Der bittere Trost der Lüge - Tiffany D. Jackson - E-Book

Der bittere Trost der Lüge E-Book

Tiffany D. Jackson

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Beschreibung

Neunjährige Schwarze tötet weißes Baby. Mary soll ein Baby getötet haben. Diese Tat hat ihr Leben zerstört. Jahre voller Angst vergehen, weil Kindermörder im Gefängnis einen schweren Stand haben. Sechs Jahre später. Das Leben mit einer Fußfessel ist fast so hart wie der Knast. Marys einziger Halt ist ihr Freund Ted – und ihr ungeborenes Kind. Damit beginnt ein neuer Albtraum. Denn niemand glaubt, dass ein Baby bei einer verurteilten Kindermörderin in guten Händen ist. Nun hängt Marys Schicksal von der Person ab, der sie am meisten misstraut: ihrer Mutter. Deren wahres Gesicht kennt niemand. Aber wer kennt die wahre Mary? Hart, düster und der Wirklichkeit erschreckend nah: "Orange Is the New Black" trifft auf "Tote Mädchen lügen nicht". Publishers Weekly: »Ein fesselndes und außergewöhnliches Debüt, perfekt konstruiert und umgesetzt.« Jason Reynolds: »Ich muss zugeben, mich hat schon lange keine Erzählung mehr so mitgenommen wie diese. Tiffany D. Jackson kratzt erst an der Oberfläche dieser Welt, zerlegt sie dann in Stücke und zertrümmert sie in zahllose Scherben des Unbehagens.« Booklist: »Der bittere Trost der Lüge ist ein eng gewobener Debütroman, der mit vielen heftigen Ideen ringt und am Ende das Messer in der Wunde noch einmal tief umdreht.«

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Seitenzahl: 490

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Aus dem Englischen von Claudia Rapp

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Allegedly

erschien 2017 im Verlag Katherine Tegen Books,

einem Imprint von HaperCollins Publishers.

Copyright © 2017 by Tiffany D. Jackson

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-830-8

www.Festa-Verlag.de

Für meine Mutter und meine Großmutter,

die jeden Schmerz von mir ferngehalten haben.

– 1 –

Auszug ausKinder, die Kinder töten: Steckbriefe von Mördern im Kindes- und Jugendaltervon Jane E. Woods (S. 10)

Es gibt einfach Kinder, die böse geboren wurden, das muss man ganz klar sagen. Es sind die Kinder, die den Statistiken nicht gerecht werden. Man kann weder ihr Umfeld noch ihre Erziehung für ihr Verhalten verantwortlich machen. Es handelt sich auch nicht um einen wissenschaftlich nachgewiesenen erblichen Wesenszug. Diese Kinder sind ein soziologisches Phänomen.

Der Filmklassiker Böse Saat (Original: The Bad Seed) von 1956, der auf dem gleichnamigen Roman von William March basiert, bildet diesen Typus perfekt ab. Er erzählt die Geschichte eines achtjährigen Mädchens, goldig und scheinbar un­­schuldig, der erklärte Liebling der Bilderbuchfamilie, dessen Mutter je­­doch eine Mörderin in ihrer Tochter vermutet. Die entzückende kleine Rhoda, eine blauäugige, blonde Prinzessin, hüpft mit ihren gefloch­tenen Zöpfen in Babydoll-Kleidchen durch den Film und bringt jeden um, der ihr nicht ihren Willen lassen will.

Der Film war erschreckend für seine Zeit, weil der Bösewicht ein kleines Mädchen war, das ebenso unschuldig schien wie jedes andere kleine Mädchen. Die Zuschauer konnten sich nicht vorstellen, dass ein Kind zu einem Mord fähig sein sollte. Selbst in der heutigen Zeit scheint eine solche Tat unfassbar.

Und so wurde der Name Mary B. Addison zum allgemein bekannten Begriff. Mary ist Rhodas Geschichte in Person, was die Frage aufwirft: Gab es einen konkreten Anlass, der sie ausrasten ließ oder schlummerte das Böse schon immer in ihr?

Am Montag ist eine Fliege ins Haus geschwirrt. Nun ist es Sonntag und sie ist immer noch da, fliegt von einem Zimmer ins nächste, als wäre sie das Familienhaustier. Ich hatte noch nie ein Haustier. Verurteilte Mörder in der Wohngruppe dürfen keine Haustiere haben.

Ich habe sie Herbert genannt. Eine Babyfliege, keine dieser laut brummenden Pferdefliegen, deswegen be­­merkt ihn niemand, bis er vor deiner Nase herumschwirrt und in der Nähe deines Orangensafts landet. Es überrascht mich, dass ihn noch niemand getötet hat in diesem Haus voller Straffälliger. Ich schätze, er ist ein Überlebenskünstler, so wie ich. Er hält sich zurück, versucht nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Genau wie ich möchte er ein ruhiges Leben führen, ein paar Reste zum Knabbern bekommen und in Ruhe gelassen werden. Aber genau wie hinter mir ist auch hinter Herbert ständig jemand her, der ihn mit dem Handrücken verscheucht. Ich habe Mitleid mit ­Herbert. Der chronisch ungebetene Gast zu sein kann echt ätzend sein.

Nachts schläft Herbert oben auf der schiefen Zierleiste, die meinen Kleiderschrank einrahmt, in dem ich meine wenigen Kleidungsstücke aufbewahre. Drei Jeans, eine schwarze Hose, fünf Sommer­shirts, fünf Wintershirts, ein Pulli ohne und einer mit Kapuze. Kein Schmuck, nur eine dieser elektronischen Fußfesseln, die man vom Staat bekommt und stündig tragen muss, damit die dir überallhin folgen können wie die Sonne mit ihren Strahlen.

»Mary! Mary! Was zur Hölle treibst du denn noch? Mach, dass du hier runterkommst!«

Das ist Miss Stein, meine … na ja, ich weiß nicht, wie du sie nennen würdest. Hoffentlich musst du dir über so was nie Gedanken machen. Ich klettere vom oberen Bett herunter und Herbert wacht auf, folgt mir ins Badezimmer. Ich bin die Jüngste, also habe ich natürlich das obere Bett bekommen. So sind die Regeln von diesem Spiel. In einem Monat werde ich 16. Ich frage mich, ob sie irgendwas machen werden, um das zu feiern. Denn das sollte man doch tun, oder? Geburtstage feiern, besonders Meilensteine wie den sechzehnten. Beim letzten Meilenstein, als ich 13 wurde, war ich noch in Haft. Dort haben sie auch keine Party für mich veranstaltet. Meine Geburtstagsgeschenke waren ein blaues Auge und eine geprellte Rippe, die mir ­Shantell in der Cafeteria verpasst hatte, nur weil ich in ihre Richtung geatmet hatte. Das Mädel war völlig irre, aber ich bin diejenige, in deren Akte lauter Formulierungen wie »tendiert zu Wutausbrüchen« stehen.

Jedenfalls bin ich jetzt seit drei Monaten in diesem Haus und hier leben sieben Mädchen, aber ein Geburtstag wurde noch nie erwähnt. Ich schätze, Geburtstage haben in einem Wohnheim keine Be­­deutung mehr. Das ergibt ja auch irgendwie Sinn. Ist nicht leicht, den Tag zu feiern, an dem du geboren wurdest, wenn sich sowieso alle zu wünschen scheinen, du wärst nie geboren worden. Besonders wenn du auf diese Welt kommst und es so richtig verkackst.

Ich kann jedenfalls mehrere Leute aufzählen, die wünschten, ich wäre nie geboren worden.

Schokoladenkuchen und Eis, vielleicht sogar ein paar Luftballons, das wäre cool. Aber das sind Dinge, die sich das dumme Mädchen wünscht, das ich früher mal war. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, dass sie tot ist. Genau wie Alyssa.

»Mary! Mary! Wo zur Hölle bleibst du?«

Der Duschkopf ist wie eine Regenwolke, aus der es nur langsam tröpfelt. Ich hasse Duschen. Im Jugendknast durfte ich nur jeden zweiten Tag fünf Minuten lang duschen und das Wasser kam wie aus einem Feuerwehrschlauch gedrückt, peitschte meine Haut wie Schläge mit nassen Handtüchern. Davor hatte ich niemals geduscht, sondern immer nur gebadet. Ich hatte in weißen Porzellanwannen mit den Seifenblasen gespielt, die das Spüli mit Zitronenduft produzierte.

»Mary! Verdammt noch mal!«

Ich schwöre, die Frau kann das prasselnde Wasser übertönen. Herbert summt um meine nassen Haare herum. Ihn lockt das Gel an, mit dessen Hilfe ich meinen krausen Kopf zu einem straffen, lockigen Pferdeschwanz bändige. Ich wünschte, ich wäre eine Fliege. Ich meine, eine richtige Fliege an der Wand, die mit ihren Kaleidoskop-Augen jeden Staubpartikel verfolgen kann, der in der Luft umherschwebt, oder den Müll, den der Wind über die Straße weht. Die sich auf einzelne Schneeflocken oder Regentropfen konzen­triert. So was mache ich jetzt aber sowieso schon. Ich kann Stunden damit verbringen, mich von meiner Faszination für das Nichts unterhalten zu lassen. Diesen Trick habe ich im Irrenhaus gelernt: auszusehen, als wäre ich der Welt völlig entrückt, praktisch mausetot, damit sie aufhören, mir die ganze Zeit Fragen zu stellen.

Aber ich darf keine Fliege sein, nicht heute. Ich muss mich vorbereiten. In höchster Alarmbereitschaft und konzentriert sein, denn in ein paar Stunden besucht mich heute die gefährlichste, teuflischste, hinterhältigste Frau der Welt:

Meine Mutter.

Protokoll des Verhörs vom 12. Dezember.

Mary B. Addison, 9 Jahre

Detective: Hi, Mary. Mein Name ist José. Ich bin Kriminalbeamter. Detective.

Mary: Hi.

Detective: Du brauchst keine Angst zu haben. Deine Mom sagte, es ist okay, wenn wir mit dir reden. Kann ich dir irgendwas holen? Hast du Hunger? Möchtest du etwas zu essen? Wie wäre es mit einem Cheeseburger?

Mary: Mmh … Cheeseburger.

Detective: Na also. Prima, ich liebe Cheeseburger auch. Also, hab keine Angst. Ich will dir nur ein paar Fragen stellen. Darüber, was gestern Abend passiert ist. Damit hilfst du uns ganz enorm.

Mary: Okay.

Detective: Super! Also, Mary, wie alt bist du denn?

Mary: Neun.

Detective: Schon neun! Wow, ein großes Mädchen. Weißt du denn auch, wie alt Alyssa war?

Mary: Momma hat gesagt, sie war drei Monate alt.

Detective: Ganz genau. Sie war ein winziges Baby. Was hast du denn so gemacht, wenn du deiner Mama geholfen hast, auf sie aufzupassen?

Mary: Äh … ich habe sie gefüttert und Bäuerchen machen lassen … und so was.

Detective: Okay, und kannst du mir nun erzählen, was gestern Abend passiert ist, Mary?

Mary: Ich weiß nicht.

Detective: Deine Mama hat gesagt, dass du allein mit Alyssa im Zimmer warst. Dass Alyssa im selben Zimmer mit dir geschlafen hat.

Mary: Äh … ich weiß nicht.

Detective: Bist du sicher? Deine Mama sagte, sie habe geschrien.

Mary: Sie wollte einfach nicht aufhören zu schreien … ich konnte nicht schlafen.

Detective: Hast du versucht, irgendetwas zu tun, damit sie aufhört zu schreien?

Mary: Ich kann mich nicht erinnern.

Heute habe ich Küchendienst. Das bedeutet, dass ich schrubben und spülen muss, bis alle Töpfe und Pfannen so spiegelblank sind, dass Miss Stein ihr fettes weißes Gesicht darin betrachten kann. Miss Stein weiß nicht, wie man putzt, aber sie weiß umso besser, wie man kritisiert.

»Mary, sieht das für dich etwa sauber aus, du dumme Göre? Mach das noch mal sauber!«

Der Staat ließ sich sechs lange Jahre Zeit, darauf zu kommen, dass ich keine Bedrohung für die Gesellschaft darstelle. Dann rissen sie mich aus der gewohnten Umgebung meiner Zelle raus und brachten mich bei Miss Stein unter. Von einem Gefängnis ins nächste; etwas anderes war das nicht. Auch wenn es da einen großen Unterschied zwischen der Jugendhaft und dem sogenannten Jugendarrest gibt, aus dem die restlichen Mädchen hier im Haus kommen. Die Jugendstrafanstalt ist für krasse Kids, die Bodegas ausrauben, Autos klauen, vielleicht aus Blödheit versuchen, jemanden umzubringen. In den Jugendknast kommen diejenigen, die weit schlimmere Sachen getan haben, so wie ich. Jedenfalls hat mich eine Sozialarbeiterin hier abgesetzt und gesagt: »Das ist Miss Stein.« Sie war schon wieder weg, bevor ich die echte Miss Stein kennenlernte. Den Großteil meines Lebens hat sich niemand die Mühe gemacht, mir irgendetwas zu erklären. Es lief einfach immer wieder auf so was wie »Weil ich es sage« hinaus. Ich habe aufgehört Fragen zu stellen, und in den vergangenen sechs Jahren ist mir nicht ein einziger Erwachsener begegnet, der die Höflichkeit besaß, mir zu erklären, warum etwas mit mir geschieht. Ich schätze, Mörder haben keinen Respekt verdient, also habe ich aufgehört, ihn zu erwarten.

Miss Stein humpelt mit ihren fetten, angeschwollenen O-Beinen in die Küche. Man sollte meinen, wenn jemand fast 100 Kilo auf die Waage bringt, wäre der Zeitpunkt gekommen, die Ernährung umzustellen. Aber Miss Stein isst immer noch eine ganze Packung Streusel-Donuts von Entenmann’s pro Tag.

»Mary! Du bewegst dich ebenso langsam wie zähe Melasse. Wieso brauchst du nur so verdammt lange, um das bisschen Geschirr abzuspülen?«

Ich weiß nicht, wieso Gott mich zu Miss Stein geschickt hat. Ich weiß bei vielen Dingen nicht, wieso Gott sie tut. Aber Momma hat mir immer eingeschärft, keine Fragen zu stellen und stattdessen zu beten. Selbst für fette weiße Ladys wie Miss Stein.

»Ich sehe doch, dass die Arbeitsfläche immer noch schmierig ist! Wenn ich das sehe, warum siehst du es dann nicht?«

Das ist im Grunde der einzige Rat, den Momma mir je gegeben hat. Immer weiterbeten. Gott wird es richten. Es kam ihr nie in den Sinn, dass sie womöglich einige Dinge selbst richten sollte. Manchmal wollte ich sie anschreien: »Gott hat eine Menge zu tun, Mama! Er kann nicht dauernd deine Schlüssel finden, wenn du sie verlegt hast!« Sie war schon immer schrecklich faul und erwartete, dass die anderen alles für sie machten.

Gott und ich kämpfen da mit demselben Problem.

Tara, eine meiner Mitbewohnerinnen, lässt ihr Geschirr ins Spülbecken rutschen. Sie ist groß und breit gebaut, schwarz wie Teer. Deswegen nenne ich sie Teer-a. Aber nur still für mich, denn ich rede ja mit niemandem. Wenn du redest, handelst du dir nur Ärger ein, und diese Mädchen warten nur auf ein falsches Wort, um auszurasten. Die halten mich alle für stumm.

»Mach das sauber, du Psycho«, brummt sie und schubst mich mit dem härtesten Teil ihrer buckligen Schulter. Tara hat versucht, ihren Freund umzubringen. Hat zehnmal mit einem Kuli, der mit Tesafilm an einem Lineal festgeklebt war, auf ihn eingestochen. Als sie gefragt wurde, wieso sie denn nicht einfach ein Messer benutzt habe, sagte sie: »Messer sind zu gefährlich.« Sie ist 17 Jahre alt, hat aber die geistigen Fähigkeiten einer Fünfjährigen. Ungelogen, sie malt immer noch Malbücher aus und zählt mithilfe ihrer Finger. Wenn es über zehn hinausgeht, nimmt sie die Fingerknöchel hinzu.

Kisha kommt hereingetrampelt, ihre Pantoffeln kratzen über den Fußboden. In der einen Hand hält sie ihre Nagelfeile und in ihrem Haar stecken noch die Lockenwickler.

»O mein Gott, warum ist es hier so ätzend?! So öde, dass man durchdrehen könnte! Hier draußen gibt’s echt gar nichts, was man machen kann! Ihr wisst schon, dass sie uns deswegen hierhergebracht haben, oder? Wir sitzen in der Falle, nix los, alles Scheiße.«

Sie spricht nicht wirklich mit mir, sie macht sich nur Luft und das Publikum ist ihr egal. Kisha kommt aus irgendeiner Sozialbausiedlung im Osten New Yorks. Ich war noch nie dort. Selbst von ­Brooklyn habe ich bisher kaum was gesehen. Momma sagte immer, es sei überall zu gefährlich, außer bei uns zu Hause. Schon komisch, dass es am Ende dort am ge­­fährlichsten war.

»Die blöden Zicken erwischen mich ganz sicher nicht dabei, dass ich mir einen Ausrutscher leiste«, murmelt Kisha, während sie einen Blick auf ihr Spiegelbild in der Tür der Mikrowelle wirft und den Sitz ihrer Augenbrauen überprüft. Nur weil sie eine Frage nicht richtig beantworten konnte, hatte dieses Mädchen ein Schülerpult auf die Mathelehrerin geworfen, die durch diese Attacke nun von der Taille abwärts gelähmt ist. Die meisten der Taten, die meine Mitbewohnerinnen begangen haben, sind so. Verbrechen aus Leidenschaft, »Aussetzer«-Momente oder die gute alte Situation, die sich am ehesten mit »zur falschen Zeit am falschen Ort« umschreiben lässt. Meine Tat war psychotischer. Ich war die Neunjährige, die ein Baby umgebracht hat.

Mutmaßlich. Das war das Wort, das sie immer alle verwendet haben.

Alle im Haus wissen, was ich getan habe. Oder sie glauben es zu wissen. Niemand fragt jemals nach, denn im Grunde will niemand wissen, wie ich ein Baby umgebracht habe. Sie wollen noch nicht einmal wissen, wieso ich ein Baby umgebracht habe. Sie wollen nur so tun, als wüssten sie Bescheid; das ist alles, worum es ihnen geht.

Auszug aus einem Artikel der ZeitschriftPeople:»Totes Baby: Neunjähriges Mädchen wegen Totschlags angeklagt.«

Im Todesfall der kleinen Alyssa Richardson steht eine Neunjährige vor Gericht; die Anklage lautet auf Totschlag. Der Fall wird kontrovers diskutiert und wirft komplexe Fragen nach unserem Schuldverständnis auf. Wer soll hier entscheiden – die Strafgerichtshöfe oder psychologisch geschulte Experten? Und kann man überhaupt annehmen, dass eine so junge Angeklagte verfahrensfähig ist?

Das Mädchen ist die Tochter der Babysitterin, in deren Obhut Alyssa sich zum Zeitpunkt ihres Todes befand. Sie befindet sich derzeit in staatlichem Gewahrsam; die Strafverhandlung beginnt Ende März. Sollte sie nach dem Jugendstrafrecht verurteilt werden, könnte sich das Strafmaß auf maximal elf Jahre belaufen, dann würde das Mädchen bis zu seinem 21. Geburtstag in einer Strafvollzugsanstalt einsitzen. Eine weitere Option wäre, das Kind bis zum Erreichen der Volljährigkeit in einer Jugendstrafanstalt unterzubringen, worauf ein Richter die Verdächtige dann im Anschluss zum Verbüßen der Höchststrafe in einem Gefängnis für Erwachsene verurteilen könnte.

Im Haus ist es immer schwül, so als würden wir in einem alten Schuh wohnen, und es riecht wie Maischips vermischt mit Kakerlakenabwehrspray. Ich nenne es eigentlich niemals ›Zuhause‹, denn das ist es nicht. Kein Haus, in dem du um dein Leben fürchten musst, kann ein Zuhause sein. Das Haus steht in ­Flatlands und in der Nähe befindet sich einfach gar nichts. Von außen sieht es aus wie ein zweigeschossiges Haus mit Backsteinfassade. Es gibt vier Schlafzimmer, zwei Badezimmer, ein kombiniertes Wohn- und Esszimmer, ein Büro und einen halb ausgebauten Keller. Das offizielle Wohnzimmer sieht aus wie der Warteraum einer Arztpraxis. Es ist für Besucher wie Familienangehörige, Sozialarbeiter oder Bewährungshelfer ge­­dacht.

»Mary! Hörst du jetzt endlich mit deinen verdammten Träumereien auf und wischst die Böden! Hier. Ich will, dass sie glänzen.«

Der Wischmopp. Eine strähnige schwarze ­Perücke, die an einem ausgebleichten gelben Stiel befestigt ist. Sie gießt eine Mischung aus Bleiche und Pine-Sol auf den unebenen Boden, und der beißende Gestank drängt sich langsam meine Kehle hinab, lässt mich unwill­kürlich würgen. Meine Augen tränen.

»Was ist denn los mit dir?! Bist du schwanger oder was? Sag bloß nicht, du bist schwanger!«

Das gelbe Linoleum wird schwärzer, als der Dreck vieler Jahre zurück in den Boden blutet. Ich frage mich, wie viele Mädchen vor mir denselben Mopp zum Wischen benutzt haben. Ist doch dumm, denn ganz gleich, wie oft sie uns zum Putzen und Wischen antreibt, das hält die Armee von Mäusen und den Schwarm von Kakerlaken nicht davon ab, Nacht für Nacht unsere Zimmer heimzusuchen. Der Staub legt sich wie Plastikfolie auf unsere Lungen, wir sitzen auf Möbeln, die nach Katzenpisse stinken, und die dunkel vertäfelten Wände tauchen das Gebäude in ein ewig schattiges Licht. Sagen wir einfach, meine Lebensumstände waren schon mal besser. Allerdings waren sie auch schon schlechter.

Die Türklingel summt. Es ist kein freundliches Summen, sondern klingt eher wie ein wütender Wäschetrockner, der das Ende eines Durchgangs verkündet.

»Reba! Geh mal an die Tür!«, kollert Miss Stein direkt neben meinem Ohr.

Miss Reba ist für die Sicherheit zuständig, Miss Steins rechte Hand und außerdem ihre Schwester. Sie ist die größere, dünnere Version von Miss Stein, mit fettigen grauen Haaren und riesigen Brüsten, die sie flach abbindet, um so zu tun, als hätte sie keine.

»Schon gut, schon gut«, brüllt sie von ihrem Posten auf dem Wohnzimmersofa zurück. Sie trägt schwarze Armschoner und einen dieser Gewichtsgürtel, der direkt unter ihrem hervorhängenden Bauch sitzt, aber ich habe noch nie gesehen, dass sie Sport gemacht oder mit Gewichten trainiert hätte. Das Einzige, was sie hebt, ist unser tägliches Brot zum Mund.

Die Eingangstür hat sieben Riegelschlösser, ein ­normales Türschloss mit Schlüssel und eine Schließstange, sodass es mindestens fünf Minuten dauert, bis sie die Tür geöffnet hat. »Aus Sicherheitsgründen«, sagen sie immer, aber in Wirklichkeit sollen uns die Schlösser davon abhalten, mitten in der Nacht davonzulaufen. Nicht dass ich je daran gedacht hätte.

Man kann sie schon wimmern hören, bevor die Tür aufgeht. Es ist das neue Mädchen.

Ich schlurfe am Eingang zur Küche vorbei, um einen ersten Blick auf sie zu erhaschen. Eine Weiße, sieht schüchtern aus, mit dunkelrosa Lippen und langen, un­­gekämmten Haaren, die eine wohlbekannte Tasche mit neuer Kleidung vom Staat in den Händen hält. Winters, mein Bewährungshelfer, begleitet sie herein.

»Morgen, Judy. Reba. Darf ich euch euren neuen Gast vorstellen, Sarah Young.«

Er reicht ihre Akte weiter und klopft ihr dann auf den Rücken, als will er ihr viel Glück wünschen. Die Neue weint. Sie schluchzt richtig, die Tränen rollen und die Nase ist voller Rotz. Ich bin neidisch; ich habe seit sechs Jahren nicht mehr geweint. Die Tränen sind in mir festgefroren, so wie der Rest meiner Gefühle. Sie glaubt wahrscheinlich, sie hat nichts Falsches getan. Auch ich war mal wie sie.

»Danke, Chef! Bekommen wir denn noch mehr?«, fragt Miss Reba, die gern noch mehr Handlanger hätte, über die sie herrschen kann. Miss Stein unterschreibt auf seinem Klemmbrett, als wäre er ein UPS-Fahrer, der ein Paket abliefert.

»Da bin ich nicht sicher; kann ich nicht sagen.«

»Na, komm schon rein, Kind. Ich zeige dir dein Zimmer«, begrüßt Miss Stein die Neue und humpelt dann den Flur hinunter. Das verhuschte Mädchen folgt ihr.

»Danke, Chef. Wir werden Sie nicht enttäuschen«, versichert Miss Reba.

Er nickt und rückt sich den Gürtel zurecht. Wie ich gehört habe, war er früher bei der Army, bis er einen Schuss ins Bein abbekommen hat oder so was, und darum hinkt er auch.

»Irgendwelche Probleme?«

»Nicht solange ich die Aufsicht habe, nein.« Sie hakt die Daumen in die Hosentaschen und steht breitbeinig wie Superman da, lächelt mit ihren maisgelben Zähnen, die hart und scharf genug sind, um Steine zu zerbeißen.

Winters grinst hämisch und wirft dann einen kurzen Blick den Flur entlang in meine Richtung. Nickt mir zu.

»Addison.«

Ich erwidere den knappen Gruß.

Winters hatte von Anfang an absolut keine Geduld mit mir. »Da ist Ärger im Anmarsch, Addison, das spüre ich sofort«, hatte er gesagt. Ich wollte fragen, warum, aber er sah nicht aus, als wäre er bereit, sich irgendjemandem gegenüber zu erklären, am allerwenigsten jungen Mädchen.

»Und du hältst dich nach wie vor von allem Ärger fern?«, fragt er.

Ich nicke.

»Gibt es Probleme?« Sein Blick huscht zu Miss Reba und dann wieder zu mir. Miss Reba dreht sich um, funkelt mich an. Ein Warnschuss. Eine falsche Antwort, und ich werde zum Badezimmerdienst verdonnert, und das auf Monate. Ich zucke die Achseln.

»Hm. Na gut, dann lasse ich Sie hier mal weitermachen. Der Sozialdienst schaut morgen vorbei, das wissen Sie?«

»Klar, klar! Ich begleite Sie nach draußen, Chef!«

Ich kehre in die Küche zurück, wische den Boden fertig und gehe dann zu meinem Zimmer. Mein Bettzeug liegt im Flur auf einem Haufen auf dem Boden, die Abdrücke von Sneakers wie Reifenspuren. Das Übliche. Ich klopfe den Staub ab, mache mein Bett noch einmal und schnappe mir das Harry-Potter-Buch von meiner Kommode. Dieser Witz von einem Bücherregal hält denselben Mist bereit, den es auch im Knast gab und den ich schon mindestens dreimal inhaliert habe. Für neuen Lesestoff, irgendetwas Neues, würde ich einen Mord begehen. Aber das würde ich niemals laut aussprechen. Ich bin schließlich eine Mörderin; die würden wahrscheinlich glauben, dass ich das wirklich täte. Solche Redewendungen sind ein Luxus, den sich verurteilte Mörderinnen nicht leisten dürfen.

Ich setze mich hin und lese von Zaubersprüchen, während ich darauf warte, dass die Dämonin, die mich hervorgebracht hat, auftaucht.

Auszug ausTeufel im Leib: Die Geschichte von Mary B. Addisonvon Jude Mitchell (Seite 21)

Dawn Marie Cooper wurde 1952 in Richmond, ­Virginia, geboren. Als ältestes von fünf Kindern war sie gezwungen, im Alter von 15 Jahren von der Schule abzugehen, um sich um ihre jüngeren Brüder und Schwestern zu kümmern.

»Ich habe mich immer um Babys gekümmert. Mein ganzes Leben lang.«

Ihr jüngster Bruder Anthony starb noch im Säuglingsalter. Dem Leichenbeschauer zufolge war die Todesursache plötzlicher Kindstod. Das frühe Dahinscheiden ihres Bruders veranlasste Dawn, sich zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Es bleibt unklar, wo sie ihre Ausbildung absolvierte, aber wir wissen, dass sie viele Jahre lang ausschließlich in einer Säuglingsstation arbeitete.

Dann zog Dawn mit ihrer jüngeren ­Schwester ­Margaret Cooper nach Brooklyn, New York.

Margaret strebte eine Karriere in der Modeindustrie an und Dawn machte sich Sorgen, wollte ihre Schwester nicht allein in der großen Stadt leben lassen. Sie fand Arbeit als Seniorenpflegerin. Ihrem ersten Ehemann Marc Addison begegnete sie an einer Bushaltestelle an der Flatbush Avenue. Obwohl Marc 20 Jahre jünger war als Dawn, verliebten sie sich ineinander und waren bereits nach drei Monaten verheiratet. Marc wurde auf dem Heimweg von der Arbeit von einem betrunkenen Autofahrer angefahren und tödlich verletzt. Kurz darauf starb Margaret an den Komplikationen ihrer HIV-Erkrankung. Dawn war am Boden zerstört und zog sich völlig zurück.

Mary Beth Addison wurde im Oktober geboren. Dawn sagte aus, dass sie zu Hause entbunden und Mary lediglich ins Krankenhaus gebracht hatte, um eine Geburtsurkunde für ihr Kind zu bekommen. Sie war 41 Jahre alt.

Als man sie darüber befragte, was an jenem Tag geschehen sei, erwiderte sie: »Es war eine grausame, schmerzhafte Geburt. Ich wusste vom ersten Tag an, dass mit ihr etwas nicht stimmte.«

»Mann, ich fasse es nicht, ist doch alles Scheiße hier. Es gibt keine Öffentlichen, keinen Burgerschuppen, nicht mal ein White Castle oder irgendeinen Laden weit und breit. So eine Scheiße!«

Kisha beschwert sich jeden Tag aufs Neue über unsere Unterbringung. Sie könnte rausgehen, bleibt aber lieber drinnen und kämmt und glättet sich das Haar alle zehn Minuten, als stünde ein Date mit einem neuen Kerl bevor. Momma ist genauso. Die Haare müssen immer gut aussehen, die Dauerwelle perfekt gestylt mit dem Kammaufsatz des Glätteisens. Sie machte sich auch immer schick und zog hohe Schuhe an, wenn sie nur zum Laden an der Ecke wollte, verließ das Haus nie ohne ihren Lippenstift, der nach Wachsmalstiften riecht. Cranberry Brown.

»Und es stinkt wie Sau hier drinnen«, meckert sie, während sie ein Fenster aufmacht, um so zu versuchen, den Gestank verrottender Lebensmittel nach draußen abziehen zu lassen. Miss Reba steckt den Kopf zur Tür herein.

»Mary, deine Mom ist da.«

Pünktlich auf die Minute taucht Momma jeden zweiten Sonntag um 14:35 Uhr bei uns auf, direkt nach dem Kirchgang. Seit ich weggeschlossen wurde, hat sie dieses Versprechen gehalten. Ich werde nie vergessen, was sie im Gerichtssaal gesagt hat. »Ich werde dich jede Woche besuchen kommen. Na ja … wenn ich so ­darüber nachdenke, vielleicht besser jede zweite Woche. Jede Woche wird vielleicht etwas zu viel für meinen Blutdruck.«

Und tatsächlich erschien sie jeden zweiten ­Sonntag im Besucherzentrum des Knasts, gut gelaunt und fröhlich wie Zuckerwatte. Sie verdiene es, zur Mutter des Jahres gekürt zu werden, meinte eine der Beamtinnen, die in meinem Zellenblock Dienst tat, weil sie selbst für eine kleine psychopathische Killerin wie mich so viel Liebe zeigte.

Mutter des Jahres? Zum Totlachen.

»Baby!«, kreischt sie mir im Besuchszimmer mit weit ausgebreiteten Armen entgegen und wartet auf ihre Umarmung.

Ihr grell pinkfarbenes Kostüm trägt sie mit passenden Schuhen und Tasche; die Farbe ­blendet einen beinahe. Der cremefarbene Hut, den sie zum Kirchgang trägt, sitzt mittig auf ihrem Kopf wie die Krone einer Regentin. Bei Momma dreht sich alles um den äußeren Schein.

Ich laufe geradewegs in ihre Umarmung und sie schlingt ihre Arme um mich, so fest sie kann, küsst mein Gesicht wie immer.

Ich löse mich von ihr und die Spuren ihres burgunderroten Lippenstifts brennen auf meiner Wange. Sie riecht nach meiner Kindheit: ­Pfeffer, Pomade und Seifenpulver, dazu diese lilafarbene Lotion von Victoria’s Secret, die ihr einer ihrer Freunde geschenkt hat.

»Wie geht es meinem kleinen Mädchen?«

Eines muss ich der Frau lassen: Sie zieht alle Register bei ihrer Show, selbst wenn niemand zusieht.

»Mir geht’s gut«, bringe ich krächzend hervor. Meine Stimme klingt kratzig und das Sprechen fühlt sich komisch an, nachdem ich so lange nichts gesagt habe. Aber bei Momma kann ich mich nicht lange in ­Schweigen hüllen. Sie würde mich zu Tode nerven, bis ich wenigstens fünf Worte herausbringe.

»Na dann, Baby, setzen wir uns. Komm, unterhalte dich eine Weile mit deiner Momma.«

Wir setzen uns auf die alte blaue Couch. Alles in diesem Zimmer ist gebraucht, ein Fundstück aus dem Secondhand-Laden. So wie im ersten Apartment, in dem ich mit Momma wohnte, aber wärmer. Sie legt mir einen Arm um die Schultern und lächelt von einem Ohr bis zum anderen. Sie war immer schon so glücklich. Der glücklichste Mensch, dem ich je in meinem Leben begegnet bin, immer. In ihrer eigenen Blase konnte ihr niemand etwas anhaben, nichts sie aus der Ruhe bringen. Sie lächelte, während wir aus einer Wohnung geworfen wurden oder nachdem Ray sie grün und blau geprügelt hatte. Sie lächelte, als wir völlig pleite waren, und sie lächelte sogar während meiner Verurteilung wegen Totschlags (»Siehst du, Baby, das ist gar nicht so schlimm. Zumindest lautet das Urteil nicht Mord!«). Sie ist der optimistischste Mensch auf der Welt. Selbst wenn sie ihre Tochter in einer Wohngruppe für Straffällige besucht.

»Baby, deine Haare sind so lang geworden«, stellt sie fest, während sie mit einem Finger meine ­krausen Naturlöckchen eindreht und an den Spitzen zupft, damit sie wieder in die Ausgangsposition zurückfedern können. »Du brauchst sicher bald einen Schnitt.«

»Sie sind gut so«, erwidere ich eingeschnappt und scheuche ihre Finger aus meinen Haaren.

Sie lächelt weiterhin, aber ohne die Zähne zu zeigen, faltet die Hände im Schoß und sieht sich im Zimmer um, während ihr Kopf im Takt zu irgendeiner Musik nickt, die nur sie hört. Sie wartet darauf, dass ich nach ihrem Befinden frage. Ich bin ein irrelevanter Bestandteil dieser Besuche, denn sie ist hier, um sich selbst besser zu fühlen.

»Also … Momma, wie geht es dir denn?«

Ihr Blick hellt sich auf, die Augen funkeln wie Sterne, so als hätte sie ihr Leben lang darauf gewartet, dass ihr jemand diese Frage stellt.

»Oh, ich fühle mich ja so gesegnet, meine Kleine. Einfach gesegnet! Ich wünschte, du hättest heute in der Kirche sein können. Junge, der Pastor hat einen großartigen Gottesdienst für unseren wahrhaft wunderbaren Gott abgehalten. Oh, und letzte Woche hatten wir sogar …«

Ich höre ihr nicht länger zu, sondern starre sie an, zähle die Fältchen in ihrem Gesicht und versuche, Teile von mir in ihr wiederzufinden. Ihre Haut ist dunkel, die Augen klein und braun, die Lippen breit, das Kinn kantig und spitz. Das schwarze Haar ist nie bis über ihre Ohren gewachsen. Meine Haut ist heller, meine Augen sind groß und hellbraun, die Nase schmal und das Gesicht rund. Mein dunkelbraunes Haar war immer lang und lockig, von der Sonne aufgehellt. Sie sagt, ich sei das Ebenbild meines Vaters, aber ich habe nie auch nur ein einziges Bild von ihm gesehen, das mir diesen Umstand beweisen könnte. Und wenn ich lächle, was ich nur sehr selten tue, dann sehe ich ihr Lächeln. Das hat mir immer Angst gemacht.

»… und die Jugendgruppe führt nächste Woche ein Stück auf, anlässlich des 50-jährigen Be­­stehens der Kirche. O meine Kleine, die sind alle ganz aufgeregt! Sie haben mich gebeten, für die Verpflegung zu sorgen, und ich sagte, nur wenn sie sich gut benehmen, denn die haben sich ja beinahe um meinen Bananenpudding geschlagen, als sie …«

Am Tag nachdem sie mich weggesperrt hatten, sprang Momma in der Baptistenkirche ins kalte Wasser und wurde wiedergeboren. »Der Teufel wollte mich durch meine Tochter auf seine Seite ziehen, aber ich habe mich ihm widersetzt!« Natürlich nahm die Kirche sie voller Mitleid auf. Keine gute, anständige Frau wie sie könnte je dafür verantwortlich sein, ein Monster wie mich aufzuziehen. »Dieser Teufel muss sich väterlicherseits angeschlichen haben.«

»Nun, junge Dame? Willst du denn gar nicht nach Herrn Worthington fragen?«

Mr. Troy Worthington, mein neuer Stiefpapa, Besitzer eines Soulfood-Restaurants und mehrerer Apartments in Brooklyn. Kennengelernt haben sie sich natürlich in der Kirche; er ist einer der Diakone. Diesen Kerl hat sie ganze sechs Monate nach meiner Verurteilung geheiratet. Die Flitterwochen haben sie in Hawaii verbracht. Mir brachte sie eine Muschel mit. Ihn habe ich bisher nicht kennengelernt und das brauche ich auch eigentlich nicht.

»Also, wie geht es denn …«

»Sitz gerade, Baby. Du siehst immer besser aus, wenn du gerade sitzt.«

»Also, Momma, wie geht es Troy?«

»Mr. Worthington. Und ja, Baby, es geht ihm sehr gut. Gestern Abend waren wir aus, sind zu diesem wundervollen …«

Momma hat es geschafft. Sie hat endlich reich ge­­­heiratet und kann endlich das sein, was sie schon seit Jahren zu sein vorgab. Mr. Worthington hat Geld. Das weiß ich, weil ich sehe, wie Momma sich kleidet. Niemals dasselbe Outfit zweimal. An den Ohren Diamanten so groß wie Murmeln, Schuhe in allen Farben. Ich saß noch nie in ihrem Wagen, aber ich habe den Schlüsselanhänger gesehen, es ist ein BMW. Ich dagegen war vier Jahre, sieben Monate, 16 Tage, neun Stunden und 43 Minuten im Bau, bevor sie mich vor drei Monaten in dieses Haus gesteckt haben. Und sie hat mir nie auch nur eine Sache mitgebracht. Nicht ein einziges Mal.

»Und dann hat er gesagt: ›Nun, einen guten Wein sollte man nicht umkommen lassen.‹ Ha! Gott, der Mann ist einfach zu viel. Er ist so lustig und klug …«

Sie redet immer noch über Troy, aber ich weiß, wie ich sie ganz schnell zum Schweigen bringen kann.

»Das klingt toll, Momma!« Ich lächle und schmiege mich an sie. »Hey, meinst du, ich kann demnächst mal mit dir zur Kirche gehen?«

Ihre Gesichtszüge entgleisen, aber sie wischt das rasch mit einem nervösen Lächeln beiseite.

»Nun mal langsam, Baby … Wir wollen nichts überstürzen. Du brauchst eine Erlaubnis und es ist …«

»Aber wir können ja darum bitten und Troy könnte …«

»O Baby, nun habe ich das doch glatt vergessen«, unterbricht sie mich mit einem Blick auf die Armbanduhr, die sie nicht trägt. »Ich sollte Mr. Worthingtons Sachen aus der Reinigung holen. Weißt du, er braucht seine Anzüge für seine … na, jedenfalls schließt die Reinigung in einer Stunde.«

Sie springt auf, streicht ihren Rock glatt und zieht dann eine mit vielen Markierungen versehene Bibel aus der Handtasche.

»Und ich muss auch noch diese Flyer für das Gemeindepicknick am nächsten Wochenende abgeben. Aber bevor ich gehe, gibt es eine Bibelstelle für dich. Bereit? Das stammt aus dem ersten Brief des Petrus, 5:8. ›Seid nüchtern, seid wachsam; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein ­brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen kann: Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen.‹«

Wie ich sehe, versuchst du immer noch, mir diesen Teufel auszutreiben.

Sie lächelt und steckt ihre Bibel wieder ein.

»Na, dann sehe ich dich in zwei Wochen wieder. Um die gleiche Zeit, okay?«

Sie küsst mich auf die andere Wange, hinterlässt den immergleichen Abdruck ihrer Kriegsbemalung auf meiner Haut, bevor sie eilig das Haus verlässt. Und das war’s. Ihre 15 Minuten sind rum. Wie ein Uhrwerk.

»Warum zur Hölle hast du mein Deo benutzt, du dumme Schlampe?«

»Ich habe gar nichts benutzt, du blöde puta!«

Im Flur streiten Marisol und Kelly schon wieder; beide wollen Blut sehen. Kelly prügelt sich fast einmal pro Woche mit irgendjemandem. Sie ist ein echtes Monster, mit ganz blauen Augen und hellblondem Haar. Wenn sie ruhig dasteht und nicht redet, sieht sie aus wie Barbie. Ich habe gehört, dass sie Captain der Cheerleader-Mannschaft ihrer High School war, bevor sie auf dem Schulparkplatz zwei Mädchen mit ihrem Range Rover umgefahren hat. Es ging wohl darum, dass die beiden nicht zum Training erschienen waren.

»Ay coño! Quítate de encima, du olle Kuh! Ich hab deinen Scheiß nicht mal angefasst!«

Ein raufender Wirrwarr aus einem blonden und einem schwarzen Haarschopf kracht gegen die Wand, dass der Staub aufgewirbelt wird. Noch ein Loch in der Wand und damit ein weiterer Eingang für die Mäuse. Das sind allein hier oben 15 Löcher, dazu kommen zehn im Erdgeschoss.

»Hast du wohl! Hau ihr eine rein, Kelly!« Das ist Joi, Kellys Schatten. Sie ist die Tratschtante und weiß immer über alles und jeden Bescheid. Dünn wie eine Bohnenstange und mit krausen Haaren, die nie länger als zwei, drei Zentimeter wachsen; darin einige kahle Stellen, wo die Dauerwelle sie verbrannt hat. Joi hat ein Mädchen vor einen fahrenden Zug gestoßen, weil es mit ihrem Freund gesprochen hat. Allerdings war er gar nicht wirklich ihr Freund.

»Ich hab’s nicht benutzt«, schimpft Marisol mit ihrem breiten, dominikanischen Akzent. »Das war die Neue!«

Oje. Die arme Neue. Sie ist noch keine sechs ­Stunden hier, und schon wird ihr die Schuld für irgendwas in die Schuhe geschoben. Kelly lässt Marisols Haare los und stürmt ins Schlafzimmer, auf der Suche nach der Neuen.

»Wo ist die kleine Schlampe?«

Kelly zerrt die Neue vom oberen Bett herunter und in den Flur hinaus, während das Mädchen schreit. Ich beobachte das von meiner sicheren Warte in meinem eigenen Bett, ebenfalls oben.

»Nein, bitte! Nein!«

»Halt die Fresse, du kleine Fotze!«

»Hau ihr eine rein, Kelly!«

Sie zerrt das Mädchen an den Haaren den Flur entlang, während die anderen sie anfeuern, als wären sie bei einem Footballspiel. Ich wende mich wieder meinem Buch zu. Kümmere dich um deinen eigenen Kram, dann wirst du auch nicht verletzt. Das war stets mein Motto.

»Was ist hier los?!«, kreischt Miss Reba vom Fuß der Treppe zu uns herauf. Sie ist diese Art ›Gesetzeshüterin‹, die immer gute zehn Minuten zu spät kommt, um einzugreifen. Genau wie im Knast, wo die Justizvollzugsbeamten auch nie zur Stelle waren, wenn ich sie gebraucht hätte.

Miss Reba löst den Kampf auf – oder das Verprügeln, wie man es nimmt – und nimmt die Neue mit hinunter in die Küche, um sie zu verarzten. Eis für das blaue Auge, ein Pflaster für die Platzwunde auf der Stirn und Aspirin gegen die Schmerzen.

Eine Stunde später bringt Miss Reba die Neue in ihr Zimmer zurück, das neben meinem liegt. Als ich durch die Wand höre, wie sie in ihre Decke hineinschluchzt, erinnert mich das an meine erste Nacht in dieser Wohngruppe.

Allerdings habe ich damals nicht geweint. Das tue ich nie.

– 2 –

Auszug ausWas geschah mit Alyssa?von Star Davis (S. 34)

Das New Yorker Jugendgericht blieb, ungeachtet des massiven öffentlichen Drucks, in diesem Fall Erwachsenenstrafrecht anzuwenden, um die Todesstrafe in Erwägung ziehen zu können, zuständig. Mary wurde in der kinder­psychiatrischen Abteilung des Bellevue Hospital untergebracht, wo sie unter strenger Beobachtung stand.

Da sich die Indizienbeweise häuften, die Zeugenaussagen dreier Kinderpsychologen dagegen kei­­nesfalls eindeutig und daher nicht beweiskräftig ausfielen, leitete Richterin Maggie Brenner eine Verständigung im Strafverfahren ein und verurteilte Mary zu einer bis zu zehn Jahre währenden Isolationshaft in einer Justizvollzugsanstalt für Erwachsene, und lehnte eine mildere Strafe in Form eines privaten Behandlungsprogramms ab. Miss Cooper-Addison wurde das Sorgerecht mit ihrem Einverständnis entzogen, sodass Mary bis zu ihrer Volljährigkeit Staatsmündel bleibt.

In Anbetracht ihres Alters und der zahlreichen Morddrohungen, die diesen Fall begleitet haben, musste der Name der ausgewählten Anstalt ein sorgsam gehütetes Geheimnis bleiben. Brenner wies die Staatsbeamten an, ein langfristiges, umfassendes Behandlungsprogramm auszuarbeiten.

Und während ihre Zukunft vor ihren Augen verhandelt wurde, sagte Mary nicht ein einziges Wort dazu.

»Hach, er ist sooo ein schöner Mann! Hast du jemals einen so wunderschönen Kerl gesehen? Im Leben nicht!«

Marisol wirft ihre langen, seidig-schwarzen Haare zurück und starrt zu den Bildern und Postern von Trey Songz hinauf, die rund um ihr Bett wie Tapete die Wand verkleiden.

Er starrt mit lüsternem Blick zu ihr hinab, auch wenn sie schläft. Er starrt jetzt auch auf mich hinab, denn ich sitze neben ihrem Bett auf dem Boden und warte darauf, dass Miss Carmen, unsere zuständige Sozialarbeiterin, mit der Zimmerinspektion fertig wird.

Sie ist klein, ihr Teint von einer spanischen Sonne verbrannt, und sie schnüffelt in meinen Sachen herum wie einer dieser Polizeispürhunde.

»Er tritt morgen bei 106 & Park auf. Ich will da hingehen, aber ich kann ja nicht blaumachen.«

Trey Songz. Sie redet von nichts anderem. Seine CD läuft mal wieder in Dauerschleife und er singt über Sex.

Er singt immer nur über Sex, so als wäre das alles, womit er sich auskennt.

»Ach, weißt du, wenn ich da wäre … er müsste mir nur ein Mal in die Augen schauen, und er wär voll weg gewesen. Ich würde ihm ein Kind gebären. Einen Sohn!«

Mit einem Kuss präsentiert sie seinem Bild ihre Brüste und er singt für sie. Marisol sieht so umwerfend aus, dass sie vermutlich recht hat. Könnte schon sein, dass er nur einen Blick auf ihren breiten Arsch und ihre riesigen Titten werfen müsste, um sich in sie zu verknallen. Wenn er allerdings Grips hätte, würde er sich von ihr fernhalten. Sie ist erst 17 und sie verliebt sich andauernd. Das hat sie auch hierhergebracht: Sie war verliebt und hat dumme Sachen für dumme Kerle gemacht.

»Stehst du auf Jungs?«

Ich zucke die Achseln.

»Ich auch nicht. Ich stehe auf Männer. Echte Männer. Denn echte Männer sorgen gut für dich.«

Miss Carmen unterbricht ihre Schnüffelei, um sie anzusehen, und sagt etwas auf Spanisch. Marisol verdreht die Augen.

»Mary«, fährt Miss Carmen mich dann an. »Wieso haben all deine Unterhosen Löcher?«

Ich zucke die Achseln und schnipse einen Klumpen Erde von meinen Sneakers. Sie flucht leise vor sich hin und ruft dann nach Miss Stein, während Trey Songz im Hintergrund »Panty Droppa« singt. Marisol lacht.

»Judy, hast du Mary ihr Taschengeld immer ausgezahlt? Ihre ganze Unterwäsche ist durchlöchert.«

Miss Stein hält eines der Höschen hoch und steckt ihre dicken Finger durch die Risse, funkelt mich böse an.

»Warum hast du dir keine neue Unterwäsche ge­­kauft? Was hast du mit deinem ganzen Geld gemacht?«

Ich zucke die Achseln.

»Wen interessiert das schon?«, mischt Marisol sich ein. »Ist ja nicht so, als hätte sie einen Mann, der ihre Liebestöter sieht.«

Miss Carmen blafft sie erneut auf Spanisch an.

»Verdammt noch mal, Mary«, zischt Miss Stein nervös. »Du kannst doch nicht mit durchlöcherten Höschen herumlaufen. Kommst du dir nicht blöd vor damit?«

Nicht wirklich. Es stört mich nur ein wenig, wenn Ted sie sieht.

»Sorg dafür, dass sie sich nächste Woche neue Unterwäsche kauft«, sagt Miss Carmen. »Wenn jemand die hier zu Gesicht bekommt, heißt es am Ende noch, wir würden sie vernachlässigen oder so was.«

Sie verlassen gemeinsam das Zimmer und be­­schweren sich weiter, wie blöd ich doch sei. Sobald sie zur Tür hinaus sind, stößt Marisol mich von ihrem Bett weg.

»Du abartige puta! Durch deine löchrigen Höschen stinkst du nach Muschi.«

Ich strecke mich, bevor ich mein Geld, das Handy und das Taschenmesser wieder in ihr Versteck zurücklege.

Es gehört eine ganze Menge dazu, eine jugendliche Straftäterin zu missionieren. Daran werde ich jeden Morgen beim Blick auf meinen Wochenplan erinnert. Als Teil unseres Bewährungsprogramms haben wir montags und mittwochs Fitnesstraining und dienstags und donnerstags Gruppentherapie. Freitags bekommen wir unser Taschengeld, 30 Dollar die Woche. Davon müssen wir sämtliche persönlichen Dinge kaufen, ob Tampons oder Unterwäsche, Fahrkarten für die Öffis oder Mittagessen für die Tage, an denen wir nicht im Haus essen. Sonntage sind lehrreichen Ausflügen vorbehalten, die wir niemals unternehmen, und sind außerdem Besuchstage. Unser einziger Tag in Freiheit ist der Samstag, nachdem wir unsere jeweiligen Aufgaben im Haus erledigt haben, aber wir brauchen trotzdem immer eine Erlaubnis, das Haus zu verlassen, bevor wir dann endlich losziehen können.

Außerdem muss ich mich auf meinen Schulabschluss, die GED-Prüfungen, vorbereiten, einen Job auswählen und die Berufsschule besuchen. Es gehört zu Miss Carmens Aufgaben, mich über meine Möglichkeiten zu beraten. Ich glaube, sie ist meine achte Sozialarbeiterin, aber ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Ich komme durcheinander, wenn ich nachzähle. Die anderen Sozialarbeiterinnen, die ich hatte, schauten einmal im Monat im Knast vorbei. Wenn sie daran dachten, brachten sie mir Tiermalbücher mit, Arbeitsblätter zum Leseverständnis und für Mathe und Kreuzworträtsel. Sie ließen mir auch Brettspiele und Spielkarten da, aber wozu? Es gab dort niemanden wie mich. Es gab niemanden, mit dem ich hätte spielen können. Meinen Zellenblock nannten sie den Baby Jail, aber ich war das einzige Kind, das dort einsaß.

»Also, Mary«, fragte Miss Carmen mich in meiner ersten Woche im Wohnheim mit flacher Stimme, während sie an ihrem Rosenkranz herumspielte, als wäre es eine Zuckerkette vom Jahrmarkt. »Was möchtest du werden, wenn du erwachsen bist?«

Zuerst stimmte mich das hoffnungsvoll. Seit Jahren hatte mich niemand gefragt, was ich wirklich machen wollte, aber ich wusste es ganz genau: Ich wollte Lehrerin werden. Als ich klein war, reihte ich meine Spielsachen immer vor einer imaginären Tafel auf und brachte ihnen das Lesen bei. Selbst Alyssa setzte ich auf meinen Schoß, um ihr das Alphabet beizubringen. Momma sagte dann immer: »Sie ist noch viel zu klein, Baby. Sie kann doch noch gar nicht sprechen.« Aber das war mir egal. Alyssa würde ein kluges Mädchen werden, dafür wollte ich sorgen.

Als ich ›Lehrerin‹ auf einen Zettel schrieb und ihn Miss Carmen zeigte, hatte sie leise gelacht, obwohl sie nicht wirklich amüsiert war.

»Nun … ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist.«

Miss Carmen ist nur einer der Namen auf einer langen Liste von Menschen, die mich nicht wirklich mögen. Was echt mies ist, weil sie für mein Wohlergehen zuständig ist. Ich glaube, es liegt daran, dass sie voll katholisch ist und ich ein Baby umgebracht habe oder so was.

Mutmaßlich.

Sie stellte unmissverständlich klar, dass ich niemals mit Kindern arbeiten würde, dass keine Säuglingsmörderin jemals mit Kindern arbeiten durfte. Nie. Ich strich das Wort ›Lehrerin‹ durch und schrieb stattdessen ›Krankenschwester‹ hin.

»Nun …«

Natürlich. Tabletten. Die darf ich ebenfalls nicht anfassen.

Nachdem wir eine Stunde lang besprochen hatten, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen kann, wo ich doch bereits das reife Alter von 15 erreicht habe, wurde entschieden, dass die sicherste Laufbahn für eine psychopathische Säuglingsmörderin die Kosmetikschule ist. Eine weitere brillante Entscheidung einer Vertreterin der Regierung. Also sitze ich zwei Stunden lang in der Vorbereitungsklasse für den Schulabschluss und mache einen auf unwissend, bevor ich mir weitere vier Stunden etwas über Dauerwellen und Lockenstäbe anhöre.

Uns abzumelden ist auch so eine Tortur. Miss Reba muss Datum und Uhrzeit eintragen, bevor wir gehen können, außerdem wohin wir gehen. Sie muss auch beschreiben, welche Kleidung wir tragen. Aber sie schreibt so verdammt langsam und kann die einfachsten Wörter nicht buchstabieren.

»Graues Sweatshirt, blaue Jeans, graue Sneakers, rosa Kittel. Ach … warte, wie schreibt man noch mal Kittel?«

Jeden Tag müssen wir uns vor neun Uhr abends zurückgemeldet haben, sonst rufen sie die Polizei, machen uns anhand unserer Fußfesseln ausfindig, mit denen wir sowieso den Drei-Meilen-Radius nicht ­überschreiten dürfen, und werfen uns ins Jugendgefängnis. Da werden keine Fragen gestellt. Miss Reba nennt es AWOL, wenn ein Mädchen nicht rechtzeitig zu Hause ist. Aber ich weiß nicht genau, was die Abkürzung bedeutet.

Ein weiterer Bestandteil meiner Bewährungsauflagen sind die 25 Sozialstunden pro Woche. Mich haben sie als Pflegehilfe eingeteilt und dem Greenview-­Pflegeheim zugewiesen. Dort wechsle ich vollgepisste Laken und füttere die Sterbenden mit Diabetiker-­Eiscreme. Tatsächlich ist das der friedlichere Teil meiner Woche. Niemand nervt mich und ich bin lieber von all den Halbtoten umgeben als von den Leuten, die in der Wohngruppe als die Lebenden gelten.

Greenview hat fünf Etagen: im Erdgeschoss betreutes Wohnen für diejenigen, die noch klar denken können, aber nichts mehr mit der echten Welt da draußen zu tun haben wollen. Eine Rechnung über 100 Dollar fürs Kabelfernsehen würde bei denen einen Schlaganfall auslösen. Im ersten Stock leben die Alten und Müden, deren Akku immer schwächer wird und die sich immer langsamer bewegen. Mit solchen Spielzeugen will keiner mehr spielen. Im zweiten Stock dann das Hospiz; da liegen diejenigen, die schon an die Himmelspforte klopfen und darauf warten, dass jemand aufmacht. Im dritten Stock befindet sich das Fegefeuer, in dem alle ausharren, denen ihr Selbstgefühl immer mehr ab­­handenkommt, und im vierten Stock ist die Hölle, auch bekannt als Demenzstation. Hier haben Dämonen die Körper von denen in Besitz genommen, die man einst geliebt hat. Ich ziehe den dritten und vierten Stock den unteren Etagen vor. Die Umstände sind mir vertraut.

Es ist jetzt fünf Uhr nachmittags. Zeit, mich mit Ted zu treffen.

Der Speiseraum im Pflegeheim riecht genau wie der Knast: nach altem Kantinenessen, Pisse und muffigen Körpern. Er sitzt an unserem Tisch unter der Lüftung, sein Kopf nickt im Takt zu irgendeiner Musik. Er springt auf und schaut sich kurz um, bevor er mich küsst und die Lippen lange auf meinen lässt. Ich lasse mich in seine Umarmung sinken und wünsche mir, ich könnte für immer in seinen Armen liegen. Es gibt wirklich nichts Besseres auf der Welt als seine Umarmungen.

»Hey«, begrüßt er mich.

»Hey.«

»Hat der Unterricht Spaß gemacht?«

»War faszinierend.«

Er lacht in sich hinein und wir setzen uns zum Essen hin. Hackbraten vom Truthahn, Karottenpüree, Hühnerbrühe und ein weiches weißes Brötchen.

»Babe, du hast was verpasst«, erzählt er. »Die Lady aus 207 hat die Lady aus 110 angefahren, weil die mit ihrem Freund geflirtet hat.«

»Mit angefahren meinst du … mit dem Rollstuhl?«

»Ja, genau! Die beiden standen kurz davor, sich zu schlagen, als Miss Legion dazwischenging.«

»Ich dachte, er hätte was mit 420 am Laufen?«

»Nee, das war letzten Monat. Sie hat ihn dabei erwischt, wie er im Fernsehraum einer Schwester in den Hintern gekniffen hat. Jetzt erinnert sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen. Und er hat 211 dazu gebracht, dass sie ihm heimlich Cupcakes zusteckt, obwohl er genau weiß, dass seine Blutwerte ohnehin schon im Eimer sind.«

»Verdammt, 211 ist ein richtiger Lude.«

Teds Lächeln erstirbt und er schiebt eine zusätzliche Milch auf mein Tablett.

»Immer noch keine Tage?«

Ich seufze.

»Immer noch keine Tage.«

Meine Periode ist jetzt seit zehn Tagen überfällig. Wir wissen beide, was das bedeuten könnte, aber weigern uns, es einzugestehen. Das Leben ist auch so schon hart genug.

Als ich Ted zum ersten Mal sah, schob er eine Frau aus dem ersten Stock in den Gemeinschaftsraum und alles, was mir auffiel, waren seine Fingerknöchel, zerschnitten und vernarbt, als hätte er sein ganzes Leben auf Steinmauern eingeschlagen. Mit seiner satten, glatten Haut wie dunkle Schokolade, die mit Vaseline eingeschmiert unter seiner rosa Krankenhausuniform hervorglänzte, erinnerte er mich an einen Hershey’s Kiss. Rosa bedeutete, dass auch er aus einer Wohneinrichtung wie meiner kam und Sozialstunden ableistete, genau wie ich. Man müsste schon sehr blöd sein, um sich für diese Arbeit freiwillig zu melden. Unsere Blicke trafen sich, verweilten einen Moment zu lange. Dann vergrub ich die Nase und das glühende Gesicht wieder in meinem Buch, denn ich hatte sie gespürt, die Schmetterlinge, von denen Momma immer gesprochen hatte, furchterregend, aber gleichzeitig aufregend.

»Jedenfalls habe ich was für dich.« Seine Stimme holt mich mit einem Ruck ins Hier und Jetzt zurück, während er in seiner Büchertasche wühlt und eine schwarze Plastiktüte hervorholt, die er mir in den Schoß legt. Sie ist quadratisch, dick und schwer.

»Was ist das?«

»Etwas, das du dir gewünscht hast.«

Ich schiebe die Tüte zur Hälfte beiseite. Ein Buch, Kaplan SAT Strategies, Practice & Review. Zur um­­fassenden Vorbereitung auf den SAT, den Test zur Studienbefähigung. Mein Lächeln ist so breit, dass es sich ganz unnatürlich anfühlt. Ich gehe ganz sicher, dass uns niemand beobachtet, bevor ich ihn küsse.

»Danke.«

Seine rauen Hände liebkosen mein Gesicht, sein Blick ist weich und fragend. Er sieht mich immer auf diese Weise an, so als wäre ich das wunderbarste Ding, das ihm je untergekommen ist. Er ist auch irgendwie wunderbar. Wer hätte gedacht, dass ich die einzige Person, die mich auch ohne Worte versteht, unter den Dahinvegetierenden finden würde?

»Du weißt, dass man dir deine Gefühle ansieht?«

Er grinst.

»Ich weiß, stimmt. Mein Fehler.«

Ich küsse ihn aufs Neue, denn die Funken zwischen uns machen süchtig, und seine Hände reiben unter dem Tisch meine Oberschenkel. Ich kann die neuen Pflaster um seine Finger spüren, wahrscheinlich aus der Schule. Ted will Elektriker werden, nachdem er seine sechsmonatige Strafe im Jugendknast, für eine Straftat, über die er mir nichts erzählen will, abgesessen hat. Aber er schwört, dass er die nicht begangen hat. Ich dränge ihn nicht, denn ich will ja schließlich auch nicht, dass er weiß, was ich getan habe.

»Also«, sagt er und fährt mit den Lippen über die Stelle hinter meinem Ohr, »wie fühlt sich das an, wenn man das krasseste Mädchen im Altersheim ist?«

»Das krasseste?«

Er lacht, dann weiten sich seine Augen.

»Nicht böse werden, Babe. Mit krass meine ich heiß. Also die Schönste.«

»Oh.«

»Was ich sagen will, ist, ich möchte nicht mit 211 um das kämpfen, was mir gehört.«

Meine Wangen brennen und ich weiche seinem intensiven Blick aus.

»Ich bin sicher, du wirst ihn allemachen.«

Ich drehe das Buch um. Da steht der Preis, 39 Dollar und 95 Cent.

»Hui, wie hast du denn das bekommen?«

Ted verdreht die Augen.

»Mach dir keine Sorgen deswegen, okay? Du brauchst es doch, oder?«

Ted bekommt auch nicht mehr Taschengeld als ich. Er hat gar keine Möglichkeit, sich ein 40-Dollar-Buch zu leisten und noch was zum Leben übrig zu haben.

»Aber woher hast du das Geld gehabt?«

»Baby, nimm doch einfach …«

»Hast du’s geklaut?«

Er seufzt und spielt mit meinen Haaren.

»Willst du das wirklich wissen?«

Meine Gedanken wandern weiter, aber ich schrecke nicht vor ihnen zurück.

»Nein, muss ich nicht.«

Wir essen auf und gehen zu den Fahrstühlen, stehen nebeneinander wie zwei parallel gezogene Striche. Er rückt seine Hand ein paar Zentimeter näher an meine, die Fingerknöchel berühren meine. Ich schließe die Augen wie von selbst; der sachte Stromschlag der flüchtigen Berührung prickelt in meinen Fingern, macht mich atemlos und mir wird warm. Die Türen gehen auf. Miss Legion, die Leiterin des Pflegeheims, tritt aus dem Fahrstuhl und wir lösen uns wieder in zwei Einzelteile auf; sie hat uns geteilt wie Moses das Rote Meer.

Aus der eidesstattlichen Aussage von Miss Ellen Rue – Mary Addisons Lehrerin in der vierten Klasse

Am besten lässt sich Mary wohl als hochbegabt beschreiben. Sie war eine der klügsten, brillantesten Schülerinnen, die ich je hatte. Sie las auf dem Niveau einer Achtklässlerin und war besonders in Mathematik ein Ass. Einmal habe ich ihr einen Mathetest aus der sechsten Klasse gegeben. Sie war nach 30 Minuten fertig und erreichte 90 von 100 Punkten.

Das Buch zur Vorbereitung auf den SAT hat 756 Seiten. Wenn ich jede Woche 50 Seiten durchgehe, bin ich im Dezember bereit, den Test zu machen. Allerdings nur, wenn die Mäuse mein Buch nicht vorher aufgefressen haben. An den Ecken geknabbert haben sie bereits.

Ted und ich haben einen Plan. Er ist etwas älter als ich und seine Bewährung endet früher als meine, hoffentlich wenn er bereits mit der Ausbildung fertig ist, denn nur dann kann er eine Arbeit und ein Apartment finden. Ich werde nicht entlassen, bis ich 19 bin; vielleicht dauert es auch noch länger. Bis dahin lege ich jede Woche die Hälfte meines Taschengeldes zurück und spare für mein Studium. 15 Dollar die Woche mal 52 Wochen sind 780 Dollar. Wenn ich das vier Jahre lang mache, habe ich bis zu meinem ersten Semester 3120 Dollar beisammen. Ted wird für uns sorgen, während ich Wirtschaft studiere. Dann eröffnen wir unser eigenes Eisenwarengeschäft, heiraten und lassen die Vergangenheit hinter uns. Den Plan habe ich in meinem Heft aus der Kosmetikschule aufgeschrieben.

Damit ein College eventuell über meine Verurteilung hinwegsieht, muss ich mit 98 Prozent bestehen, das sind 200 Punkte weniger als die perfekten 100 Prozent. Mit dem sprachlichen Teil komme ich problemlos klar. Ich habe mal das gesamte Wörterbuch gelesen, weil ich nichts Besseres zu tun hatte. Mathe wird schon kniffliger. Klar, ich bin echt gut im Kopfrechnen. Ich habe immer das Geld für die Miete abgezählt, das Momma in der Kaffeedose über dem Herd aufbewahrte. Es war jedes Mal zu wenig, und Momma brüllte mich dann an, weil sie meinte, ich hätte mich verzählt. Aber das hatte ich nicht; wir hatten bloß nicht genug Geld. Im SAT gibt es allerdings all diese Graphen, Formen und Formeln, die ich noch nie zuvor gesehen habe, und mein Unterricht für den normalen Schulabschluss deckt nur einfache Mathematik ab. Den Rest werde ich mir allein beibringen müssen. Dazu kommt, dass ich nicht will, dass die Mädchen oder Miss Stein erfahren, was ich vorhabe. Die würden mir nur meinen Plan versauen. Das Ganze muss also geheim bleiben.

»Ey! Was machst’n du?«

Verflixt, ich hoffe echt, dass Tara nicht mit mir redet. Aber im Zimmer herrscht auf einmal eine irre Spannung und es ist viel zu still, daher weiß ich, dass irgendwas im Busch ist. Ich bleibe mit dem Rücken zu den anderen sitzen, unter dem Laken, als wäre das mein privates Zelt, und blättere weiter die Seiten um. Vielleicht verschwindet sie ja, wenn ich sie einfach ignoriere.

»Ey, du Psycho! Ich hab dich gefragt, was du da machst.«

Sie reißt das Laken weg und das Buch fällt aus meinem Bett, landet mit einem Klatschen auf dem Holzboden. Ich kann mich nicht schnell genug aus dem Bettzeug befreien, um hinunterzuspringen und es mir zu schnappen, bevor sie das tut.

»Was ist denn das?«

Das ganze Zimmer starrt uns an, aber ich kann mich nur auf eine Sache konzentrieren, nämlich auf das Buch, das Ted mir geschenkt hat, in ihren fetten, fettigen Händen. Es fühlt sich an, als würde sie ihn anfassen, meinen Ted. Der Gedanke allein reicht aus, dass es mich von den Zehen bis in die Fingerspitzen juckt. Meine Zunge löst sich nur mit Mühe von meinem Gaumen und ich stoße einige Worte hervor.

»Gib mir das zurück«, nuschle ich.

Alle im Raum erstarren und Tara bleibt der Mund offen stehen. Sie haben vorher noch nie meine Stimme gehört. Im Hintergrund flüstert jemand »O Shit«, und Tara grinst.

»Oder was?« Ratsch! Sie reißt den vorderen Einband ab.

»Gib es mir zurück«, wiederhole ich und wünsche mir, ich könnte lauter sein oder zumindest gefährlich klingen.

Mit einem Lachen reißt sie auch die ersten Seiten heraus und knüllt sie zusammen, lässt die Papierknäuel auf den Boden fallen.

Ich versuche, ihr das Buch zu entreißen, aber sie hält es hoch über ihren Kopf und schubst mich, sodass ich auf dem Hintern lande. Ratsch! Eine weitere Seite. Das Kribbeln in meinen Zehen ist wie ein Stromschlag, der mir durch den gesamten Körper fährt, und ich schnelle vor, stoße sie von den Füßen. Sie kippt langsam um, wie ein schwarzer Dominostein, und kreischt dabei. Das Haus wackelt, als sie auf dem Boden aufschlägt.

»Kämpfen! Kämpfen! Kämpfen!«, schreien die anderen. Aber bei dieser Art David-gegen-Goliath-Schlacht habe ich keine Chance, zu gewinnen.

Also springe ich mit dem Buch in meiner Hand auf und renne aus dem Zimmer, auf die Treppe zu, und Tara versucht sich hastig aufzurappeln, um mir nachzujagen.

»Verdammte Schlampe! Ich bring dich um!«

Ich klemme mir das Buch unter den Arm und rase die Treppe hinunter. Tara folgt mir und donnert den Flur hinunter; jeder ihrer Schritte ist wie ein Erdbeben. Ich kann nicht schnell genug abbremsen und krache gegen die Eingangstür. Verschlossen. Es ist nach neun, also ist die Tür für die Nacht verriegelt. Tara stolpert mit einem Aufschrei die Treppe hinab. Ich schlage einen Haken, springe mit einem Satz über sie hinweg und renne zum hinteren Teil des Hauses. Bei dem Lärm, den wir hier veranstalten: Wo bleibt Miss Reba?

Tara ist mir dicht auf den Fersen. Ich biege schnell in die Küche ab und werfe ihr einen Stuhl in den Weg. Sie stürzt erneut. Scheiße. Jetzt ist sie richtig sauer und ich sitze in der Falle. Ich reiße am Fenstergriff, aber das Schloss bewegt sich keinen Millimeter. Wo zur Hölle ist Miss Reba? Der Lärm muss sie doch längst geweckt haben. Ich weiß, dass sie immer erst zehn Minuten zu spät auftaucht, aber verflixte Scheiße! Tara kommt auf die Füße, blind vor Wut. Da geht mir siedend heiß auf, dass ich mich ausgerechnet in der Küche verstecke, wo auch all die Messer sind. Nicht die beste Strategie, aber Tara ist sowieso nicht helle genug, überhaupt darüber nachzudenken. Sie hat schließlich auch einen Kuli an ein Lineal geklebt, um damit zuzustechen, um Himmels willen!

»Du verdammte Schlampe!«

Ich halte mich am brennend heißen Heizungsrohr fest und kauere in der Ecke. Die abblätternde Farbe lässt meine Nägel splittern. Ich rolle mich auf dem Fußboden zu einer kleinen Kugel zusammen und kneife die Augen zu. Tara reißt an meinem Shirt, versucht mich vom Heizungsrohr loszurütteln. Sie schlägt auf meine Hände ein, um so meinen Griff zu lösen. ­Kreischend gibt sie auf und fängt an, mich zu vermöbeln. Ihre Fäuste hämmern auf meinen Rücken ein wie die Pranken eines zornigen Gorillas. Ich halte mich noch enger am Rohr fest und fange an zu beten. Das letzte Mal, als ich so inbrünstig gebetet habe, atmete Alyssa nicht.

Warum atmest du nicht, Alyssa?!

Das Licht geht an und die Fäuste hören auf, mich zu verdreschen. Ich blicke hoch und Miss Reba hat Tara im Schwitzkasten, die ganz außer Atem ist von ihrem Versuch, mich zu Tode zu prügeln.

»Beruhige dich! Ruhig jetzt, sage ich!«

Miss Stein kommt hereingehumpelt.

»Himmel Herrgott, was geht denn hier vor?«

Das Buch, das zwischen mir und dem Rohr klemmte, kippt heraus, als ich loslasse und mich mit einem ­Keuchen auf den Rücken fallen lasse. Der Schmerz durchfährt mich, während ich an die Decke starre und um Atem ringe. Herbert fliegt über mir herum und einen wahnsinnigen Augenblick lang frage ich mich, wieso er an diesem Ort überlebt, während ich wie eine Fliege eins mit der Klatsche bekomme.