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Monday Charles ist verschwunden. Spurlos. Und Claudia scheint die Einzige zu sein, die sie vermisst. Als Monday tagelang nicht zur Schule kommt, weiß Claudia, dass ihr etwas zugestoßen sein muss. Monday würde sie niemals einfach allein lassen, denn die beiden sind unzertrennlich, mehr Schwestern als Freunde. Doch niemand will sich an das letzte Mal erinnern, als sie Monday gesehen haben. Auch Mondays Mutter weigert sich, Claudia eine klare Antwort zu geben. Wie kann ein junges Mädchen einfach verschwinden, ohne dass es jemand bemerkt? Der Roman wurde durch das Verschwinden zahlreicher schwarzer Mädchen in den Vereinigten Staaten inspiriert, der zur Schaffung des Hashtags #MissingDCGirls führte. Vom School Library Journal als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet. Center for Children's Books: »Jackson verwebt mühelos Spannung mit Fragen über Rassismus, die Geschlechter und der sozialen Stellung in unserer Gesellschaft und wirft ein brutales Licht auf eine Welt, die sich tatsächlich oft weigert, dem Verschwinden dunkelhäutiger Kinder nachzugehen. Die Wendung am Ende ist herzzerreißend, lässt einem aber auch den Atem stocken.« Chicago Tribune: »Die entscheidendste Herausforderung in Tiffany D. Jacksons umwerfendem Roman betrifft eine Gesellschaft, die vorgibt, Kinder zu schätzen, während unzählige von ihnen, insbesondere arme Kinder und Kinder mit dunkler Hautfarbe, durch alle Raster fallen.« Booklist: »Das ist eine Geschichte, die gelesen werden muss.«
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Seitenzahl: 486
Veröffentlichungsjahr: 2020
Aus dem Amerikanischen von Claudia Rapp
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Monday’s Not Coming
erschien 2018 im Verlag Katherine Tegen Books.
Copyright © 2018 by Tiffany D. Jackson
Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Stefanie Saw – www.seventhstarart.com
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-864-3
www.Festa-Verlag.de
Für meinen Daddy und meinen Pop-Pop,
die mich fliegen ließen, aber immer auch da waren, um mich aufzufangen.
SEPTEMBER
Dies ist die Geschichte meiner besten Freundin und wie sie verschwand. Wie niemand außer mir bemerkte, dass sie weg war. Und wie es niemanden kümmerte, bis sie gefunden wurde … ein Jahr später.
Ich weiß, was ihr denkt. Wie kann denn ein ganzer Mensch, ein Kind, einfach so verschwinden und niemand sagt etwas dazu? Denn wenn die Sonne sich von einem zum anderen Tag plötzlich verabschieden würde, sollte man doch meinen, dass jemand Alarm schlagen würde, richtig? Aber wie Ma immer gesagt hat, wir kreisen nicht alle um dieselbe Sonne. Ich habe nie verstanden, was sie damit gemeint hat, bis Monday verschwand.
Man würde nicht denken, dass so etwas in Washington, D. C. passiert, in einer Stadt, in der die mächtigsten Menschen der Welt leben. Niemand konnte sich vorstellen, dass dies praktisch im Hinterhof des Präsidenten geschehen ist. Und so haben wir im Südosten der Stadt ebenfalls gedacht. Wenn wir, wie man sagt, im Schatten der Hauptstadt leben, wie kann dann ein einzelnes verschwundenes Mädchen alles mit einem Schlag auf den Kopf stellen?
Mein Arzt sagt, ich soll nicht mehr darüber sprechen. Aber dann gab es irgendwann diesen Podcast, der die Geschehnisse neu untersuchte und Löcher in den verbrannten Kuchen bohrte, um ganz sicherzugehen, dass er durchgebacken war. So wie die Farbe Rosa sieht immer jemand die Geschichte ganz anders. Einige sehen Pink und Magenta, wo andere Koralle und Lachs sehen. Und letztendlich ist es einfach nur das gute, alte Rosa gewesen.
Für mich fing die Geschichte kurz vor dem Beginn der achten Klasse an. Unserem letzten Jahr in der Mittelstufe, von dem ich erwartete, dass es das beste Jahr unseres Lebens werden würde.
VORHER
»Ma, hast du Monday gesehen?«, fragte ich als Erstes, als ich am Washington Reagan National Airport vom Gate in den Ankunftsbereich trat. Mein Haar war immer noch zu struppigen Sommerzöpfen geflochten, meine Haut von der südlichen Sonne gebräunt.
»Meine Güte! Wie wäre es zunächst mal mit einem Hallo? Ich habe dich doch auch den ganzen Sommer nicht gesehen«, sagte Ma mit einem leisen Lachen und breitete die dünnen Arme aus, als ich mich in eine beglückte Umarmung stürzte.
Jeden Sommer schickte Ma mich runter nach Georgia, wo ich zwei Monate bei meiner Grandma blieb. Monday und ich schrieben einander dann Briefe mit lustigen Zeichnungen und Artikeln, die wir aus Zeitschriften rissen, um uns über den neuesten Tratsch aus dem Viertel und über Musik auf dem Laufenden zu halten. Aber dieser Sommer war anders gewesen. Monday hatte auf keinen meiner Briefe geantwortet. Ohne ihre Post schlich der Sommer dahin wie eine entlaufene Schildkröte. Ich liebte meine Grandma, aber ich vermisste mein Zimmer, vermisste meinen Fernseher und am allermeisten vermisste ich Monday.
Lichter spiegelten sich blinkend auf dem Anacostia River, als wir über die Brücke und auf die Martin Luther King Junior Avenue fuhren, das Baseball-Stadion der Nationals als Silhouette in der Ferne. Als wir auf die Good Hope Road abbogen, fielen mir die alten Plakate auf, die immer noch an einem verlassenen Gebäude an der Kreuzung klebten: RETTET ED BOROUGH!UNSERE GEMEINSCHAFT, UNSER ZUHAUSE!
Ma ließ die Türverriegelung einrasten, während sich ihr Rücken verspannte. Als echte Südstaatlerin fühlte sie sich in der Stadt nie wirklich sicher, obwohl sie hier seit ihrer Geburt lebte. Zur Ablenkung erzählte ich ihr von den unbeantworteten Briefen. Sie zuckte die Achseln, blieb auf den Abendverkehr konzentriert und murmelte: »Vielleicht hat sie es nicht aufs Postamt geschafft.« Aber das ergab in meinen Augen kaum Sinn. Wir hatten Geld gespart und genug Marken gekauft, um die acht Wochen ohne einander zu überstehen, denn Grandma mag es nicht, wenn die Kinder mit ihrem Telefon herumspielen, und meine Cousine war sowieso schon ständig an der Strippe, um mit ihrem Kerl zu quatschen. Monday wusste, dass ich das Schreiben hasste, aber wir hatten einander versprochen, in Kontakt zu bleiben, und so ein Versprechen bricht man nicht einfach. Nicht wenn man es seiner besten Freundin seit der ersten Klasse gegeben hat.
»Ich weiß nicht, meine Süße«, fuhr Ma fort, hielt an der Ampel beim Schnapsladen und winkte nervös nach draußen, wo sie eine Bekannte entdeckt hatte. »Wahrscheinlich war sie mit irgendetwas beschäftigt. Aber sobald sie erfährt, dass du wieder da bist, schaut sie bestimmt vorbei.«
Die Ampel wechselte auf Grün und Ma trat aufs Gas, raste die nächsten zwei Blocks entlang, bevor sie an der Anacostia Library scharf links abbog und dann rechts auf den U Place. Zu Hause. Sie parkte vor dem Haus an der Straße und ich sprang mit meiner Schultasche aus dem Wagen und sprintete auf die Tür zu. Ehrlich gesagt hoffte ich jeden Sommer irgendwie auf eine Art magische Verwandlung. Nicht dass ich unser Haus nicht mögen würde, aber ich liebe Überraschungen. Wenn ich am Weihnachtsmorgen die Treppe hinunterrenne, erwarte ich immer einen frischen Anstrich in Terrakotta-Rot an den Wänden, eine neue Couch, die unser beigefarbenes Sofa ersetzt, Edelstahlarmaturen anstelle unseres rostenden weißen Spülbeckens und ein neues Geländer für die Treppe, das nicht knarrt und ächzt, wenn man sich darauf lehnt.
Als ich ins Haus trat und sah, dass sich nichts verändert hatte, ließ ich meine Tasche fallen und nahm den Hörer des Telefons an der Wand bei der Treppe in die Hand, um Monday anzurufen. Vielleicht musste sie sich den Sommer über um ihren kleinen Bruder und die Schwester kümmern und war zu beschäftigt gewesen, um zu schreiben. Was immer der Grund sein mochte, ich würde das unter den Tisch fallen lassen, weil ich beinahe platzte, so viel hatte ich ihr zu erzählen. Es klingelte nur einmal, bevor mir eine automatische Frauenstimme erklärte, dass ich die falsche Nummer gewählt hatte. Ich kannte nur zwei Nummern auswendig: Mondays und meine eigene.
»Aber Kind, hängst du direkt wieder am Telefon?«, schimpfte Ma, die meinen Koffer ins Haus schleppte. »Na, unter deinen Füßen wächst ganz sicher kein Gras!«
»Mondays Telefon funktioniert nicht.«
»Wahrscheinlich nicht richtig aufgelegt oder so was«, erwiderte sie und schloss die Haustür ab. »Jetzt beeile dich mal und hol den Kamm. Wir müssen mit deinen Haaren anfangen. Himmel! Ich hätte Mama sagen sollen, dass sie diese Zöpfe aufmacht, bevor du zurückkommst.«
Ich eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, und öffnete oben die erste Tür auf der rechten Seite. Mein Zimmer war genau, wie ich es hinterlassen hatte, ein Durcheinander. Ich meine, mein schmales Bett mit der dunkellila Tagesdecke war gemacht und die lavendelfarbenen Wände, an denen ich all meine Zeichnungen zwischen Bandpostern und Filmplakaten aufhängte, waren immer noch da, wo sie sein sollten. Aber ich hatte keine Zeit mehr gehabt, das Zelt aufzuräumen, das Monday und ich aus einem Haufen alter Laken und Zierkissen gebaut hatten, als sie zum letzten Mal bei mir übernachtet hatte. Es türmte sich immer noch unter dem Regal beim Fenster auf, das zur Rückseite der Bücherei hinaussah, die auf der anderen Straßenseite stand.
»Claudia! Beeil dich!«, rief Mama laut von unten herauf.
»Ich komme schon, Ma!«
Ich schnappte mir den Kamm von meinem weißen Schminktisch und bemerkte ein neues Malbuch und Stifte auf meinem Stuhl. Die musste Dad hiergelassen haben, bevor er zu einer weiteren Lieferfahrt aufgebrochen war.
»Claudia, mach vorwärts! Wir sitzen sonst die ganze Nacht noch hier!«
Ma und ich verbrachten den Rest des Abends damit, meine Zöpfe zu entwirren und dann mein Haar zu waschen und zu glätten. Erschöpft kletterte ich schließlich ins Bett und ignorierte das Knurren meines Magens. Es war schon fast Mitternacht. Irgendetwas stimmte nicht, aber ich kam nicht darauf, was es sein mochte.
»Claudia!«, rief Ma am nächsten Morgen aus der Küche. »Du kommst noch zu spät zum ersten Schultag!«
Jedes Jahr brüllte Ma so herum, weil sie wollte, dass ich wie eine Verrückte die Treppe hinunterstürmte und über das große Frühstück staunte, dass sie mir immer zum ersten Schultag zubereitete: Pancakes mit einem lächelnden Gesicht aus Sirup, Rühreier mit Käse, Maisbrei und Rindswürstchen.
Also spielte ich mit, sprang mit einem Satz die letzten zwei Stufen hinab und rannte in meiner Schuluniform und den neuen Sneakers in die Küche, wo mich der reichlich gedeckte Tisch mit meinem Festmahl erwartete.
»Überraschung!«, rief Ma, als sie aus ihrem Versteck hervortrat. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar war immer noch zu engen Locken eingedreht, die mit Haarklammern am Kopf fixiert waren. Im Licht spähten manchmal die grauen Stellen hinter ihren rotgoldenen Strähnchen hervor.
»Danke, Ma«, sagte ich mit einem Lachen und hopste auf meinen Platz.
»Ach Gottchen, ich kann gar nicht fassen, dass du schon nächstes Jahr auf die High School gehst. Ich bin eine alte Frau.«
»Ma, du verhältst dich auch nicht älter als ich.«
Sie grinste und nahm mein Gesicht in beide Hände. »So spricht man nicht mit seiner Mutter. Okay, meine Süße, beeil dich jetzt und iss dein Frühstück. Du willst doch nicht zu spät zur Schule kommen und Monday warten lassen.«
Ma wusste genau, was sie sagen musste, um mir Feuer unter dem Hintern zu machen. Was sollte ich denn bloß sagen, wenn ich Monday endlich wiedersehen würde? Ich meine, wie konnte sie mich bloß den ganzen Sommer über so hängen lassen?
»Ma, darf Monday heute nach der Schule mit zu mir kommen?«, fragte ich zwischen zwei Bissen Pancake.
Sie lachte. »Bloß keine Zeit verschwenden, was? Okay, sie darf kommen. Aber … erst schaust du bei Miss Paul vorbei, ja?«
Ich ließ meine Gabel auf den Teller fallen. »Ich dachte, du hast gesagt, dass ich nach der Schule nicht mehr zur Bücherei gehen muss. Ich brauche doch keine Babysitterin!«
»Sie ist keine Babysitterin«, widersprach Ma mit gespielt unschuldigem Blick. »Ich möchte nur … dass du hingehst und Hallo sagst. Ist doch nichts Falsches daran, dich bei jemandem zu melden, der dann weiß, wo du bist. Brotkrumen, Claudia. Es ist immer gut, eine Spur aus Brotkrumen zu hinterlassen, wie im Märchen.«
»Ich bräuchte keine Brotkrumen zu hinterlassen, wenn ich ein Handy hätte«, murmelte ich mit gesenktem Kopf.
Ma schnaubte. »Hör zu, darüber werde ich nicht wieder mit dir diskutieren. Wir haben abgemacht, dass du eins haben kannst, wenn du mit der High School anfängst. Und jetzt komm schon, lass uns gehen.«
Ich setzte mir die neue Schultasche auf. Sie war marineblau mit einem lilafarbenen Wirbelmuster. Monday hatte die gleiche, aber in Rosa, ihrer Lieblingsfarbe. Wir hatten sie ausgesucht, bevor ich nach Georgia fuhr. Ich rief noch zweimal bei ihr an, bevor wir losfuhren, einfach um zu sehen, ob alles okay war. Es ging niemand ran.
Am ersten Schultag fuhr Ma mich immer zur Schule und nahm sich ein paar Stunden frei von der Arbeit in der Kantine für Armeeveteranen. Dort würde man sie sicher vermissen, denn wenn sie die Küche nicht leitete, versank schnell alles im Chaos. Aber sie sagte immer: »Du hast nur eine Chance bei deinen Kindern, also triffst du besser ins Schwarze.«
Wir hielten an der Warren Kent Charter School, am Ende einer Schlange von Autos, die alle darauf warteten, ihre Kinder an dem großen, eingezäunten Schulhof abzusetzen, wo sich vor dem ersten Klingeln alle sammelten. Ich drückte mein Gesicht an der Seitenscheibe platt, während ich das Meer der rot und marineblau karierten Uniformen nach der Schultasche absuchte, die genau wie meine war.
»Ma, ich sehe Monday nirgends«, stellte ich fest und versuchte, meine Panik zu verbergen. Monday war immer die Erste in der Schule; manchmal tauchte sie sogar zwei Stunden vor allen anderen auf.
»Ich bin sicher, sie wird bald hier sein«, erwiderte Ma über das Lenkrad gelehnt, während sie langsam auf die Haltebucht zurollte. »Also, ich wünsche dir einen guten ersten Schultag, meine Süße. Vergiss nicht, mich anzurufen, sobald du zu Hause bist.«
Eine Lawine der Unsicherheit stürzte auf mich ein und drückte mich in meinen Sitz hinab. Ich konnte nicht aus dem Wagen steigen, ohne Monday zuerst erspäht zu haben. Ohne sie erschien mir die Schule weder real noch überhaupt möglich. Und der Gedanke, ganz allein da hinauszugehen, mit all den anderen Kindern … Tut-Tuut! Eine Hupe heulte hinter uns auf.
»Ach, halt doch die Klappe!«, brüllte Ma aus dem Fenster, bevor sie sich zu mir auf der Rückbank umdrehte. »Süße, was ist denn los? Du bist doch nicht nervös, oder?«
Wenn sie mit dieser näselnden Quiekstimme sprach, fühlte ich mich immer, als wäre ich mit meiner Nuckelflasche im Kindersitz angeschnallt, nicht ein Jahr vor der High School. Wenn ich nicht anfing, mich entsprechend zu verhalten, dachte ich, würde sie niemals aufhören, mich wie ein Baby zu behandeln.
Ich schüttelte meinen Kopf. »Nee, Ma. Ist schon gut.«
Wieder plärrte eine Hupe, diesmal noch genervter und lauter als zuvor. Tuuuut! Ma verdrehte die Augen und lächelte. Sie wusste genau, dass ich ihr etwas vormachte.
»Claudia, sie wird da sein. Sie ist wahrscheinlich bloß spät dran oder so was. Und nun sieh mal da drüben.« Sie zeigte auf den Schulhof, wo einer der älteren Schüler, die gewissermaßen die Pausenaufsicht übernahmen, ein Schild hochhielt, auf dem stand: ACHTE KLASSE. »Siehst du, da ist deine Stufe. Wieso stellst du dich nicht mit den anderen in die Reihe und hältst ihr einen Platz frei? Du hast doch sicher deinen anderen Freunden auch ganz viel zu erzählen. Okay?«
Die Schlange meiner Mitschüler und Mitschülerinnen, meiner Erzfeinde, zog sich endlos hin. Ohne Monday an meiner Seite war es, als müsste ich allein in ein Haifischbecken springen … blutüberströmt. Aber Ma wusste ja nicht, dass Monday meine einzige Freundin war.
Ich seufzte. »Okay.«
Sie grinste. »Na, komm schon, gib mir einen Kuss.«
Ich löste meinen Sicherheitsgurt, beugte mich nach vorne, küsste sie auf die Wange und sie legte einen Arm um mich und drückte mich ganz fest. »Ich liebe dich so sehr. Hab einen tollen ersten Tag!«
Ich erwiderte die Umarmung und wollte sie gar nicht loslassen. Ich flüsterte »Ich liebe dich auch« und stieg dann mit tapferem Gesicht aus dem Auto, konnte aber kaum atmen, weil mir die Brust viel zu eng wurde.
Warren Kent ist eigentlich keine große Schule; sie hat etwa 1000 Schüler, aber wenn man uns alle so zusammenpferchte, hörte es sich an, als wären wir eine Million. Das Kreischen der Vorschüler zerfetzte einem das Trommelfell. Die Kinder der dritten und vierten Klassen rannten wild im Kreis herum, die Sechst- und Siebtklässler umarmten einander kichernd, nach Monaten endlich wieder vereint. So werden Monday und ich es auch machen, wenn sie endlich auftaucht, sagte ich mir wieder und wieder, um mich davon abzuhalten, zum Wagen zurückzurennen. Ich warf einen Blick über die Schulter. Ma blickte zu mir herüber, hielt immer noch an derselben Stelle, während die Wagen hinter ihr ein Hupkonzert veranstalteten.
Sie hat recht, dachte ich, ich spinne doch. Natürlich würde Monday kommen. Sie hatte noch keinen einzigen Tag gefehlt.
Dennoch schluckte ich schwer, als ich auf meine Jahrgangsstufe zuging. Alle sahen älter und bedrohlicher aus; die Jungs waren gewachsen und die Mädchen hatten Kurven bekommen. Ich fragte mich, ob ich mich auch verändert hatte. Vielleicht hatte Monday sich so sehr verändert, dass ich sie nicht erkannte. Shayla Green stand an der Spitze der Schlange. Ein böses Grinsen breitete sich auf ihrem hübschen, braunen Gesicht aus. Sie flüsterte etwas in Ashley Hiltons Ohr, in dem ein neuer, kleiner Goldohrring steckte. Sie starrten mich kichernd an und ich fuhr herum, wollte zurück zum Wagen laufen, aber dann fuhr Ma davon und meine vorgebliche Tapferkeit verpuffte.
»O Mann, die Lesbenschlampe ist auch wieder da«, gackerte Trevor Abernathy. Sein weißes Hemd mit dem geknöpften Kragen ließ seine tiefschwarze Haut geradezu leuchten. Die anderen kicherten hämisch; Monster in Schuluniformen. Ich hielt den Kopf gesenkt und stellte mich am Ende der Schlange auf. Trevor hüpfte herum und zog an Shaylas Pferdeschwanz.
»Junge, leg dich nicht mit mir an«, keifte Shayla.
Er tänzelte umher, wich ihren schlagenden Armen aus, während die anderen ihn weiter anfeuerten.
So unreif, dachte ich. Sieh sie dir an, ein Haufen Dummköpfe. Denken die wirklich, dass sie auf einer guten High School angenommen werden, wenn sie sich so verhalten? Zumindest weiß ich, dass sie mir ganz sicher nicht weiter folgen werden. Noch ein Jahr, dann gibt es nur noch Monday und mich. Aber bis dahin sollte Monday sich endlich beeilen und herkommen, bevor die Wölfe mich einkreisen konnten.
Die Sekunden vergingen, der ganze Hof summte, weil alle die Frisuren, Haarschnitte, neuen Turnschuhe, den Schmuck und die Schultaschen der anderen abcheckten. Accessoires waren die einzige Möglichkeit, sich vom Rest der Meute abzusetzen. Ich klappte meinen Taschenspiegel auf, glättete die Haarspitzen und trug eine weitere Schicht farblosen Lipgloss mit Kirschgeschmack auf. Ich meine, ich sah echt süß aus, aber es war schwer, mich darüber zu freuen, wenn die einzige Person, von der ich wirklich gesehen werden wollte, nicht da war.
Normalerweise trug Monday ihre Haare zu Zöpfchen geflochten, aber wir hatten beschlossen, dass wir für die erste Schulwoche neue Frisuren ausprobieren würden, um erwachsener auszusehen. Ihr wisst schon, um für die High School zu üben. Aber da wir uns nicht mehr regelmäßig geschrieben hatten, sorgte ich mich nun, dass sie unseren Plan vergessen hatte. Ich starrte auf das Tor und sah immer wieder auf die Uhr.
Die Glocke schrillte und die Schülerreihen begannen, sich eine nach der anderen in Richtung der Klassenzimmer zu bewegen, zuerst die Vorschüler, dann die Erstklässler. Mondays Bruder August hätte bei den Fünftklässlern sein sollen, aber er war nirgends zu sehen. Und ihre Schwester Tuesday, sollte die nicht dieses Jahr in die Vorschule gehen?
»Wo sind sie denn?«, murmelte ich vor mich hin.
Meine knochigen Knie stießen gegeneinander, als unsere Reihe aufgerufen wurde und wir langsam reingingen. Ich blickte weiterhin zum Tor und hoffte immer noch, dass sie jeden Moment angerannt kommen würde, atemlos und in Panik, mit glänzendem Haar vom Kokosöl, das sie so gern mochte. Wir würden uns erleichtert umarmen und sie wäre wieder an meiner Seite, die Welt wieder in Ordnung. Aber dann geriet das Tor außer Sicht und ich sah nur noch die beigefarbenen Ziegelwände unserer Schule. Die schweren, kackbraunen Türen krachten hinter mir ins Schloss wie ein Punkt am Ende eines Satzes, am Ende meines Traums.
»Hallo, Klasse acht. Mein Name ist Miss O’Donnell und ich bin dieses Schuljahr eure Klassenlehrerin«, erklärte sie, während sie ihren Namen an die Tafel schrieb. »Erste Regel: Eure Anwesenheit wird nur dann notiert, wenn ihr vor dem zweiten Klingeln auf euren Plätzen sitzt.«
Miss O’Donnell, deren Namen ich im Laufe des Schuljahres hassen lernen würde, unterrichtete Englisch in der achten Klasse. Sie hatte kurzes, lockiges Blondhaar, das langsam grau wurde, und ein weißes Gesicht mit tiefen Falten hinter einer riesigen Brille. Sie trug eine Hose mit hoch sitzendem Bund, ein kanariengelbes T-Shirt und hässliche braune Slipper. Wir hatten sie letztes Jahr am Schnuppertag für das kommende Schuljahr kennengelernt und eines der älteren Kinder hatte erzählt, dass sie die gemeinste Lehrerin der Schule sei – vielleicht sogar des gesamten Planeten.
»Und nun, wenn ich eure Namen aufrufe, hebt die Hand. Trevor Abernathy?«
Trevor hörte gerade noch rechtzeitig auf, höhnisch mit seinen Kumpels zu kichern. »Hier.«
»Arlene Brown?«
»Hier.«
Als sie ihre Liste durchging, bemerkte ich, wie voll das Klassenzimmer war. Jeder Platz war besetzt; es gab keinen einzigen freien Tisch für Monday. Wo sollte sie sitzen, wenn sie dazukäme?
»Claudia Coleman?«
»Hier«, meldete ich mich mit erhobener Hand. Ich wackelte mit den Fingern, um das Licht auf meinem neuen Nagellack spielen zu lassen. Fliederfarben mit pinkfarbenen Metallicstreifen. Das Pink hatte ich für Monday ausgesucht.
»Carl Daniels?«
»Hier.«
Moment mal, sie hatte Monday Charles gar nicht aufgerufen? Mondays Name kam immer vor meinem dran. Hatte sie die falsche Liste? Hatten sie Monday in eine andere Klasse gesteckt? Könnte sein, aber dann hätte Monday mir das doch erzählt. Oder etwa nicht?
»Hey, meine Süße. Wie war dein erster Tag?«, fragte Ma sofort, als sie mit ein paar Tüten Lebensmitteln von ihrer Schicht nach Hause kam.
»Monday war nicht da!«
Nach der Schule rief ich fünfmal Mondays Nummer an und die Roboterstimme informierte mich erneut, dass niemand zu erreichen sei. An diesem Tag hätten wir unsere Stundenpläne und die Lage unserer Spinde vergleichen sollen, aber stattdessen hatte ich den Nachmittag damit verbracht, Wiederholungen von Dance Machine anzuschauen, Seiten in meinen neuen Malbüchern auszumalen und zu versuchen, mich auf einem Bett aus spitzen Nadeln zu entspannen.
»Wirklich?« Ma zog die Stirn in Falten. »Na ja, vielleicht ist sie ja morgen wieder da. Hab einfach Geduld!«
Ich versuchte, Geduld zu haben. Wenn ich nämlich zu viele Fragen stellte, würde ich womöglich darauf aufmerksam machen, dass ich keine Freunde hatte, und dann würden sie mich zum Abschuss freigeben und mich pausenlos fertigmachen. Aber Monday tauchte auch am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag nicht auf. Am Freitag hatte ich Magenschmerzen von all den Sorgen und Ängsten, die mich seit Tagen verfolgten, also nahm ich meinen Mut zusammen und fragte einen der Jungen, der in ihrer Wohnanlage lebte, ob er sie gesehen hatte.
»Nee«, antwortete Darrell Singleton, der vor seinem Spind stand und die Reste des Schulmittagessens in seine Tasche packte. »Hab sie den ganzen Sommer über nicht gesehen.« Darrell war der größte und breiteste Junge der gesamten Schule und überragte alle anderen, sein Gesicht fettig und fleischig, voller Hügel und Täler und Schlaglöcher. Die Uniform passte ihm kaum und sein Spind roch immer nach dem halb verdorbenen Essen, das er dort sinnlos bunkerte.
»Den ganzen Sommer nicht? Bist du sicher?«
»Ja. Wieso habt ihr nicht zusammen rumgehangen?«
Darrell war schon seit der vierten Klasse in Monday verschossen, aber sie beachtete ihn überhaupt nicht. Ich war sicher gewesen, dass wenigstens er nach ihr Ausschau gehalten hatte. Ich presste das Mathebuch gegen meine Brust.
»Ich war den ganzen Sommer lang weg.«
»Oh«, murmelte er und wand sich noch mehr als sonst. »Na ja, ihre Mom habe ich vor ein paar Tagen gesehen. Sie hat bei uns nebenan vorbeigeschaut …« Seine Stimme verlor sich, der Blick wich mir hastig aus. Jeder wusste, dass das Haus neben Darrells der sogenannte Boxenstopp war. Monday hatte es so genannt. Leute von überallher, von New York bis runter nach Florida, schauten dort vorbei und ließen Päckchen da oder holten welche ab. Von jeder Droge, die man sich vorstellen kann, gab es beim Boxenstopp 21 verschiedene Geschmacksrichtungen.
»Was ist mit ihrem Bruder oder den Schwestern?«
Er kratzte sich am Kopf, musste überlegen. »Ich weiß nicht. Vielleicht.«
Obwohl ich nicht ohne einen Erwachsenen rüber zu Monday nach Hause durfte, fuhr ich auf meinem lilafarbenen Rad den Gehweg entlang. Ich traute mich nicht, auf der verstopften Straße zu fahren. Ma machte eine Doppelschicht und Daddy würde erst später von der letzten Lieferung zurückkommen, also konnte ich das kleine Zeitfenster nutzen, um kurz zu verschwinden. Eine ganze Woche ohne ein Lebenszeichen von Monday? Irgendetwas stimmte nicht und ich musste herausfinden, was los war, mit oder ohne Hilfe meiner Eltern.
Vielleicht hatte Monday wieder die Grippe? Die hatte sie schon mal und damals hatte sie einen Monat lang in der Schule gefehlt. Aber warum hatte sie keinen meiner Briefe beantwortet? Und wenn sie krank war, wieso war dann auch ihr Bruder nicht zur Schule gekommen? War es möglich, dass sie alle krank waren? Und was war mit ihrem Telefon los?
Monday wohnte in der Ed-Borough-Wohnanlage, einem der größten Sozialwohnungsviertel der Stadt. Es war wie ein Dorf aus identischen cremefarbenen Reihenhäusern, aufgereiht wie Monopoly-Häuschen, die sich im Schatten riesiger Bäume am Fluss entlangzogen, von Schnellstraßen gesäumt und abgeteilt, etwa 15 Minuten von meinem Zuhause entfernt. Wie Ma und Daddy sagten, Ed Borough war das Getto! Ich meine, nirgendwo im Südosten der Stadt ist das Leben ein Zuckerschlecken, aber in Ed Borough … möchte man sich nicht abends im Dunklen allein wiederfinden.
In all der Zeit, die ich Monday nun schon kannte, war ich noch nie bei ihr zu Hause gewesen, nicht ein einziges Mal. Ma hätte das nicht erlaubt und auch Monday wollte es nicht, aber die Gründe dafür sollte ich erst viel später verstehen. Wann immer wir Monday zu Hause absetzten, wartete Ma fahrig, bis sie ins Haus gegangen war, blickte sich dabei wiederholt über die Schulter um und betätigte die Türverriegelung gleich dreimal hintereinander.
Also strampelte ich mich mit den Pedalen ab, raste am Schild für den Ed-Borough-Apartmentkomplex vorbei, fuhr zwei Blocks die Straße hinauf, dann am berühmten Basketballfeld vorbei, auf dem das Turnier der Summer League ausgetragen wurde, und stoppte am Weg, der zu Mondays Haus führte. Ich lehnte mein Fahrrad gegen den hohen Baum, der dem Haus Schatten spendete, und marschierte über den rissigen Beton des Gehwegs. Die schmuddelig braune Tür des Hauses mit der Nummer 804 besaß keine Klingel. Mit hämmerndem Puls klopfte ich zweimal. Ich war noch nie so nah an ihrem Haus gewesen.
Ein Fernseher plärrte von drinnen. Jemand schaute Die Simpsons in einer solchen Lautstärke, dass man es wahrscheinlich bis ins Weiße Haus hören konnte. Ich klopfte noch einmal und fummelte an meinem gesplitterten Nagellack herum, während ein Gedanke durch meinen Kopf schwirrte: Monday hasste Die Simpsons.
»Wer ist da?«, bellte eine Frau, deren Stimme wie Einschläge durch die Tür drang.
»Hi, Mrs. Charles? Ich bin’s, Claudia.«
Eine Pause entstand, ich hörte Schlurfen und Brummen, bevor die Schlösser mit einem Klacken geöffnet wurden und die Tür einen Spalt weit aufging. Ein gelbliches Auge spähte heraus.
»Wer?«
»Äh … C-Claudia«, stammelte ich.
Sie starrte mich an, als würde sie mich nicht erkennen, als hätte sie mich nicht fast mein ganzes Leben lang gekannt. Meine Haut fühlte sich mit einem Mal kalt an, während meine Hände schwitzten. Mrs. Charles öffnete die Tür zur Hälfte und stellte sich so in den Türrahmen, dass ich nicht in die Wohnung hineinschauen konnte. Sie war eine große Frau, jede ihrer Brüste so groß wie mein Kopf. In einem Männerunterhemd, einem schwarzen Sport-BH und roten Basketballshorts stand sie vor mir, die Haare eingewickelt und mit Haarklammern fixiert. Es war mir bisher nie aufgefallen, aber sie hatte denselben Teint wie Monday, ein Braunton wie der von Papiertüten.
»Claudia?« Sie verzog das Gesicht, als würde ich stinken. »Was machst du denn hier?«
Ich konnte nicht klar denken, so laut dröhnte der Fernseher im Hintergrund. Was mache ich denn hier?
»Äh … Ist Monday zu Hause?«
Sie blinzelte zweimal und verlagerte das Gewicht, die Hände in die Hüften gestemmt. »Sie is nich hier.«
»Oh, äh. Kommt sie denn am Montag wieder zur Schule?«
Ihre rußig schwarzen Lippen verzogen sich, als sie mich anfauchte: »Wieso stellst ’n so viele Fragen? Ich sagte doch schon, sie is nich hier. Jetzt verschwinde schon! Du weißt doch, dass deine Mutter dich hier nich sehn will, die hält euch für was Besseres.«
Das gesamte Viertel konnte sie schreien hören, aber die konnten den Alkohol in ihrem Atem nicht riechen so wie ich. Die Härchen überall an meinem Körper stellten sich auf und alles drängte mich in Richtung meines Fahrrads. So hatte sie noch nie mit mir gesprochen. Vielleicht hatte ich eine Grenze überschritten, indem ich hier einfach so vorbeischneite, um nach Monday zu sehen, ihr Fragen stellte und aufmüpfig gegenüber Erwachsenen war, wie Ma das nennen würde. Aber ich konnte nicht einfach wieder gehen. Nicht wenn meine andere Hälfte verschwunden war.
»Aber … wo ist Monday denn? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«
Sie machte einen zornigen Schritt auf mich zu. Ich stolperte rückwärts, knickte wegen einem Riss im Beton um und landete auf dem harten Untergrund, wobei ich mir die Oberschenkel an irgendwelchen herumliegenden Kieseln aufschürfte und nicht einmal die Chance hatte aufzuschreien.
»Ich hab’ dir gesagt, sie is nich hier. Jetzt geh schon nach Hause!«
Meine Kehle war wie zugeschnürt, als sie über mir aufragte, sich dann so weit hinabbeugte, dass wir mit der Stirn hätten zusammenschlagen können. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten, während ihr Bein ausholte, als wollte sie mir in die Seite treten. In meinem Kopf schrillte eine Alarmsirene, aber ich spürte weder meine Füße noch konnte ich mich bewegen. Erstarrt saß ich auf dem Boden und machte mich auf den Schmerz gefasst. Aber dann fing sie sich und starrte an mir vorbei. Im Haus nebenan wurde ein Vorhang zurückgezogen.
Sie rümpfte mit einem harschen Einatmen die Nase und sah mich wütend an, so als überlegte sie noch, was sie tun würde.
»Beweg’ endlich deinen Hintern und verschwinde«, murmelte sie und schlug dann die Tür zu.
Meine Ellbogen gaben nach und ich kippte nach hinten, lag hustend auf dem Rücken, während der Fernseher sich anhörte, als stünde er direkt neben mir. Ich lag zitternd auf dem Boden, starrte zu den vorbeiziehenden Wolken hinauf und fragte mich, wie Monday es aushielt, mit so einem Monster zusammenzuleben.
Am Samstag kam Daddy von einer ›kurzen Runde‹, wie er es nannte, nach Hause. Runter nach Texas und wieder zurück. Er war Lkw-Fahrer für eine Autofabrik und brachte glänzende Neuwagen zu den Autohäusern im gesamten Land. Je nachdem, wie seine Lieferpläne aussahen, konnte er mehrere Wochen am Stück fort sein.
»Hey, meine Süße!«, rief er und hob mich augenblicklich hoch, als er zur Tür hereinkam, pustete mir geräuschvoll gegen die Wange.
»Daddy! Lass das! Ich bin doch kein Baby mehr«, protestierte ich und versuchte dabei, ernst zu klingen, kicherte aber dennoch.
Er lachte. »Du wirst doch für immer mein kleines Mädchen bleiben! Hattest du heute Tanzunterricht?«
»Tanzen fängt erst nächste Woche an.«
»Na, dann sag’ mir Bescheid, welche Größe mein Gymnastikanzug haben soll, damit ich mitmachen kann.«
»Hör auf damit, Daddy!«
»Ich meine es ernst. In XL passe ich mindestens. Ich muss einfach bloß die Chicken Wings weglassen.«
»Daddy!« Ich lachte, während wir zusammen in die Küche gingen.
»Nun, ich hoffe, du bist zumindest auch mal aus dem Haus gekommen. Hast eine Runde mit dem Rad gedreht oder so was.«
Ich zwang mich zu einem gequälten Lächeln, während ich an den langen Rückweg von Monday zurück nach Hause dachte.
Ma stand am Herd und briet einen Wels in der Pfanne. Ofenwarmes Maisbrot und Limabohnen standen bereits auf dem Tisch. Daddy küsste ihren Nacken und sie wand sich grinsend, scheuchte ihn mit einem Geschirrtuch davon. Die beiden schwer verliebten Teenager könnten dafür sorgen, dass ein Raum voller Menschen würgen muss.
Ma und Daddy haben sich an einer Raststätte am Stadtrand von Atlanta kennengelernt, in der Ma als Frühstücksköchin mit Pfannkuchen jonglierte. Daddy sagt, es war Liebe auf den ersten Blick. Er meldete sich freiwillig für die weite Strecke in den Süden, um sie wiederzusehen. Nach sechs Monaten bat er sie um ihre Hand und brachte sie mit nach D. C., seiner Heimat. Er war damals 29, Ma war gerade 19 geworden.
Daddy ist ein breit gebauter, kräftiger Mann mit einer spiegelblanken Glatze und Armen so breit wie Baumstämme. Auf dem College hat er Football gespielt, war Defense, bis er sich im dritten Jahr eine Rückenverletzung zuzog. Ohne Stipendium war er gezwungen, das Studium sausen zu lassen. Aber Ma sagt, College ist eben nicht für jeden das Richtige. Ein Abschluss bedeutet nicht, dass jemand klug ist, und Daddy ist der klügste Mann, den ich kenne. Er sparte jeden Cent, den er als Lkw-Fahrer verdiente, bevor er Ma kennenlernte. Das reichte, um unser erstes Zuhause zu kaufen.
Ma zog den Auflauf aus Makkaroni mit Käsesoße aus dem Ofen und wir setzten uns alle zum Essen an den Tisch. Das war unser Samstagabendritual.
»Also«, nuschelte Daddy mit vollem Mund. »Wie war deine erste Schulwoche?«
»Monday war nicht da.«
»Wirklich? Wo ist sie denn?«
Ich zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht.«
»Hast du versucht, sie anzurufen?«
»Ihr Telefon geht nicht.«
»Ihr Telefon funktioniert nicht«, korrigierte Ma, während sie Daddy die scharfe Soße reichte. »Du sollst dich doch ordentlich ausdrücken, Schätzchen. Ich möchte nicht, dass du irgendwohin kommst und die Leute denken, wir haben dir zu Hause gar nichts beigebracht.«
Daddy warf ihr ein nachsichtiges Lächeln zu. »Hör auf deine Mutter, Süße. Ganz egal, wie verrückt sie klingt.«
Ma bedachte ihn mit einem strengen Blick, wurde aber gleichzeitig rot wegen seines Lächelns.
Ich rutschte sacht auf meinem Stuhl zurecht, denn mein Hintern tat immer noch weh von dem Sturz vor Mondays Tür. Ich hatte Ma nicht erzählt, was passiert war. Ihr wäre es egal, wie irre Mrs. Charles sich verhielt, denn sie würde sich weit mehr darüber aufregen, dass ich überhaupt hingefahren war. Aber ich wurde den Gedanken an den Blick nicht los, mit dem Mrs. Charles mich angestarrt hatte, oder die Schärfe in ihrer heiseren Stimme. Mondays Mom war sicher nicht die zuckersüße Mutti von nebenan, aber sie war auch keine verbitterte Schreckschraube. Monday hatte ihr hitziges Temperament nie erwähnt. Vielleicht hatte sie auch nur schlechte Laune gehabt.
»Daddy, kannst du mich morgen zu Monday rüberfahren?« Ich dachte, wenn ich einen starken Mann zur Unterstützung dabeihätte, würde Mrs. Charles sich beim nächsten Mal normal verhalten.
Daddy seufzte. »Ach Mann, meine Süße, darf ich morgen nicht ausschlafen? Ich bin hundemüde. Und dann habe ich auch noch Probe mit den Jungs.«
Daddy spielte die Congas in einer Go-go-Band namens Shaw Boyz, in der auch mein Onkel Robby war. Go-go ist eine Musikrichtung, die hier in Washington entstanden ist. Bands wie Junk Yard, Rare Essence, E. U. und Chuck Brown, der Pate des Go-go, sorgten dafür, dass D. C. noch für etwas anderes als Politik bekannt wurde. Daddy und Onkel Robby haben die Band in der High School gegründet. Damals waren die Läden, in denen diese Bands spielten, stundenlang brechend voll. Sie sind zwar nicht superberühmt, aber für die Leute hier im Südosten spielt das keine Rolle, solange man die Stimmung richtig anheizt und über das Viertel oder den eigenen Block singt. Leute in meinem Alter hören solche Musik nicht mehr so häufig. Monday hat immer gesagt, dass ich im falschen Jahrzehnt geboren bin.
»Und morgen ist Kirche«, meldete Ma sich zu Wort. »Falls du das vergessen hast.«
Ich seufzte. »Nein, habe ich nicht vergessen.«
Ma lachte leise. »Vielleicht ist sie bloß krank. Wahrscheinlich ist sie Montag früh wieder als Erste in der Schule! So wie sie das immer macht.«
Der Gedanke entlockte mir ein Grinsen. »Stimmt. Montag!«
Montage waren Mondays Lieblingstage, und das nicht nur, weil sie nach einem benannt war. Sie liebte den Tag an sich. Sie war dann immer ganz früh an der Schule, fröhlich wie die Morgensonne, selbst im tiefsten Winter, wenn der Wind einem die Lider zufrieren lassen konnte. Sie stand vor dem Tor, in ihren dünnen Mantel und den nicht dazu passenden Schal gewickelt, und wartete darauf, dass sich die Türen öffneten.
»Wieso gehst du so gern zur Schule?«, brummte ich dann, weil ich lieber im warmen Bett geblieben wäre. »Niemand freut sich auf die Schule. Erst recht nicht an Montagen.«
Sie zuckte die Achseln. »Ich liebe die Schule.«
Ich verdrehte die Augen. »Die Schule liebt uns aber nicht.«
Sie lachte. »Montage sind die besten Tage! Bist du denn nicht aufgeregt, weil eine neue Woche beginnt? Das ist wie ein neues Kapitel in einem Buch. Und das Beste daran ist, auch wenn wir in der Schule hocken müssen, wir können wieder zusammen sein, den ganzen Tag, die ganze Woche.«
Also sprang ich am Montagmorgen erwartungsvoll aus dem Bus und wartete am Tor. Ich hatte mir heimlich ein Stück von Mas umgedrehtem Ananaskuchen in die Tasche gesteckt. Monday liebte Mas Essen. Und nachdem sie so lange krank gewesen war, war ich mir sicher, dass sie etwas Süßes gut gebrauchen konnte. Ich wartete und wartete, bis es klingelte. Monday tauchte nicht auf.
Wieder zu Hause versuchte ich erneut, sie anzurufen, und wieder behauptete die Roboterstimme, dass ich die falsche Nummer gewählt hatte. Mit einem wütenden Schrei hängte ich den Hörer ein. Es war definitiv nicht die falsche Nummer! Wir sind seit ewigen Zeiten Freundinnen. Ich kannte sie besser als mich selbst: Ihre Lieblingsfarbe war Rosa, sie liebte Krabbenbeine und Maiskolben, sie hasste es, zu spät zu kommen, und war allergisch gegen Erdnüsse. Ich wusste all das und konnte die Stimme nicht ignorieren, die in meinem Ohr brüllte.
Etwas stimmte ganz und gar nicht.
NACHHER
Ich liebe die bunten Staubpartikel, die ein neuer Buntstift nach dem ersten Strich hinterlässt, und das Geräusch, mit dem er die Buchseite küsst, wenn ich eine der Formen ausgefüllt habe. Ich liebe das erste satte Farbfeld auf einer sauberen, weißen Seite, den Beginn von etwas Neuem. Es kommt mir vor, als würde ich nur noch Bilder ausmalen, seit Daddy in einem Artikel gelesen hat, dass mir das guttut, im therapeutischen Sinne. Ich bin bloß froh, dass er aufgehört hat, diese Bücher für kleine Kinder mitzubringen, und stattdessen angefangen hat, welche mit komplexen, verschachtelten Mustern zu kaufen. Geometrische und psychedelische Formen, Mosaiken und Mandalas … Im Chaos wartet eine Ruhe, die den Blicken der meisten Menschen entgeht.
Ich lasse mir Zeit mit der Auswahl der richtigen Farbnuance. Der Unterschied zwischen Lavendelblau und Kobaltblau ist ein deutlicher. Es muss richtig sein, sonst wäre das ganze Bild ruiniert.
Ohne Monday fühlte ich mich auch ruiniert.
»Hast du denn keine Hausaufgaben zu machen?«, fragte Ma, die eine Ladung frisch gewaschener Wäsche in den Armen hielt.
»Es ist Samstag«, erwiderte ich mit einem Grinsen vom Sofa aus, wo ich mich ausgebreitet hatte und mit dem Malbuch auf dem Schoß laut Musik hörte. Ich würde ja fernsehen, aber Daddy hatte das Gerät immer noch nicht repariert. Es stand auf zwei alten Lautsprecherboxen, schon wer weiß wie lange unberührt.
»Das bedeutet doch nicht, dass du nicht jetzt deine Aufgaben machen und sie abhaken kannst, damit du sie nicht wieder morgen nach der Kirche in aller Eile erledigen musst.«
»Ma, es ist diesmal nur …« Das Telefon klingelte und ich sprang hastig vom Sofa auf. »Ich geh’ ran!«
Ma ging schnell aus dem Weg, als ich mich auf das kabellose Telefon stürzte. »Hallo! Hallo?«
»Hallo? Claudia. Hi, hier ist Schwester Burke von der Kirche. Wie geht es dir? Ist deine Mutter auch da?«
Mein Herz schrumpfte schneller in sich zusammen als ein Ballon, in den man eine Nadel gesteckt hat. »Hi, Miss Burke. Einen Moment, sie ist sofort dran.«
Mein Arm wurde schlaff, als ich Ma das Telefon reichte und sie mir ein mitfühlendes Lächeln schenkte.
»Hast du mit jemand anderem gerechnet, meine Süße?«
Ich zuckte zusammen, schüttelte meinen Kopf und stapfte zum Sofa zurück.
»Hey, Schwester Burke«, sagte Ma und balancierte derweil den Wäschekorb auf einer Hüfte. »Oh, ihr geht es gut. Wirklich gut. Sie liegt faul auf dem Sofa herum, aber schließen Sie sie weiterhin in Ihre Gebete ein, ja? Wie geht es Ihnen? Und Mikey? Fein, fein. Dann rufen Sie sicher wegen der Bestellung an, richtig? Ja, ich habe die Pasteten morgen sicher für Sie fertig.«
Ma hatte vor ein paar Sommern angefangen, nebenher als Caterer zu arbeiten, und das Geschäft wuchs zunehmend. Die Leute liebten ihren Kartoffelsalat, ihre Hühnerpastete und vor allem ihre Barbecue-Rippchen.
»Verdammt«, brummelte ich vor mich hin. Ich hatte mir den kleinen Fingernagel abgebrochen, als ich aufgesprungen war, um zum Telefon zu rennen. Jetzt rannte ich nach oben, um den Nagellackentferner aus meiner Nagelpflegebox zu holen. Meine Box war erste Klasse. Fragt mich nach einer Farbe und ich bin sicher, ich habe sie! Raspberry Mocha,Thin Mint,Stone Gray … Ich bin supergut im Lackieren von Nägeln, ich könnte meinen eigenen Laden aufmachen. Das habe ich mal zu Ma gesagt und am nächsten Tag kam sie mit einem Haufen Broschüren verschiedener Colleges nach Hause.
Die momentane Farbe hieß Devil’s Plum und war ein tiefes, mattes Purpur, das ich mit winzigen lavendelfarbenen Strasssteinchen verziert hatte – dieselbe Farbe wie das Tagebuch, das Monday mir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Es stand immer noch im Bücherregal neben dem Fernseher, unberührt. So ein seltsames Geschenk. Ich meine, Monday wusste, wie sehr ich Englisch hasse. Außerhalb der Schule etwas schreiben zu müssen war wie Folter für mich. Aber es gab so vieles, was ich ihr erzählen wollte. So vieles, was sie wissen sollte, also klappte ich das Tagebuch jetzt auf, ohne darüber nachzudenken. Ich hielt den Füller mit schwitzigen Fingern und versuchte, ein paar Worte aufzuschreiben, damit ich wenigstens nichts vergaß.
Liebe Monday,
wo bist du? Ich war mit Granma ein neuen BH kaufen. Ham wir jetzt diselbe Größe?
EIN JAHR VOR DEM VORHER
»O mein Gott, ich fasse es nicht, wie kalt es auf einmal geworden ist. Einfach über Nacht. Und schau nur, wie dunkel es jetzt schon ist. Wie heißt das noch mal, was da gemacht wird – Zeitumstellung? Wann ist das noch mal?«
Monday wickelte sich den roten Schal um den Hals und zitterte in ihrer Jeansjacke. Eigentlich war es meine Jacke, die ich ihr vor Monaten geliehen hatte. Sie besaß keine und meine stand ihr sowieso besser als mir. Der Wind wehte uns um die ungeschützten Oberschenkel, als wir von der Schule nach Hause liefen und die Autos an uns vorbeifuhren. Es war an der Zeit, die dicken Strumpfhosen für den Winter hervorzuholen.
»Ey, hörst du mir überhaupt zu? Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe? Der Pastor will, dass ich – ja, ich – diesen Sonntag aus der Bibel vorlese. Vor all diesen Leuten! Das bringe ich nicht! Ich verhaspele mich und dann …«
Mondays Blick wurde weicher, während sie sich zwischen den hübschen Fischgrätenzöpfen auf ihrem Kopf kratzte, die mit einem roten Haarband an ihrem Platz gehalten wurden. Monday konnte beinahe jedem die Haare flechten und dafür sorgen, dass es cool aussah. Wenn sie am Wochenende bei mir übernachtete, flocht sie mein Haar auf dieselbe Art wie ihres, sodass wir in der Schule wie Zwillinge aussahen.
»Dann stell dich doch einfach krank«, schlug sie mit einem Achselzucken vor und lutschte an ihrem Lolli mit Kirschgeschmack, während ich meinen mit grünem Apfel erst auspackte.
»Das kann ich nicht machen. Ich bin ja auch in dem Tanzensemble der Kirche und wir haben eine Aufführung. Wir üben seit Wochen dafür. Ma hat mein Kostüm schon gesäumt und all das.«
Monday verzog die klebrig roten Lippen zu einem spöttischen Grinsen. »Verdammt, die Kirche lässt dich ja echt ackern für Jesus. Bezahlen die dich dafür oder wieso machst du das alles? Vielleicht sollte ich ja auch eintreten.«
»Halt die Klappe«, schimpfte ich mit einem Lachen und schubste sie zum Spaß.
»Ich kann auch Tanzministrantin sein. Schau her!«
Sie hüpfte vor mir her, übertrieb jeden ihrer Schritte mit ihren langen Gliedern und schwingenden Hüften. Im Laufe des Sommers vor der siebten Klasse fing Monday irgendwie an, ohne mich zu wachsen und einen Körper zu bekommen. Ihre Brüste drückten gegen das geknöpfte Uniformhemd und unter dem karierten Rock hatte sich ein kleiner Hintern gewölbt. Zweimal in dieser Woche hatte die Fluraufsicht schon die Länge ihres Rocks überprüft. Dabei musste sie sich mit nach unten hängenden Armen hinstellen und die Fingerspitzen durften nicht tiefer als der Rocksaum liegen. Neben ihr war ich ein Stock.
Sie wirbelte herum und setzte ein gleichmütiges Gesicht auf, hob die Arme schrittweise gen Himmel und beugte sich dann runter wie zum Gebet.
Ich lachte. »Du hörst besser mit dem Blödsinn auf, bevor Jesus einen Blitz auf dich runterschickt!«
Monday sprang mit einem Grinsen auf. »Ey, das war doch irgendwie krass. Das sollten wir zur Choreografie hinzufügen, wenn wir zu Hause sind.«
»Alles klar«, erwiderte ich, während ein tiefergelegter Cadillac im Schneckentempo an uns vorbeischlich.
»Hey, Claudia, was ist das für eine Farbe?«, fragte Monday mich mit leisem Lachen.
»Hmm … Ich würde sagen, es ist eine Mischung aus Rostrot und Aprikose mit einem gelben Unterton.«
Sie lachte auf. »Du bist so schräg. Oh, warte! Lass uns beim Chinesen vorbeigehen. Ich bin am Verhungern.«
Monday schleppte mich mit zum Good Hope Carryout, dem chinesischen Fast-Food-Laden, der nur wenige Blocks von zu Hause entfernt war. Hier aßen wir freitags nach der Schule am liebsten eine Kleinigkeit.
»Also denkst du wirklich, ich sollte so tun, als wäre ich … krank?«, vergewisserte ich mich, während wir anstanden.
»Du kannst nicht einfach nur so tun, als wärst du krank. Du wirst austreten müssen. Nur so kannst du vermeiden, dass sie dich wieder fragen.«
»Austreten? Aus der Kirche? Bist du irre?! Ma würde mich umbringen!«
»Na, aber was hast du denn für eine Wahl? Willst du etwa aufstehen und vor all den Leuten vorlesen? All diese Wörter laut vorlesen?«
Ich schluckte und hielt die Trageriemen meiner Schultasche mit schwitzigen Händen fest. Monday hatte recht. Sie würden mich wieder bitten und ich durfte nicht riskieren, vor der gesamten Gemeinde bloßgestellt zu werden.
»Aber wie soll ich denn austreten?«, murmelte ich in Richtung Boden.
Sie zuckte die Achseln. »Sag deiner Mom, dass du nicht mehr hingehen willst. Sag, dass du die Kirche altmodisch findest.«
Monday hatte das Lügen drauf; sie tat es mit sachlicher Präzision und ihr Selbsterhaltungstrieb half ihr dabei. Ich bekam das nie so hin wie sie, nicht einmal wenn es darum ging, meinen eigenen Hintern zu retten.
»Verflixt, Ma wird so sauer sein.« Ich hasste den Gedanken, sie zu enttäuschen.
Monday knurrte und starrte ins Leere. »Sie wird doch nie richtig sauer.«
Als wir vor der Theke standen, ging Monday vorneweg, um für uns beide zu bestellen. Sie war die Stimme und machte stets als Erste den Mund auf, während ich mich im Hintergrund hielt. Ich meine, ich bin nicht wirklich schüchtern oder so was, aber Monday konnte einfach besser mit Fremden reden. Die Leute wurden regelrecht von ihr angezogen und ich hasste den Gedanken, sie mit irgendjemandem teilen zu müssen.
»Ich nehme zweimal Hühnchen mit Mambo-Soße und extra Salz auf den Pommes.«
»So viel Salz ist gar nicht gut für dich, weißt du das?«, mahnte ich.
Sie verdrehte die Augen. »Ja, Granny, das weiß ich. Oh, Mist, ich habe mein Portemonnaie zu Hause vergessen. Hast du Geld dabei?«
Ich sah sie einen Moment lang bloß an, bevor ich den Zehn-Dollar-Schein hervorholte, den Daddy mir gegeben hatte.
Sie grinste. »Danke. Ich zahle beim nächsten Mal. Und wir haben sogar genug für Eistee!«
Die Tür hinter uns schwang auf und eine Gruppe Jungs polterte herein. Dichte, wollige Afros auf den Köpfen, lange schwarze T-Shirts und Kapuzenpullis, einer trug einen Basketball. Ich rückte näher an Monday heran, während sie die Typen mit ihrem Blick kurz abschätzte. Sie schien unbeeindruckt.
»Schau mich schlecht«, flüsterte sie mir zu und verwendete die Geheimsprache, die wir uns in der fünften Klasse ausgedacht hatten. Bist du okay?
»Nudeln.« Alles cool.
Sie nickte und warf einen weiteren Blick auf die Jungs.
»Wenn Zahn links nicht sicher.« Der ganz rechts ist niedlich.
»Ich richtig normal?« Bist du verrückt?
Sie lächelte spöttisch und wandte sich wieder dem Mann hinter der Panzerglasscheibe zu. »Verdammt, wieso dauert das denn so lange? Wir haben auch nicht den ganzen Tag Zeit, wissen Sie?«
Einer der Jungs starrte von hinten auf ihre fast nackten Beine, murmelte den anderen etwas zu und lachte dann leise. Ich trat noch näher an sie heran und war selbst verwirrt von der Eifersucht, die in meiner Brust hochkochte.
»Seid ihr Zwillinge oder so was?«, fragte einer der Jungen und die anderen lachten.
Wir liebten solche Fragen, weil wir ja wirklich die ganze Zeit herumliefen, als wären wir Zwillinge. Aber diesen simplen Köder wollten wir nicht schlucken. Monday blickte sie aus schmalen Augen an, als der Mann hinter der Scheibe ihr unser Essen reichte. Sie packte meine Hand und wollte in Richtung Tür marschieren, als einer der Jungs sich uns in den Weg stellte. Sie rannte geradewegs in ihn hinein, mit der Brust voran, und prallte zurück.
Er schenkte ihr ein höhnisches Grinsen und musterte sie von oben bis unten. »Meine Schuld, Kurze. Entschuldige!«
Wie ein Reh im Scheinwerferkegel starrte sie ihn verunsichert an und wich mit einem erschrockenen Einatmen zurück, stieß dabei gegen mich. Sein breit gebauter Körper versperrte den Ausgang, während der Rest seiner Kumpels sich langsam von ihren Plätzen erhob und uns umringte. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, in die Ecke gedrängt worden zu sein, ging mir unter die Haut und ich hakte mich rasch bei ihr ein. Mit ein, zwei schnellen Schritten wich ich ihm nach links aus und rauschte forsch zur Tür hinaus.
Wir gingen zwei Blocks schweigend nebeneinanderher, bevor sie ausatmete. »Er sah trotzdem süß aus.«
»Echt jetzt? Der Kerl war bestimmt schon 17! Die sind auf der High School! Die sollen uns mal schön in Ruhe lassen.«
Sie zuckte mit einem spöttischen Grinsen die Achseln. »Na und? Er war trotzdem süß. Ist ja nicht so, als wären wir noch im Kindergarten!«
In jenem Jahr verwandelten sich die Gespräche über Jungs von rein hypothetischen Tagträumen, in denen Rapper und Filmstars die Hauptrolle spielten, in die realen Möglichkeiten, die Nachbarn und Klassenkameraden boten.
»Dir hat doch auch einer von denen gefallen, oder etwa nicht?«, zog sie mich auf.
Ich machte ein abfälliges Geräusch. »Lass doch mal diese Assis. Die haben gestunken wie das Bratfett ihrer Mommys. Und sahen nicht aus, als hätten sie in den letzten Tagen mal ordentlich geduscht.«
Monday lachte. »Ja, klar, ey.«
Wir hüpften durch die Automatiktür in die Anacostia-Bücherei, wo Miss Paul hinter dem Infoschalter saß.
»Hi, Miss Paul«, grüßten wir einstimmig.
»Hallo, ihr beiden. Einen schönen Freitag wünsche ich!«
»Wir wollten nur melden, dass wir da sind«, erklärte ich.
»Wie meine Bücher«, gab Miss Paul mit einem Kichern zurück. »In Ordnung, ich sag deiner Mutter Bescheid, dass ihr reingeschaut habt.«
»Danke, Miss Paul!«
Ich ging jeden Tag nach der Schule in die Bücherei, wo Miss Paul ein Auge auf mich hatte, bis Ma nach Hause kam. Ma steckte ihr jede Woche ein paar Dollar zu und sonntags nach der Kirche gab sie ihr Essen gratis. Es war irgendwie cool. Ich verbrachte Stunden im Medienzentrum und schaute mir Filme an oder blätterte Zeitschriften durch. Mindestens dreimal pro Woche blieb Monday mit mir da und wir benutzten die Computer, um auf YouTube Musikvideos anzuschauen. Ma erlaubte uns auch, bei mir zu Hause abzuhängen, aber nur, wenn wir vorher hier vorbeischauten. Brotkrumen.
Wir nahmen unser Essen vom Chinesen mit zu mir und spülten das in Soße getränkte, gebratene Hühnchen mit dem extrem süßen Eistee runter. Monday hatte den Magen eines erwachsenen Mannes – an manchen Tagen konnte sie so viel verdrücken, das hätte auch für drei Leute gereicht. Während ich den Müll wegräumte, weil Ma es nicht mochte, wenn wir in meinem Zimmer aßen, schnappte sich Monday zwei meiner Barbiepuppen vom Regal.
»Glaubst du, diese Jungs hätten versucht, mit uns was anzufangen? Ich meine, im Ernst?« Sie ließ sich auf mein Bett fallen und Ken und Barbie vor sich herumtanzen.
»Ja. Schien mir schon so.«
Monday grinste. Ihr Gesicht hellte sich auf, während sie mit den Beinen strampelte.
»Hey, Kleines!«, rief sie mit tiefer Stimme, um Ken sprechen zu lassen. »Wie heißt’n du?« Dann wechselte sie in eine Barbie-Stimme. »Mein Name ist Claudia. Hm, Claudia? Schöner Name! Wie alt bist du? Ha, ich bin alt genug. Na gut, dann komm her und gib’s mir!«
Sie stieß die beiden Puppen gegeneinander und machte Kuss- und Stöhngeräusche.
»Hör schon auf!« Ich kicherte und schlug die Barbies weg. »Und mach meine Barbie nicht so an.«
»Ja, Granny«, erwiderte sie mit einem Lachen. »Also los. Zeit für die Probe!« Sie sprang wieder auf, um meinen iPod einzuschalten, der mit einem Lautsprecher verbunden war.
Ich stellte mich neben ihr in Position. »Bereit.«
»Okay, als Erstes, wenn die Musik startet, machen wir das hier!« Monday sprang aus einer geduckten Haltung hoch und warf die Hände in die Luft. »Dann drehen wir uns und legen hiermit los.« Sie posierte und bewegte die Arme wie ein Fluglotse; ihre Version des Voguing. Boom. Schlag, Schlag, Schritt, Schritt. Ich erkannte die Abfolge aus einem YouTube-Video einer texanischen Tanzgruppe wieder.
Meistens verbrachten wir die Nachmittage damit, uns Choreografien zu Songs auszudenken, die wir immer wieder anhörten, bis ich den Rhythmus wie einen Pulsschlag in meinem Kopf hörte. Monday konnte wahnsinnig gut tanzen, das war beinahe unbeschreiblich. Ich meine, die musste sich Beyoncés ›Single Ladies‹ nur dreimal anschauen, dann hatte sie die gesamte Choreografie drauf. Mrs. Charles konnte sich keinen Tanzunterricht leisten. Meine Eltern konnten ihn sich ja kaum leisten, also brachte ich ihr die Drehungen und Sprünge bei, die ich lernte, und am Ende konnte sie sie besser ausführen als ich.
Ich machte es ihr nach und fügte meinen eigenen Dreh hinzu. Es machte uns Spaß, unsere Choreografie ausführlich zu besprechen, die Schritte abzuzählen und unseren verrückten Tänzen entsprechende Namen zu geben: ›Heißes Fett und Mehl‹, ›Arschzwicker‹ oder ›Blumenbeet‹.
»Ey, jetzt mach dich mal locker! Wieso bist du so steif?« Monday lachte.
»Ich bin locker!«
Wir waren in unserer eigenen Welt, mit eigener Sprache und eigenen Gepflogenheiten. Wir lebten in einer dicken, glänzenden Blase, die keine noch so scharfe Nadel zum Platzen bringen konnte.
»Hey! Weißt du was?«, keuchte Monday atemlos, als sie die Musik leiser drehte. »Vielleicht sollten wir mal für die Cheerleader vortanzen!«
Ich hielt mitten in der Bewegung inne. »Was?«
»Ich habe gehört, wie Miss Valente mit Shayla und Ashley darüber gesprochen hat. Miss Valente war früher selbst Cheerleaderin und meinte, das hat Spaß gemacht. Das sollten wir auch machen!«
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Wann hatte sie denn ohne mich mit Miss Valente gesprochen?
»Ich dachte, wir wollten bis zur High School warten und dann versuchen, in die Tanzmannschaft zu kommen.«
»Wir können doch beides machen!«
»Aber … wozu denn?«
Sie zuckte die Achseln und sah mich nicht an. »Ich weiß nicht. Aber das wäre doch cool. Und wir tanzen sowieso besser als die.«
Wir hatten auch so schon genug Schwierigkeiten mit Shayla und Ashley und sollten es nicht noch schlimmer machen, indem wir uns auf ihr Territorium begaben. »Nee, das will ich nicht.«
»Was? Hast du Schiss oder was? Komm schon, die würden uns lieben! Dich ganz besonders, du kannst ja schon all die Sprünge und so was.«
Sie hatte nur teilweise recht: Sie würden Monday lieben, ja. So sehr, dass sie sie mir wegnehmen würden.
»Nee, es ist bloß … Na ja, wir sollten an unseren Choreos arbeiten. Unsere Zeit nicht damit verschwenden, irgendwelche dämlichen Jungs anzufeuern, die sowieso ständig verlieren. Und ich habe gehört, dass America’s Dance Challenge wahrscheinlich bald nach D. C. kommt, um Leute vortanzen zu lassen.«
Mit funkelnden Augen richtete sich Monday kerzengerade auf. »Echt jetzt? Die kommen nach D. C.? Wann?«
Ich zuckte die Achseln und spielte die Nachricht mit unschuldigem Blick herunter. »Weiß ich nicht. Aber wahrscheinlich schon bald, also sollten wir bereit sein, wenn es so weit ist.«
Sie nickte grinsend. »Ja. Schätze, du hast recht. Na, dann lass uns mal mit den Hausaufgaben anfangen, bevor deine Mom nach Hause kommt. Ich muss dir das ganze Paket vorlesen.«
Ich seufzte erleichtert auf. »Ist wahrscheinlich einfacher, wenn ich deins abschreibe.«
Hier im Südosten der Stadt wird oft über Crack geredet.
Darüber, dass kristallines Koks D. C. in den 80ern und 90ern in eine Stadt der Zombies verwandelt und es den Südosten am schlimmsten getroffen hat. Crack führte zur Verzweiflung, die Verzweiflung führte zu Straftaten und daraus wurden schließlich Mord und Zerstörung. Jeder kannte jemanden, der davon betroffen war. Daddys Familie, Mondays Familie, die Kirchengemeinde, selbst einige Lehrer an unserer Schule. Mit der Zeit bauten die Leute ihre Leben wieder auf, Familien fanden aufs Neue zusammen, aber die Spuren blieben, wie eine seltsam geformte Wolke, die über unseren Köpfen hing und manchmal die Sonne verdunkelte, wenn die Erinnerungen uns heimsuchten.
»Hey, Dre! Mach’ mal lauter!«
DJ Dre vom Radiosender WKYS bietet alljährlich an, beim Sommerfest im Freizeitzentrum von Ed Borough aufzulegen. Er ist in der Wohnanlage aufgewachsen und stolz darauf. Das Sommerfest findet bei den Sportanlagen statt und das Viertel kommt zusammen, um gemeinsam zu feiern und Spaß zu haben. Luftballons, Kinderschminken, Clowns, Grillstände, Spiele und Musik. Daddys Band wurde für den Abschlussauftritt gebucht. Ma verkaufte ihre Pasteten und Kuchen, Mrs. Charles spielte mit einigen Nachbarn Karten, während Monday und ich umherrannten, Hotdogs aßen, vor dem DJ-Pult tanzten und mit August in der Hüpfburg tobten.
Die Sache ist nämlich die, dass die Leute sich an die Vergangenheit erinnern und sich an den Gerüchten festhalten. Die glauben, dass der Südosten so furchtbar gefährlich ist; ein Getto. Aber wir sind eigentlich wie alle anderen. Wir lieben unsere Grillpartys, laut aufgedrehte Go-go-Musik, unsere Familien und Freunde. Dieses Sommerfest könnte man so überall auf der Welt stattfinden lassen.
Die Wohnungsbaubehörde der Hauptstadt ließ die Sozialwohnsiedlung Edward Borough während des Zweiten Weltkriegs auf Land errichten, das ursprünglich einmal in den 1880ern befreiten Sklaven zur Verfügung gestellt worden war. Es war als Ort der Gemeinschaft gedacht gewesen, als Ort, an dem man neu beginnen konnte. Ein Ort für den amerikanischen Traum.
Später fiel den Bauträgern und Stadtentwicklern auf, wie wertvoll dieses Land direkt am Fluss war, mit guter Anbindung an die Innenstadt. Zu wertvoll, um es den Schwarzen zu überlassen.
Wie praktisch, dass das Crack ausgerechnet die Gegend schändete, die die Bauträger am meisten begehrten.
Alle haben Angst vor Ed Borough, wo es doch Ed Borough war, das sich vor allen anderen hätte fürchten sollen.
Als wir vor dem DJ-Pult tanzten, segelte eine verirrte Biene von der Mülltonne herüber und schwirrte hinter meinem Ohr herum.
»Ah!«, kreischte ich und rannte im Kreis herum, um dem Tier zu entkommen.
»Mann, was ist das denn für’n Tanz? Entspann’ dich, das ist doch nur ein Insekt.«
»Nee, diese Viecher können dich umbringen!«
»Bssss.« Monday tanzte mit diesem verschmitzten Grinsen um mich herum, mit dem sie mich jedes Mal augenblicklich erweichte.
»Hör mit dem Blödsinn auf«, rief ich lachend und schlug spielerisch nach ihr.
Wir umrundeten uns gegenseitig und summten dabei; jede versuchte, lauter als die andere zu summen, bis wir uns an den Händen fassten und anfingen, uns wild im Kreis zu drehen, immer schneller, bis die Welt sich um uns herum drehte und wir ins Gras stürzten, um von dort zu den vorbeiziehenden Wolken hinaufzustarren.
»Mädchen«, rief Ma von ihrem Tisch in der Nähe des Grills. »Wollt ihr ein Stück Kuchen?«
»Ja!«, schrien wir gleichzeitig und kamen eilig wieder auf die Füße.
»Wartet mal«, mischte Mrs. Charles sich ein, die grinsend und leichtfüßig von ihrem Kartentisch herübergelaufen kam. »Lasst mich den Männern zuerst ein paar Stücke rüberbringen. Die Kinder brauchen sowieso nicht so viel Zucker.«
Monday kicherte und streckte die Hand nach einem Stück aus, das Ma schon abgeschnitten hatte, aber Mrs. Charles schlug ihre Hand beiseite.
»Ich sagte doch, du sollst warten!«, knurrte sie. »Verdammt! Der kleine, flinke Arsch kann einfach nicht hören! Ich schwöre, du hast schon immer viel zu flinke Pfoten gehabt.«
