Der beste Roman aller Zeiten - Oliver Maria Schmitt - E-Book

Der beste Roman aller Zeiten E-Book

Oliver Maria Schmitt

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Beschreibung

Für Mick Rademann läuft es nur suboptimal. Er ist hoch verschuldet und mehrfacher Single, er hat eine frischgedruckte Visitenkarte mit der Aufschrift «Coach, Mediator & Dipl.-Entschleuniger», aber keine Kunden. Unschlüssig steht er vor einem Frankfurter Nachtclub, da fällt ihm ein Mann vor die Füße. Der Mann heißt Dr. Hollenbach und hat angeblich einen sehr guten Roman geschrieben. Manche behaupten sogar, den besten aller Zeiten. Schnell beschließt Mick Rademann, in die Dienste des Gefallenen zu treten und Hollenbach zu coachen. Plötzlich scheint alles greifbar: Frauen und die große Freiheit, Glück, Glanz und Gloria. Gierig partizipiert Mick am Ruhm seines Arbeitgebers. Doch dann kommt alles anders. Daß er schon bald mit dem erfolgreichsten Schriftsteller der Welt als Entführungsopfer in den Bergen Albaniens sitzen würde, das hätte sich Rademann nie träumen lassen. Und weil niemand bereit ist, für den Autor Hollenbach Lösegeld zu zahlen, verlangen die Kidnapper, dass er einen weiteren Bestseller schreibt, mit dem sie Millionen machen können. Rademann will die Situation entschleunigen, doch Cakuli, der albanische Porno- und Poesieverleger, wird ungeduldig. Und Hollenbach hat sowieso ganz andere Pläne ...

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2009

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Oliver Maria Schmitt

Der beste Roman aller Zeiten

Für Claudia,

die Albanerin

Wer wird das lesen wollen!

Gott weiß es nicht, ich auch nicht.

Friedrich Nietzsche, 1880

Man nehme sich die Mühe und sammle durch längere Weile unsere Buchbesprechungen und Aufsätze… Man wird nach einigen Jahren mächtig darüber erstaunt sein, wie viele erschütterndste Seelenverkünder, Meister der Darstellung, größte, beste, tiefste Dichter, ganz große Dichter und endlich mal wieder ein großer Dichter im Laufe solcher Zeit der Nation geschenkt werden, wie oft die beste Tiergeschichte, der beste Roman der letzten zehn Jahre und das schönste Buch geschrieben wird.

Robert Musil, 1926

Erster Teil

Eins

Rumms! Ein dumpfer Schlag, ein Beben. Die Erde zitterte leise nach. Da lag er vor mir, in stabiler Rückenlage, schrie und ruderte mit Armen und Beinen in der Luft herum wie ein verunglücktes Insekt. Was hätte ich tun sollen? Einfach weitergehen? Wären Sie weitergegangen? Tut mir leid, daß ich Sie so mit Fragen überhäufe – aber ich habe mir diesen Moment ja auch nicht ausgesucht, als der beste Autor aller Zeiten ohne Vorwarnung in mein Leben fiel. Er zappelte vor mir auf dem Boden, ein riesiger Kerl, und sah zu mir auf. Ich schaute auf ihn herab. Keine gute Gesprächssituation. Wenn ich mit Dialogpartnern nicht auf Augenhöhe kommunizieren kann, muß ich Veränderungsstrategien einleiten, sagt Professor Pelz. Der Mann hatte eine Motorradlederjacke an, trug keinen Sturzhelm, wirkte überrascht und verwirrt, aber auch verärgert. Ich sah mir das eine Zeitlang an, dann handelte ich. Atmete tief durch, ging in die Knie und legte mich neben ihn auf den kühlen, feuchten Gehsteig.

«Bleiben Sie einfach entspannt liegen.»

«Du hast Nerven», sagte der Mann.

«Ist Ihnen schlecht?»

«Schön wär’s. Die Arschlöcher haben mich rausgeschmissen.» Er deutete hinter sich auf das schwarze Loch, aus dem er gefallen war: der Eingang zum Cabaret Pik-Dame. Er schwieg. Wahrscheinlich reflektierte er seine Situation. Drei langgezogene Schnaufer, dann hatte er sich gefaßt.

«Hast du Zigaretten?»

«Leider nicht.»

«Na, super.» Er durchsuchte seine Taschen. «Zum Glück hab ich selber welche.» Er fand aber keine. «Rauchen», murmelte er, «rauchen». Kurz schien er zu überlegen, vielleicht reflektierte er sogar schon wieder, dann aber ballte er beide Fäuste, reckte sie empor, öffnete seinen riesigen Schlund und schrie: «Diese Pottsäue! Diese Nichtraucher! Rauchen! Rauuuuuuu-chen! Ich will endlich rauchen, ich will dampfen, schmöken, schloten, ich will quarzen und qualmen, ich will rußen und brennen, wie es Mannesart ist! Ich will verdammt noch mal eine paffen, ich will eine beschissene Zigarette rauchen!»

«Entspannen Sie sich», sagte ich und legte den Kopf in den Nacken. «Keine Hektik. Wir werden schon wieder hochkommen, ganz sicher. Wir müssen nur den richtigen Zeitpunkt finden.» Ich sah in den nachtschwarzen Himmel.

«Das Ziel ist immer ein bißchen weiter entfernt, als man denkt», sagt Professor Pelz. Auch ich war mal sehr weit von allem entfernt. Als ich selbst noch richtig fett unten war und nichts als der Sklave von Professor Pelz, am Anfang meines ersten LifeTime-Moduls, da gab mir der Professor den Rat: «Sei der Herr deiner Lebenszeit, nicht ihr Sklave – entschleunige dich!» Das klingt vielleicht einfach, ist es aber gar nicht. Trotzdem hab ich’s geschafft. Und schon wenige Jahre später, am Abschlußtag meines letzten LifeTime-Moduls, hatte ich das sichere Gefühl, der unumschränkte Herrscher über mein Schicksal zu sein, der Diktator meines Lebensglücks. Und was soll ich sagen? Dieses Gefühl, mein Leben voll und ganz in der Hand zu haben, das war gar nicht so übel. Es war neu für mich. So wie der Mann, der neben mir lag. Sein Atem ging rasselnd.

Heute nachmittag hatte mir Professor Pelz das Abschlußdiplom überreicht, jetzt hatte ich es schwarz auf weiß: Ich durfte mich «Coach, Mediator und Dipl.-Entschleuniger» nennen. Alles lief perfekt! Ich hatte seit Jahren keinen Saufausfall mehr, war frisch geerdet, bestens drauf und hoch motiviert – nun war Schluß mit dem dauernden Briefeschreiben. Ab sofort würde ich nur noch das tun, was meinen wahren Fähigkeiten entsprach. Ich fing sofort damit an. Kaum hatte ich mich vom Professor verabschiedet und sein MindBlasterInstitute im Westend verlassen, führte ich eine erste Fallsupervision bei mir selbst durch und rief Ira an.

«Ich hab das Diplom!» sagte ich stolz. «Jetzt hab ich wieder Zeit für unsere Beziehung. Wir können lösungsorientierte Konfliktarbeit machen und deine Beziehungsdefizite rausarbeiten. Sollen wir heute abend?»

Irgendwie war sie aber angespannt und legte auf. Na, wenn schon. Ich hatte sowieso was Besseres vor, und Hektik bringt uns auch nicht weiter, sagt Professor Pelz. Außerdem möchte ich niemanden überfordern, auch Sie nicht! Erst recht nicht so früh, gleich zu Beginn. Nein, Sie sollen sich ebenfalls in aller Ruhe entschleunigen, damit ich Sie da abholen kann, wo Sie sind. Hektisch und unübersichtlich wird es noch schnell genug. Also hübsch gemächlich und vor allem: total locker.

Der Mann neben mir war nicht locker. Noch nicht. Ich sagte: «Schauen Sie nach oben. Sehen Sie das? Sehen Sie die Sterne?»

«Da ist nichts.»

«Weil es bewölkt ist. Das ist normal bei diesem Wetter. Dann muß man eben nach vorne schauen.»

«Größe vierundvierzig», sagte er. Er hatte den Kopf angehoben und besah seine Schuhe.

«Im übertragenen Sinne natürlich! Immer nach vorne! Erst wenn man ganz unten ist, kann es wieder aufwärtsgehen, sagt Professor Pelz.»

Er ächzte, wandte sich zur Seite, versuchte sich abzustützen – vergeblich. «Hilf mir hoch, Mann!»

«Ich kann Ihnen nur helfen, sich selbst zu helfen. Sie müssen Ihre eigenen Energiefelder pushen. Schauen Sie!» Ich deutete nach oben, dahin, wo es hell war. «Schauen Sie sich den Mond an. Der Mond braucht nur achtundzwanzig Tage, um die Erde zu umkreisen. Wir brauchen dafür ein ganzes Menschenleben, und selbst das ist oft zuwenig.» Das klang ziemlich professionell, fand ich.

«Das ist absoluter Quark», fand der Mann. «Ich brauch dafür genau achtundzwanzig Stunden. Ich nehm den Flieger nach Los Angeles, dann nach Auckland, weiter nach Kuala Lumpur und wieder zurück nach Frankfurt. So geht das. Außerdem ist das nicht der Mond, sondern eine Straßenlaterne, Amigo.»

Ich hatte mich freundlicherweise auf Augenhöhe meines Gesprächspartners begeben – da hatte ich es wirklich nicht nötig, mich anschnauzen zu lassen. Ich bin nämlich –

Oh, ich glaube, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Sie kennen mich aber. Bestimmt haben Sie schon Post von mir erhalten. Ganz sicher. Hundert Pro. Falls nicht, können Sie jederzeit reklamieren. Wo und bei wem, da bin ich leider überfragt. Ich habe viele und häufig wechselnde Auftraggeber, die ich aber nicht kenne. Finden Sie komisch? Ich auch, massiv komisch sogar. Gern würde ich darüber lachen, aber das Lachen ist mir vergangen. Dafür habe ich einfach zuviel Merkwürdiges erlebt. Überhaupt hätte das ja alles ganz anders laufen sollen. Nur deshalb habe ich doch so viele Module absolviert. Bei Professor Pelz, der mir helfen sollte, aus mir Mick Rademann zu machen – einen freien, selbständigen und erfolgreichen Menschen, der seine Klienten selbst aussucht. Genau. Und nur weil das blöderweise geklappt hat, war mein erster echter Auftraggeber zugleich mein letzter. Wäre er mir doch nur nicht vor die Füße gefallen! Wahrscheinlich ist er längst wieder frei. Denn damit endet diese seltsame Geschichte, die… – aber halt, stop! Ich wollte doch nicht vorgreifen, kein hektisches Holterdiepolter, keine Hast, Leute – erst mal durchatmen. Und dann immer schön der Reihe nach: ganz ruhig, total entspannt, von Anfang an…

Eine feuchtkalte Frühlingsnacht im Frankfurter Bahnhofsviertel. Ich war viel zu dünn angezogen, trug nur Kapuzenshirt und Sporthose, doch das paßte zu meiner Stimmung. Ich fühlte mich leicht, easy, war einfach gut drauf. Wer konnte schon ahnen, daß ich gleich den erfolgreichsten Autor der Welt kennenlernen, daß ich sein persönlicher Coach, ja im Prinzip sogar Manager werden würde? Konnte doch keiner wissen, daß so was passiert. «Was auch passiert», hatte mir Professor Pelz eingebleut, «du mußt dich immer sofort entscheiden: Top oder Flop, nur dann ist es dein Leben.»

Gerade stand ich wieder vor einer solchen Entscheidung: «Heißer Table-Dancing-Act mit der sensationellen Olinka aus Kiew!»

Top? Oder Flop? Das sind so Fragen. Die vergilbten Fotos im Schaufenster des Cabaret Pik-Dame ließen erkennen, daß Olinka vor vielen Jahren eine rustikale Schönheit gewesen war. Sie sah phantastisch darauf aus. Sollte ich spontan zu ihr reingehen? Oder lieber Eva’s Bistro auf der anderen Straßenseite checken?

Die Eingangstür war nur angelehnt, Klaviergeklimper quoll heraus. Hinter Glas klebte ein graviertes Messingschild: «Eintritt nur in gepflegter Kleidung!» Das konnte vielleicht ein Problem werden. Ich hatte ja noch meine Jogginghose an, ein sehr preisgünstiges Modell von Woolworth, elf Euro. Leider kein stylisches Marken-Beinkleid mit Druckknöpfen an der Seite, wie es die Leute hier auf der Straße trugen. Ich kam direkt vom Kieser-Training, wo ich meinen Schreibtischrücken stärkte, das machte ich einmal die Woche, weil es mir guttat: diese langsamen, konzentrierten Bewegungen an schweren, stählernen Maschinen. Massiv gut sogar. Ich fühlte mich immer so jung zwischen all den ächzenden Rentnern.

Neben dem Eingang zur Pik-Dame bot ein abgenagtes Plastikdach Schutz vor dem Nieselregen. Leute hetzten vorbei. Ich sah ihnen nach. Manche huschten geduckt durch die Nacht, andere schlenderten und blickten suchend umher. Ein Mann fragte nach meinem Namen: «Schnelles? Schnelles?» Ich hieß aber nicht Schnelles, und als ich ihm das gerade erklären wollte, zog er weiter und verschwand nebenan in einem Etablissement namens Riz. Wohnte dort dieser Schnelles? Woher sollte ich das wissen? Ich kannte mich ja nicht aus.

In Frankfurt war ich zwar schon ewig, aber immer woanders. Bevor ich bei Ira einzog, hatte ich bei Susanne gewohnt, davor kurze Zeit bei Fee, etwas länger bei Johanna, und davor ziemlich lange bei Katja, und die wohnten seltsamerweise alle in den Randgebieten, weit draußen, in irgendwelchen Sossen- oder Rödel- oder Born- oder Bockenheimen. In die Innenstadt kam ich nie. Wozu auch. Dort gab’s nur Kneipen, die ich nicht brauchte, und Läden, in denen ich nichts verloren hatte. Die Enge dieser umsatzhungrigen Gassen machte mich nachhaltig krank und konfliktaktiv.

«Well, you’ve got to be stronger now/​Than them, now you’ve got to be strong» – RRRRRrringrring! Ausgerechnet an der schönsten Stelle von «Mystical Machine Gun» schepperte ein altes Telefon. Ira? Wahrscheinlich wollte sie sich bei mir entschuldigen. Auf die Nummer hatte ich jetzt aber keine Lust mehr, massiv keine Lust. Am Ohrstöpselkabel riß ich meinen Blackberry aus der Hosentasche. Ich wußte immer noch nicht, wie man ihn so einstellte, daß er im Walkmanbetrieb nicht klingelte. Nachdem mein altes Handy zu groß geworden war, legte ich mir einen Blackberry zu. Mir war klar, daß ich als angehender Geschäftsmann so ein Ding dringend brauchte. Ein iPhone kam nicht in Frage, so was hatten nur miese Angeber mit Seidenkrawatten und andere zu kurz Gekommene, das hatte ich mal in einem Blackberry-Werbeprospekt gelesen. Dann endlich erwischte ich die Rufannahmetaste, hörte aber nicht Ira, sondern eine erotische Frauenstimme, die verkündete, daß ich die Möglichkeit zur Teilnahme an einer Vorausscheidung zu einem Wettbewerb für das Casting zur Verlosung eines Audi TT gewonnen hätte und jetzt nur noch die Nummer ––

Ich drückte sie weg, aktivierte wieder meine Lieblingsmusik und schaute mir das Frankfurter Bahnhofsviertel mit dem Soundtrack von Kula Shaker an. «Watch the skies/​For the mystical machine gunfire…» Das kam sehr gut. Positive Vibrationen, ganz so, wie sie diese freundlichen Damen ausstrahlten, die mir aus einem roterleuchteten Haus in der Moselstraße zuwinkten. Ich winkte zurück und schlurfte schnell weiter. In der fleckigen Nacht war alles geschäftig.

Seit Stunden war ich im Bahnhofsviertel unterwegs, kreuz und quer im Karree aus Mosel-, Elbe- und Weser-, aus Taunus-, Münchner- und Kaiserstraße, mal ging ich auf das stählerne Gewölbe des Hauptbahnhofs zu, mal hatte ich es im Rücken und blickte auf stramm erigierte Bankentürme. Sie konnten mich nicht einschüchtern. Ich konzentrierte mich wieder auf das InteraktionsTarget, das ich mir für heute abend gesetzt hatte: Ich wollte Alkohol trinken.

Nicht weil es mir schlechtging, sondern weil es mir ab heute beneidenswert gutgehen würde. Dieser Tag war wichtig in meinem Lebenszeitfenster, deshalb wollte ich mich darüber aussprechen – mit mir selbst. Das hatte ich lange nicht mehr getan, weil… das war irgendwie nicht gut für mich. Eher schlecht. Massiv schlecht sogar. Ich hatte aufgehört zu trinken, weil die Saufausfälle einfach zu gefährlich geworden waren. Ich schrie dann herum, hatten mir Zeugen hinterher berichtet, stritt mit mir selbst und predigte laut, ohne ein Schlußwort zu finden.

Doch jetzt war die beste Gelegenheit, mir zu beweisen, daß ich alles souverän im Griff hatte. Ich mußte nur überlegen, wie ich das konkrete Handlungsziel, den Kanonenrausch, so zügig erreichen konnte, daß ich das Endstadium noch im wachen Zustand erlebte. Ich war ziemlich aus der Übung, hatte keine aktuelle Erfahrung mit dem Komasaufen, da waren ganz neue Techniken auf dem Markt, die ich nicht kannte und die mir auch zu anstrengend, zu kompliziert waren. Ständig mußte man darauf achten, die richtigen Mixgetränke zu bestellen, sie in der korrekten Reihenfolge einzunehmen und ihre Wirkungsweise genau einzuschätzen – all das erforderte Übung und Fachwissen, das mir längst fehlte.

Bei den letzten Selbstversuchen, an die ich mich noch halbwegs erinnern kann, vergaß ich während des Betrinkens, was ich zuvor bestellt hatte, irgendwann verdoppelten sich plötzlich die Getränkereihenfolgen, und am Ende beschwerte ich mich bei Gott, weil ich nicht mal mehr in der Lage war, das nächste Getränk vorauszuberechnen. Das würde mir heute nicht passieren. Ich hatte mich im Netz informiert, in anonymen Alki-Chats gefragt, und überall riet man mir, einfach nur auf den Durst zu hören, das Richtige zu trinken, in kleinen Einheiten, und davon sehr viel. Die Empfehlungen wichen zum Teil stark voneinander ab. Die einen schworen auf Kleine Feiglinge und Pils, andere arbeiteten nur mit Whisky-Cola und einer sogar ausschließlich mit Champagner und Jägermeister.

Im Moseleck hatte ich um achtzehn Uhr mit einem kleinen Pils den Anfang gemacht; ganz langsam, ganz entspannt holte ich das Pils da ab, wo es herkam: am Tresen. Als ich es orderte, hatte sich der Wirt über die unverhofft eingegangene Bestellung halb kaputtgefreut. Er rief: «Leck mich fett, ein kleines Pils! Achtung, alle mal herhören, dieser Herr hier verzehrt jetzt gleich vor unseren Augen ein kleines Pils!»

Danach wechselte ich in Heidi’s Bierstube und sagte: «Leck mich fett, ich verzehre jetzt vor Ihren Augen ein kleines Pils und zusätzlich einen Schnaps!» Der Wirt sagte gar nichts und schob mir ein Pils und einen Klaren hin, der nicht schmeckte. Der zweite war schon besser, blieb jedoch so wirkungslos wie der erste – und wie die Biere im Kakadu und die zwei Schnäpse im Pils Express. Wie ich vermutet hatte: Ich war gefeit.

Ich streunte weiter durchs Gestein Frankfurts, nach rechts, nach links oder umgekehrt, ich weiß es nicht mehr, ich fragte irgendwelche Leute, oder die fragten mich, egal, jedenfalls waren die Leute auf einmal wieder weg, und ich stand vor diesem Schaufenster des Cabaret Pik-Dame. Und überlegte: ob ich reingehen sollte; ob ich mich dadrin wohl fühlen würde; ob die dadrin auch Getränke verkauften und in welcher Reihenfolge; ob das komische Geräusch von mir kam oder von dadrin oder von sonst woher. Nämlich: Es rummste. Den Rest kennen Sie ja: Ich lag neben dem Typen.

«Der ideale Zeitpunkt ist gekommen», sagte ich. «Jetzt stehen wir auf.»

«Meinetwegen.»

Ich stand wieder auf. Was nicht einfach war, denn der Mann klammerte sich derart an meinen Beinen fest, daß ich ihm, um nicht selbst umzufallen, aufhelfen mußte, was ziemlich tricky war, denn er schwankte gleichzeitig in alle Richtungen und war schwer wie ein amerikanischer Gastronomiekühlschrank. Als er sich endlich an mir hochgezogen hatte, stellte sich heraus, daß er größer war als ich – und ich nun zu ihm aufschauen mußte. Das fand ich nach allem, was ich gerade mitgemacht hatte, ungerecht. Doch ließ ich keine negativen Emotionen in mir aufkommen.

Der Kühlschrank sah empört an sich herunter, klopfte den Straßenschmutz von der speckigen Jeans, hustete, wandte sich zum Eingang der Pik-Dame und schickte sich an, die Bar, aus der er gefallen war, wieder zu betreten. Und ich kannte noch nicht mal seinen Namen.

«Entschuldigen Sie bitte, wir haben uns nicht bekannt gemacht. Hey, ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Tag, ich heiße Mick Rademann und freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen!»

Erst schaute er verwirrt, dann reichte er mir seine Pranke. Sie war kalt. «Ganz meinerseits, Mann. Ich heiße Dr.med. Destruction. Angenehm und Wiedersehn. Einen Rat gebe ich dir noch: Laß dich nicht ansprechen! Und wenn, dann nimm Geld.» Er drehte sich um und verschwand in der Bar.

Ich sah ihm nach.

Komischer Typ, massiv komisch sogar. Aber nicht unsympathisch. Für einen Arzt trug er allerdings einen unpassenden Namen. Recht hatte er trotzdem: In Zukunft sollte ich auf jeden Fall Geld nehmen, wenn ich jemanden coachte. Ich sah mir noch einmal die Fotos von Olinka an. Rockmusik, schrill und blechern, dudelte von irgendwoher. Ich schaute mich um. Die Geräuschquelle lag auf dem Boden, blinkte und vibrierte zum Klang der Musik. Ich hob das Handy auf und drückte die Rufannahmetaste.

«Hey, ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Tag, mein Name ist Mick Rademann, und ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen. Was kann ich für Sie tun?»

«Hollo?»

«Negativ, hier ist Mick Rademann.»

«Hier ist Nigel. Hallöchen. Wo ist Hollo?»

«Ein großer, langhaariger Herr mit Lederjacke?»

Der Anrufer lachte. «Genau, das ist er. Ich will ihn sprechen, und zwar sofort!»

«Ich muß Sie enttäuschen. Das ist das Handy von Dr.med.Destruction.»

«Ich sage doch: Das ist Hollo. Ist er da?»

«Nein.»

«Wo ist er?»

«Im Moment jedenfalls nicht erreichbar.»

«Dann sorgen Sie gefälligst für seine Erreichbarkeit. In fünf Minuten rufe ich wieder an.»

Das Gespräch war beendet. Was für ein unhöflicher Mensch! Total negative Energiepotentiale, wenn Sie mich fragen. Ich schaute auf die Uhr. Halb elf. Eigentlich schon Cut-off-time, aber es schien eine wichtige Geschäftsangelegenheit zu sein.

Eine schummrige Plüschbar. Blutrote Wände, vergoldete Spieglein, Spieglein an der Wand, dazwischen einige Séparées, abgetrennt durch rote Vorhänge mit applizierten Goldborten. Tischlein, klein und rund. Irgendwo im Raum schwebten zwei Karussellpferdchen, durchspießt von stählernen Haltestangen. Es roch nach Wunderbaum. Ein langhaariger Nachtpianist nötigte dem Pianoforte unvergeßliche Schlagermelodien ab, eine sehr große, fette Frau schaute ihm dabei über die Schulter. Sie war zum Glück nur gemalt, sonst wäre sie sofort aus ihrem goldenen Bilderrahmen gefallen. Gepflegte Herren saßen vereinzelt an kleinen, weiß eingedeckten Tischen mit kleinen Getränken drauf und schauten zu einer kleinen Bühne mit Leuchtboden, auf der sich nicht das geringste abspielte. Warteten sie auf Olinka? Dr.med.Destruction war nirgends zu sehen.

An der Bar waren alle Stühle frei, eine Thekerin spülte Gläser. Alles an ihr war schön: die hochgesteckte Frisur mit dem kecken Partyhütchen, ihr schimmerndes Paillettenkleid, ihre drahtigen Oberarme mit der Ankertätowierung, ihr lustig angeklebter Schnauzbart. Sie sandte hocherotische Schwingungen im Supermegahertzbereich aus, die ich noch gar nicht kannte.

Entschlossen sprach ich sie an und fragte nach dem großen Lederjackenmann. Sie schaute nicht auf. «Der ist dadrin», seufzte sie heiser und deutete mit dem Kopf in Richtung eines dunklen Ganges. «Im Raucherzimmer, wo er hingehört. Wenn der BRAZ noch einmal hier vorne an der Bar qualmt, dann fliegt er endgültig raus.» Ihre Stimme war voluminös und sexy tiefergelegt.

Das Raucherzimmer trug seinen Namen zu Recht. Mehrere auspuffartig qualmende Männer waren darin, das vermutete ich jedenfalls, denn ich konnte sie nicht sehen. Nur hören. Ihre Stimmen drangen von nah aus dem dichten grauen Dunst. Ich tastete mich vorwärts. Als ich nach «Dr.med.Destruction» fragte, zog mich jemand tief in den trüben Raum hinein, ich hustete, eine Hand packte meinen Unterarm und zerrte mich runter auf einen Stuhl. Mir wurde schwindlig.

«Setz dich!»

Es war seine Stimme. Und noch bevor ich irgend etwas fragen oder sagen konnte, klingelte das Handy in meiner Hand. Ich hielt es dorthin, wo die Stimme herkam.

«Sie haben Ihr Handy verloren. Der Typ hier hat gerade schon mal angerufen, total unhöflich, ein Herr Neitschel oder so ähnlich.»

Im Nebelplasma materialisierte sich sein Antlitz, direkt vor meinen Augen. Es blickte unduldsam und starr wie eine exotische Göttermaske. «Geh ran. Sag ihm, daß ich verschwunden bin und daß du von nichts weißt.»

Ich drückte die Rufannahme und sagte: «Hallo? Der gewünschte Gesprächsteilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar, und ich darf ausrichten, daß ich von nichts weiß.»

«Jogi? Was soll denn das, Jogi?»

Es war die Stimme einer älteren Dame. Sie behauptete, «Jogis Mutter» zu sein und seit Tagen auf Medikamente zu warten, sie habe nicht mehr lange zu leben, es sei «immer das gleiche Theater mit dem Jogi», niemand helfe ihr, die Pharmakartelle hielten die Medikamentenpreise künstlich hoch, um bei den Rentnern und in der Dritten Welt abzukassieren, die Globalisierung sei ein «Irrweg», die Jugend ungebildet und hedonistisch und die Ehe mit ihrem Mann letztlich ein Irrtum gewesen, unter Willy Brandt hätte man nachts noch auf die Straße gehen können, heute sei da aber niemand mehr, und wenn der Jogi nicht bald mit den Tabletten käme, würde sie sich umbringen, «der Jogi wird schon sehen, was er davon hat».

Während des recht einseitig verlaufenden Telefonats schaute Dr.Destruction in panischer Angst aus den Rauchschlieren und deutete mit der rechten Hand schnelle Schnittbewegungen durch seine Kehle an. Da mir in nonverbaler Kommunikation so schnell keiner was vormacht, erkannte ich sofort, daß er nicht zu sprechen war. Ich erklärte der jammernden Dame, daß ich die Angelegenheit bearbeiten und mich bald bei ihr melden würde.

Kaum hatte ich aufgelegt, dudelte es erneut. Diesmal war es der avisierte Herr Nigel. Daß Dr.Destruction nicht erreichbar war und ich noch immer die Verhandlungen führte, nahm er genervt hin, dann kam er wieder mit seiner alten Leier: «Paß auf: Der Mann heißt nicht Destruction, er heißt Hollo, also Hollenbach.»

«Sie können mir viel erzählen.»

«Das tu ich ja gerade. Der Mann ist Jo Hollenbach, egal was er sonst behauptet.»

«Hollenbach? Wie dieser Schriftsteller?»

Um mich herum wurde Gelächter laut. Ich war definitiv nicht allein in der Räucherkammer.

«Nicht wie der Schriftsteller», brüllte der Anrufer, «das ist der Schriftsteller! Ich weiß genau, daß er in der Nähe ist, ich hör ihn doch geiern. Er schuldet mir Geld, und wenn du mir hilfst, dieses Geld zu beschaffen, wird es dein Schaden nicht sein.»

«Wieviel schuldet er Ihnen denn?» fragte ich. Wenn konkrete Zahlen vorlagen, würde ich die Gesprächssituation viel besser einschätzen können.

«Hundertachtzigtausend Euro!» sagte Nigel.

«Hundertachtzigtausend?» rief ich verblüfft. Schlagartig tauchten andere Gesichter neben mir auf.

«Hundertachtzigtausend?» fragte eines.

Ein anderes erwiderte: «Hundertachtzigtausend!»

Ich schaute sie fragend an.

«Hallo, ich bin Bardhyl», flüsterte Bardhyl.

«Hallo, ich bin Genc», flüsterte Genc.

«Ich muß das Gespräch jetzt beenden, ich krieg keine Luft mehr», röchelte ich ins Handy und legte auf. Jemand schob mich nach draußen. «Komm, wir gehen an die Bar, frische Luft schnappen», sagte der Mann, der angeblich Dr.med.Destruction, vielleicht aber auch Jo oder Jogi Hollenbach hieß und irgendwelchen Leuten irgendwelche Mengen an Geld und Medikamenten schuldete.

Es bereitete ihm offenbar keine Schwierigkeiten, sich Menschen gefügig zu machen. Wir kannten uns nicht mal eine Viertelstunde, da schuldete er mir bereits fünfzig Euro. Ich hatte ihm was leihen müssen, damit er mir ein Getränk ausgeben konnte. Er winkte das Barfräulein heran, ich zwinkerte ihm zu, es zwinkerte zurück – so sehr, daß mir fast schwindlig wurde. Die körperliche Auseinandersetzung mit Frauen war für mich lange Zeit kein Thema gewesen, ich hatte mich in erster Linie für meine Karriere aufsparen müssen – aber nun, da ich praktisch alles im Sack hatte, war ich bereit, mich wieder in erster Linie um Frauen zu kümmern. Das fiel mir nicht schwer, ich kam bei der Damenwelt gut an, hatte einen sogenannten Schlag, das haben mir viele Menschen, darunter auch Frauen, bestätigt.

Der angebliche Arzt war gerade dabei, einen Streit mit der Bardame anzuzetteln.

«Wo ich bin, wird geraucht», verkündete er apodiktisch.

«Wo ich bin und geraucht wird, da fliegst du raus», entgegnete sie.

«Sie hat recht», flüsterte ich ihm zu und zwinkerte synchron. «Sie ist eine wunderschöne Frau, und Schönheit siegt immer.»

«Du hast Tomaten auf den Augen. Sie ist ein wunderschöner Mann und heißt Kurt», entgegnete er. «Das weiß hier jeder. Kurt ist krankhaft herrschsüchtig, und das wird ihm noch mal das wunderschöne Genick brechen.» Er sah mich verschwörerisch an. «Ich bin Raucher, mußt du wissen, und ich bin nicht allein. Wir sind viele, überall auf der Welt. Ich habe Hintermänner, und die sind in der Lage, alles durchzusetzen, glaub mir.» Er deutete mit dem Kopf in Richtung Hinterzimmer.

«Sie meinen Genc und Bardhyl?»

«Genc und Bardhyl. Genau.»

«Das sind ja auch Männer. Männer neigen zur Gewalt. Aber sie hier» – ich deutete unauffällig auf Kurt–, «sie hier ist echt heiß.»

«Sie ist ein Mann, Amigo. Finde dich damit ab.»

Ich lachte. «Sie sind wohl so einer, der nur das sieht, was er will. Ich bin da anders. Ich will das, was ich sehe.»

Bevor er mich wieder unterbrechen konnte, verlangte ich als Gegenleistung für die geliehene Summe endlich Aufklärung, andernfalls, warnte ich ihn, sei die Gesprächssituation für mich extrem unbefriedigend. Ob er denn wirklich Dr.med.Destruction heiße. Der Befragte fixierte mich direkt von vorn. «Sach mal – kennst du The Hives?»

«Nein.»

«Ist die derzeit beste Band der Welt. Ihr letztes Album hieß ‹The Black And White Album›, verstehstu? Wenn die Beatles ein ‹White Album› und Metallica ein ‹Black Album› gemacht haben, und beide Alben Ikonen sind, dann ist doch logisch, daß ein ‹Black And White Album› mindestens doppelt so gut ist wie diese beiden Meilensteine zusammen. Und genau das haben die Hives gemacht, Mann, und der Bassist der Hives heißt Dr.Matt Destruction, klar? Dr.Matt, nicht Dr.med.» Diesen Namen habe er sich nur ausgeliehen, sein richtiger Künstlername laute Jo Hollenbach, unter dem sei er auch berühmt geworden, geboren sei er jedoch als Jürgen Hollenbach, in seinem Paß stehe sogar «Dr.Jürgen Hollenbach», er sei nämlich praktischer Arzt, ja «Allgemeinmediziner mit Tipptopp-Approbation, verstehstu?»

Jo Hollenbach – na klar! Den Namen hatte ich in letzter Zeit etliche Male gehört oder gelesen, wußte aber nicht mehr, wo. «Müßte ich was von Ihnen kennen?»

«Da gibt’s nicht viel, was du kennen kannst. Ich habe nur den einen gemacht: den BRAZ.»

«Den BRAZ?»

«Den Besten Roman Aller Zeiten– BRAZ. Wer Bücher liest, weiß davon. Totaler Welterfolg mit allem Drum und Dran. Vier Millionen Verkaufte in Deutschland in sechs Monaten, weltweit schon sechsundzwanzig. Gibt’s bis jetzt in sechzehn Sprachen, einundvierzig weitere Übersetzungen sind in Arbeit, in drei Monaten bin ich noch vor den Brüdern Grimm der meistübersetzte Deutsche, obwohl die Grimms zu zweit waren. Das Buch wird demnächst verfilmt mit Sean Connery, Bully Herbig und Witta Pohl. Steht auf Platz eins der Bestsellerlisten in sieben europäischen Ländern, außerdem in den USA, Kanada, Australien, Bhutan und nächste Woche sogar in China. Das ist ganz selten!»

Er nannte den Titel seines Buches – und ich kannte ihn tatsächlich! Es war einer dieser Titel, die man nicht vergißt, wenn man sie mal gehört hat, so ähnlich wie «Der Fänger im Weizen» oder «Naßgebiete» oder wie die Bestseller alle hießen. Doch es half nichts, jetzt mußte ich ehrlich zu ihm sein. «Ehrlichkeit ist keine Hexerei», das war auch die Maxime von Professor Pelz.

Ich sagte: «Es tut mir schrecklich leid, aber ich habe Ihr Buch nicht gelesen.»

Er wechselte ruckartig in einen anderen Modus; streng, sehr streng schaute er mich an: «Du hast mir aufgelauert, stimmt’s?»

«Wie kommen Sie darauf?»

«Da draußen, da hast du zu mir gesagt: ‹Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen.› Du hast also auf mich gewartet.»

«Das sage ich zu jedem, den ich kennenlerne. Ich sage: Hey, ich wünsche Ihnen einen wunderschönen guten Tag, ich heiße Mick Rademann und freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen. Das ist mein neuer Begrüßungssatz, den Professor Pelz für mich persönlich entwickelt hat. In dem ist einfach alles von mir drin: was sympathisch Burschikoses, was Direktes und Emotionales, auch Spontaneität und Hilfsbereitschaft. Und durch das ‹endlich› erzeugt man eine vorteilhafte Gesprächsatmosphäre, sagt der Professor, weil es dem Adressat das Gefühl gibt, er sei begehrt und erwünscht.»

«Was man von dir nicht behaupten kann. Aber Schwamm drüber.»

«Das ist Ihre Sicht der Dinge. Jede Ansicht ist wandelbar, das ist das LifeTime-Prinzip Nummer eins. Kennen Sie die LifeTime-Lehre nach Professor Pelz?»

«Nie gehört.»

«Prinzip eins lautet: Das Leben ist wandelbar. Und Prinzip zwei: Das Leben ist Timing. Das ist nachgewiesen. Ich will nur ein Beispiel nennen: Hätte man das Auto schon zu Goethes Zeiten erfunden, wäre diese revolutionäre Neuerung zum Scheitern verurteilt gewesen, weil es nirgends Tankstellen gab. Als man das Auto aber Anfang des 20.Jahrhunderts wirklich erfunden hat, konnte man damit von Tankstelle zu Tankstelle fahren, der Siegeszug um die Welt war nicht mehr aufzuhalten, und heute haben fast alle eins.»

«Ich habe zwölf.»

«Sehen Sie!» rief ich. «Weil es Tankstellen gibt! Alles im Leben braucht passend synchronisierte Zeitfenster, und das ist nur eine Frage des Timings.»

«Ist ja schon gut.» Er sah also ein, daß ich recht hatte. Das lief optimal für mich, ich hatte im Gespräch eindeutig gepunktet.

Mit bleichen Gesichtern kamen zwei Männer aus dem Raucherzimmer gewankt – Genc und Bardhyl. Sie zogen eine Qualmwolke hinter sich her, keuchten und schnappten nach Luft. Der kleinere, Bardhyl, stopfte Hollenbach eine Zigarettenpackung in die Lederjacke. «Ist für dich, Mik, kriegst du geschenkt. Aber ich schwör: Ist konkret letzte Geschenk, wir haben unseren Auftraggeber, der will kein Streß, du weißt es, Mik.»

«Ich bin Mick», sagte ich. Genc, der mich immerhin um einen Kopf überragte, legte seinen linken Arm um meinen Hals, ein wenig zu intensiv, wie ich fand. «Halt dich raus, Kollega, das ist ’ne Familiensache», brummte er durch seinen gepflegten Bart.

Bardhyl gab Dr.Hollenbach Bruderküßchen auf beide Wangen. «Du darfst uns nicht enttäuschen, Alda, ich hab schon voll viel Streß. Du weißt, wir brauchen die Auto und du wirst uns geben die Auto, Alda! Und du wirst uns geben die Geld, konkret, echt jetzt, kein Scheiß.» Ohne seinen Begleiter anzusehen, deutete Bardhyl auf die markante Wölbung unter Gencs Lederjacke. «Du weißt, Genci hat kleinen Freund, der versteht keinen Spaß.»

Hollenbach drückte den wanzenhaften Mann von sich weg. «Mensch, noch so’n Spruch, Kieferbruch mein Lieber!» rief er. «Da krieg ich ja echt ’n Rohr bei deinen Angeboten!» Er schnaufte.

Die beiden zuckten zusammen, schauten sich um, aber der Barbetrieb hatte keine Notiz genommen. Die Aufmerksamkeit der gepflegten Herren konzentrierte sich auf etwas anderes. Bardhyl hob noch einmal verwarnend den Zeigefinger, stieß Zischlaute aus, dann verschwand er mit seinem Kumpel nach draußen.

«Scheiß Albaner», murmelte Hollenbach.

Fräulein Kurt grinste zufrieden hinter der Theke hervor. «Das ist also deine Schutzmacht. Da gratuliere ich aber, Herr BRAZ.»

Hollenbach war ungehalten: «Wie lange sollen wir denn noch warten! Pils und ’n Bausatz, du Penner, aber flotto!»

Erst als ich bar bezahlte, erhielten wir die Bestellung: ich ein Pils, Hollenbach ein Glas Sekt und irgendwas Braunes im Schnapsglas. Das sei ein «Bausatz», erklärte er, «Champagner und Jägermeister». Im Reich der Getränke ein «totaler Klassiker», wie er anfügte. In dieser Kombination hätten das schon «die ganz Großen» getrunken, sagte er, ohne allerdings genauer zu werden. Er goß sich mit der linken Hand das eine, mit der rechten Hand das andere Glas in den Schlund, und als ich ihn anstaunte, meinte er: «Stereo – geht schneller!» Und bestellte das gleiche noch mal.

Das schöne Frl. Kurt vertröstete Hollenbach, es müsse sich gerade um die anderen Gäste kümmern. Die Stimmung an den Tischen war schlecht. Vereinzelte Herren wurden unruhig, Fragen nach Olinka kamen auf. Kurt wiegelte ab, erklärte, es sei bald soweit, und gab dem Mann am Klavier Anweisung, die Schlagerbeschallung zu verschärfen.

Der Bestsellerautor nahm einen Anruf auf seinem Handy entgegen, sagte so etwas wie: «Nein, Herr Budny, der Studebaker kommt erst nächste Woche… Ja… Der ist noch nicht fertig, die Felgen, Sie verstehen… Genau, nächste Woche. Tschüs.»

Er wirkte auf einmal müde, seine Bewegungen wurden langsamer, die Augen hingen auf halbmast. Wahrscheinlich vertrug er Alkohol nicht so gut wie ich. Er fuhr sinnlos durch die fettigen Haare und checkte wie in Zeitlupe die um sein Kinn drapierte Bartfusselgirlande. Jetzt sah ich, daß er ein antikes schwarzes Shirt unter der Jacke trug, der Schriftzug «Clash» war gerade noch erahnbar. Er tastete seinen Brustbereich ab. Suchte er Karzinome? Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf, er strahlte mich an, nahm meine Hand und führte sie an seine Jacke. Dorthin, wo Menschen ein Herz haben. Eine verräterische Schwellung. «Hier, fühl mal!» sagte er und ließ mich mal fühlen. Die Schwellung war hart, massiv hart sogar. Und kalt.

«’ne echte Luger, 7.35er, absoluter Klassiker, mit so einer hat sich der Rommel erschossen.» Er kam näher. «Das ist das Geilste, was es gibt! Da müssen die Albaner sich schon ’n bißchen mehr anstrengen. Bis jetzt haben sie mich nicht beeindruckt.»

Ich war es hingegen. Doktor Zerstörung machte auf mich den Eindruck eines gehetzten, zutiefst unberatenen Mannes. Er war, wie Professor Pelz sagen würde, eine klassische Patientenpersönlichkeit. Ich mußte nur noch herausfinden, ob er für mich als Patient, als Coaching-Kunde geeignet war. «Coach und Klient müssen passen wie Arzt und Patient», sagt Professor Pelz.

«Ich möchte Sie mal was fragen: Wenn Sie den erfolgreichsten Roman aller Zeiten geschrieben haben, dann sind Sie doch bestimmt auch der wohlhabendste Autor aller Zeiten, oder nicht?»

Der Erfolgsautor lachte herb. «Im Prinzip schon. Aber weißtu, ich bin momentan nicht wirklich flüssig, ich hab da einen Liquiditätsengpaß. Um offen zu sein: Ich hab Scheiße gebaut. Gewaltige Scheiße, erzähl ich dir ein andermal.» Er schaute mich freundlich an und tat mir ein bißchen leid, ich bekam plötzlich ganz großzügige Gefühle.

«Ich kann Ihnen helfen», sagte ich, «das ist mein Beruf.»

«Das nenn ich ein Wort. Du gefällst mir. Wieviel?»

«Wieviel was?»

«Wieviel du mir leihen kannst.»

Ich zeigte ihm ein verblüfftes Gesicht. «Gar nichts, ich bin auch nicht flüssig, im Gegenteil. Ich meinte, daß ich Ihnen ganz praktisch helfen kann, Ihre Situation zu verbessern.»

«Das kannst du? Issja geil!» Er stieß mit mir an, stereo gegen mono, dann stützte er seinen Kopf gedankenschwer in beide Hände. Er seufzte.

Eine junge Frau kam in die Bar und lief an uns vorbei, direkt in den Raucherraum. Sie trug ein neonfarbenes Top und eine dunkle Jogginghose, über ihrem Arsch stand in Frakturlettern «fröhlich sportlich süß athletisch». Auf Englisch natürlich. War das Olinka? Ihre Hose gefiel mir, vielleicht sollte ich auch so eine tragen. Natürlich mit einer etwas anderen Aufschrift: «erfolgreich, charmant, super drauf und unbetrinkbar», oder so ähnlich. Aber vielleicht war dafür mein Arsch nicht breit genug.

«Weißtu, eigentlich bin ich ja gar kein Schriftsteller», sprach es aus Hollenbach. «Nein, eigentlich überhaupt nicht. Strenggenommen bin ich nur Leser, ich bin bücherverrückt, ich liebe Bücher! Ich sammle sie, verkaufe sie, schmeiße die wertlosen auch wieder weg, kein Problem, Hauptsache Bücher. Aber welche schreiben? Wozu das denn? Es gibt doch genug. Niemals habe ich daran gedacht, ein Buch zu schreiben. Dieses dauernde Rumgesitze, nur um mir irgendwas aus den Ganglien zu wringen… Nee, das war nie mein Ding. Doch dann, eines Tages – da kam es auf einmal über mich. Da hab ich’s versucht. Einfach so.»

«Sie schrieben Ihr Buch?»

«Am Arsch die Räuber, mein Lieber. Es ging nicht. Gar nix, niente. Totalblockade. Da hab ich die Schriftstellerei direkt aufgegeben.»

«Eine konsequente Entscheidung.»

«Du sagst es.»

Wir schwiegen ergriffen.

«Aber dann», sagte er, aus seinem Sekundenschlaf wieder hochgeschreckt, «dann klappte es plötzlich!» Er klatschte mit der flachen Hand auf die Theke. «Mit CZwo-TZwo!»

«RZwo-DZwo?»

«Quatschi, Mann: CZwo-TZwo!» rief er, und ob ich das nicht kennen würde. Das sei ein «astreines Dimethoxy-Ethylthionphenylethylamin-Präparat», das man aus Polen, Holland oder anderen Ländern mit traditionsreicher Hinterhof-Pharmazie beziehen könne. Er zog ein durchsichtiges Plastikröhrchen aus der Innentasche seiner Lederjacke – es war noch halbvoll. «Das stimuliert und frappiert, das öffnet dich emotional und macht alles schön lustig. Wenn du das in der Birne hast, kannst du noch geiler formulieren als der Willemsen und der Papst zusammen. Das Zeug ist zum Schreiben absolut super!» Er nahm eine Tablette aus dem Röhrchen, zerbröselte sie, ließ das Pulver auf seine ohnehin schon üppig belegte Zunge rieseln, schmatzte und schluckte es weg. «Schmeckt schlechter, als es aussieht. Aber dafür wirkt es sofort, dein Hirn wird zur schnellsten Monster-Festplatte der Welt.»

«Kein Wunder», entgegnete ich, «in Ihnen schlummern Potentiale! Wie in jedem Menschen. Jeder Mensch ist potentiellerPotenzator und kann die Energie der Kreativität freilegen!»

«Schon recht, Mann. Jedenfalls – ich hab das gar nicht gezielt geschrieben, glaub mir, Welterfolge kann man nicht planen.»

«Wem sagen Sie das.»

«Dir sag ich das. Ich also eines Tages abgerauscht nach Gomera. Meine Lieblingsinsel. Allein. Ratlos. Gelangweilt. Was weiß ich. Ich wohnte im Valle Gran Rey, wie alle Penner, die da hinfahren. Ich nahm mir ein Zimmer in der Casa Maria, wo sonst. Und da, in diesem ranzigen Hippiehotel, da war dann diese Ferienbibliothek.»

«Eine ganze Bücherei für Gäste?»