, sondern der Täter. Der Drahtzieher. Er hat das Geld in den eigenen Sack gepackt. Die ganze Maskerade war nur Show. Und er war sich seiner Sache so sicher, dass er das erbeutete Geld – mehrere zehntausend Euro – nicht mal versteckt hatte.

Seit dieser Geschichte sind übrigens immer mindestens zwei Schalter besetzt.«

»Eine alte Weisheit: Aus Schaden wird man klug.«

»Das war’s.«

Farner schaltete das Gerät aus. »Danke. Sehr interessant. Wenn Sie jetzt Hunger haben …«

»Eine Kleinigkeit.«

Am Ende der Pressekonferenz bedankte sich Kessler für das Interesse und versprach, dass es für die Fotografen an den verschiedenen Drehorten noch spezielle Fototermine geben würde. »Lassen Sie uns die ersten Drehtage abwarten. Für die Außendrehs brauchen wir gutes Wetter. Drücken Sie uns die Daumen.«

Der Applaus verriet ihnen, dass sie mit einer guten Presse rechnen konnten.

Drinnen wurde über Emanzipation gesprochen, draußen wurde sie praktiziert. Als Hanna Arnoldi und ihr Team das Kurhaus verließen, sahen sie auf der anderen Straßenseite zwei Polizistinnen, die einen Mann in Handschellen abführten und ziemlich unsanft in ihren Streifenwagen stießen.

»Wie bestellt«, kommentierte Charlotte Wenck, die Darstellerin der Emmeline Pankhurst, die Szene, während sie in ihrer Umhängetasche kramte.

»Für solche Fälle hab’ ich immer eine Tüte ›Herrenfutter‹* dabei.« Sie hielt Guido Straub, dem Kameramann, die Tüte hin. »Hier, damit du nicht schwermütig wirst. Reich’ sie rum, falls noch einer eine Wiederaufbauhilfe braucht.«

Bis zum ›Theater in der Altstadt‹ waren es nur ein paar Schritte. Die Stellprobe für den morgigen ersten Drehtag stand an. Heiner Thielmann, der Szenenbildner, und die Männer von der Requisite hatten alles vorbereitet.

Wow! Die Illusion war perfekt. Als sie die Treppe zwischen den Sitzreihen, an der Kameraposition vorbei, hinuntergingen, landeten sie nicht auf der Theaterbühne, sondern in der Stiftsbibliothek von St. Gallen. Oder im Stift Melk? Es konnte aber auch die ›Capitolare‹ in Verona sein, die älteste Bibliothek der Welt. Silvia Berger erinnerte sich, dass sie vor vielen Jahren mit ihrer Schulklasse mal dort war.

»Es ist der Bibliotheksaal der Zisterzienserinnen-Abtei Waldsassen«, beendete Thielmann das Rätselraten. Der Filmarchitekt, der schon häufiger mit Roman Kessler gearbeitet hatte, zuletzt bei einer Co-Produktion mit dem Österreichischen Fernsehen, hatte mit wenig Aufwand eine eindrucksvolle Kulisse für diesen Film geschaffen. Drei Projektoren warfen die Bibliotheksbilder von hinten auf einen großen lichtdurchlässigen Paravent, der an den Seiten zum Publikum hin abgewinkelt war und so ein echtes Raumgefühl vermittelte. Leicht auf- und abzubauen und damit sehr praktisch, wenn für die Vorstellungen am Abend ein anderes Bühnenbild gebraucht wurde.

»Der Stuhl für den Nietzsche fehlt«, raunzte Kessler den Requisiteur Timo Borchert an, den sie den ›schönen Timo‹ nannten.

»Der kommt doch erst im dritten Akt«, antwortete Borchert leicht pikiert.

»In der Theatervorlage. Bei uns ist er morgen schon dran. Du hast die Dispo nicht gelesen.«

Borchert zog ab, um den Stuhl zu holen, und der Regisseur ging mit den Schauspielern einige Szenen und Passagen durch; wie sie sitzen, aufstehen, welche Wege sie gehen sollten …

»An dieser Stelle trittst du dem Herrn Nietzsche in den Allerwertesten«, wies er Silvia Berger an und machte es ihr vor.

»Heißt für dich, dass du vorher aufstehst und dich vor das Bücherregal stellst«, wandte er sich an Mayer-Hagen.

Mitten in die Regieanweisungen platzte der Klingelton von Silvia Bergers Handy.

»Hört sich gut an, passt aber nicht in diesen Film«, monierte Kessler die Störung. »Das Handy lässt du morgen bei den Aufnahmen besser in der Garderobe.« »Sorry.«

Sie nahm das Gespräch an und redete, ohne abzuwarten, was der Anrufer wollte. »Ich habe dir gesagt, du sollst das lassen. Schluss jetzt.«

Sie steckte das Handy ein und entschuldigte sich noch mal.

»Schon gut. Einen Fauxpas hat jeder frei.«

Es war gegen halb sechs, als sie mit den Proben Schluss machten. Borchert begann unverzüglich mit dem Abbau.

Auf der Freiheitsstraße war um diese Zeit noch viel Verkehr. In der Fensterfront vom Forsterbräu gegenüber spiegelte sich die untergehende Sonne.

»Ich bleibe noch«, sagte Silvia Berger, als Kessler sie aufforderte, in den Bus einzusteigen. »Ich habe noch eine Verabredung.«

»Dann bis später. Aber mach’ nicht zu lange. Du musst morgen fit sein.«

Er stieg als Letzter ein, und Wasners Bus setzte sich kurz darauf in Bewegung. Hanna Arnoldi, die jetzt hinten saß, schaute zurück und sah, dass Silvia Berger ihr Handy am Ohr hatte und telefonierte.

Der Satz endete mit einem Ass von Astrid Wiegand. 6:3 für Lukas Farner und seine Partnerin. Die Frau hatte einen fabelhaften Aufschlag.

»Wir werden Astrid in Zukunft mit Doppel-S schreiben«, scherzte Bernd Nathusius beim Seitenwechsel, und Verena Reisinger klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.

In dieser Besetzung hatten sie kürzlich zum ersten Mal ein Mixed gespielt und dabei einen ganz neuen Reiz entdeckt.

Jedenfalls die beiden Männer. »Das Spiel an der Seite einer Frau ist wie die Bewerbung zum Kammerdiener«, hatte Nathusius, der Romantiker, gemeint. Und da war was dran. »Stehe zu Diensten, gnädige Frau, und wenn du mal einen Ball verschlägst, mach’ ich das mit einem Smash wieder gut.«

Bevor sie für den zweiten Satz auf ihren Positionen waren, winkte der Mann von der Anmeldung und kam auf Farner zu. »Da war ein Anruf für Sie. Sie möchten bitte Ihren Kollegen Furlan zurückrufen. Er sagt, es sei dringend.«

Es war nicht das erste Mal, dass ihn einer von seinen Leuten wegen einer dringenden Sache aus einem Match holte. Normalerweise nahm er sein Handy in der Tennistasche auch immer mit auf den Platz. Diesmal nicht. »Ich bin gleich zurück«, versprach er und verschwand in Richtung Garderobe.

Gianni Furlan kam ohne Umschweife zur Sache. »Eine Frauenleiche.« »Wo?«

»Bei einem Parkplatz an der Strada Provinciale, unterhalb von Schloss Trauttmansdorff. Wenn du von unten kommst, rechts.«

»Gib mir zwanzig Minuten. Ich muss mich vorher noch umziehen.«

Er ging in die Halle zurück, um seine Tennistasche zu holen und den anderen Bescheid zu sagen. »Finito. Die Revanche müssen wir verschieben.«

Astrid Wiegand streichelte ihren Schläger. »Schade. Ich weiß nicht, ob die Bespannung so lange hält.«

»Die Spannung auf jeden Fall«, kommentierte Nathusius den Spielabbruch. »Das war doch ein bestellter Anruf. Gib’s zu.«

»Soweit kommt’s noch, dass ich Arbeit vorschütze … So, und jetzt muss ich los.«

»A Cowboy’s work is never done*«, sagte Verena mitfühlend. »Ich kenn’ das ja von meinem Vater.«

Sonny and Cher* hin oder her. Wer seinen Job liebt, schaut nicht auf die Uhr, wann Feierabend ist, dachte Farner, als er in den Wagen stieg, um zum Fundort der Leiche zu fahren. Und der denkt auch nicht daran, früher in Rente zu gehen.

Vor ein paar Stunden hatten sie im Büro lange darüber gesprochen, und dieses Gespräch hatte schließlich auch für Klarheit gesorgt. Die vorzeitige Pensionierung von Franz Reisinger, die der Kollege unter Farners Vorgänger ins Auge gefasst hatte, war jedenfalls vom Tisch. Der Rücktritt vom Rücktritt hatte auch bei Furlan, Gebhard, Eller und Hallmeier für Erleichterung gesorgt. Sie mochten den ›alten Hasen‹, von dem man noch so viel lernen konnte.

Dabei war auch zur Sprache gekommen, Reisinger hatte das betont, dass sie ein gutes Team waren, in dem sich einer auf den anderen verlassen konnte, und dass die Art, wie sie miteinander umgingen – die gelegentlichen Sticheleien inbegriffen – von gegenseitiger Anerkennung geprägt war.

Dazu kamen die Erfolge, die zweifellos auch zu einem guten Arbeitsklima beitrugen. In den knapp anderthalb Jahren seit seinem Amtsantritt als Chef der Meraner Kriminalpolizei hatten sie bei den Kapitalverbrechen eine optimale Aufklärungsquote erzielt. Natürlich hatten daran auch die Carabinieri ihren Anteil, und selbst die persönlichen Reibereien zwischen ihm und Terranostra hatten diese effektive Zusammenarbeit nicht beeinträchtigen können. Mit Giovanni lief es in letzter Zeit ohnehin besser als in den ersten Monaten, auch wenn er nicht an einen dauerhaften Sinneswandel des Maresciallo glauben mochte. Seit der Schulzeit konnten sie sich nicht leiden. Vielleicht war da was dran, dass man Feindschaften leichter pflegen kann als Freundschaften. Man lernt aber auch im Laufe der Jahre, diplomatischer damit umzugehen.

Der Parkplatz war hell erleuchtet. Die Flutlichtstrahler der Feuerwehr waren auch auf das Gehölz dahinter gerichtet.

Farner nahm an, dass dort die Spurensicherung bei der Arbeit war.

Der Carabiniere, der die Zufahrt kontrollierte, erkannte ihn und legte die Hand an die Mütze. »Salve dottore. Sie werden schon erwartet.«

»Ich weiß.« Farner stellte den Wagen an einer Bruchsteinmauer ab, an deren Ende ein Weg in den Wald führte, und stieg aus. Er sah Furlan, der auf ihn zukam und im Gehen telefonierte.

»Stolper’ nicht.«

Furlan beendete das Gespräch. »Das war Reisinger. Er fragt, ob er noch gebraucht wird.«

»Und ob. Aber heute Abend nicht mehr.«

»Ich hab’ ihm gesagt, dass du gerade gekommen bist. Endlich. Hat lange genug gedauert.«

Er steckte sein Handy ein. »Gar nicht so einfach, bis man die Leute alle zusammen hat. Immerhin …« »Immerhin was?«

»Immerhin hast du es vor Terranostra und dem Staatsanwalt geschafft.« Er schaute auf seine Uhr. »Die müssten längst hier sein.«

»Eine neue Fahrgemeinschaft?«

Furlan überging das. »Valetta hat den Maresciallo auch erst nach einer halben Ewigkeit in Bozen erreicht.« »Bei seiner Freundin, nehme ich an.«

»Ja, und er hat ihm gesagt, er soll den Staatsanwalt gleich mitbringen.«

»Wer ist die Tote?«

»So genau wissen wir das noch nicht. Eine Carabiniera, die mit ihrer Streife als Erste hier war, glaubt, dass es eine Schauspielerin ist. Sie hat ihr Foto in der Zeitung gesehen. Silvia Berger heißt sie.«

»Den Namen hab’ ich schon mal gehört.«

»Sie hat gelesen, dass sie hier einen Film dreht und mit der ganzen Crew im Schloss Labers wohnt.«

»Ach ja.«

»Kennst du das Hotel?«

»Nein, aber eine Nachbarin hat neulich davon geschwärmt. Sobald Terranostra und der Staatsanwalt hier sind, fahren wir da hoch. Die werden ja wohl um diese Zeit noch nicht schlafen.«

In der Nähe der Ausfahrt wurde der Sarg in den Leichenwagen geschoben. Einige Meter abseits stand der Brigadiere Sandro Valetta, der Spezi von Furlan, im Gespräch mit dem Gerichtsarzt Dr. Pironi, mit dem Farner es schon einige Male zu tun hatte. Ein sympathischer Mensch, auf dessen Fachwissen man sich verlassen konnte.

»Der Doc sagt, die Frau ist erstochen worden. Ein Messerstich in den oberen Bauch. Ein Sexualverbrechen können wir ausschließen, hat er gesagt. Morgen, im Laufe des Tages, kriegen wir seinen Bericht. Willst du noch mal mit ihm sprechen?«

»Im Moment nicht. Warten wir die Obduktion ab.«

»Die Spusi sagt, dass der Fundort der Leiche nicht der Tatort ist.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Zwei Männer, zwei Wanderer, die ihren Wagen hier abgestellt hatten.«

»Und wo haben sie sie gefunden?«

Furlan zeigte in die Richtung. »Dort drüben, an dem kleinen Seitenweg, zwischen den Bäumen.«

»Hast du mit ihnen gesprochen?«

»Ja, aber nur kurz. Die beiden hatten es eilig. Die Namen hab’ ich.« Er blätterte in seinen Notizen. »Hier. Ewald Kofler und Heinrich Schwaiger. Beide aus Burgstall.«

»Das ist nicht gut, dass ihr die habt gehen lassen.«

»Den Schuh zieh’ ich mir nicht an. Woher sollten wir wissen, wann einer von euch hier auftaucht? Und was willst du sie fragen, was wir sie nicht auch gefragt haben? Sie haben nichts gesehen.«

»Zum Beispiel, warum sie die Carabinieri angerufen haben und nicht uns.«

Furlan sah ihn ungläubig an. »Bist du jetzt auch bei den Korinthenkackern gelandet?«

»Ja, klar. Und du hast es nicht gemerkt. Quatsch. Ich wollte nur mal hören, was du von diesen Zuständigkeiten hältst. Die Carabinieri oder wir. So ein Blödsinn. Ich finde, es wird allmählich Zeit, dass wir aus diesem Kästchendenken rauskommen. Wenn du mal bei EUROPOL warst … Da lernst du, globaler zu denken. Von kleinen Ausnahmen abgesehen.«

»Und das wäre?«

»Mich interessiert zum Beispiel der Wetterbericht für Südtirol immer noch mehr als der von Kuala Lumpur.«

»Und es gibt noch viele andere Dinge, die du global nicht lösen kannst. Der Widerstand gegen die Globalisierung wird eh immer größer. Es gibt sogar Leute, die sagen, das sei eine neue Form des Imperialismus.«

»Sag mal, studierst du heimlich?«

»Nein. Ich habe vor Kurzem im Fernsehen eine Dokumentation zu dem Thema gesehen. Und da ist bei mir was hängengeblieben.«

Sie sahen, dass sich Valetta von Dr. Pironi verabschiedete und auf sie zusteuerte.

»Fällt dir was auf? Du und Valetta, ihr habt beide den gleichen Gang. Man sieht, dass ihr Fußballer seid.«

»Und du warst früher Model, he?«

Sandro Valetta, der vor ein paar Wochen zum Brigadiere Capo befördert worden war, begrüßte Farner. »Wenigstens einer. Dem Maresciallo muss was dazwischengekommen sein.«

»Hat der Doc noch was gesagt?«

»Ja. Mit der Verletzung, sagt er, muss die Frau stark geblutet haben. Aber da, wo sie lag, war kein Blut. Außerdem hat er einen Bluterguss an ihrer Stirn festgestellt und Schürfwunden an Armen und Beinen. Ein Sexualdelikt schließt er aus.«

»Das hör’ ich jetzt schon zum zweiten Mal. Hat er was über den Todeszeitpunkt gesagt?«

»Ziemlich präzise sogar. Weil die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hatte, geht er davon aus, dass der Tod maximal eine Stunde bevor die Frau gefunden wurde eingetreten ist.«

»Um 19.30 Uhr ging der Notruf ein«, rekapitulierte Furlan. »Zwanzig Minuten später war der Dottore bei der Toten. Wir können also von einer Tatzeit zwischen 18 und 19 Uhr ausgehen.«

Farner musste schmunzeln. Wie gekonnt sich die beiden gegenseitig die Bälle zuspielten. »Euer Zusammenspiel klappt famos.«

»Jahrelanges Training auf dem Platz«, lachte Valetta, während Furlan die Nase rümpfte. »Besser jedenfalls als bei dir und Terranostra.«

»Wir üben noch.«

Furlans Reaktion zeigte ihm aber auch, dass sein gestörtes Verhältnis zu Giovanni Terranostra die Kollegen mehr beschäftigte, als er das bisher wahrhaben wollte. Sie sprachen nicht darüber, aber sie rümpften die Nasen. Nur Reisinger nahm das gelassener. »Zwei erwachsene Männer, die sich wie Mocciosi* benehmen«, erinnerte er sich an dessen Kommentar. Und: »Wird Zeit, dass ihr mal über euren Schatten springt. Sonst landet ihr wieder im Kindergarten.«

Der Einsatzwagen vom ›Weißen Kreuz‹ verließ den Parkplatz, und einer der Scheinwerfer wurde ausgeschaltet.

»Wir hatten uns den Abend ganz anders vorgestellt«, seufzte Valetta.

»Ihr wart im ›Dopolavoro‹?«

»Ja. Den Ossobuco, den wir bestellt hatten, haben wir nur gerochen. Tiziana war gerade dabei zu servieren, als die Zentrale anrief. Sie hatten den Maresciallo nicht erreicht, deshalb landete der Anruf bei uns. Kein gutes Timing. Wir sind dann sofort los. Und Terranostra? Ich habe versucht, ihn zu erreichen. Niente. Erst viel später, von hier aus, hab’ ich ihn ans Telefon gekriegt. Und dann wünscht er mich auch noch zur Hölle. Würde Ihnen nie einfallen, was?«

»Nein, nicht mal mich selbst.«

»Du bist ja auch nicht an dein Handy gegangen«, sagte Furlan. »Ich hab’ schon gedacht, dir ist was passiert. Bis ich auf die Idee gekommen bin, in der Tennishalle anzurufen.«

»Den Rest kenn’ ich.«

Auf der Mauer, keine drei Meter von ihnen entfernt, stritten zwei Eichelhäher um eine Nuss. Farner fiel ein, was er bei Mark Twain gelesen hatte. Dass diese Vögel sprechen und lachen können. Sie sind so etwas wie die Wächter im Wald. Wenn sie rufen, hört sich das wie ein Alarmschrei an. Die beiden da vorn waren sich plötzlich einig, ließen die Nuss liegen und flogen auf den nächsten Baum. Alarm.

Elmar Gilli hatte sie aufgescheucht. Der Chef der Spurensicherung hatte eine Tasche in der Hand und pfiff vor sich hin.

»Die Vögel wissen nicht, dass du auch ein Vogel bist«, sagte Farner, als Gilli ihm die Hand gab. »Ein lustiger Vogel, vor dem sie keine Angst haben müssen.«

»Erzähl’ das mal weiter. Dann fliegen sie alle auf mich. Ich meine, auch die ohne Flügel.« »Hast du ’n Notstand?«

»Nein. Schau’ hier, wir haben ihre Handtasche gefunden, mit sämtlichen Papieren, ihren Ausweis mit Lichtbild, Führerschein, Kreditkarten etc. und etwa 300 Euro Bargeld. Die Tote ist Silvia Berger, Stockmaß, pardon: Körpergröße, einsvierundsiebzig, wohnhaft in München, Augustenstraße.«

Die Kollegin von der Carabinieri-Streife hatte also recht gehabt, und Gilli hatte mal wieder gezeigt, dass er eine Spürnase hatte und so schnell nicht aufgab.

»Was noch?«

»Eine Halskette, ein Schlüsselbund, eine Strickmütze, einen Terminkalender …«

»Kein Handy?«

»Nein. Irgendwer muss die Tasche in hohem Bogen weggeworfen haben.«

»Woraus schließt du das?«

»Weil sie in einem Gebüsch hing und wir davor und dahinter keine Fußspuren gefunden haben. Der Boden ist weich. Die hätte man sofort sehen können.«

Er gab Farner die Tasche. »Die Fingerabdrücke haben wir. Schaut sie euch in Ruhe an. Da ist vermutlich noch mehr drin, was für euch interessant ist. Handtaschen von Frauen sind unerschöpflich.«

»Sagt der Kenner.« Farner legte die Tasche in seinen Wagen. Wenn Bargeld und Kreditkarten noch drin waren, konnte man auch einen Raubmord ausschließen.

»Wir zieh’n dann ab«, sagte Gilli. »Morgen Vormittag schauen wir uns das hier noch mal an. Ich wünsche einen schönen Abend.«

»Du hast deinen Job gemacht, wir fangen erst an.«

»Viel Erfolg.«

»Der Mann ist sich für nichts zu schade«, sagte Farner anerkennend, nachdem Gilli gegangen war. »Habt ihr die Schramme in seinem Gesicht gesehen? Wahrscheinlich hat er sie selbst noch gar nicht bemerkt. Von dem können wir uns alle eine Scheibe abschneiden.«

Furlan, als wolle er seine Bemerkung von vorhin wiedergutmachen, stieß ihn an. »Nicht so bescheiden, Herr Farner. Du machst dich auch gut als Vorbild.«

»Seht euch das an«, sagte Valetta und zeigte auf den Dienstwagen des Maresciallo, der in dieser Sekunde auf den Parkplatz einbog und neben der Einfahrt hielt. Der rechte Scheinwerfer war kaputt, eine Delle im Kotflügel und die vordere Stoßstange stark verbogen.

»Darf eigentlich nicht passieren, wenn man eine eingebaute Vorfahrt hat«, lästerte Furlan.

Dann kam die Überraschung. Der Mann, der auf der Beifahrerseite ausstieg, war nicht der Staatsanwalt Remo Martell, den sie erwartet hatten, sondern dessen Kollege Max Riemer. Farner kannte ihn bisher nur vom Sehen. Er war ihm einige Male auf den Fluren des Landesgerichts begegnet, ein lässiger Typ, jünger als Martell und drahtiger. Dem Mann hing eine Geschichte an, die im vergangenen Jahr groß in den Zeitungen gestanden hatte. Ein Angeklagter war während der Verhandlung aus dem Gerichtssaal abgehauen. Der junge Staatsanwalt hatte sich kurzerhand seiner Robe entledigt, war hinterhergelaufen und hatte den Flüchtigen nach einer Verfolgungsjagd durch die halbe Stadt wieder eingefangen. Ein Husarenstück.

»Ihr kennt euch?«, fragte Terranostra, der nach ihm ausgestiegen war.

»Noch nicht«, sagte Riemer und gab Farner die Hand. »Aber Martell hat oft über Sie beide gesprochen.«

»Was ist mit ihm?«, wollte Farner wissen, nachdem er Furlan und Valetta vorgestellt hatte.