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In diesem Roman wird über 100 Jahre ein Bauernhof im Naheland zwischen Bad Kreuznach, Kirn und Simmern über vier Generationen beschrieben. Das körperlich harte Leben Anfang der 20er Jahre wird durch technischen Fortschritt, aber immer höheren Preisdruck abgelöst, und bringt die im Buch beschriebene Familie dadurch in eine neue Knechtschaft. Einige Schicksalsschläge und viele Gewissensentscheidungen lassen eine neue Idee aus der nicht mehr existierenden Landromantik aufblühen.
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Seitenzahl: 277
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Autor: Alexander Ruß
Covergestaltung: Gabriele Ruß
Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder noch lebenden Personen sind reiner Zufall und nicht beabsichtigt.
Danke an meine Frau Gabriele und Linda Isted.
ein Naheland-Roman
Die Geschichte
Ein kleiner Bauernhof zwischen dem Naheland und dem Hunsrück, im Dreieck Bad Kreuznach, Simmern und Kirn im Jahr 1925.
Das einfache Leben ohne den technischen Fortschritt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert forderte viel Kraft der hart arbeitenden Bauern. Über den Zeitraum von hundert Jahren wird das Leben von vier Generationen erzählt, vom einem sehr bescheidenen Selbstversorgerhof bis hin zum großen Milchwirtschaftsbetrieb. Über die vielen Jahre durchlief man Höhen und auch Tiefen, wobei der Preisdruck der Märkte, die unabwendbaren Gewissensentscheidungen, sowie eine schwere Alkoholsucht des Betreibers diese lange Bauerntradition fast ins ewige Aus katapultierte, bis eine neue und andersdenkende Generation übernimmt.
Stammbaum der im Buch beschriebenen Familie
Vater Friedrich + Mutter Wilhelmine (Mina)
drei Söhne, zwei im ersten Weltkrieg gefallen
Heinrich geb. 1899 heiratet Maria geb. 1907
ein gemeinsamer Sohn (Josef)
Josef geb. 1927 heiratet Hildegard geb. 1933
drei gemeinsame Kinder
Bernd geb.1958, Michael geb.1960, Monika geb.1965
Bernd geb. 1958 heiratet Inge geb. 1965
zwei gemeinsame Kinder
Markus geb.1989, Sara geb.1994
Sara geb.1994 heiratet Luuk geb. 1990
zwei gemeinsame Kinder
Marlon geb. 2018, Ava geb. 2021
Heinrich und Maria
Irgendwo zwischen dem malerischen Naheland und dem bergischen Hunsrück, in einem Dreieck zwischen Bad Kreuznach, Simmern und Kirn.
Es ist Spätherbst im Jahr 1925. Die roten und gelben Blätter der Bäume lassen die hügelige Landschaft bunt-leuchtend und romantisch wie in einem Märchen erscheinen.
Hier, am Rande eines kleinen Dorfes steht er da - ein kleiner Bauernhof, der teils aus Stein und teils aus Holz gebaut die hier lebenden Familienmitglieder seit vielen Generationen mit allem Lebenswichtigen versorgt.
Die ersten Menschen, die sich an dem mit kristallklarem und frischem Wasser versorgenden Bach vor über siebenhundert Jahren zum ersten mal niederließen, spürten ganz tief in ihrem Inneren, dass dieser Ort genau der Richtige war, Wurzeln zu schlagen. Die idyllische Lage, der satte erdige Geruch und das eindrucksvolle Licht, welches tagsüber die vollendete Natur in einem zauberhaften Bild darstellte, und das nachts mit seinen tausenden funkelnden Sternen den Himmel ausleuchtete, machten die Entscheidung sehr einfach, sich genau hier niederzulassen.
Den umliegenden Wiesen und Wäldern wurde mit viel Schweiß fruchtbarer Ackerboden abgerungen, und es gesellten sich im Lauf der Zeit immer mehr Siedler hinzu, bis das kleine Dorf insgesamt auf 13 überschaubare Höfe anwuchs.
Sie alle lagen mehr oder weniger nahe an einer Hauptstraße, die aus der Vogelperspektive aussah wie eine sich windende Schlange, und von der kleinere Wege seitlich abgingen, die zu den einzelnen Anwesen mit ihren dazugehörigen Häusern führten.
Erst vor kurzer Zeit wurden Holzmasten mit Leitungen in der Ortschaft errichtet, die die einzelnen Häuser mit elektrischem Strom versorgten, der es dann ermöglichte, abends und nachts die Kerzen gegen leuchtende Birnen auszutauschen.
Das steinerne Wohngebäude unserer Familie und der ca. sechs Meter breite Stall integrierten sich unter einem gemeinsamen Ziegeldach, während die Scheune seitlich aus Holz angebaut war.
Zu früheren Zeiten war sie noch ein Bestandteil des Haupthauses, aber durch diverse Umbauten zwecks größerem Platzbedarf wurde eine Neue neben dem Wohnhaus gezimmert. So wurde schon damals, wenn auch sehr bescheiden, expandiert und renoviert.
Um den ganzen Hof herum lagen Streuobstwiesen mit den verschiedensten Bäumen, die jedes Jahr schmackhafte Äpfel, Birnen, Kirschen, Mirabellen und Zwetschgen gedeihen ließen und aus denen dann Wein, eingemachtes Kompott oder Marmelade wurden.
Solange die Früchte frisch waren, wurden sie natürlich auch in ihrer Urform oder als schmackhafter Sonntagskuchen verzehrt, aber das hatte ja leider zeitliche Grenzen, die man nur überwinden konnte, wenn man sie auf irgend eine Art konservierte. Die Wiesen reichten direkt bis an das Gehöft heran, und das Ganze integrierte sich sehr harmonisch in die malerische Landschaft.
Hier konnte man zu jeder Zeit, ob im Frühling, Sommer, Herbst oder im Winter seinen Blick über dieses grandiose Gelände schweifen lassen und darüber staunen, welch tiefen Eindruck diese Bilder in einem hinterließen. Die Tiere, die zum Hof gehörten, konnten ohne großen Aufwand aus ihrem Stall auf die freien Weiden geführt werden, wenn die Jahreszeit und die Temperaturen es erlaubten. Außerdem gehörten noch einige Felder und Wiesen außerhalb des kleinen Ortes zu dem idyllischen Anwesen. Hier erblickten schon viele neue Erdenbürger das Licht der Welt, wuchsen als Kinder auf, lebten und arbeiteten viele Jahre als Erwachsene und beendeten ihr Leben meistens glücklich und zufrieden in hohem Alter als lebenserfahrene Greise. In der guten alten Zeit war das Leben nicht einfach, und es forderte sehr viel harte körperliche Arbeit, dass die Familie überhaupt satt wurde. Aber dafür gab es noch keinen nervraubenden Stress, bei dem mehrere Aufgaben zu gleicher Zeit erledigt werden musste und man nicht wusste, wo einem der Kopf steht. Alles ging gemächlich zu, erst wurde eine Arbeit erledigt, und danach erst die andere, nicht wie heute, wo man drei oder vier Dinge gleichzeitig im „Multitasking“ erledigen muss.
Alle Familienmitglieder haben morgens, mittags und abends noch zusammen gegessen, auch nachmittags Kaffee getrunken, allerdings waren hier nicht immer alle anwesend. Abends und am Wochenende saßen dann alle in geselliger Runde zusammen, der Vater steckte sich ein Pfeifchen an und jeder erzählte, was der vergangene Tag so alles für ihn bereit gehalten hatte und ihn so beschäftigte.
Ab und zu spielte die Familie auch „Mensch ärgere dich nicht“, oder einer überzeugte die anderen mit seinen Künsten in dem Spiel „Mühle“.
Danach gingen alle nicht zu spät schlafen, um sich am nächsten Morgen wieder am Frühstückstisch zu treffen. Allerdings erst, nachdem alle Tiere mit Futter versorgt und gemolken waren.
Die Alten gaben ihr Wissen an die Jungen weiter, und auf diese Weise wurde alles Wichtige, was das Leben dem Hof so alles abverlangte, an die nächste Generation übertragen. Learning by doing, ein heutiger Begriff, den es schon damals gab, nur eben nicht in diesem englischen, in die deutsche Sprache integriertem Wortlaut.
Bis zum letzten Sommer lebten auf unserem Bauernhof Heinrich mit seinem Vater Friedrich und seiner Mutter Wilhelmine, die jeder „Mina“ nannte.
Heinrich und seine Frau Maria führten jetzt den Hof, sie waren seit einem viertel Jahr frisch verheiratet und haben sich hier in diesen alten Mauern ihr neues Nest gebaut. Sie lernten sich im Frühjahr 1924 auf einer Tanzveranstaltung in einem über zehn Kilometer entferntem Dorf an der einmal jährlich stattfindenden Kirmes kennen. Heinrich lieferte damals einen in Bretter gesägten Baumstamm, den er vorher mit seinem Vater im eigenen Waldstück gefällt, und in dem naheliegenden kleinen Sägewerk aufschneiden ließ, an den ortsansässigen Schreiner und nutzte die Gelegenheit, sich nach getaner Arbeit auf dem Festplatz ein Glas kühles Bier zu gönnen. Dort fand gerade die Dorfkirmes statt, die einmal im Jahr fast alle Einwohner mit Bratwurst, Bier und Musik anlockte. Heinrich setzte sich an einen freien Tisch, und während er mit dem erfrischenden Getränk seine durstige Kehle benetzte, hörte er in den von fünf Musikern gespielten Liedern eine überaus gefühlvoll interpretierte Geige und sah, dass sie von einer attraktiven jungen Frau gespielt wurde.
Er wurde sehr neugierig, stand von seinem Platz auf und ging in die Nähe der Musikantengruppe, um sich das Ganze besser anschauen zu können.
Er wollte die Geigerin anlächeln, aber ihr Blick traf ihn nie, sie war zu sehr in ihr Metier vertieft. Das faszinierte Heinrich so sehr, dass er sie jetzt unbedingt kennenlernen wollte und er wartete auf die nächste Spielpause, um sie anzusprechen.
Aber wie sollte er ein Gespräch anfangen, mit der er ihr wenn möglich imponieren könnte, und sich um Gottes Willen nicht noch blamierte.
Er merkte, dass er bei diesem Gedanken schon etwas nervös wurde.
Jetzt verstummte der letzte Takt der Musik und ein Herr aus der Kapelle kündigte eine Spielpause an. Heinrich rutschte das Herz fast in die Hose, trotzdem ging er schnurstracks auf die schöne Frau zu.
Was jetzt sagen, dachte er, aber da rutschte es schon aus ihm raus: „Ganz toll, dei Geichespiel, ich hab so ebbes Gefühlvolles noch nie gehört, besonders nit uffem Dorf und erscht recht nit uf ner Kirmesmussik. Also ich bin hin und hergeriss.“
Das schmeichelte der jungen Dame sehr, so von jemandem gelobt zu werden, und es bewies, dass ihre Töne auch bewusst gehört, und nicht nur das Tanzbein nach ihnen geschwungen wurde. „Oh, viele Dank, so was hört mer liebend gern, abber leider sehr selten, die Leut wolle sich eebe immer nur zur Musik beweche. Na ja, ist abber aach veständlich, bei der hart und trist Arwet das ganze Johr übber. Abber ich hab dich hier noch nie gesiehn, woher kimmschn du?“ Heinrich erzählte seine Geschichte von dem über Stunden dauernden Transport mit dem Ochsenkarren von seinem Heimatdorf hierher und endete damit: „Und ich hätt im Traum nit dran gedacht, mit soviel musikalischem Gefühl hier empfange zu werre.“
„Nochmals viele, viele Dank für so e groß Lob, aber mei Combo verlangt widder no mir.
Ich komm in de nächst Paus nochmo zu der. Bisch du solang noch hier, bevor de dei lang Heemfahrt mitem Ochsenkarre antrittsch?“
„Ja ja, na klar, ich wart liebend gern uff dich, bis gleich“, antwortete Heinrich und konnte gar nicht erwarten, bis die Musik einsetzte und vor allen Dingen, dass er mit dieser interessanten Frau seine Unterhaltung fortsetzen konnte.
Die nächste Runde begann mit dem Volkslied „Du du liegst mir im Herzen“, gefolgt von zwei Ländler, auch im Dreivierteltakt, und danach ein langsames Stück, worin Maria wieder ihr irrsinnig großes und lebendiges Gefühl in einer Improvisation auf ihrer Geige in die Seelen und auch in die Körper der Zuhörer transportieren konnte.
Nach ca. 15 Minuten war wieder eine Spielpause angesagt, und Maria setzte sich erneut zu Heinrich. „Das klang widder einmalich und sehr ergreifend, du bisch eichentlich fasch zu gut für die Kirmes hier, aber mer sieht`s dir aan, du lebsch gänzlich in der Welt vun dene Tön. Wie lange spielsch`n du eichentlich schun Geich?“
„Ach, als ich ein jung Mädche war, is e Grupp Spielleit durch unser Dorf gezoh und hon e kleen Koschtproob uff ihre Inschtrumente gebb.
Ich honn mich sofort in den Klang vun der Geich verliebt, un weil se was zu essen honn wollte und fascht keener im Ort was gebbe wollt, hot mei Vadder gefroot, ob se was hätte, was se vielleicht tausche könnte. Sie honn direkt die Geich angebott, sie hot em Mitspieler gehört, der leider vor paar Woche gestorb war.
Außerdem hätte se noch eine Zwett, und mer könnt se desweche gut abgebbe, ohne dass irgenchend e musikalisch Loch entstehe deet. Mein Vater hot gesiehn, wie ich mich direkt in das Inschtrument veliebt hab und hot der ganz Trupp defür ausreichend Brot, Worscht un vor alle Dinge Wein gebb. Dann sinn se weiter gezoo un ich war die stolze Besitzerin vun ner Geich.
Mei Verwandtschaft, also die Combo, in der ich mitspiel, hon mir schun vor viele Johr die Grundelemente uff der Fiedel beigebracht, de Rescht honn ich mer durch Üübe un nochemo Üübe selbst druff geschafft. Das Meischte lernsche abber im Spiel zusamme mit de Kapell. Jo, das macht mer wärklich e Haufe Spaß.“
Die beiden unterhielten sich noch ein wenig, doch dann musste er sich notgedrungen verabschieden, da er noch einen weiten Weg vor sich nach Hause hatte. Vorher aber ließ er sich noch die Adresse von ihr geben, er wolle ihr mal schreiben.
Kurze Zeit später setzte sich das Ochsengespann mit ihm in Bewegung Richtung Heimat.
Bis er zu Hause auf dem Hof stand, hatte die Dämmerung schon fast den Tag zur Nacht verwandelt, und Heinrich dachte noch lange an seine neue Bekanntschaft, Maria – Maria - Maria.
Irgendwann schlief er dann gegen Mitternacht ein, und der Hahn weckte ihn früh morgens aus seinen süßen Träumen – ein neuer Tag brach an.
Heinrich fütterte die Tiere und säuberte den Stall, legte den Boden mit frischem Stroh aus und dachte, durch die Arbeit würde sein Kopf frei, aber der gestrige Nachmittag beschäftigte ihn noch immer. Er bohrte sich wie ein Wurm in sein Gehirn und ließ ihn nicht mehr los.
So eine interessante Person hatte er bis jetzt in seinem Leben noch nicht kennengelernt, und er hoffte inniglich, dass er Maria schon bald wiedersehen könnte, und dass diese Bekanntschaft sich zu mehr entwickeln würde.
Aber wäre es vielleicht zu früh, schon am nächsten Tag einen Brief zu schreiben? Und wie würde sie reagieren und sich verhalten?
Er wäre unendlich glücklich darüber, wenn sie vielleicht auch an ihn denken würde, so wie er an sie, das wäre die passende Voraussetzung für eine sich zukünftig entwickelnde Freundschaft.
So eine faszinierende Frau würde er nie mehr finden, das fühlte er, und er konnte nicht innehalten, den entscheidenden Brief doch heute schon zu schreiben, der folgende Worte beinhaltete:
Liebe Maria,
der gestrige Nachmittag hat mich ganz und gar gefesselt, und ich lasse ihn heute schon den ganzen Tag Revue passieren.
Ich muss gestehen, dass Du mich mit deinem ergreifenden Geigenspiel sehr berührt hast, und dass ich darauf brenne, Dich wieder treffen zu dürfen.
Ich möchte auf keinen Fall zu aufdringlich sein, aber ich fühle mich einfach sehr befreit, wenn ich Dir jetzt schon schreibe.
Falls auch Du mich nochmal treffen möchtest, antworte mir bitte auf diesen Brief, ich würde mich außerordentlich darüber freuen. Solltest Du es aber vorziehen, die Korrespondenz doch zu beenden, würde mich das unendlich traurig stimmen.
In der Hoffnung, bald auch ein paar Zeilen von Dir lesen zu können, verbleibe ich mit tausend lieben Grüßen.
Heinrich
Er adressierte den Umschlag und warf den Brief in den Briefkasten. Jetzt war Warten angesagt, und die Zeit zog sich so wie die Spannung in ihm, die fast unerträglich wurde. Würde auch Maria ihn wiedersehen wollen, oder sollte doch seine Hoffnung wie ein instabiles Kartenhaus zusammenfallen. Nach vier Tagen beobachtete er den Briefträger, ob er von der Hauptstraße in die Abzweigung zu seinem Hof abbiegen würde, aber er tat es nicht. Es vergingen weitere drei Tage, da ließ sich der Postbote bei seiner Mutter blicken, da er auf dem Feld arbeitete, und gab einen weißen Umschlag mit dem Absender von Maria ab.
Als Heinrich nach Hause kam und seine Mutter ihm den Brief übergab, löste sich die lang aufgestaute Spannung und er brachte nur freudig und erleichtert hervor:
„Na endlich, ich hab schun gedacht, ich hör nichts mehr von der faszinierend Fraa mit der Geich, die ich letscht Woch bei de Auslieferung vum Holz kennegelernt hab. Das ist erst mol e gut Zeiche.“
Voller Erwartung ging er in den Hof, setzte sich auf einen vor dem Tor der Scheune liegenden Strohballen und öffnete das ebenso weiße Kuvert des angekommenen Briefes mit folgendem Inhalt:
Lieber Heinrich,
unser Kennenlernen letzte Woche hat auch mich sehr berührt und ich hatte dieses untrügerische Gefühl, dass ich jemand in meinem Leben getroffen habe, der sich ernsthaft meine Musik anhört und nicht nur dazu tanzt. Du bist mir auch, aber nicht nur wegen Deiner an Musik interessierten Art überaus sympathisch, und ich würde Dich gerne wieder treffen.
Falls es Dir möglich wäre, mich mal an einem Sonntag Nachmittag zu besuchen, würde ich mich sehr darüber freuen.
Bis auf ein hoffentlich baldiges Wiedersehen
Maria
Heinrich sprang von seinem Strohballen wie von einer starken Feder hochkatapultiert mit einem überglücklichen Jaaaaahhh aus dem Sitz auf und war von diesem Moment an für den ganzen und die nächsten Tage überglücklich.
Es hatte geklappt, sie wollte ihn wiedersehen, und er wollte nicht lange damit warten.
Mit einmal Umsteigen plus einer Wartezeit von einer knappen Stunde verbanden zwei Buslinien die beiden Ortschaften, und an dem darauffolgenden Sonntag fuhr Heinrich sehnsüchtig in das zwölf oder dreizehn Kilometer entfernte Dorf, um seine Maria, an die er in den letzten Tagen pausenlos dachte, endlich wieder zu sehen.
Als er vor dem Wohnhaus stand, klopfte sein Herz so laut, dass er jeden einzelnen schnellen Schlag wahrnehmen konnte und jetzt etwas Angst bekam, seine Knie könnten weich werden, wenn er sie gleich treffen würde.
Sein Kommen wurde schon bemerkt, als er noch 100 Meter bis zu der Haustüre zu gehen hatte, denn außer ihm war kein Mensch auf der Straße zu sehen, und alles, was sich vor dem Haus bewegte, weckte die Neugier von Marias Mutter, die durchs Haus rief: „Guckt mo schnell, do kimmt glab` ich e Fremder zu uns.“
Maria blickte durch das zur Straße liegende Fenster und erkannte Heinrich. Aus ihrer momentan neutralen und entspannten Laune entwickelte sich innerhalb von zwei Sekunden eine unbändige Freude und sie stürzte förmlich zur Haustüre, ohne vorher zu kontrollieren, wie ihre Frisur oder die Kleidung sass.
„Das is aber e gelung Überraschung, ich freu mich, dich hier zu sihn. Komm doch rinn, ich stell` dich kurz meiner Mutter und meiner Schwester vor.
Mei Vadder und mei Brüder sin mit meinem Onkel uffem Sportplatz, do spielt unser Fußballmannschaft. Willsche e Tass Kaffee un e Stück Streusselkuche?"
„E wunderschöne Tach, all zusamme, ich freu mich, hier zu sein, und die Spielerin der gefühlvollsten Geige besuchen zu dürfen, aber ganz nebenbei bin ich eichentlich ziemlich nervös.“ „Na, do gehts dir genau wie mir, mir müsse beide sihn, dass mir uns widder beruhiche, das geht glab` ich am beschte mit Kaffee und Kuche.“
Sie bot Heinrich einen Platz am Tisch an und fing an, den Kuchen aufzutischen und den Kaffee einzuschenken. Jetzt setzte sie sich zu ihm, und eine längere zunächst etwas leisere und verhaltene Unterhaltung wechselte zu lustigen und beschwingteren Wortwechseln.
Maria und auch Heinrich vergaßen bei ihrem ersten Rendezvous total die Zeit, bis Maria fragte, wie Heinrich überhaupt zurück nach Hause kommen wollte. Ein Bus fuhr jedenfalls Sonntags Abend keiner. „Ich dacht mir eichentlich zu laafe, soo weit ist es jo aach nit.“ „Das kimmt überhaupt nit in Frach, mein Vadder oder mei Bruder fährt dich mit`m Motorrad heem, das ist bestimmt kee Problem. Die müsste bald komme, loss uns noch e Weinche zusamme trinke."
Maria erzählte ihm nach zwei Gläschen, dass sie nie so sehr an Puppenküchen oder ähnlichem interessiert war, sondern mehr an dem, was auch ihre Brüder so machten, also mit den Händen etwas erarbeiten, das man später bewundern kann. Zum Beispiel hat sie ihrem Bruder gerne dabei geholfen, das aus dem ersten Weltkrieg ramponierte Motorrad, welches er sehr preisgünstig aus einem Militärlager für ausgemusterte Fahrzeuge erwerben konnte, wieder in einen picobello Zustand zu bringen. Dafür erlaubte er ihr ab und zu eine Spritztour mit dem knatternden Gefährt. „Wenn mei Bruder sich in de nächscht Stunn nit blicke lässt, is mers e Vergnieche, dich persehnlich Heem zu fahre. Das is zwar nit erlaubt, aber mir werre schun nit vun de Polizei erwischt, hier uffm Land.“ Heinrich staunte nicht schlecht über den entschlossenen Tatendrang der interessanten jungen Frau, in die er sich schon ein bisschen verliebt hatte, und als sich ihr Bruder nach einer Stunde immer noch nicht blicken ließ, zog sich Maria eine Arbeitshose an und beide gingen in Richtung Werkstatt.
Dort lag eine ihr passende Lederhaube und eine dazugehörende Brille bereit, die darauf schließen ließ, dass sie des öfteren das zweirädrige Gefährt bewegte.
Sie schob das Motorrad aus dem Gebäude, wies Heinrich seinen Sitzplatz auf dem gepolsterten Gepäckträger zu, bediente zweimal mit ihrem Fuß den Kickstarter, und beide fuhren mit der sofort angesprungenen Knattermühle los.
Sie fuhr so selbstsicher, dass ihr Mitfahrer aus dem Staunen gar nicht mehr herauskam und sich ziemlich sicher war, eine zweite Ausgabe dieses außergewöhnlichen weiblichen Wesens wird es auf dieser Welt wohl nicht mehr geben. Er hielt sich an ihr fest und genoss die doch überaus windige Fahrt auf dem etwas dürftig gepolsterten Gepäckträger, da er Maria sehr nah war und das Gefühl hatte, mit ihr gemeinsam ein kleines Abenteuer zu erleben. Ungefähr zwei Kilometer vor seinem Heimatort gab er ihr ein Zeichen, das sie anhalten soll. Er wollte den letzten Teil der Strecke zu Fuß gehen, auf das er noch Zeit hatte, alleine beim Gehen diesen fast unglaublichen Tag noch einmal in seinen Gedanken vorbeiziehen zu lassen.
Maria hielt an und Heinrich stieg von der schwarz lackierten Maschine. Sie verabschiedeten sich und sahen sich dabei tief in die Augen.
Zu einem Kuss kam es noch nicht, aber zu einer innigen Umarmung, die beiden glaubhaft vermittelte, ein kleines Pflänzchen der Liebe hätte gerade begonnen zu blühen.
Sie vereinbarten, sich ab jetzt regelmäßig wenigstens an den Wochenenden zu sehen, und Heinrich sah dem wegfahrenden Motorrad noch solange nach, bis Mensch und Maschine nur noch als kleiner schwarzer Punkt in der Ferne zu erkennen waren.
Heinrich war jetzt ganz allein in der gerade beginnenden Nacht, und ein dreiviertel großer Mond in Sichelform erleuchtete die ruhig daliegende Natur gerade so, dass sich der Weg ins Dorf noch von den Äckern und Wiesen abzeichnete.
Es dauerte nicht mehr als eine dreiviertel Stunde, bis er die Tür von seinem Heim öffnete und wenig später in seinem Bett lag.
Bis er einschlief, träumte er noch einige Minuten von einer gemeinsamen Zukunft mit der faszinierenden Frau, mit der er den heutigen Tag verbringen durfte, und in die er sich jetzt endgültig richtig verliebt hatte. Über dem Gedanken, als Sozius auf einem Motorrad mitzufahren, was von dem für ihn bezauberndsten weiblichen Wesen der ganzen Welt gesteuert wurde, schlief er ein, bis er am frühen Morgen des nächsten Tages vom Krähen des Hahnes geweckt wurde.
Zu aller erst mussten am Morgen die Tiere versorgt werden, und während Heinrich mit einer Heugabel das Futter verteilte, waren seine Eltern schon mit dem Melken der Kühe fertig.
Erst jetzt, nachdem auch die Hühner ihre Vormittagsration an Körnern aufpickten, gingen sie gemeinsam zum Frühstücken in die Küche und besprachen die anstehenden Arbeiten.
Es war Mai, und die Wiesen waren hoch genug gewachsen, um gemäht zu werden. Nach dem Ein- und Aussäen der Pflanzen, die im späten Sommer und Herbst geerntet werden konnten, war jetzt die Zeit, den ersten Schnitt mit der Sense zu mähen. Heinrich spannte den Zugochsen an und gemeinsam fuhren sie mit dem einachsigen Wagen zu den Wiesen, wetzten ihre Schleifsteine, schärften ihre Sensen und begannen, Zug um Zug das hoch gewachsene Gras abzuschneiden.
Bei jeder Schnittbewegung der Schneidewerkzeuge konnte man das Abtrennen der einzelnen Halme hören und vor allen Dingen die unverkennbare Frische riechen. Direkt im Anschluss zog Heinrichs Mutter mit dem breiten Heurechen das auf dem Boden liegende Grün zu einem Haufen zusammen, und setzte diesen zum Trocknen auf das vorher platzierte Holzgestell auf. Die Feuchtigkeit musste erst aus dem späteren Tierfutter entweichen, bevor man es in der Scheune lagern konnte, ohne dass es schimmelte und somit ungenießbar werden würde.
Die Hitze war in dieser Jahreszeit zum Glück noch nicht so drückend, deswegen konnten sie mehr oder weniger fließend durcharbeiten, so dass bis zum Abend eine anschauliche Fläche bewältigt war. Sie luden noch einiges Frischfutter auf den mitgebrachten Wagen auf, danach ging es in Richtung Hof, wo man jetzt wieder die Kühe molk, alle Rindviecher und auch die Schweine fütterte und den Hühnern nochmals Körner zuwarf.
In Heinrichs Kopf existierte von nun an fast nur noch Maria, und die Treffen mit ihr fanden immer öfter statt. Oft fuhr er mit ihr zu den Musikproben und bewunderte das bezaubernde Spiel seiner Freundin auf dem Streichinstrument. In ihrer freien Zeit besuchte sie Heinrich auch des öfteren bei ihm zu Hause und freundete sich mit seinen Eltern an.
Das funktionierte ziemlich schnell und ohne Umwege, da Heinrichs Vater auch das Musizieren auf seinem Akkordeon sehr liebte, und das verband natürlich die Beiden.
Oft tönten die Lieder sehr beschwingt und lebendig auf den zwei Instrumenten, und Heinrich und seine Mutter konnten sich nicht dagegen wehren, lautstark mitzusingen.
Mit allzu sentimentaler Musik hatte der Vater einige Probleme, er hatte noch nicht verarbeitet, dass der erste Weltkrieg ihm zwei Söhne genommen hatte. Er hatte sich sein Leben mit Mine und den drei Kindern so erfüllt und glücklich vorgestellt, aber durch eine kurze Entscheidung einer diktatorischen Obrigkeit wurde diese Zukunft jäh beendet. Wie oft schon mussten tausende unschuldige Menschen sterben, weil irgendwelche unnützen Schwachköpfe über andere Leben hinweg regierten. In dieser Hinsicht gab es nie eine gute, alte Zeit.
Heinrich ist sein jüngster Sohn und der einzige, der ihm geblieben ist und er war unendlich froh, dass er immer an seiner Seite weilte.
Es tat beiden Elternteilen gut, dass mit Maria das Haus nach der langen und traurigen Stille wieder neu anfing aufzuleben, und beide freuten sich auf die in Bälde geplante Vermählung ihres Sohnes und ihrer zukünftigen Schwiegertochter.
Es war nach der Erntezeit 1925, der große Tag der wirklichen Liebeshochzeit war gekommen und die kleine Kirche vollbesetzt, als sich Maria und Heinrich das Jawort gaben.
Marias Freundin Else, die aus dem gleichen Dorf wie Maria stammte und ebenfalls hier verheiratet war, spielte die Brautjungfer.
Nach der Zeremonie in der Kirche feierte die ganze Gesellschaft bis zum nächsten Morgen im „Roten Hirsch“, wo die Verwandtschaft der Braut wieder mal für beste musikalische Unterhaltung sorgte.
Hier entstanden viele neue Bekanntschaften zwischen den Menschen aus den zwei Ortschaften und alle verstanden sich gut, bis – wie sollte es auch anders kommen – zwei volltrunkene, nicht so gut auf ihre Denkleistung zurückgreifende Streithähne aneinander gerieten und die feucht-fröhliche Runde gegen ein Uhr erheblich störten.
Das junge Brautpaar musste selbst zur Tat schreiten und ein paar Machtworte zur Geltung bringen, bis die fröhliche und harmonische Stimmung sich wieder durchsetzen konnte.
Später standen dann die einstigen Streithähne zusammen an der Theke und begruben ihre Feindseligkeiten mit unzähligen Alkoholika bis zum Einschlafen auf einer Bank außerhalb des Gasthauses.
Die letzten Gäste verließen mit Heinrich und Maria den „Roten Hirsch“ morgens um neun.
Das junge Brautpaar schlief sich in den Armen haltend in Sekundenschnelle ein und schlummerte tief bis zum Katerfrühstück um 14 Uhr 30.
Zusammen Leben und Arbeiten
Maria zog jetzt zu Heinrich in das alte Bauernhaus und der erste Plan war, einen eigenen Wohnbereich nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Da beide keine zwei linken Hände hatten, war für sie der Umbau eine willkommene Herausforderung.
Maria ging ihm dabei nicht nur oft zur Hand, sondern meisterte auch ganz selbstständig viele Arbeiten, denn sie fühlte sich ja bei Tätigkeiten, die ihr handwerkliches Geschick forderten, überaus wohl. In die Ecke gegenüber den zwei kleineren Fenstern in der Wohnstube konstruierten sie gemeinsam ein genau an die Maße der etwas schiefen Zimmerdecke angepasstes Eichenholz-regal, was sich sehr harmonisch in den Raum neben dem gusseisernen Holzofen integrierte. Auf diesem standen jetzt einige Bücher, Andenken und auch ein Grammophon mit einem riesigen silberfarbenen Trichter, um das Sonntags oft Heinrich, Maria und Heinrichs Eltern Platz nahmen, um Musik bei einem Glas Wein zu hören. Durch diesen Ton erzeugenden Abspielapparat bekam das Wohnzimmer eine richtige Seele und bildete mit den zwei großen, an der Wand hängenden Ölgemälden von einem schon vor vielen Jahren verstorbenen Hunsrücker Künstler, die jeweils eine bergige Landschaft mit kleinen, abgeschiedenen Höfen darstellten, eine stimmige Einheit. Maria hatte das dekorative Gerät inklusive einiger leicht verkratzten Schellack-Schallplatten, auf denen die verschiedensten Unterhaltungsstile zu hören waren, als musikbegeisterte Frau mit hierher gebracht.
Wie oft spendete diese ausgewogene und oft mit Musik erfüllte Räumlichkeit für alle vier hier Wohnenden entspannende und erholsame Stunden an einem arbeitsfreien Sonntag.
Auch den Tisch, auf dem die Gläser dann standen, hatten die zwei jung Verheirateten selbst gebaut, und beide waren stolz auf die sauber ausgeführte Handwerksarbeit. Hierzu gehörte noch ein sehr kunstvoll gearbeiteter Notenständer aus naturbelassenem Buchenholz, mit dem Heinrich seine Maria überraschte, als sie bei ihm einzog.
Sie spielte fast täglich ihre geliebte Geige und sang zu dem schönen Klang des Instrumentes alte Volkslieder und neues aus der Schlagerwelt.
Er musste einfach immer mitsingen, wenn sie ihr Spiel mit ihrem Gesang erklingen ließ, und jedes Mal, nachdem er mit ihr gesungen hatte, fühlte er sich befreit, ausgeglichen und überaus wohl, um es in einfache Worte zu fassen. Sie passten sehr gut zusammen, und das sah man ihnen auch an.
Sie war eher ein schlanker, etwas dunkler Typ mit braunen Augen, während Heinrich blauäugig war und mittelblondes, etwas lockiges Haar hatte.
In der Wohnstube stand hinter dem Tisch an der Wand unter einem der zwei Gemälde ein großes Sofa, auf dem es sich Heinrich immer gemütlich machte, wenn er mit einstimmte und sich an der Musik von Maria beteiligte. Heinrich liebte diese ruhebringende Abendzeit mit seiner geliebten Frau nach den arbeitsreichen Tagen auf dem Feld und im Stall bei den Tieren.
Wenn an kalten Winterabenden das Holz im gusseisernen Ofen beim Verbrennen knisterte und knackte und sich eine wohlige Wärme in dem Raum ausbreitete, dann trafen sich hier fast täglich die Schwiegereltern und das junge Paar, um eine oder zwei lebensfrohe Stunden bei Musik, Spiel und Wein zu verbringen. Heinrichs Vater steckte sich dann seine gebogene Pfeife an und integrierte sich harmonisch zu dem Geigenspiel seiner Schwiegertochter mit seinem Akkordeon. Sehr gefühlvoll tastete er sich an die musikalische Vorgabe von Maria an und es bildete sich eine tiefe und ruhige Stimmung, die das Zimmer erfüllte. Wenn dann in der Weihnachtszeit der Schnee fiel und auf den Fensterbänken liegen blieb, dann entstand diese bestimmte Atmosphäre, bei der irgendwann einmal wahrscheinlich das Wort „Gemütlichkeit“ kreiert wurde.
Die Familie war bestimmt nicht wohlhabend, aber in ihrer Bescheidenheit sehr zufrieden, ja glücklich. Der innigste Wunsch von Heinrich und Maria war ein Kind, ein Stammhalter, der die weitere Zukunft des kleinen Bauernhofs sichern sollte.
Sie wünschten sich mehrere Kinder, und die Vorstellung von einer großen Familie hier in dieser ländlichen und idyllischen Gegend stimmten beide sehr froh. Doch sie warteten bis jetzt schon eine längere Zeit, dass Maria schwanger wurde, aber es tat sich nichts. Sie mussten einfach weiter probieren und zuversichtlich sein, irgendwann würde es bestimmt schon klappen.
Freitag, der erste Januar 1926, das neue Jahr hatte begonnen. In den Nachrichten im Radio wurde vom Hochwasser wegen der vielen vorangegangenen Regenfällen im naheliegenden Rheinland berichtet. Normalerweise schneite es immer um diese Zeit, aber im letzten Dezember gab es einen Warmluftschub aus dem Süden, der den Schnee in Regen verwandelte und somit für immense Überschwemmungen sorgte. Zum Glück gab es nicht nur negative Nachrichten aus dem Lautsprecher des in der Ecke der ortsansässigen Gaststube stehenden Radios, welches oft aus Neugier nach dem, was im Land so passierte, von vielen Gästen stets umlagert war. Hier war der offizielle Treffpunkt aller in dem kleinen Dorf lebenden männlichen Einwohnern, während sich die Frauen eher beim Einkaufen in dem kleinen Laden zum Tratsch trafen, oder auch mal bei Privatbesuchen ihre Neuigkeiten austauschten.
Es sei denn, es standen größere Familienfeiern oder Tanzmusikveranstaltungen an, dann waren natürlich fast alle Einwohner der Gemeinde im „Roten Hirsch“ anwesend. Das war an zum Beispiel immer an Silvester der Fall.
Der Wirt veranstaltete auch dieses Mal unter dem Motto „Tanz ins neue Jahr“ einen ansprechenden und gelungenen Jahreswechsel, bei dem Heinrichs Vater und Maria teilweise mit für die Musik sorgten. Es wurde bis in den frühen Morgen ausgiebigst gefeiert und man machte sich erst kurz vor der Dämmerung auf den Weg nach Hause.
Als Heinrich und Maria dann um die Mittagszeit aufwachten, begleiteten sie außer einem ausgewachsenen Kater auch sehr viele schöne Erinnerungen an das letzte Weihnachtsfest und die Zeit zwischen den Jahren. Heinrich bekam nämlich von Maria und seinen Eltern eine Gitarre geschenkt, mit der er sich bei der gemeinsamen Hausmusik beteiligen sollte. Er sang immer so inbrünstig mit, und man überraschte ihn mit diesem Geschenk in der Hoffnung, man könnte das musikalische Duo zu einem Trio erweitern. Heinrichs Mutter summte hin und wieder einige Melodien, die sie kannte leise mit, ansonsten hatte sie keine Absicht oder sogar Freude, sich einer gemeinsamen Musik anzuschließen.
Hier, im ländlichen Naheland und dem Hunsrück merkte man nicht so viel, dass es wieder wirtschaftlich bergauf ging nach dem Kriegsende 1918 und der anschließenden Geldentwertung, die fast alle Deutschen in eine bittere Armut trieb. Wie oft schon mussten unschuldige Menschen leiden, weil einige skrupellose und größenwahnsinnige Politiker einen Krieg entfachten.
So viele Bürger sparten sich Monat für Monat was für eventuell kommende Notzeiten, aber auch das wurde ihnen dann durch eine massive Geldentwertung genommen.
Die Bauern hier tauschten sowieso viel lieber und interessierten sich nicht so für eine unsichere Währung, sondern bevorzugten die echten Werte wie Silber oder seltener auch mal Gold.
Durch solch ein Tauschgeschäft war es überhaupt nur möglich, für Heinrich eine gebrauchte Gitarre in einem sehr guten Zustand zu ergattern.
Maria war schon seit ihrer frühesten Kindheit an Musik interessiert, kannte auch einige Gitarrenakkorde und wusste vor allen Dingen, wie man dieses Instrument richtig stimmt, denn das ist die Voraussetzung für einen Klang, der nicht direkt an Katzenmusik erinnert.
Als Heinrich zum ersten Mal seine großen, männlichen Hände auf das Griffbrett legte, dachte Maria, jetzt wäre es um den Hals des Instrumentes geschehen, aber ihr Gatte war doch zu sensibel, irgendeinen Schaden anzurichten. Ganz im Gegenteil, er zauberte schon in seiner ersten Unterrichtsstunde saubere Töne in der Gegenwart seiner Allerliebsten, und sie ließen zusammen das einfache, nur auf zwei Akkorde basierende winterliche Volkslied „Schneeflöckchen Weißröckchen, wann kommst du geschneit“ erklingen.
Dies hörte seine Mutter im Stockwerk obendrüber, eilte die Treppe hinunter und kam klatschend in das Wohnzimmer der beiden. „Ja das ging abber schnell – das klingt jo toll zusamme“, warf sie begeistert ein. So viel Talent hätte sie ihrem Sohn gar nicht zugetraut. „Hallo, Mina,“ antwortete Maria, „Setz dich dezuu und schenk där e Tee aus de Kanne uf`m Ofe in. Scheen, dass där`s gefällt.“
Heinrich war ganz stolz und voller Freude, dass er den Anfang auf diesem Instrument so gut hinbekommen hat. Und es war gut, dass Maria durch die Wahl des sehr einfachen Liedes diese Unterrichtsstunde in die richtige Richtung lenkte, und so ein Erfolg fast vorprogrammiert war.
Der Nachmittag ging zuneige, und die frühe Dämmerung läutete den Abend ein. Heinrich musste jetzt zu seinem Vater in den Stall die Tiere füttern, und nachdem sich seine Mutter umgezogen hatte ging sie hinterher, um die Kühe zu melken.
Sie hatten zusammen acht Milchkühe, vier Schweine und 12 Hühner, und nicht zu vergessen die zwei Ochsen, die zum Ziehen der Ackergeräte schon Jahre lang ihren treuen Dienst taten.
Jetzt, im Winter gab es auf dem Acker nicht viel zu tun, dort fing die Saison erst wieder im Frühjahr mit der Saat an.
Der Stall war direkt an das Wohnhaus angebaut, so dass die Wärme, die die Tiere mitbrachten, sich in dem ganzen Haus ausbreitete und somit dafür sorgte, dass nicht unnötig viel Energie in Form von verbranntem Holz zum Kamin heraus geblasen wurde.
Maria bereitete jetzt das Abendessen für alle Vier vor, es gab heute wie so oft Bratkartoffeln mit Hausmacher Wurst, die sie oben aus der Räucherkammer holte und auf einem Holzbrett in kleine mundgerechte Scheiben schnitt. In der Küche brannte der Herd eigentlich immer auf Sparflamme durch und wenn man mehr Hitze zum direkten Kochen brauchte, legte man zwei oder drei Scheid Holz auf, was mit „es Feier gescheert“ bezeichnet wurde. Wenn Heinrich mit seinen Eltern dann aus dem Stall zurückkehrte, füllte er aus dem Fass im Keller einen Krug mit selbstgemachtem Birnenwein ab, stellte ihn auf den Tisch und man aß gemeinsam zu Abend. Sowohl der Wein als auch das Essen schmeckten vorzüglich, und Heinrich fiel es doch sehr schwer, sich nach dem Verzehr einer üppigen Portion nicht noch einer Zweiten hinzugeben. Maria tröstete ihn mit den Worten:
“So spät am Obend liet`s Esse wie e Steen im Maache und du schläfsch schlecht.“ Danach siegte bei Heinrich die Vernunft und er beendete die Schlemmerei.
Nach den Abendessen blieb jetzt im Winter noch einige Zeit zum Plaudern, Musizieren, oder einer Partie „Mühle“ oder „Mensch ärgere dich nicht“, manchmal kamen aber auch Freunde zu einem Schwätzchen, einer Runde Skat oder einem Würfelspiel vorbei.
Die Zeit blieb nicht stehen und auf dem Kalender stand - 18. April 1926. Zum allerersten Mal wurde heute ein deutsches Fußball-Länderspiel im Radio übertragen, und im „Roten Hirsch“ waren die Sitzplätze fast nur mit den männlichen Dorfbewohnern besetzt.
Deutschland trat in Düsseldorf gegen die Niederlande an.
So eine Übertragung hatte es noch nie gegeben und alle Zuhörenden in der Gaststätte hatten ganz große Ohren. Es war mucksmäuschenstill im Saal, nur der Kommentator aus dem Radio erfüllte mit seiner Stimme den großen Raum. Nach jedem Tor für Deutschland ging ein gemeinsamer Begeisterungsschrei durch den Gastraum, aber nach dem Abpfiff, nachdem Deutschland 4 zu 2 gewonnen hatte, brach der Jubel und die Begeisterung der Gäste los wie ein kleines Erdbeben, welches sich nach einer unnatürlichen Ruhe ungebändigt polternd entlud. Das Bier lief in Strömen, und als Heinrich und sein Vater sich auf den Weg nach Hause machten, hatten sie gut einen in der Mütze. Die beiden Frauen hatten kein Faible für Fußball, Maria werkelte an diesem Abend an einem Bilderrahmen und Mina strickte an einem Pullover.