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Pauschalreisen war gestern: Oliver Maria Schmitt erlebt die letzten echten Abenteuer. In Zeiten von geführten Pauschal-Erlebnisreisen in die fernsten Winkel der Erde wagt Oliver Maria Schmitt die letzten echten Abenteuer: Er überlebt Wüstenstürme, Wasserhosen und Weinverkostungen ohne Rückschüttgefäß, reist auf Borats Spuren durch Kasachstan und mit der eigenen Mama nach Malle, sucht in Nicaragua nach Flüssiggold und in Nepal das Lächeln einer schulpflichtigen Gottheit, übernachtet in Rom im Sterbezimmer Tony Sopranos, verliert in Key West den Ernest-Hemingway-Ähnlichkeitswettbewerb und forscht in Ho-Chi-Minh-Stadt nach einem verschwundenen van Gogh. In Finnland tanzt er mit trinkfreudigen, aber kontaktscheuen Rockern «Lufttango» (mit imaginierter Partnerin), einem Winzer in Bordeaux will er beibringen, wie man «Kalte Muschi» mischt (Hälfte Rotwein, Hälfte Cola), und in den Stromschnellen des Sambesi muss er um sein Leben paddeln ... Furchtlos, mit vollem Körpereinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste sucht Oliver Maria Schmitt Grenzerfahrungen, in der fernsten Fremde wie im heimischen ICE – und erzählt von den aberwitzigsten, verschrobensten und denkwürdigsten Reiseabenteuern, die man heute noch erleben kann.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2015
Oliver Maria Schmitt
Ich bin dann mal Ertugrul
Traumreisen durch die Hölle und zurück
Ihr Verlagsname
Pauschalreisen war gestern: Oliver Maria Schmitt erlebt die letzten echten Abenteuer.
In Zeiten von geführten Pauschal-Erlebnisreisen in die fernsten Winkel der Erde wagt Oliver Maria Schmitt die letzten echten Abenteuer: Er überlebt Wüstenstürme, Wasserhosen und Weinverkostungen ohne Rückschüttgefäß, reist auf Borats Spuren durch Kasachstan und mit der eigenen Mama nach Malle, sucht in Nicaragua nach Flüssiggold und in Nepal das Lächeln einer schulpflichtigen Gottheit, übernachtet in Rom im Sterbezimmer Tony Sopranos, verliert in Key West den Ernest-Hemingway-Ähnlichkeitswettbewerb und forscht in Ho-Chi-Minh-Stadt nach einem verschwundenen van Gogh. In Finnland tanzt er mit trinkfreudigen, aber kontaktscheuen Rockern «Lufttango» (mit imaginierter Partnerin), einem Winzer in Bordeaux will er beibringen, wie man «Kalte Muschi» mischt (Hälfte Rotwein, Hälfte Cola), und in den Stromschnellen des Sambesi muss er um sein Leben paddeln ...
Furchtlos, mit vollem Körpereinsatz und ohne Rücksicht auf Verluste sucht Oliver Maria Schmitt Grenzerfahrungen, in der fernsten Fremde wie im heimischen ICE – und erzählt von den aberwitzigsten, verschrobensten und denkwürdigsten Reiseabenteuern, die man heute noch erleben kann.
Oliver Maria Schmitt, geboren 1966, ehemaliger Chefredakteur der «Titanic», ist Romancier und Journalist. Für seine Reisereportagen, die etwa in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», in der «Zeit» und in «Geo Saison» erscheinen, ist Schmitt bereits mehrfach ausgezeichnet worden – unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis 2009 für seine «herausragende unterhaltsame, humorvolle Berichterstattung».
Key West, Florida
Hemingway – das bin ich. Vielleicht glauben Sie es nicht. Niemand glaubt es, aber wahr ist es. An diesem Sommerabend auf Key West stand die Hitze senkrecht in Sloppy Joe’s. Die Deckenventilatoren kurbelten verzweifelt Sauerstoff in die Bierfeuchtigkeit des Saloons, und darunter kippten verzweifelte Männer Bierfeuchtigkeit in ihre sauerstoffarmen Köpfe. Männer, die mir sehr bekannt vorkamen. Neben mir saß Ernest Hemingway und versuchte, nicht vom Barhocker zu fallen. Sein Kopf war ein glühend roter Feuerball mit weißen Haaren und weißem Bart. «Ich find’s toll, dass so viele Leute hier aussehen wie ich», sagte er. Ein anderer Hemingway rülpste mir von hinten ins Ohr und balancierte dann sein volles Bier durch die Menge. Er schrie auf, als er von einem Hemingway mit Baseballmütze angerempelt wurde. Doch der kriegte davon gar nichts mit, weil er sich gerade sehr bewegt mit Ernest Hemingway unterhielt. Bald würden all diese Hemingways nur noch über einen sprechen: über mich, Hemingway, den Überraschungssieger.
Joes Kneipe an der Duval Street war das genaue Gegenteil eines sauberen, gutbeleuchteten Cafés, und es war berstend voll mit Gestalten, die glaubten, sie sähen aus wie Hemingway. Ich rückte meinen Button am Revers zurecht. Sloppy Joe’s 34. jährlicher Hemingway-Lookalike-TEILNEHMER – 1. Jahr. Den Button hatte mir vorhin eine Dame angesteckt, als sie die Startgebühr kassierte und die Regeln herunterleierte: «Heute ist die erste Vorrunde, morgen bist du dran, Deutscher, am Samstag ist Finale, du hast fünfzehn Sekunden, dich der Jury vorzustellen, sie besteht aus den Vorjahressiegern, normalerweise gewinnen nur dicke, alte Männer mit weißem Bart, wir hatten aber auch schon Jüngere, die bis ins Finale kamen, manche machen seit Jahren mit und gewinnen nie, wir sind hier am südlichsten Zipfel der Staaten, hier sind alle verrückt, Key West ist die Toilette Amerikas, was oben reinfällt, bleibt bei uns unten hängen, zieh dich gut an, Hemingway-Style, du weißt schon, Safarikleidung oder Fischerpullover mit Rollkragen, aber Vorsicht, ist heiß auf der Bühne, mach ’ne Show, manche bringen eigene Cheerleader mit, andere bestechen die Jury, viel Glück, Deutscher!»
Ich verließ Sloppy Joe’s und schlenderte die Duval Street entlang, die Reeperbahn von Key West. Versuchte es zumindest. Vergeblich. Auf der Partymeile war kein Stehplatz mehr zu kriegen. Jedes Jahr im Juli feiert die kleine Stadt auf dem letzten Zipfel Floridas die «Hemingway Days», rund um den Geburtstag ihres berühmtesten Residenten, mit Kurzgeschichtenwettbewerb, Armdrücken, Wettangeln und Lookalike-Contest. Millionen waren gekommen, um ihr Idol Hemingway zu feiern. Sie fielen aus Flugzeugen, Autos und Kreuzfahrtschiffen, um den nicht enden wollenden Gaudiwurm zu bilden, in dem ich mich befand. Über beide Straßenseiten schob die amerikanische Unterschicht ihr Übergewicht. Tattoo auf nacktem Oberkörper war Pflicht, Drink in der Hand, Zigarre im Mund. «Komm rein, deine Frau ist ja nicht dabei», rief ein Schild vor einem Zigarrengeschäft, das Tabaktorpedos «aus 100% kubanischen Samen» versprach.
Ich bog einmal um die Ecke, und schon war Key West völlig anders: ruhig und verschlafen. Hähne stolzierten umher. In Zeitlupe. Wegen der Hitze. Man konnte Fahrrad fahren. Auch sehr langsam. Selbst die Autos rollten im Schneckentempo an den tropisch wuchernden Vorgärten vorbei, an blühenden Frangipani- und Hibiskusbäumen.
Ich war guter Dinge, denn mir war klar, dass ich den Hemingway-Contest unweigerlich gewinnen würde. Schließlich verfügte ich über eine Ausnahmebegabung: Ich sah genau so aus wie andere Leute. Irgendetwas an meinem Gesicht musste auf andere so wirken, als hätte ich gar keines. Schon als Kind wurde ich von einem Lehrer einmal mit Jürgen Krauter aus der 4b verwechselt, obwohl der ganz anders aussah als ich. Jahre später wurde ich auf einem Empfang als «Herr Hösel» begrüßt. Neulich warf der Briefträger bei mir sogar eine Postkarte an einen gewissen Eugen Schuwerak ein, auf der mir mitgeteilt wurde, dass es in Brixen am Nachmittag geregnet hatte. In Leipzig sprach mich ein wildfremder Fernseher in meinem Hotelzimmer mit den Worten «Willkommen Herr Titanic BoyGroup» an. Und erst unlängst, in einer Kneipe in Hannover, sagte ein älterer Herr mit riesigen Ohren über sein Bier hinweg zu mir: «Ihr glaubt wohl, ihr vom NSA könnt machen, was ihr wollt. Aber ich als BND-Opfer stehe unter persönlichem Schutz von George Bush senior, Papst Ratzinger und Boutros-Boutros-Boutros-Boutros-Ghali. Prost!» Da war für mich eine täuschend echte Hemingway-Darstellung kein Problem.
Ich hatte mich Hemingway sorgsam und strategisch geschickt immer mehr angenähert. Ich benutzte das gleiche Notizbuch wie der Nobelpreisträger, und mein Hotel lag direkt gegenüber seinem Haus in der Whitehead Street. Heute ist es ein Museum. Am Eingang hatte eine lange Besucherwarteschlange vor sich hin geschwitzt, vor dem Kassenhäuschen hatte sich eine Gruppe Hemingways lautstark über die zu hohen Eintrittspreise beschwert. Eintritt – fürs eigene Haus!
Das Innere der gepflegten Kolonialhütte sah noch ziemlich bewohnt aus. Obwohl der Eigentümer es 1939 verlassen hatte. Nur knapp zehn Jahre hatte Hemingway auf Key West verbracht, doch in dieser Zeit entstand der größte Teil seines Werks. Nirgendwo war er produktiver als auf diesem Sandplacken in der Karibik. Abends becherte er im Saloon seines Kumpels Sloppy Joe, am nächsten Morgen stand er um sechs Uhr auf, ging von seinem Schlafzimmer über einen kleinen Katzensteg rüber ins Schreibhaus und tippte los. Da stand noch immer seine Reiseschreibmaschine und dort sein monströses Bett. Seine Frau hatte einen schlechten Lampengeschmack. Dafür hatte er alles mit ausgestopften Leichenteilen selbstgeschossener Tiere vollgehängt. Dazwischen krochen Horden missgebildeter Katzen herum, lauter miauende Mutanten – ein Albtraum.
Das finden Sie zu hart? Zu katzenfeindlich? Mag sein, aber ich halte mich nur an Hemingway: «Alles, was du tun musst, ist: einen wahren Satz schreiben.» Genau. So einfach ist das. Und dann noch einen und noch einen. Nebensätze weglassen. Und am Ende jagt man sich eine Kugel in den Kopf. War man aber als Großwild auf der Welt, bekam man mit etwas Glück eine Kugel von Hemingway persönlich durch den Brägen geschossen. Das Leben war eben ein Kampf, und seines ganz besonders. Aber meines jetzt auch. Diesen Wettkampf musste ich gewinnen! Cool und mit ausdrucksloser Miene. Denn so machten es die Helden aller Hemingway-Romane. Sie waren rücksichtslos ehrlich, hart gegen sich selbst und zeigten niemals Gefühle.
Im Esszimmer, über dem Kamin, hing eine Serie von Hemingway-Porträts in allen Altersstufen. Hemingway sah sich tatsächlich sehr ähnlich. Und da! Da war er: der junge Hemingway! Ohne Bart, mit zurückgepapptem Haar.
Er sah aus wie ich.
Immer wieder stiegen neue Hemingway-Klone auf die Bühne von Sloppy Joe’s und warben für sich: «Ich bin zum achten Mal dabei. Ich habe ein Alkoholproblem, ich brauche den Sieg.»
«Ich war mal in Havanna – wie Hemingway!»
«Ich will Hemingway immer ähnlicher werden – wer hier im Saal will meine dritte Frau werden?»
«Ich habe zwar rote Haare und einen Bart, aber ich heiße Wilbur Hemingway, so steht’s in meinem Pass. Ich bin der einzig echte Hemingway!»
«Nein, ich bin das, denn ich sehe ihm ähnlicher als er selbst. Gott schütze Amerika, Gott schütze unsere Truppen, und Gott schütze mich, den nächsten Papa.»
«Papa», so erfuhr ich in der Pause von einem Papa, nannte sich der alte Ernest selbst, als er schon reifer und fülliger war. Und nur der Sieger dieses legendären Lookalike-Contests dürfe sich öffentlich und offiziell «Papa» nennen.
Meine Mitbewerber machten wahrlich keine gute Hemingway-Figur. Wer schlechte Witze machte, wurde gnadenlos abgewürgt und ausgebuht. Ein Millionär aus Texas hatte eine Gruppe von fünfzehn Cheerleadern dabei, die für ihn johlte. Ohne Erfolg, er schaffte es nicht ins Finale. Kaum einer sah wirklich aus wie Hemingway. Die meisten waren einfach nur ältere Männer mit Bart. Misstrauisch wurden sie von der Jury beäugt, einer mürrischen Clique alter bärtiger Männer in Safarikleidung. In einem Meer aus Bier.
Dass sich einmal im Jahr alte Männer zusammenfanden, um etwas sehr Merkwürdiges zu machen, fand ich eigentlich ganz okay. Es muss ja nicht immer ein CDU-Parteitag sein. Der Hemingway-Lookalike-Contest war so was wie die amerikanische Version des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs, nur lustiger und unterhaltsamer. Weil auf die langweilige Prosa verzichtet wurde. «Fuck literature!», hatte Hemingway in einem Brief an Ezra Pound geschrieben. So trafen sich nun einmal im Jahr Lehrer, Ärzte und Alkoholiker, die Elite Amerikas, um in brüderlicher Eintracht einen Wettbewerb auszutragen.
«Fuck brüderlich», sagte Wilbur Hemingway am Ende dieses ersten Abends, nachdem ich ihm sechs Biere ausgegeben hatte. «Wenn du Papa werden willst, musst du der Jury in den Arsch kriechen. Jahrelang. Du musst ihrem Verein beitreten, du musst spenden, du musst sie toll finden, und dafür lassen sie dich zappeln», sagte Wilbur und hörte nicht auf, einen wahren Satz an den nächsten zu hängen. «Früher war das ein Spaßwettbewerb, heute geht es nur noch um Vereinspolitik und um Geld. Mit Lookalike hat das gar nichts mehr zu tun. Nicht mal Hemingway würde bei diesem Contest gewinnen.»
Gerade eben war ich meiner Sache noch ganz sicher gewesen. Nun kamen Zweifel auf. Hatte ich überhaupt eine Chance?
Am nächsten Abend war endlich ich an der Reihe und stand auf der Bühne von Sloppy Joe’s. Mein weit geschnittener Vintage-Anzug mit breitem Dreißiger-Jahre-Revers saß perfekt und das durchgeschwitzte weiße Hemd wie eine zweite Haut. Dazu Binder und Schuhe mit Gamaschen, Haare voll zurückgepappt. Die zweite Vorrunde war im Gange, einige Hemingways waren bereits zusammengebrochen, kollabiert bei mörderischer Hitze und hundert Prozent Bierluftfeuchtigkeit. Sie wurden von anderen Hemingways nach draußen geschleift, an die frische heiße Luft von Key West.
Ich gab den jungen Hemingway von 1924 und war total aufgeregt, weil ich mich die ganze Zeit darauf konzentrieren musste, keine Gefühle zu zeigen. Und gleichzeitig zu reden. Ich erzählte etwas Wirres von einer betrunkenen Wette unter Freunden und dass Hemingway ja mal gesagt habe: «Tue nüchtern immer das, was du betrunken angekündigt hast. Das wird dich lehren, die Klappe zu halten.» Mit diesem Zitat schloss ich, es ging aber in den Buhrufen des Publikums und der Jury unter.
In der Pause kam einer der Juroren auf mich zu, der Papa des Jahres 1999, und sagte: «Du hättest Deutsch sprechen sollen. Dann hätte man dich nicht verstanden. Das wäre interessanter gewesen.» Dann reichte er mir seine Hand und zerquetschte meine mit seiner Schraubstockpranke. Wilbur Hemingway klärte mich hinterher auf, dass man mir schon nach den ersten Worten den Saft abgedreht habe. Sie lauteten seiner Erinnerung nach so: «Hemingway hat gesagt, er trinke, um andere Leute interessanter zu machen. Leider gibt es auf Key West nicht genug Alkohol, um sich diese Jury interessant zu trinken.» Und das hätte ich mal besser nicht gesagt. Ich schied in der Vorrunde aus.
Das ohne meine Beteiligung gefeierte Finale am nächsten Abend zog an mir vorüber wie ein Film, bei dem man eingeschlafen ist. Ausgewachsene Männer bitteten und bettelten um die Siegermedaille. Weil ihr Leben sonst keinen Sinn habe. Weil sie so viel für den Verein gespendet hätten. Weil Kameradschaft für sie das Allergrößte sei. Weil, weil, weil. Winsel, winsel, wimmer. Am Ende hatte einer der Juroren sogar einen Hundertdollarschein unterm Hut. Ein erbärmliches Spektakel. Plötzlich wirkten die vielen Hemingways in ihren Bärten und kurzen Hosen noch gruseliger und zombiehafter als der Aufmarsch der hundert Heinos im ersten Otto-Film.
Ich wankte nach Hause, durch die Toilette Amerikas. Sehr langsam. Auf dem Weg kaufte ich mir eine kubanische Zigarre bei einer schönen Mulattin. Sie erbleichte, als sie meinen Teilnehmerbutton am Revers sah.
«Sie haben … beim Hemingway-Lookalike mitgemacht?»
«Genau.»
«Aber … aber … Sie sind doch …»
«… nicht alt genug?»
«Ja! Und nicht …»
«… fett genug? Nicht bärtig genug?»
«Ja. Beides.»
«In zwanzig Jahren schon! Warten Sie’s ab, dann komme ich wieder, schöne Mulattin! Älter, fetter und weißhaariger als je zuvor! Und dann können sich die Papas hier auf was gefasst machen!»
Sie verstand nicht, ich ließ sie stehen.
Die Luft war drückend. Es wurde unruhig. Blitze tanzten über den Himmel, ein wütender Donner kündigte die heraufziehende Hurricane-Saison an. Ein Tropengewitter goss Kübel heißen Wassers über mir aus.
Hemingway, dieser Penner! Der war für mich erledigt, ein für alle Mal. Was hatte der schon groß geleistet? Er war ein rettungsloser Angeber und der schlimmste Nebensatzkiller aller Zeiten. «Ein Mann kann vernichtet werden, aber nicht besiegt», schrieb er in Der alte Mann und das Meer. Werde ich eben woanders siegen. Mir doch egal. Vielleicht in Lübeck, wenn sie dort endlich einen Günter-Grass-Lookalike-Contest auf die Beine stellen. Dann werde ich mit Prachtschnauzer, Pfeife und SS-Uniform auflaufen und abräumen. Oder wenn am Bodensee die «MartinWalserDays» stattfinden. Dann hole ich mir mit feuchter Aussprache und meterhohen Augenbrauenhecken den Pokal. Oder ich gehe mit Weltraumfrisur und Lippenstift als krasse Oma zum Herta-Müller-Ähnlichkeitswettbewerb. Und gewinne. Mit wahren Sätzen. Dann bin ich es nämlich: dem die Stunde schlägt.
Zwischen Hamburg und Frankfurt
Ey, der Kevin hat die Sophie beim Chillen krass abgelinkt und gesagt: Ablage C! Frau Kübler, ich hab doch ganz klar gesagt: Ablage C! Da liegt das Angebot Erlenmaier & Hämmerle, und jetzt geben Sie mir mal bitte die Eckdaten durch! Helmut, ich bin gerade losgefahren, ich sitz im Zug, hörst du, Helmut? Echt jetzt, die Sophie auch? Ey, Luisa, das ist so total krass, dass die Sophie mit dem Kevin dann noch beim Mäckes war. Frau Kübler, das war so ’ne rote Angebotsmappe, Herrgott noch mal! Helmut, hörst du? Frau Kübler? Julia, bist du noch da?
Nein, sie sind nicht mehr da. Ich habe nämlich soeben den Knopf gedrückt. Verwundert starren die Gesprächspartner von Luisa, Helmut und Frau Kübler auf ihre mobilen Endgeräte – aber da ist nichts mehr. Kein Empfang, kein Gespräch.
Seit einigen Jahren ist der Phone Jammer mein treuer Begleiter bei Zugfahrten. Das kleine schwarze Gerät mit den drei Antennen liegt gut in der Hand und verschwindet diskret in jeder Tasche. Wenn ich es einschalte, haben sämtliche Kommunikationsgeräte in einem Umkreis von zehn Metern Sendepause und kein Handy mehr einen Balken. Dann ist Ruhe, und die Landschaft gleitet lautlos vorbei.
Ruhe vor nervigem Beziehungsquark, vor Geschäftsleuten, die die Umgebung ihres Sitzplatzes zum Großraumbüro umgestalten, vor Menschen, die so fassungs- wie sinnlos ihren Aufenthaltsort kommunizieren. Phone Jamming reaktiviert verschüttete Allmachtsphantasien. Ich bin wieder Kind und spiele ein bisschen Gott. Denn Gottes elftes Gebot lautet, so hat Robert Gernhardt es dereinst überliefert: «Du sollst nicht lärmen!»
Jaja, ich weiß: Besitz und Betrieb eines solchen Geräts sind in Deutschland streng verboten. Ich kann also vor der Anschaffung dieses – übrigens erstaunlich preisgünstigen – Geräts nur warnen. An einem Dienstagabend habe ich es online in Hongkong bestellt, und schon am Donnerstagmorgen war es da. Wenn ich das Ding einschalte, habe ich natürlich immer ein sehr schlechtes Gewissen. Im Gegensatz zu denen, die mich ungefragt in ihr Privatgespräch einbeziehen. Dabei ist ja nicht mal die rüpelhafte Lautstärke das Problem, sondern die gestreute Informationsverschmutzung. Neben Telefonierern zu sitzen ist so, als würde man gezwungen, ununterbrochen Spammails zu lesen. Meine elektronische Selbstjustiz ist also ein klarer Fall von existenzieller Notwehr. Gerade hier, im ICE-Nichtquasselbereich.
Handyblocker sind nicht nur verboten, sondern auch umstritten. Eine aktuell durch den Äther rauschende Katastrophenmeldung, heißt es, könnte so unterbrochen werden. Oder Leute, die auf eine lebensrettende Organspende warten, könnten nicht informiert werden. Okay, das sehe ich ein. Vielen Zugtelefonierern wäre ohnehin ein leistungsfähiges Spenderhirn zu wünschen, das sie in die Lage versetzte, sich auch einmal in eine andere Person zu versetzen. Wer aber äußerst dringend auf neue Nieren, Lebern oder gar ein Herz wartet und keinen Handyempfang hat – der spreche mich bitte an. Ich bin der da vorne im Großraumabteil, um den herum es gerade so still ist.
Bordeaux
Gerade will ich meiner Tischrunde einen ordentlichen Schluck aus dem Rückschüttgefäß aufdrängen, da schreitet das Stadtoberhaupt ein. Alain Juppé steht auf und ergreift das Wort. Das Bordeaux, verkündet stolz der Bürgermeister und ehemalige Premierminister Frankreichs, sei die berühmteste und größte zusammenhängende Erzeugerregion für Qualitätswein auf der ganzen Welt. Und das wolle man heute Abend feiern. Mit vielen Gästen, exzellenter Küche und dem Besten, was die Weinwelt zu bieten hat.
Wir sitzen im obersten Stock eines Bankgebäudes, die Sonne sinkt, unter uns fließt träge die Garonne, vom Ufer gegenüber prostet uns roséfarben das endlose Fassadenband der UNESCO-geschützten Weinmetropole zu – und in unsere Gläser fließen ganz unträge die besten Gewächse der Welt. Der Bürgermeister hat zu einer kleinen Gourmandise geladen. Obwohl im Bordelais Krisenstimmung herrscht. Die Fässer sind zu voll, die Lager ebenfalls. Weil die Preise zu hoch sind, die Franzosen zu wenig trinken, die Chinesen nicht genug kaufen, weil das Wetter zu schlecht ist und überhaupt. Doch das solle uns heute nicht kümmern, sagt der Bürgermeister – und hebt das Glas zum Toast.
An Tisch elf sitzen hochangesehene Vertreter des Nasswarengewerbes, gerade haben wir uns einander vorgestellt: der Weinhändler aus Bordeaux, der Weineinkäufer aus Hongkong, der Manager eines weltberühmten Châteaus, der gefürchtete Kritiker vom Speiseführer Gault-Millau und die Verbandsdame der Grand-Cru-Vereinigung, des Hochadels der Weingesellschaft. Und ich, der Weinforscher aus Deutschland.
Der Händler checkt sein Handy, der Gault-Millau macht Notizen, dann übernimmt er souverän die Tischregie und kommentiert die anstehende Getränkefolge. Das ist gut, denn ich verstehe eigentlich nichts von Wein. Genau genommen verstehe ich nur, ihn zu trinken. «Dann sind Sie hier genau richtig», bescheidet freundlich die Verbandsdame, «denn der Rotwein aus Ihrer Heimat wird in Frankreich nicht mal zum Kochen verwendet.»
Aber warum ist das so? Das ist die Frage, die mich umtreibt: Warum ausgerechnet Bordeaux? Warum kommt von hier der beste Wein der Welt? Was ist sein Geheimnis?
Um das herauszufinden, habe ich bereits am Vormittag die Spitze des Weinbergs erklommen. Sie lagert in den alten, weitläufigen Hallen von Millésima, dem größten Weinhandelshaus der Stadt. Hier stapeln sich zweieinhalb Millionen Flaschen der besten Weine der Welt, ein bis zum Überlaufen voller Flüssiggoldspeicher. Eine Probe, die organoleptische Prüfung der Primeurs stand an, der Jungweine des Vorjahres. Unter konsequenter Hinzuziehung der Sinnesorgane Auge, Nase und Mund galt es, den neuen Jahrgang zu degustieren. Ein Mann mit scharf geschnittener Brille händigte mir am Eingang einen Block aus und führte mich durch das riesige Depot. Zwischen Kisten von Château Latour, Cheval Blanc und Mouton-Rothschild, in denen die Fünftausend-Euro-Flaschen der Jéroboam-Klasse verwahrt wurden, waren die Stände sämtlicher Grand-Cru-Classé-Weingüter aufgebaut. Der Olymp der Weinwelt.
Der Mann reichte mir ein Glas. «Junge Weine verkosten ist besonders schwer», raunte er mir zu. «Sie sind eigentlich noch nicht trinkbar, doch die Händler können jetzt schon erkennen, welches Potenzial ein Wein hat und wie er sich entwickeln wird.»
Welche Rebsorte denn ausgeschenkt werde, wollte ich wissen.
Er lachte. Das sei schwer zu sagen. «Meistens zwei, manchmal aber auch fünf.»
Ich staunte.
«Ja, das ist eben die Kunst der Assemblage. Wir können auch ‹Mariage›, ‹Cuvée› oder ‹Mélange› dazu sagen und meinen doch immer die Vermählung der Weine zu etwas Neuem, ganz Außergewöhnlichem.»
«Bei uns in Deutschland nennt man das ‹Mischen›. Oder ‹Verschneiden›. Manche sagen sogar: ‹Panschen›.»
«Das zeigt ja schon, welches Ansehen die Assemblage bei Ihnen genießt», erwiderte er maliziös.
Im Bordelais dürfe man maximal fünf Sorten Rotwein miteinander vermählen. Doch sei das ja noch gar nichts, im Vergleich etwa zum Chianti: Der dürfe aus bis zu elf verschiedenen Weinen gemischt werden. Manche Chiantis enthielten sogar Weißwein – das müsse man sich mal vorstellen! «Es geht um Geschmack», dozierte der Experte über seine Brille hinweg. «Verkosten ist eine anspruchsvolle Tätigkeit. Man muss nicht nur die Aromenpalette im Wein erschmecken, sondern sich auch vorstellen, was man dazu essen könnte. Für uns Franzosen ist Wein immer ein Essensbegleiter. Ohne eine Mahlzeit würden wir einen Wein niemals trinken.»
Während wir zum ersten Probierstand gingen, schenkte er mir vertrauliche Anfängertipps ein: «Sie müssen beim Verkosten eigene Begriffe bilden, denn nur Sie können beschreiben, wie und was Sie schmecken. Lassen Sie sich bloß nicht einschüchtern, wenn andere Minze, Leder, Unterholz, Kräuter oder Feuerstein im Wein erspüren. Notieren Sie nur, was Sie persönlich schmecken!»
Zum Auftakt nahm ich einen tiefen Schluck vom Château Léoville-Poyferré, der sich bei der ersten optischen Ansprache eindeutig als Rotwein entpuppte. Ich schlürfte, kaute und schluckte ausgiebig und notierte: «Schmeckt astrein.» Am Stand von Cantenac-Brown vermerkte ich: «Schmeckt nicht so gut.» Bei Château Siran: «Der ist jetzt wieder besser.» Léoville-Barton: «Fiese Nase.» Grand-Puy-Ducasse: «Riecht wie ungelüftete Umkleidekabine.» La Fleur de Gay: «Schmeckt wie schon mal getrunken.»
Am Stand von Château Olivier schenkte mir ein alter Mann reinen Wein ein: «Unser Wein ist der charakteristischste Bordeaux, den es zu kaufen gibt.» Dann verfinsterte sich sein Antlitz: «Aber es gibt kaum etwas, was man dazu essen kann. Mir fiele allenfalls eine sautierte Beinscheibe vom Rind mit Meerrettich und etwas Salbei ein. Oder … oder …» – im Geiste schien er sämtliche Gerichte zu verkosten, die er je verdaut hatte – «… oder vielleicht einen stark frittierten Barsch. Aber wo soll man den herkriegen?», heulte er, während ich mir schnell noch mal das Probierglas bis oben hin vollgoss.
Derart gestärkt ließ ich die Stadt hinter mir und fuhr vorbei an Reben, Reben und nochmals Reben. Allein im Bordelais wachsen so viele wie in allen deutschen Anbauregionen zusammen. Rund achttausend Winzer befüllen jedes Jahr siebenhundert Millionen Flaschen Wein, darunter etwa dreitausend Châteaus.
Eines davon war meine nächste Station, das Château du Taillan, ein charmantes kleines Schlösschen im Haut-Médoc, eine halbe Autobusstunde von Bordeaux entfernt. Von der Terrasse schaut man auf die Weinberge, die die Familie von Madame Falcy-Cruse in der vierten Generation bewirtschaftet. Aber nur weil Madame Winzerin ist, heißt das noch lange nicht, dass sie Besuch in legerer Garderobe, gar Arbeitskleidung empfinge. An diesem Nachmittag stakste sie im Chanel-Kleid auf Stilettos hinüber zum alten Kellereigebäude, einem architektonischen Kleinod aus dem 16. Jahrhundert. Die studierte Önologin wies mich ein in die Kunst der Assemblage.
Madame Falcy-Cruse reichte mir zwei Gläser, die ich gegen das Licht halten sollte. «Welche Farbe hat dieser Rotwein? Schauen Sie auf den Flüssigkeitsrand: Blau? Violett? Purpur? Gelb? Braun?»
«Rot», sagte ich und lag damit ganz vorn.
Dann reichte sie mir zwei weitere Gläser, dazu einen Standkolben mit Maßeinheit und eine Pipette. Ich sollte so lange hin und her mischen, bis ich den für mich optimalen Geschmack gefunden hatte: «Die ideale Balance zwischen der Fruchtigkeit des Merlot und der Samtigkeit des Cabernet Sauvignon – die müssen Sie finden!» Und zwar durch unablässiges Schmecken. Madame goss uns den 2009er des Hauses ein, wir schmatzten ein wenig, schließlich sagte sie: «Samtige Tannine. Aber am besten gefällt mir der pfeffrige Lakritzton.»
Ich nickte.
«Und jetzt blenden Sie mal selbst. Probieren und vergleichen Sie, immer schnell hintereinander. Achten Sie bei der Mundprobe auf die drei Phasen: Attacke, Entwicklung und Abgang!»
Ich mischte, panschte, verschnitt die beiden Rotweine, aber egal, ob drei zu vier, zwei zu acht oder eins zu eins – das Resultat schmeckte immer gleich.
«Junge Weine verkosten ist besonders schwer», sagte ich und erntete einen respektbezeigenden Blick von Madame. Ja, da helfe eben nur Probieren, Probieren und nochmals Probieren. Jeden Tag, dreißigmal. Sie mache nichts anderes.
Und ich schon gar nicht. Es ist Abend geworden, ich sitze inzwischen am gedeckten Tisch. Unter uns fließt noch immer gelbbraun die Garonne, die ein paar Kilometer weiter mit der Dordogne zur Gironde verschnitten wird. Endlich kommt der Bürgermeister zum Ende seine Rede. Wird auch höchste Zeit. Ich will jetzt weiterprobieren!
Sterneköche kredenzen Kleinkunstwerke, die eigentlich viel zu schade sind zum Essen. Dennoch überwinden wir uns. Zum ersten Gang wird ein Château Prieuré-Lichine vom guten Jahrgang 2005 gereicht. Nachdem alle ausreichend geäugt, genäselt und geschlürft haben, lege ich los: «Dieser Wein schmeckt sehr gut.»
Zustimmendes Kopfnicken. Nur der Hongkong-Chinese verzieht das Gesicht, ordert aber bei seinem Nebensitzer, dem Weinhändler, sofort zwanzig Kisten. Auch der nachfolgende 98er Château Pichon-Longueville-Comtesse de Lalande aus der Magnumflasche findet Gefallen. Monsieur Gault-Millau lobt vor allem die animalischen Noten: Er rieche herrlich nach Kuhstall. Aber auch nach Leder, Unterholz, Kräutern, sogar Mokka, Tabak, und eine kleine, aber feine Feuersteinnote sei erahn-, ja erschmeckbar.
Ich nicke und sage: «Samtige Tannine. Aber der pfeffrige Lakritzton ist ungewöhnlich.»
«Oh, là, là», meint der Château-Manager, der Chinese verzieht das Gesicht und bestellt zwanzig Kisten.
«Wir brauchen dringend neue Absatzmöglichkeiten!», beschwört nun der Händler die Runde.
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, winke den Weinreinbringer her und deute auf meine leeren Probiergläser: «Vollmachen, s’il vous plaît!»
Der 99er Branaire-Ducru gefällt sehr gut, der Gault-Millau schlackert anerkennend mit seinen zwei Kinnen, und der Chinese bestellt sofort zwanzig Kisten. Der nachfolgende Smith Haut Lafite von 1998 aber bereitet plötzlich Probleme.
«Dieser Wein schmeckt wie …», beginnt Monsieur Gault-Millau, «er hat so eine Art Champignonton, wie ein Waldboden nach dem Regen.» Kurz hält Monsieur inne, wie um dem Rotweinregen zu lauschen, der in ihm rauscht. «Das ist ein Fehlton, der dürfte nicht sein, vielleicht hat ja die Flasche einen Fehler. Ich kenne diesen Jahrgang sehr gut, ich habe erst kürzlich sehr viel davon getrunken.»
Wir lassen ein Glas des gleichen Weines vom Nebentisch kommen. Jeder darf mal schnuppern. Da ich den größten Durst habe, leere ich das Glas in einem Zug. Ich schlucke und kaue, knabbere und schlürfe, wälze und lutsche den Wein, alle Blicke sind auf mich gerichtet. Ich sage: «Hier ist keinerlei Fehlton drin. Dieser Wein schmeckt super.»
Erleichtertes Lachen aller Tischteilnehmer, Schulterklopfen, ich bekomme Visitenkarten zugesteckt.
«Es lag an der Flasche!», triumphiert der Kritiker und ruft mir zu: «Monsieur, vous êtes un connaisseur!»
«Richtig!», rufe ich rotweinbefeuert.
Darauf stoßen wir an, dass die Kristallgläser fast splittern. Die Expertenrunde liegt mir zu Füßen, das spüre ich. «Diese Assemblagen sind doch das Geilste!», informiere ich sie. «Die Zukunft gehört den Mischgetränken, messieurs dames! In Deutschland trinken die Menschen schon wie verrückt Bier-Mixe und Saftschorlen! Und jetzt, mit Ihrer und meiner Hilfe, werden wir sie mit Rotweinverschnitten beglücken!»
Merkwürdigerweise ist der Applaus äußerst verhalten. Ich muss also nachlegen und schlage vor, mittelgute deutsche Weine mit sehr gutem Bordeaux zu verschneiden – so wie man ja auch amerikanischen mit schottischem Whisky verblende. Angewidert verzieht das Château das Gesicht. Nur der Händler schaut interessiert. Der Chinese auch.
«Hergehört, Herrschaften!», rufe ich, weil mir gerade was einfällt. «Mir fällt gerade ein, dass es bei uns ja auch Wein-Assemblagen gibt!» Ich hätte da nämlich neulich einen sehr interessanten Tropfen entdeckt, in Berlin, bei Mäc-Geiz. «Rot & Süß» heiße der. Leider ohne Jahr. Herkunftsbezeichnung: «Aus den besten Lagen Europas.» Das sei doch ein Knaller, brülle ich. «Der ist echt spitze, Leute, kostet nicht mal eins sechzig die Pulle und hat Attacke, Entwicklung und Abgang ohne Ende!»
Der Gault-Millau hält sich die Hand vor Augen, die Pressedame ordert Riechsalz, ich assembliere gekonnt die Reste des Prieuré-Lichines mit dem ollen Champignonwein in meinem Glas. Voilà! Dann frage ich den Kritiker, wie er denn als Experte das in Deutschland nicht unbeliebte Getränk beurteile, das sich etwa zur Hälfte aus einem sehr guten, körperreichen Rotwein und zur Hälfte aus sehr guter Cola zusammensetze und, je nach Gegend, «Korea» oder «Bambule» genannt werde. Oder auch «Kalte Muschi». Er erbleicht und lässt sein Glas sinken, der Manager starrt apathisch ins Leere.
Noch bevor ich ergänzen kann, dass ich eine Rotwein-Cola-Cuvée natürlich niemals anfassen würde, weil dazu nicht mal stark frittierter Barsch passe, außerdem sei die klassische Mélange aus Rotwein und Fanta, auch «Panzersprit» genannt, viel fruchtiger, ja gleichsam rassiger – noch bevor ich dies sagen kann, noch bevor ich überhaupt anregen kann, dass sich aus den vollen Rückschüttgefäßweinen hier auf dem Tisch ja auch noch hervorragender Glühwein machen ließe – löst sich unsere gerade noch so fröhliche Runde in Wohlgefallen auf. Auch der Bürgermeister ist verschwunden.
Nur der Chinese ist noch da, zieht sich den Mantel über, gibt mir seine Karte und fragt mich diskret nach diesem Rotwein-Cola-Mix. Daran habe er Interesse. «Aber nur exklusiv! Und nur mit bestem Rotwein und mit allerbester Cola», sagt er. «Keine Pepsi!» Wenn ich ihm diese Abfüllung beschaffte, dann hätten wir einen Deal. Ich schlage ein. Vierzig Kisten.
Balkonien
Und es war Sommer. Ich war kein Kind mehr. Aber auch kein Mann, der entschlossen sein Schicksal gemeistert und sich, allen Widrigkeiten zum Trotz, zu ihr durchgeschlagen hätte. Ich war sechzehn, und sie war es auch. So süß und so unerreichbar fern, wie es nur eine Sechzehnjährige für einen haltlos verschossenen Sechzehnjährigen sein kann. In Italien saß sie mit ihren Eltern in einem Wohnwagen herum, ich darbte in meinem posterverkleisterten Zimmer in der Heimat. Allein. Die Freunde verreist, das katholische Jugendzeltlager hatte ich aus Coolnessgründen verweigert, die Eltern erfolgreich außer Landes geschickt – jetzt hatte ich den Salat.
Balkonien solo und total. Sommertage, die sich anfühlten wie lebenslänglich. Klingelnde, dröhnende, ja bald zirpende Langeweile. Sechs Wochen. Zweiundvierzig Tage warten. 1008 Stunden absitzen. 60480 Minuten sich verzehren, sehnen und leiden. Das Nachmittagsprogramm der beiden großen Sender bot für die Rentner Schaukelstuhl und Ihre Heimat – Unsere Heimat für die geschätzten «Gastarbeiter». Als besonderen Service hatte Südwest 3 ein völlig niederschmetterndes «Ferienprogramm» gestartet, jeden Tag um sechzehn Uhr irgendein Scheiß in Schwarzweiß: 13 kleine Esel und der Sonnenhof mit Hans Albers und Die Mädels vom Immenhof mit Heidi Brühl. Dideldum, didelda, auf der Mundharmonika. Ich war eindeutig die falsche Zielgruppe. Aus meinem eiernden Dual-Plattenspieler grölte die Hamburger Punkband Slime, dass Deutschland sterben müsse. Ich wäre am liebsten mitgestorben. Vor Ödnis und Verzweiflung. Briefträger schlichen mit schlaffen Ledertaschen durch die menschenleere Stadt. Liebesbriefe? Fehlanzeige. Ich aß Joghurt mit künstlichem Erdbeergeschmack und stapelte die leeren Becher zu Gebirgen. Den Hamster im Laufrad feuerte ich an, noch schneller zu flitzen, auf dass sich die Erde schneller drehe.
Eine Million Umdrehungen später waren die Ferien endlich zu Ende. Nach sechs endlosen Wochen war sie wieder da, und mit ihr die frohe Botschaft, dass die sich neu verliebt hatte. In irgendeinen Trottel auf dem Campingplatz.
Und der Sommer war vorbei.
Zwischen Berlin und Istanbul
Ich bin zu beneiden. Ich habe alles, was ein erfolgreicher Autor braucht: einen sehr guten Namen, ein Wahnsinnsmanuskript, einen mitreißenden Titel und schon sehr bald einen Verlag, der hinter mir steht wie eine Eins mit sieben Nullen. Der mir beim Geldverdienen hilft. Jetzt müssen nur noch Manuskript und Verlag zueinanderfinden. Doch das ist kein Problem, denn ich habe das absolute Knüllerangebot in der Tasche, eine Fusion zweier gigantischer Bucherfolge der letzten Jahre: Ich bin dann mal weg, das Jakobsweg-Wanderbuch von Hape Kerkeling, und Feuchtgebiete, das mit einem Hämorrhoidenpflaster versehene Körpersäftebuch von Charlotte Roche. Beides legendäre Longseller, und nun gibt es die beiden Werke in nur einem Buch – von mir! Um auch noch von der grassierenden Ethnowelle zu profitieren (Antonio im Wunderland etc.), kommt dieser künftige Bestseller nicht von einem Deutschen, sondern – viel besser – von einem Türken. So werde ich die traditionell freundlichen Gefühle, die man gegenüber der Türkei hegt, synergetisch für mich nutzen. Und auf der Frankfurter Buchmesse, wo in diesem Jahr die Türkei als Gastgeberland fungiert, ein Manuskript anbieten, das nicht ich geschrieben habe, sondern der junge, vielversprechende, aber leider noch unbekannte türkische Autor Ertugrul Osmanoglu.
Gerade hat mein osmanisches Alter Ego die Arbeit an dem Zweihundert-Seiten-Werk beendet, ihm den Titel Ich bin dann mal in der Nasszelle gegeben und ist insgesamt hochzufrieden.
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