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Tiffany D. Jackson erzählt eine erschreckende moderne Version der klassischen Spukhausgeschichte. Die 16-jährige Marigold leidet unter einem Trauma, doch der Umzug könnte der Neuanfang sein, den sie braucht. Mit der gesamten Familie zieht sie in ein Haus im schwarzen Viertel von Cedarville im Mittleren Westen. Doch das tolle Bilderbuchhaus wird von den Nachbarn misstrauisch beäugt und hat seine Geheimnisse: Schränke öffnen sich von selbst, Geschirr verschwindet und in den Wänden hört man ein gespenstisches Flüstern. Was aber noch viel unheimlicher ist: Maris kleine Stiefschwester redet dauernd mit etwas, das nur sie sehen kann. Und es will, dass Mari aus dem Haus verschwindet. Nun ja, vor Geistern davonlaufen ist albern, die gibt es ja nicht, oder? Doch Mari erwartet eine Wahrheit, die viel grausamer ist. Locus Magazine: »Dies ist mehr als eine Geschichte über ein Spukhaus und eine gequälte junge Frau. Es geht darum, was passiert, wenn das Ziel des Bösen schwarze Frauen sind, die mittels der Vorrechte von Weißen unterdrückt werden.«
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2023
Aus dem Amerikanischen von Elena Helfrecht
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe White Smoke
erschien 2021 im Verlag Katherine Tegen Books.
Copyright © 2021 by Tiffany D. Jackson
Copyright © dieser Ausgabe 2023 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Published by Arrangement with COOKIE DOUGH BOOKS
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Titelbild: Festa Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-055-7
www.Festa-Verlag.de
Für meinen herzallerliebsten kleinen Bruder, Duane Jackson, der Horrorfilme nach wie vor nicht ausstehen kann und dieses Buch wahrscheinlich nie lesen wird.
Vorwort
Ah. Da seid ihr ja. Sie sagten schon, ihr würdet bald ankommen. All die Jahre haben sie mich dem Verfall überlassen … um irgendwann zu sterben. Und jetzt kommt ihr daher. Eine Familie, die versucht, meinen Platz einzunehmen; mich – uns – auszulöschen.
Aber so weit wird es nicht kommen. Denn das hier ist mein Haus. Ganz egal wie oft sie die Wände neu streichen, wie viele Bodendielen sie austauschen … es wird immer mein Haus bleiben. Und ihr werdet es mir nicht nehmen. Es gehört mir. Bezahlt mit dem Blut meiner Familie. Es wird immer mir gehören. Mir, mir, mir. Mir allein. Sie können es mir nicht wegnehmen.
Eines werdet ihr noch früh genug herausfinden: mein Haus, meine Regeln. Alles, was euch gehört hat, ist jetzt mein. Und ihr werdet meinen Regeln bis zu eurem letzten Tag hier Folge leisten. Richtig gehört, ihr werdet hier nicht lange bleiben. Dafür werde ich schon sorgen.
Oh, und sieh an. Ihr habt mir sogar einen kleinen Freund mitgebracht.
1
WECKER – 8:05: Zeit für deine Pillen!
Ich vermisse die warmen Sonnenstrahlen.
Ich vermisse das Blau des wolkenlosen Himmels, die Steinstrände, die Berge am Horizont, die Palmen und die stacheligen Kakteen; das Gefühl von feuchter Erde zwischen den Fingern, das Piksen der Aloe-Blätter … Die Erinnerungen bohren sich wie frische Scherben in mein Herz.
Veränderung ist gut. Veränderung ist wichtig. Veränderung ist notwendig.
Seit drei Tagen sehe ich von der Rückbank unseres Minivans aus nur den endlosen Asphalt der Highways. Mit jedem Bundesstaat, den wir hinter uns lassen, wird der Himmel grauer.
Und Mann, ich würde gerade meine rechte Titte dafür geben, endlich etwas anderes als zwielichtige Motels, versiffte Raststätten und Tankstellenklos zu sehen.
»Daddy, sind wir bald da?«, fragt Piper vom Mittelsitz aus, ihr Buch in den Schoß gelegt.
»Nicht mehr lange, Schatz«, antwortet Alec vom Fahrersitz aus. »Siehst du die Stadt da am Horizont? Bis dorthin sind es noch ungefähr fünf Meilen.«
»Unser neues Zuhause«, ergänzt Mom mit einem zuversichtlichen Lächeln, während sie ihre goldbraunen mit Alecs blassen Fingern verschränkt.
Piper beobachtet die beiden mit angespanntem Kiefer.
»Ich muss aufs Klo. Jetzt gleich!«, fährt sie mit einer atemberaubenden Arroganz fort, die die ohnehin schon schlechte Luft im vollgestopften Van noch dicker macht.
»Ernsthaft, schon wieder?«, murmelt Sammy leise vor sich hin, während er sich zurückhält, seinen Frust nicht an einem Comicbuch auszulassen. Buddy, unser Schäferhundmischling, stupst Sammys Arm an und fordert ihn dazu auf, ihn weiter hinter den Ohren zu kraulen.
»Aber wir sind doch fast da, Schatz«, erwidert Mom, die über das ganze Gesicht strahlt. »Meinst du, du hältst es noch ein bisschen aus?«
»Nein«, blafft Piper. »Es ist ungesund, sich das Pinkeln zu verkneifen. Das hat Grandma gesagt.«
Mom lächelt gezwungen und dreht sich wieder nach vorn. Sie tut ihr Bestes, um Pipers frostige Stimmung aufzutauen, aber allen Versuchen zum Trotz bleibt sie ein sturer Eisblock.
Während Sammy an seinem Fruit-Roll-up knabbert, nimmt er einen Kopfhörer aus dem Ohr und lehnt sich zu mir herüber.
»Laut Google Maps sollte diese Playlist für die gesamte Fahrt reichen, aber ich hab sie jetzt schon zweimal durch«, flüstert er. »Ich hätte einen Tag mehr für unseren kleinen Durchlauferhitzer einplanen sollen.«
Piper bleibt ruhig sitzen, reckt den Kopf und tut so, als hätte sie ihn nicht gehört. Aber das hat sie. Sie hört alles. Das habe ich innerhalb der letzten zehn Monate über sie gelernt. Sie schnappt alles auf, speichert jede Information ab und spinnt daraus ihre Intrigen. Pipers rotblondes Haar passt zu ihren kupferfarbenen Sommersprossen und den hellrosa Lippen, die sie nur selten zum Lächeln benutzt. Sie ist blass wie ein Geist – so blass, dass ich finde, wir hätten schon allein deshalb in Kalifornien bleiben sollen, damit die Sonne ein bisschen Farbe auf ihren bleichen Wangen hinterlässt.
»Wir nehmen die nächste Ausfahrt und suchen nach einer Tankstelle«, sagt Alec zu Mom. »Ist doch kein Problem, oder?«
»Ähm, nein«, antwortet Mom und lässt seine Hand los, um ihre langen Dreadlocks zu einem Dutt hochzustecken. Wann immer ihr eine Situation unangenehm ist, fummelt sie an ihren Haaren herum. Ich frage mich, ob das Alec je aufgefallen ist.
Veränderung ist gut. Veränderung ist wichtig. Veränderung ist notwendig.
Während wir die Vergangenheit immer weiter hinter uns lassen, um einer ungewissen Zukunft entgegenzufahren, habe ich mir dieses Mantra mindestens schon eine Million Mal vorgebetet. Ungewissheit ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber wenn man nicht aufpasst, wird sie schnell zu einem mentalen Gefängnis. Mein Guru hat mir dieses Mantra als Rettungsring ans Herz gelegt, wann immer mich die Gedanken zu ertränken versuchen – damit ich durchhalte, bis mich das Universum an das nächste Ufer spült. Die letzten drei Monate hat das auch wunderbar ohne Beruhigungsmittel geklappt.
Aber dann sehe ich ihn, den schwarzen Fleck auf meiner braunen Haut.
»Nein, nein, nein …«, wimmere ich und verkrampfe, während mich mein Hirn mit Fakten flutet.
SCHON GEWUSST? Im Laufe ihres Lebens legen weibliche Bettwanzen Hunderte von Eiern, von denen jedes so klein wie ein Staubkorn ist.
Vor meinem geistigen Auge kollidieren sämtliche Autos auf dem Highway. Meine Haut fühlt sich an, als stünde sie in Flammen.
Mit jeder verstreichenden Sekunde werden Hunderte, vielleicht Tausende von Eiern auf meiner Haut und Kleidung abgelegt. Überall auf meinem Körper wiederholt sich der Kreislauf aus Paaren, Schlüpfen, Paaren, Schlüpfen … Ich kann nicht atmen, ich brauche Luft – nein, kochendes Wasser, Hitze, Sonne, Feuer, steckt das Auto in Brand, macht es weg, macht es weg, macht es weg!
Das ist keine Bettwanze, nur ein Fussel. Alles in Ordnung. Dir geht’s gut.
Gut gutgutgut …
Ich schnippe den Fussel aus dem Fenster und halte das gläserne Terrarium auf meinem Schoß fest, bevor mein zuckendes Knie es umwerfen kann. Ich brauche dringend Gras, egal ob Joint, Brownie oder Gummibärchen … Verdammt, gerade würde ich sogar passiv kiffen, so sehr sehne ich mich nach ein wenig Betäubung. Meine angespannten Nerven versuchen sich durch die dicke Haut zu kämpfen, die sie im Zaum hält. Aber ich darf mir jetzt keinen Ausfall erlauben. Nicht vor Sammy und erst recht nicht vor Mom.
Erden – genau, ich muss mich irgendwie erden.
Du schaffst das, Mari. Bereit? Also los.
Fünf Dinge, die ich sehen kann:
Die bläulichen Umrisse der Stadt am Horizont vor mir.Eine abgebrannte Kirche im Schatten der Bäume.Eine alte Turmuhr, die falsch geht.Links von mir, weit in der Ferne, vier weißgraue, fensterlose Gebäude, die wie riesige Betonklötze aussehen.In der Nähe des Highways eine verlassene Fabrik. Das Unkraut in den Asphaltrissen des Parkplatzes und das Art-déco-Neonschild, das vom Dach baumelt – ›Motor Sport‹ –, verraten mir, dass schon seit Jahren niemand mehr einen Fuß auf das Gelände gesetzt hat. Der Wind, der durch die eingeschlagenen Fenster pfeift, muss sich wie ein Walchor anhören.Ich frage mich, wie es dort drin wohl aussieht.
Wahrscheinlich ist es nur ein gespenstischer, verrottender Rest des alten Amerikas, völlig versifft und voller Pin-ups aus dem Zweiten Weltkrieg, die irgendwelche Frauen mit Overalls und Nagelpistolen zeigen.
Ich halte mein Smartphone hoch, um den Anblick festzuhalten, als eine Nachricht von Tamara eintrudelt.
T-Money: Mann, seid ihr endlich da?
Ich: Nein. Wir rasen irgendwo ins Nirgendwo.
Ich glaube, Alec entführt uns.
T-Money: Na, dann schmeiß mal deinen Standortverlauf an, damit ich wenigstens deine Leiche finde.
Ich: Außerdem hab ich dein großzügiges Geschenk schon aufgeraucht.
T-Money: Scheiße!!! Jetzt schon?
Ich: Hat nicht mal zwei Bundesstaaten gereicht.
T-Money: Wenn ich’s mir recht überlege, solltest du sofort aus der Mistkarre springen und das Weite suchen.
Tamara ist der einzige Mensch, der mir fehlt. Alle anderen zu Hause können von mir aus elendig krepieren. Ziemlich aggressiv, stimmt’s? Versteht ihr jetzt, warum ich einen Joint so bitter nötig habe?
»Daddy, stimmt mit mir irgendwas nicht?«
Mit ihrer schrillen Stimme könnte Piper selbst Porzellan zerspringen lassen.
Alec blickt seine Tochter im Rückspiegel an. Ihr engelsgleicher Schein trübt seinen Realitätssinn wie immer.
»Aber natürlich nicht! Wie kommst du darauf?«
»Sammy hat mich einen Durchlauferhitzer genannt. Was bedeutet das?«
»Was?«
Typisch Piper. Sie plant immer zehn Schritte voraus und wartet nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen. Sie spielt Schach, nicht Dame.
Und während mein kleiner Bruder mit unseren Eltern über seine Wortwahl streitet, sitzt Piper nur mit einem selbstgefälligen Grinsen da und beobachtet die Stadt, die sie zweifellos für sich erobern wird.
Habt ihr je die erste Folge von The Walking Dead gesehen? Ihr wisst schon, die Folge, in der Rick Grimes im Krankenhaus aufwacht und keine Ahnung hat, was in den letzten 48 Stunden passiert ist, nur um dann durch die verwüsteten Straßen zu reiten und überrascht festzustellen, dass zwischenzeitlich die ganze Welt vor die Hunde gegangen ist? Tja, genau so fühlt es sich an, die trostlose Autobahn in Richtung Cedarville entlangzufahren.
Piper lehnt sich näher an das Fenster und kneift die Augen zusammen. »Daddy, hat es da gebrannt?«
Ich folge ihrem Blick bis zu den verbrannten Häuserreihen an der Straße.
»Ähm, kann sein, Schatz«, antwortet Alec und kneift ebenfalls die Augen zusammen. »Oder die Häuser sind einfach nur … sehr alt.«
»Warum setzt die niemand instand?«
»Tja, die Stadt hatte in der Vergangenheit ein paar … finanzielle Schwierigkeiten. Aber es geht wieder bergauf. Deswegen sind wir ja hier!«
Sammy stupst mich an. »Mari, schau mal.«
Auf seiner Seite tauchen noch mehr verfallene Gebäude auf, ein paar Läden, sogar Schulen. Den Schildern zufolge stehen sie schon spätestens seit den 90ern leer.
»Ach du meine Güte.« Mom schnappt nach Luft. Dieser Ort ist weit von der kleinen Küstenstadt entfernt, in der sie aufgewachsen ist. Wo ich aufgewachsen bin. Und wohin ich nie wieder zurückkann.
Alec biegt in die Maple Street ab. Den Namen erfahre ich nur dank des ramponierten Straßenschildes, das vor einer dreigeschossigen viktorianischen Villa aus Backstein im Wind hin- und herschwingt. Das Dach ist längst eingestürzt, die mit Brettern vernagelten Fenster sind rußgeschwärzt und an den Mauern ranken sich verwelkte Kletterpflanzen empor.
Der weiße Bungalow daneben sieht noch schlimmer aus: Das Dach erinnert an eine aufgerissene Chipstüte und aus dem Mauerwerk wächst ein Baum. Auch das benachbarte Gebäude wirkt wie ein unheimliches Puppenhaus … und so setzt sich die ganze Häuserreihe fort.
Mom und Alec tauschen beunruhigte Blicke aus.
»Wo … sind … wir?«, murmelt Sammy vor sich hin, während er sich umsieht.
»Oh!«, ruft Mom und zeigt nach vorn. »Da, genau vor uns. Wir sind da!«
Wir parken vor einem strahlend weißen Haus mit separatem Garagengebäude, einer breiten, halb fertigen Veranda, Erkerfenstern, leuchtend grünem Gras und einer kobaltblauen Haustür: ein extremer Gegensatz zu den anderen Häusern im Straßenblock und das einzige, das aufgrund der emsig umherschwirrenden Bauarbeiter nicht wie ausgestorben wirkt.
Auf der Verandatreppe winkt uns eine weiße Frau in grauem Rock mit einer Ledermappe zu.
»Das muss Irma sein«, bemerkt Mom und erwidert den Gruß. »Sie vertritt die Sterling Foundation. Also benehmt euch.«
Wir setzen ein kollektives falsches Lächeln auf, steigen aus und halten am Bordstein inne, um unser neues Heim zu begutachten. Aber ich kann mir den einen oder anderen Seitenblick auf die heruntergekommene Nachbarschaft nicht verkneifen. Es wirkt so, als könnte jeden Moment ein Zombie aus dem Gebüsch stolpern.
Irmas Pfennigabsätze klackern über den Asphalt, als sie mit wallenden braunen Locken auf uns zueilt. Aus der Nähe wirkt sie viel älter, als ihr gefärbtes Haar es zunächst vermuten ließ.
»Hallo, hallo! Herzlich willkommen! Sie müssen Raquel sein. Ich bin Irma Von Hoven, wir haben schon miteinander telefoniert.«
Mom schüttelt ihr die Hand. »Irma, richtig! Wie schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen.«
»Nochmals meinen allerherzlichsten Glückwunsch zu Ihrem gewonnenen Platz im GWYP-Residenzprogramm. Wir freuen uns, Sie hier in Cedarville willkommen zu heißen!«
»Danke! Darf ich Ihnen meine Familie vorstellen? Mein Mann Alec, unser Sohn Sam und unsere Töchter Marigold und Piper.«
»Stieftochter«, korrigiert Piper.
Kichernd legt Alec ihr die Hände auf die Schultern. »Wir sind jetzt alle eine große Familie, Schatz, schon vergessen? Möchtest du Miss Von Hoven nicht begrüßen?«
»Ich dachte, das hätten wir schon getan?«
Irmas Augen weiten sich, während sie ihre Mappe an sich drückt und dann zu mir heraufblickt. »Meine Güte, du bist aber groß!«
Ich seufze. »Das höre ich andauernd.«
»Ähm … Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Wie wäre es mit einer Führung?«
»Ja, das wäre wunderbar, danke«, erwidert Mom ein wenig niedergeschlagen. »Sammy, lass Bud im Auto.«
»Kommen Sie rein. Und ignorieren Sie die Bauarbeiter, die kümmern sich nur um die letzten Kleinigkeiten. Vor ein paar Wochen hatten wir ein paar Probleme, aber jetzt läuft wieder alles reibungslos.«
Die Tür schwingt quietschend auf und wir betreten den Eingangsbereich. Von innen wirkt das Haus gigantisch, bestimmt dreimal so groß wie unsere Strandbude, wie Dad unser altes Haus oft genannt hat.
»Das Haus wurde in den frühen 70ern erbaut, aber selbstverständlich haben wir es modernisiert: Armaturen aus rostfreiem Edelstahl, neue Leitungen, Böden und so weiter und so fort. Zu Ihrer Linken befindet sich das Wohnzimmer; bitte ignorieren Sie das herumliegende Werkzeug. Rechts sehen Sie das große Esszimmer – der perfekte Ort für Abendgesellschaften. Die Treppe wurde gerade erst gebeizt. Sieht sie nicht fantastisch aus?«
Holz.
Das ist alles, was ich sehe. Überall nur Holz. So viele neue Brutstätten für Bettwanzen …
SCHON GEWUSST? Bettwanzen nisten sich am liebsten in Matratzen, Reisekoffern, Büchern, Wandrissen, Steckdosen und allem ein, was aus Holz besteht.
»Dort hinten gibt es eine wunderschöne Küche, die sich zum Fernsehzimmer hin öffnet. So kann man die Kinder beim Spielen immer im Auge behalten. Und diese kleine Frühstücksnische hier bekommt viel Tageslicht ab. Außerdem gibt es eine begehbare Speisekammer und jede Menge Stauraum …«
Tausende Kirschholzschränke, holzgetäfelte Erkerfenster, polierte Holzdielen … Holz, Holz und noch mehr Holz, so weit das Auge reicht.
Mit zittrigen Händen stelle ich mein Terrarium neben dem Willkommenskorb voller Wurst, Käse, Walnüsse und Kekse ab. Sofort schnappe ich mir die Nüsse und werfe sie in den Mülleimer, worauf Irma zusammenzuckt.
Mom meldet sich erklärend zu Wort: »Tut mir leid, Sammy ist allergisch.«
»Oh, verstehe.« Irma blinzelt irritiert. »Ähm, die erste Tür hier drüben führt in eine kleine Bibliothek. Hier könnte man ein hübsches kleines Arbeitszimmer einrichten.«
Ich klopfe gegen die Wand. Hohl. Das Haus hat ein gutes Grundgerüst, aber es ist beschissen isoliert. Ich stampfe auf den Boden. Das Echo hallt durch die Räume.
Irma wirft Mom einen gereizten Blick zu.
»Äh, ihr Dad ist Architekt«, erklärt Mom kleinlaut.
»Oh. Verstehe.«
Ich frage mich, warum mich jeder so ansieht, als wäre ich die Verrückte hier. Falls die Winter im Mittleren Westen auch nur annähernd so kalt wie in all den Hollywoodstreifen sind, werden wir spätestens im November erfrieren! Ich ziehe mein Smartphone hervor und richte mir eine neue Erinnerung ein:
WECKER – 10:25 UHR: Heizdecken bestellen.
»Was ist dort?«, fragt Sammy und zeigt auf die Tür unter der Treppe. Das dunkle, verzogene Holz steht in starkem Kontrast zu dem gebeizten, polierten Interieur.
»Oh. Das, ähm, ist der Keller, aber der ist nicht zugänglich. Mr. Watson wird es noch erklären; er ist Ihr Ansprechpartner. Wollen wir uns die Schlafzimmer ansehen?«
Wir steigen die Treppe hinauf und versammeln uns in dem fensterlosen Flur. Über uns ertönt ein dumpfer Schlag. Piper schreit auf und klammert sich an Alec.
»Keine Sorge! Das sind nur die Dachdecker. Jedenfalls gibt es hier vier Schlafzimmer – drei kleinere und ein großes mit Bad. Das große Schlafzimmer überblickt den Vorgarten und hat riesige Fenster …«
»Wie findest du’s?«, flüstert Mom mir strahlend zu. »Hübsch, oder?«
»Hier gibt’s … eine Menge Holz«, erwidere ich und kratze mir die Arme.
»Und hier drüben befindet sich das obere Bad. Riesig, oder? Das ist eine echt antike Klauenfuß-Wanne.«
Während sie alle den Raum betreten und die Schachbrettfliesen bewundern, setze ich mich von der Gruppe ab, um Dad anzurufen. In Japan ist es schon fast Mitternacht, aber um diese Zeit sollte er noch wach sein.
Kein Empfang. Mitten in der Stadt? Das ist … unmöglich.
Der Boden knarrt leise hinter mir, so als träte jemand Schweres auf die alten Holzdielen. Im Dunkeln läuft mir ein Schauer über die Arme. Hier drin fühlt es sich kälter an als draußen. Ich drehe mich gerade rechtzeitig um, um einen Schatten hinter einer der Schlafzimmertüren vorbeigleiten zu sehen.
Sollten die Dachdecker nicht eigentlich auf dem Dach sein?
»Hallo?«, rufe ich und schleiche mich näher heran, während ich vorsichtig auftrete.
Ganz leise höre ich ein ruhiges Atmen, bevor sich der Schatten entfernt. Dann herrscht wieder Stille.
Ich drehe den Türknauf herum, das Schloss schnappt auf. Die Tür schwingt ganz von selbst auf, und ich erwarte schon fast, dass jemand dahinter wartet.
Aber dort steht niemand.
Das Zimmer ist leer. Die Wände sind weiß und kahl, es gibt nicht einmal Vorhänge an den Fenstern. Draußen auf dem mit Unkraut überwucherten Hinterhof wogen die hohen Kiefern in der sanften Brise behäbig hin und her.
»Puh«, seufze ich und lache über meine Paranoia. Der Wind, die Sonne, die Zweige … Natürlich entstehen so Schatten auf dem Boden.
Versteht ihr jetzt, warum ich mich so dringend entspannen muss?
Das sonnendurchflutete Zimmer mit dem kleinen Schrank und den leicht abfallenden Dielen wirkt gemütlich, irgendwie friedlich. Mein Guru hat einmal gesagt: »Zuhause ist kein Ort, es ist ein Gefühl.« Vielleicht ist dieser Ort gar nicht so schlimm. Aber schon einen Moment später fällt mein Blick auf den riesigen, klaffenden Spalt zwischen Wand und Fensterlaibung.
Also, eigentlich ist er nicht wirklich riesig und klaffend, aber immerhin groß genug für ein paar Bettwanzen.
Ich ziehe eine Kreditkarte aus dem Geldbeutel und fahre damit durch die Ritze.
Das kann ich bestimmt mit ein bisschen Silikon abdichten …
Irma stöckelt ins Zimmer, dicht gefolgt von meiner Familie.
»Und hier haben wir … Ähm, Liebes? Was treibst du da?«
Ich richte mich auf. »Ähm … Ich prüfe das Zimmer auf Bettwanzen.«
Mom zwingt sich zu einem Lächeln. »Mari ist sehr proaktiv, wenn es um … ähm, Heimpflege geht.«
Irma steht noch immer der Mund offen, aber sie erwidert das gekünstelte Lächeln. »Oh. Na schön, in Ordnung. Warum gehen wir nicht alle zurück in die Küche?«
Sammy grinst mich an und formt mit seinen Lippen ein »Spinner«, während wir wieder nach unten gehen.
»Oh, Mr. Watson«, flötet Irma und winkt dem älteren Herren im Eingangsbereich zu. »Das sind die Anderson-Greens. Ich habe ihnen gerade ihr neues Zuhause gezeigt.«
Mr. Watson macht kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegenüber Irma und seufzt laut. Er ist ungefähr 1,90 groß und hat keine Haare mehr, dafür aber einen dichten, grau melierten Bart. Seine Haut ist schokoladenbraun. Er nimmt den Bauhelm ab und nickt uns kurz zu.
»Hallo«, sagt er. »Achtet auf den Wasserdruck. Geht behutsam damit um, hier ist alles neu. Ich sehe mal nach den Jungs.«
Er nickt uns ein zweites Mal zu, klopft auf den Helm und verschwindet aus der Haustür.
»Okaaay.« Alec kichert.
Mr. Watson scheint kein Mann großer Worte zu sein. Das ist mir auf Anhieb sympathisch.
»Also«, fährt Irma fort. »Wollen wir?«
Irma legt die Mappe auf der Granitplatte der Kücheninsel ab und zieht ein paar Prospekte und Dokumente daraus hervor.
»Also, hier ist der Vertrag, den Sie unterzeichnen müssen. Aus rechtlichen Gründen gehe ich die Bedingungen noch einmal mit Ihnen durch.«
»Aber natürlich«, sagt Mom. Alec steht daneben und massiert ihr den Nacken.
Wie aus dem Nichts taucht Piper plötzlich hinter ihm auf und zupft an seinem Hemd. Ihr ständiges Heischen um Aufmerksamkeit wäre amüsant, wenn es nicht so schrecklich nervtötend wäre.
Irma rückt ihre Brille zurecht und liest eines der Dokumente vor. »Wie schon besprochen, dürfen Schriftsteller, die an der Grow Where You’re Planted-Autorenresidenz, kurz GWYP, teilnehmen, für die Dauer ihres Aufenthalts kostenlos in einem unserer historisch restaurierten Häuser wohnen. Auf Wunsch kann das Gebäude danach erworben werden. In jedem Quartal erwarten wir vom teilnehmenden Schriftsteller, also von Ihnen, an Benefizessen, Netzwerkveranstaltungen und Spendengalas teilzunehmen, was zu den Bemühungen der Sterling Foundation beiträgt, die Gemeinde von Cedarville wiederaufzubauen. Am Ende seines Aufenthalts muss der Autor wenigstens ein abgeschlossenes Projekt vorweisen. In Ihrem Fall ist das Ihr neues Buch. Verstößt der Schriftsteller gegen diese Vereinbarung, dann hat das die sofortige Zwangsräumung zur Folge und er muss die gesamte Hypothek inklusive Zinsen zurückzahlen, zuzüglich sämtlicher Schäden, die während seines Aufenthalts entstanden sind.«
»Daddy, was bedeutet Zwangsräumung?«
Alec streicht Piper eine Haarsträhne hinter das Ohr. »Das heißt, man muss sofort ausziehen. Aber keine Sorge. Das wird nicht passieren.«
In Alecs Worten schwingt eine subtile Warnung mit.
Mom holt tief Luft.
»Also. Wo soll ich unterschreiben?«
Während Mom und Alec den Papierkram erledigen, stehe ich vor der Glastür, die in den kleinen umzäunten Hinterhof führt. Dort versuche ich, wie versprochen Dad zu erreichen, aber der einzelne Empfangsbalken, den mir mein Handy anzeigt, reicht kaum aus, um eine Nachricht abzuschicken.
Draußen streicht einer der Bauarbeiter das Kirschholz der Veranda dunkel. Seine Pinselstriche wirken fahrig und gehetzt, von seinem Nacken tropft Schweiß.
Mann, warum bist du so nervös?
Mom stellt sich neben mich und legt mir die Arme um die Schultern. Sie strahlt eine harmonische Wärme aus.
»Hier haben wir genug Platz für einen neuen Garten. In der Ecke dort drüben könnten wir ein paar Hochbeete anlegen. Und wir sollten sie einzäunen, damit Bud keine Löcher gräbt.«
Sie versucht, mir das Ganze schmackhaft zu machen, aber ich schmecke nur Bitterkeit. Immerhin ist sie glücklich. Das habe ich mir schon so lange für sie gewünscht.
»Oh! Sie arbeiten gern im Garten?«, fragt Irma hinter uns. »Cedarvilles Bibliothek organisiert eine fantastische Urban-Gardening-Initiative. Die Gruppe trifft sich immer am letzten Sonntag des Monats.«
Während wir Irma zur vorderen Veranda folgen, begutachten wir die Nachbarschaft, und ich erwarte fast, dass jeden Moment ein vertrockneter Busch aus der Steppe vorbeirollt.
»Miss Von Hoven, nichts für ungut, aber, ähm, wo sind die Nachbarn?«, fragt Sammy und kratzt sich am Kopf. »Findet in einem anderen Bundesstaat eine Grillparty statt, zu der wir nicht eingeladen sind?« Dank seines kruden Sinns für Humor und seines Intellekts, hinter dem man die doppelte Lebenserfahrung vermuten könnte, ist auf ihn immer Verlass, wenn es darum geht, die angespannte Stimmung aufzulockern. Und meistens gelingt ihm das, indem er einfach das ausspricht, was sowieso alle denken.
Irma kichert. »Nun ja, Sie sind unsere erste Autorin hier! Aber es werden noch viele folgen. Das gesamte Gelände auf dieser Seite der Maple Street gehört der Sterling Foundation. Kommt mit! Ich gebe euch einen kleinen Überblick.« Sie hakt sich bei Sammy ein und spaziert mit uns die Einfahrt entlang zur Straße. Piper drängt sich zwischen Mom und Alec und greift nach seiner Hand.
»Also. Du, junger Mann, wohnst in der Maple Street, zwischen der Division und der Sweetwater Avenue, im Stadtteil Maplewood«, erklärt sie und zeigt auf die umliegenden Straßen. »Dieser umfasst ungefähr 15 Straßenblocks. Wir haben hier rund 2000 Einwohner. Drei Blocks weiter befindet sich der Cedarville Park. Und hinter dem Park liegt der Friedhof. Wenn man von der Sweetwater Avenue aus nach links abbiegt und vier Blocks weiterläuft, gelangt man zur Kings High School. Und geht man dann nach rechts und drei Blocks weiter, dann steht man vor der Benning Elementary School. Direkt daneben befindet sich die Pinewood Middle School. Zum örtlichen Supermarkt und zur Autobahn biegt man auf der Division Avenue einfach links ab. Ihr wohnt ungefähr 15 Minuten von Stadtzentrum und Riverwalk entfernt.«
»Hier gibt es einen Fluss?«, fragt Piper. Aus irgendeinem Grund scheint sie das zu interessieren.
»O ja. Der Riverwalk ist sogar ziemlich hübsch. Dort gibt es viele neu eröffnete Restaurants, Casinos und sogar eine Videospielhalle. Und jetzt habe ich noch ein paar Hinweise für die Eltern. Also, die Sweetwater Avenue ist … nicht die beste Gegend, wenn Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Ihre Nachbarschaft hingegen ist eine gute, aufstrebende Gegend.« Dann senkt sie die Stimme. »Schließen Sie die Türen und Fenster nachts immer ab. Lassen Sie nichts im Auto oder auf der Veranda liegen, wenn Ihnen daran gelegen ist, und lassen Sie die Kinder nie aus den Augen. Ganz besonders wegen der vielen leer stehenden Häuser hier.«
Darauf werden wir so still, dass man einen Block weiter eine Stecknadel fallen hören könnte.
Dann lacht Irma plötzlich auf. »Aber ganz im Ernst, Cedarville ist eine der freundlichsten Städte des Landes. Das bisschen Dreck trägt nur zu ihrem Charakter bei.«
»So kann man’s natürlich auch sehen«, murmelt Sammy.
»Na schön. Ich glaube, damit wäre alles gesagt. Nächsten Monat möchte Mr. Sterling bei sich zu Hause ein Begrüßungsessen für Sie ausrichten. Ich informiere Sie noch über die Einzelheiten. Innerhalb der nächsten ein bis zwei Wochen sollten die Bauarbeiten hier abgeschlossen sein. Sie haben ja meine Nummer, also rufen Sie mich einfach an, falls Sie irgendetwas brauchen. Und noch einmal herzlich willkommen in Cedarville!«
Irma winkt uns zu, während sie in Richtung Auto läuft, und lässt uns verdattert mit dem Überfluss an Informationen zurück, den wir zuerst einmal verarbeiten müssen.
Als sie gerade losfährt, komme ich Sammy zuvor: »Also … wir ziehen hier nicht wirklich ein, oder?«
Mom schnaubt.
»Warum nicht?«
»Ähm, hast du dich hier mal umgesehen?«, fragt Sammy und zeigt auf die verwahrloste Straße.
Das von Ranken überwucherte Backsteinhaus zu unserer Rechten wirkt wie eine einzige grüne Wand, durch die gelegentlich mit Brettern vernagelte Fenster und Türen blitzen.
»Na ja«, wirft Alec ein, »sie hat gesagt, hier werden bald noch mehr Familien einziehen.«
»Hört mal«, versucht Mom uns zu beschwichtigen, »das hier ist eine einmalige Gelegenheit. Und was noch viel wichtiger ist: Wir wohnen hier KOSTENLOS!«
»Exakt«, erwidere ich kichernd und verschränke die Arme. »Und man bekommt genau das, wofür man bezahlt.«
»Kostenlos bedeutet außerdem schuldenfrei«, fügt Alec hinzu, und ich sehe den Buchhalter hinter seinen strahlend blauen Augen hervorblitzen. »Betrachte es als Abenteuer. Und wir sind die Entdecker!«
»Du meinst wohl eher, wir sind die Kolonialmacht«, platzt es aus mir heraus, »da all die Häuser hier offensichtlich vorher jemand anderem gehört haben?«
Jetzt zuckt Alec zusammen, und nach den unzähligen Situationen, in denen Piper Mom verunsichert hat, geschieht ihm das gerade recht.
Piper zieht an Alecs Ärmel. »Daddy, darf ich mir jetzt ein Zimmer aussuchen?«
»Ähm, natürlich, Liebes. Sehen wir uns das Haus an.«
Alec nimmt Piper an der Hand und geht mit ihr hinein, ohne seine übrigen Kinder zu fragen, ob sie sich auch ein Zimmer aussuchen möchten.
Aber wem mache ich etwas vor? Piper wird für ihn immer an erster Stelle stehen.
Mom mustert unsere Gesichter und hebt die Hände. »Na schön. Ich weiß, dass ihr beide … nicht gerade begeistert seid. Aber seht es positiv: Wenn das hier schiefgeht, dann müssen wir nur die nächsten drei Jahre hier wohnen.«
»Drei Jahre!«, schreien wir im Chor.
»Das sind die Bedingungen für die Autorenresidenz. Das hier ist ein schuldenfreier Neuanfang. Und zwar für uns alle. Genau das, was wir brauchen.« Sie blickt mich direkt an. »Stimmt’s, Marigold?«
Ah, natürlich. Schuldenfrei ist besonders wichtig, weil mein Aufenthalt im Strawberry Pines Rehabilitation Center nicht gerade billig war. Für das Geld hätte ich fast an einem Ivy League College studieren können. Das hier ist ein erster Test. So werden ab jetzt die meisten Situationen ablaufen. Und ich darf auf keinen Fall durchfallen, wenn mir die wenigen Freiheiten, die sie mir zugestanden hat, etwas bedeuten.
Also beiße ich mir auf die Zunge und sage mein Mantra auf: »Veränderung ist gut. Veränderung ist wichtig. Veränderung ist notwendig.«
Sammy verdreht die Augen. »Wenn du das sagst, Oprah.«
Honk honk!
Hinter uns fährt der Umzugswagen vor.
»Gerade rechtzeitig«, sagt Sammy. »Da kommt unser altes Leben.«
Mom wischt sich die Hände ab. »Sammy, lauf rein und hol Alec. Marigold, kannst du schon mal anfangen auszuladen, bevor die Pflanzen verdorren und Buddy in der Sonne schmilzt?«
Die Wagentüren gehen auf und Buddy springt mir entgegen. Er leckt mir das Gesicht ab, als hätten wir uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Man muss Hunde für ihre bedingungslose Zuneigung einfach lieben.
»Hey«, sagt Mom und geht auf die Fahrerkabine zu. »Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass ihr heute Morgen hier seid. Was ist passiert?«
Einer der Umzugshelfer, den ich aus Kalifornien wiedererkenne, springt aus dem Wagen, während der andere das hintere Rolltor öffnet und die Rampe ausfährt.
»Wir hatten keinen Empfang! Haben ein paarmal angehalten, um nach dem Weg zu fragen, aber niemand konnte uns sagen, wo diese Maple Street genau sein soll.«
»Ach, wirklich? Wen haben Sie denn gefragt?«
Er kichert und zeigt hinter uns. »Ihre Nachbarn.«
Zwischenzeitlich ist die Straße auf der anderen Seite der Sweetwater Avenue zum Leben erwacht. Ein paar Menschen strömen aus ihren Häusern und bleiben auf dem verdorrten Rasen stehen, um uns schweigend anzustarren.
»Wow«, flüstere ich. Da ich aus einer typischen weißen Kleinstadt stamme, habe ich noch nie so viele schwarze Menschen auf einmal gesehen.
Das muss ich Tamara zeigen!
Ich hole gerade mein Smartphone aus der Hosentasche, aber Mom hält mich am Arm fest.
»Marigold«, flüstert sie. »Man fotografiert niemanden ohne Erlaubnis. Das ist unhöflich.«
»Findest du nicht eher sie unhöflich? Sie starren uns an, als wären wir eine Freakshow.«
»Vielleicht liegt das an deinem Strandoutfit, den Flip-Flops und dem Hanfblatt um deinen Hals«, lacht Sammy und hüpft vom Bordstein. Dann stellt er sich mitten auf die Straße und winkt. »Hi!«
Stille. Niemand reagiert, nicht einmal die Kinder. Sie stehen da wie Schaufensterpuppen.
»Autsch«, murmelt Sammy. »Hat sie nicht vorhin gesagt, Cedarville gehört zu den freundlichsten Städten des Landes?«
»Stimmt genau, Sammy. Beeindruckt dich unser Willkommenskomitee etwa nicht?«
»Na los, ihr zwei«, gluckst Mom. »An die Arbeit!«
Wir gehen den Umzugshelfern beim Ausladen zur Hand und schleppen Möbel und Kisten in das Haus. Ich habe den gesamten Einpackprozess in Kalifornien überwacht, um sicherzustellen, dass uns keine Bettwanzen in unser neues Zuhause folgen.
DING! DING! DING!
Überall aus dem Haus – von oben, aus dem Erdgeschoss und sogar von draußen – dröhnen Smartphones. Anscheinend haben alle Arbeiter ihre Handywecker auf die gleiche Zeit gestellt: 17:30 Uhr. Die Männer lassen ihre Werkzeuge fallen, hasten aus der Tür und hechten in ihre Autos.
»Was ist denn hier los?«, fragt Sammy, während er einen Koffer durch das Wohnzimmer schleppt.
»Ich … Ich habe keine Ahnung«, antwortet ihm Mom aus der Küche, die gerade eine Kiste voller Geschirr auspackt.
Mr. Watson trottet die Stufen herunter und bleibt im Flur stehen.
»Wir machen für heute Feierabend. Morgen geht’s weiter. Internet und Telefon werden vielleicht Ende nächster Woche angeschlossen.«
»Nächste Woche!«, ruft Sammy und fasst sich an die Brust.
»Das Elektrizitätswerk musste das gesamte Wohnviertel neu verkabeln. Hier hat schließlich seit 30 Jahren niemand mehr gewohnt.«
»Tatsächlich«, brumme ich sarkastisch vor mich hin. »Das wäre mir nie aufgefallen.«
Mr. Watson nickt uns ein letztes Mal zu und verschwindet aus der Tür. Dann fährt er mit quietschenden Reifen davon.
»Die haben es aber eilig, nach Hause zu kommen.« Mom zuckt mit den Schultern. »Oder sie sind zu einer Party eingeladen.«
Auf mich wirkt es nicht so, als würden sie irgendwo erwartet, sondern eher so, als wollten sie so schnell wie möglich von hier weg.
2
Den Geruch fremder Häuser habe ich schon immer gehasst.
Unser neues Haus riecht vor allem nach nassem Holz. Und damit meine ich keinen Wald voller Morgentau, sondern ein Lagerfeuer, das man mit Wasser gelöscht hat – ein Geruch, den keine Farbe oder Politur der Welt übertünchen kann.
Das kleine Teelicht unter meiner Duftschale flackert. Aromatherapie ist eine der Coping-Strategien, die ich mir angeeignet habe, um meine Angststörung zu lindern. Ruhige Musik, Pflanzen, Kerzen … ich bin mit allem ausgestattet. Neue Orte wie dieser können mich leicht aus der Bahn werfen, und ich muss schließlich beweisen, dass ich mich im Griff habe. Deswegen bin ich froh, eine Extrapackung Räucherstäbchen und ein Fläschchen Pfefferminzöl aus meinem Lieblingsladen von zu Hause mitgenommen zu haben.
Aber wo soll ich Nachschub kaufen, wenn meine Vorräte zur Neige gehen? Wo ist hier der nächste Trader Joe’s? Oder das nächste Yogastudio? Das nächste Café? Vegane Läden? Ein Friseur, der mir die Haare flechten kann? Aber was noch viel wichtiger ist: Wie komme ich hier an Gras? Hätte ich wenigstens einen Empfangsbalken, dann könnte ich mir all diese Fragen beantworten. Oder ich könnte zumindest die Route zum nächsten Trader Joe’s googeln. Ich schnappe mir das Smartphone und stelle mir einen neuen Wecker …
WECKER – 11:00 UHR: Frag nach Läden.
Buddy springt auf das Fußende meines Bettes und rollt sich auf der Decke ein. Meistens hält er sich in Sammys Nähe auf, aber am liebsten schläft er bei mir.
Auf Händen und Knien krieche ich durch das Zimmer und inspiziere die Fußbodenleisten mit meiner Handytaschenlampe, um sie anschließend mit warmer Seifenlauge abzuschrubben, alle Löcher darin abzudichten und sie am Ende mit ein paar Tropfen Zimtöl einzureiben.
SCHON GEWUSST? Bettwanzen hassen den Geruch von Zimt.
Um sie auszuräuchern, wäre Hitze am effektivsten, aber Föhn und Dampfreiniger sind noch immer ganz unten in irgendeiner Kiste verstaut, also müssen diese Vorsichtsmaßnahmen vorerst reichen.
Hust! Hust! Hust!
»Daddy! Marigold raucht schon wieder!«, schreit Piper.
Ich höre Alec durch den Flur stürmen und vor meiner Schwelle stehen bleiben. Er hat die Lippen fest zusammengepresst und die Vorwürfe liegen ihm sichtlich auf der Zunge. Vom Boden aus erwidere ich seinen verächtlichen Blick.
Er seufzt und dreht sich zu ihrem Zimmer am anderen Ende des Flures.
»Sie raucht nicht, Schatz. Das sind nur diese Stinkstäbchen, über die wir schon mal gesprochen haben, erinnerst du dich?«
Sie hüstelt wieder gekünstelt. »Ich kriege keine Luft.«
»Soll ich deine Zimmertür schließen?«
»Nein! Ich hab Angst.«
Ich knalle meine Tür zu und genieße es, wieder eine Klinke zu haben. Die hatte Mom nämlich von meiner letzten Zimmertür abgeschraubt, worauf nur ein klaffendes Loch im Holz zurückgeblieben war. Privatsphäre? Fehlanzeige.
»Das dient nur deiner eigenen Sicherheit, Schatz«, sagte sie damals voller Mitleid. Ich konnte ihr nicht einmal widersprechen. Das hatte ich mir selbst eingebrockt.
Nach einer weiteren Stunde Schrubben kehrt endlich Ruhe im Haus ein. Also setze ich meine Kopfhörer auf, um eine Meditationsapp zu starten und mein Gedankenchaos zu beruhigen.
Klirr. Klirr. Klirr.
Durch die Wände in meinem neuen Zimmer höre ich alles: die rasselnden Leitungen; das knarzende Holz; die Äste, die über das Dach kratzen; das Zirpen der Zikaden im Hinterhof; das klappernde Geschirr.
Im Erdgeschoss ertönen Schritte.
Buddy setzt sich auf, spitzt die Ohren und knurrt.
»Mann … Beruhig dich, Buddy«, murre ich im Halbschlaf und ziehe mir die Decke über den Kopf. »Das ist nur der Wind.«
»Wer hat das Glas hier stehen lassen?«
Mom hält eines ihrer Waterford-Kristallgläser hoch – ein Familienerbstück, das ihre Großmutter ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Um genau zu sein, war es ein Geschenk zu ihrer ersten Hochzeit. Ich glaube, bei ihrer standesamtlichen Hochzeit mit Alec hatte sie nicht einmal Gäste eingeladen.
»Ich war’s nicht«, sagt Sammy und schnappt sich das Müsli aus dem Schrank daneben.
»Denkt daran: kein Geschirr im Spülbecken. Jeder räumt hinter sich auf.«
»Wir wissen das. Aber wie steht’s mit den anderen?«, erwidert Sammy lachend. Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung, was ich sagen soll, Mom. Aber gestern Nacht ist definitiv jemand hier unten herumgelaufen.«
»Ich nicht«, sagt Sammy. »Ich hab tief und fest geschlafen.«
Mom mustert zuerst das Glas, dann das oberste Regalbrett im Schrank, wo es ursprünglich gestanden hatte.
»Piper kommt da nicht ran …«
»Vielleicht ist sie auf die Arbeitsfläche geklettert.«
»Ein Hintern gehört nicht auf die Theke«, meldet sich Piper mahnend im Treppenhaus zu Wort. »Das hat Grandma immer gesagt.«
Ich kichere. Natürlich hat sie irgendwo gelauscht. Für Drama hat sie einen siebten Sinn.
Mom räuspert sich und lächelt. »Guten Morgen, Piper. Hast du gut geschlafen? Was möchtest du zum Frühstück?«
Piper kommt in die Küche und grinst uns frech an. »Eier mit Speck.«
Mom verschränkt die Hände. »Das haben wir doch schon besprochen, Liebes … So was essen wir hier nicht.«
»Aber ich esse es. Genauso wie Daddy, wenn er nicht bei euch ist.«
Mom richtet sich auf. Ihr Lächeln erstirbt. Sie wendet sich ab und schenkt sich eine Tasse Kaffee ein, wahrscheinlich um nicht zu explodieren.
PIEP! PIEP! PIEP!
WECKER – 8:05 UHR: Zeit für deine Pillen!
Verdammt, das hätte ich fast vergessen.
»Marigold«, sagt Mom und wedelt mit zwei von Sammys EpiPens herum, bevor sie sie im Schrank über dem Kühlschrank verstaut. »Die Notfallspritzen … Ich verstaue sie hier oben.«
»Ist das für Piper nicht ein bisschen zu weit oben, wenn sie ihren Hintern nicht auf der Theke platzieren darf?«
Mom grinst. »Hör auf damit.«
»Guten Morgen, ihr Lieben!« Alec betritt die Küche. Er sieht ausgeschlafen aus und ganz und gar nicht wie jemand, der in der Nacht an Moms Kristallglas genippt hat.
»Morgen«, erwidern Mom und Sammy.
»Was für ein herrlicher Tag in unserer neuen Nachbarschaft!«, flötet Alec Mom ins Ohr und legt die Arme um ihre Hüften, worauf sie kichert. Piper läuft puterrot an und sieht aus, als würde sie gleich aus den Ohren qualmen.
»Daddy, ich hab Hunger.«
»Ich auch, Schatz«, erwidert er, ohne von Mom abzulassen. »Also, was steht heute auf dem Plan, Süße?«
»Auspacken, auspacken, auspacken. Ich möchte heute wenigstens mein Büro einräumen. Ich bin mit meiner Deadline sehr im Verzug. Und was hast du vor?«
»Nun ja, ich wollte mit Piper frühstücken gehen.«
Mom blinzelt erstaunt. »Ach, wirklich?«
»Ja. Ich dachte, ich lade sie zum Essen ein, und anschließend gehen wir eine Runde einkaufen.«
Sie nippt an ihrem Kaffee. »Hm. Für alle oder nur für Piper?«
Alec streckt sich. »Aber selbstverständlich für alle, Baby! Ähm, möchtest du eine Liste schreiben?«
»Klar.«
»Ähm, hey, Sammy. Hast du Lust mitzukommen?«
Sammy schüttelt den Kopf und holt eine Packung Hafermilch aus dem Kühlschrank.
»Nein danke. Ich richte immer noch mein Zimmer ein. Sobald das Internet endlich läuft, möchte ich damit fertig sein.«
»Na schön.« Alec sieht Piper an. »Also, dann wollen wir mal los, Schatz.«
Alec macht sich gar nicht erst die Mühe, mich zu fragen. Er kennt die Antwort bereits.
Als die beiden aus der Einfahrt fahren, kommen die Bauarbeiter an. Sie starren das Haus voller Grauen an. Irgendwie kommt mir das Gefühl bekannt vor.
»Guten Morgen, Ma’am«, nuschelt Mr. Watson, als er in die Küche kommt. »Haben Sie, ähm, irgendwo zufällig einen Hammer herumliegen sehen? Ungefähr so groß, mit rot-schwarzem Griff?«
Mom schüttelt den Kopf.
»Nein, hab ich nicht.«
Mr. Watson verlagert das Gewicht auf seinen hinteren Fuß. »Oh. Ähm, okay. Es ist nur … einer der Burschen hier … Er muss ihn wohl irgendwo verloren haben.«
Er gesellt sich wieder zu den anderen in den Vorgarten, um sie über die Sachlage zu informieren. Darauf folgt eine gleichermaßen angespannte wie gedämpfte Diskussion. Die Arbeiter scheinen sich kaum ins Haus zu trauen.
Den Rest des Tages verbringe ich damit, hin und her zu rennen und Sammy und Mom beim Auspacken zu helfen. Als frisch konvertierte Minimalistin habe ich nicht viel zum Auspacken: ein paar Hemden, kurze Hosen und Kleider, alle entweder weiß oder beige, dazu Fotos in weißen Plastikrahmen, eine weiße Steppdecke und Bluetooth-Lautsprecher. Alles andere wurde verbrannt.
Als Mom in ihrem Büro verschwindet und Sammy eine Pause einlegt, um in seine Videospiele abzutauchen, beschließe ich, mich dem Fernsehzimmer zu widmen. Dort sprühe ich im Rhythmus zu Post Malone eine Mischung aus Reinigungsalkohol und destilliertem Wasser in alle Ecken und Ritzen.
SCHON GEWUSST? Sprüht man 91-prozentigen Isopropylalkohol direkt auf die befallenen Oberflächen, dann kann man Bettwanzen abtöten oder vertreiben, indem man ihre Zellen zersetzt und die Eier austrocknet.
Das gemütliche Wohnzimmer ist eine ideale Brutstätte für Bettwanzen. Ich besprühe die Fensterrahmen und die eingelassenen Bücherregale, während ich versuche, die Farbschicht darauf zu schonen.
KNARRRRR …
Ich spüre das Knarren, obwohl ich es nicht höre. Die Bodendielen hinter mir biegen sich unter etwas Schwerem durch.
»Ich weiß, Sammy«, seufze ich, ohne mich umzudrehen. »Ich weiß, wie verrückt das aussieht. Aber ihr werdet mir noch dankbar sein, wenn wir unsere Matratzen nicht ins Feuer werfen müssen.«
Ich ziehe einen der AirPods aus meinem Ohr und drehe mich um. Ich bin allein – zumindest auf den ersten Blick. Denn ich spüre eine Präsenz im Raum … wie ein Nebel, der unsichtbar über den Boden wabert.
»Sammy?«
Im Flur quietscht eine Tür. Ich laufe durch das Wohnzimmer und in die Küche. Sie ist leer; genauso wie das Fernsehzimmer, die Sitzecke, sogar die Eingangshalle.
»Mom?«
Ihre Bürotür ist zwar geschlossen, aber durch den Türspalt höre ich Fela Kuti singen, was darauf schließen lässt, dass sie gerade in ihre Arbeit vertieft ist.
Während ich auf dem Absatz kehrtmache, läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken. Dann bleibe ich abrupt stehen. Die Kellertür steht einen Spalt offen und eine sanfte Brise pfeift hindurch.
War die schon vorher offen?
Ich stupse die Tür an, deren Scharniere leise quietschen, und spähe in die endlose Finsternis hinab. Zweimal betätige ich den Lichtschalter, aber nichts passiert.
»Hallo?«, rufe ich in die Stille, aber nur mein Echo antwortet. Nachdem ich die Kellertür wieder geschlossen habe, schlendere ich in das Wohnzimmer zurück. Ich werde den Eindruck nicht los, dass ich verfolgt werde. Plötzlich springt mir etwas aus der Zimmerecke entgegen.
»AHHH!«, schreie ich und stolpere rückwärts.
Mitten im Zimmer steht schwanzwedelnd Buddy und grinst mich treudoof an, so als wollte er sagen: »Hi! Ich hab dich vermisst!«
Lachend kraule ich ihn am Kopf. Ich bin schon viel zu lange hier eingesperrt. Ohne Kontakt zur Außenwelt ist es nur eine Frage der Zeit, bis man den Verstand verliert.
Ein Empfangsbalken. Immer noch. In allen Ecken und Winkeln des Hauses habe ich nun schon vergeblich nach Empfang gesucht. Buddy läuft schnüffelnd hinter mir her, als wäre es ein Spiel.
Es wird Zeit, die Nachbarschaft zu erkunden. In unserem Viertel scheint alles gut zu Fuß erreichbar zu sein – was mir in Anbetracht des Fahrverbots, das mir Mom und Alec erteilt haben, sehr gelegen kommt. Sie hatten schon Schwierigkeiten damit, mich zu Tamaras Haus laufen zu lassen. Das, die Ausgangssperre um 20:30 Uhr und die obligatorischen Taschenkontrollen wirken wie Hausarrest.
»Wo willst du hin?«, fragt Sammy vom oberen Treppenabsatz aus.
Ich befestige die Leine an Buddys Halsband und schlüpfe in meine Sneaker.
»Ich werde mit Bud eine Runde spazieren gehen. Vielleicht hab ich an der nächsten Straßenecke besseren Empfang. Möchtest du mitkommen?«
Sammy zuckt mit den Achseln und trampelt die Treppe herunter. »Klar, warum nicht? Ich kann nicht glauben, dass Alec und Piper immer noch nicht zurück sind. Sie sind schon seit Stunden unterwegs.«
»Je länger wir das Balg nicht an der Backe haben, desto besser«, erwidere ich, reiße die Tür auf und renne mit dem Gesicht voran in eine Faust.
»Mari!«, ruft Sammy und fängt mich auf, als ich rückwärts umfalle. Während Buddy aufgeregt bellt, tanzen vor meinen Augen weiße Flecken.
»O Scheiße! Verdammt, bist du okay?«, erklingt eine männliche Stimme von … überall. Das Zimmer dreht sich zu schnell, um sie orten zu können.
Moment, ein Mann?
»Mom!«, brüllt Sammy. »Mom, Hilfe!«
Mom eilt aus dem Büro. »Marigold! Was ist passiert?«
»Ah, das war mein Fehler! Ich wollte gerade klopfen, die Klingel scheint kaputt zu sein … und … O Mann, tut mir leid! Hier, lass mich dir aufhelfen.«
Zwei raue Hände packen mich am Arm und versuchen mich hochzuziehen, aber ich reiße mich los.
»Mann … Was zur Hölle soll das?«, schnauze ich den Fremden an, während ich versuche, meine Augen wieder zu fokussieren.
Der Mann, dessen Faust auf meinem rechten Auge gelandet war, ist eigentlich kein Mann. Er hat hellbraune Augen, schulterlange, dichte Dreadlocks und wirkt kaum älter als ich. Als mir plötzlich bewusst wird, dass ich wie der Kreideumriss eines Tatorts ausgestreckt vor ihm liege, setze ich mich hastig auf. Das Zimmer dreht sich noch, während Mom mich untersucht.
»Wie kann ich helfen?«, fragt sie leicht genervt.
»Ähm, ach so. Yusef Brown, mein Name. Ich gehöre zur Brown Town Mowing Company. Wir, ähm, haben Ihren Mann an der Tankstelle um die Ecke getroffen. Er hat erwähnt, dass Sie Hilfe im Garten brauchen, und uns gebeten, mal vorbeizuschauen.«
Seine Haut leuchtet in einem satten Mokkabraun, wie heiße Schokolade mit Kokosmilch an einem kühlen Tag am Strand. Du lieber Gott, ich hoffe, die kitschigen Metaphern in meinem Kopf schaffen es nicht bis zu meinem Mund.
Mom schnaubt. »Sammy, hilf mir mal, sie hochzuziehen. Wir müssen ein Stück mit ihr herumlaufen, um sicherzustellen, dass sie keine Gehirnerschütterung hat.«
»Nee, lassen Sie mich das machen«, beharrt Yusef.
»Mir geht’s gut, ich …«
Wuuusch …
Schon bin ich wieder auf den Beinen und schwanke wie ein langsamer Kreisel.
»Na, siehst du. Bist du in Ordnung? Und … Mann, Mädel. Du bist ganz schön groß!«
»Danke für den Hinweis, Sherlock«, murre ich.
Aber er ist genauso groß, mindestens 1,90. Ich wusste nicht, dass Jungs so groß werden können. In Kalifornien habe ich schon in meinem zweiten Jahr auf der High School alle überragt.
»Ein hübsches Häuschen habt ihr da«, bemerkt er, während er mich um die Kücheninsel herumführt. »Wie wär’s mit einem Schluck Wasser? Wenn ich aufs Maul kriege, dann brauche ich zuerst was zu trinken.«
»Ja. Wasser«, stöhne ich, unfähig, in ganzen Sätzen zu sprechen. Mom schüttelt den Kopf. »Ich hole dir einen Eisbeutel. Sammy, bring deiner Schwester ein Glas Wasser.«
Sammy schlurft in die Küche, ohne mich aus den Augen zu lassen. Er ist kreidebleich, genauso wie damals, als er mich vor sechs Monaten gefunden hat. Der arme Kleine. Ich habe ihm schon wieder einen Schrecken eingejagt.
»Mir geht’s gut, Sammy. Alles in Ordnung.«
Er nickt und reicht mir zitternd das Wasserglas. Yusef hebt die Hand zu einem Fistbump.
»Was geht, Sam? Ich bin Yusef. Yo, mach dir um deine Schwester keine Sorgen, die ist hart im Nehmen.« Er zwinkert mir zu. »Hab gestern einen Kumpel ’ne Straße weiter vermöbelt, und der liegt immer noch flach.«
Sammys Augen weiten sich. Yusef schenkt ihm ein strahlendes Lächeln und klopft ihm auf die Schulter.
»Ich verarsch dich doch nur, Mann! Yo, Bock auf Süßkram? Ist vielleicht schon ein bisschen angeschmolzen, aber ich hätte ein Snickers dabei und …«
»NEIN!«, brülle ich.
»Fallen lassen!«, kreischt Mom.
Yusef wirft das Snickers zu Boden und reißt die Hände hoch.
»Tut mir leid, Sammy reagiert allergisch auf … tja, eigentlich auf alles«, erkläre ich entschuldigend. »Aber ganz besonders auf Nüsse.«
»Deswegen hat mein Mann euch vermutlich angesprochen. Gestern Abend hatte ich erwähnt, den Rasen wegen Sammys Allergien kurz halten zu wollen.«
»Oh. Mein Fehler. Hatte nicht die Absicht, Ihre Kinder umzulegen.«
Mom kichert, während sie mir behutsam einen Kühlbeutel auf das Auge drückt. Ich verkneife mir ein Wimmern und zucke zusammen, als ich die eisige Kälte auf der Haut spüre.
Yusef mustert mich aufmerksam. Während er mich mit einer Hand am Ellenbogen festhält, lehnt er sich nach vorn und schnuppert.
Riecht er etwa an meinem Haar?
»Mmh. Riecht gut«, sagt er. »Was ist das?«
»Lavendel«, antwortet meine Mom für mich. »Damit lässt sich’s leichter kämmen.«
Er nickt und nimmt ihr den Eisbeutel ab. Dabei kommt er mir so nahe, dass ich ihn für einen Moment aus der Nähe betrachten kann. Er ist süß, aber auf eine arrogante, selbstbewusste Art. Auf solche Kerle reagiere ich so allergisch wie Sammy auf Nüsse.
Dann klopft es an der Tür.
»Oh, das ist wahrscheinlich mein Onkel. Er fragt sich bestimmt, wo ich bleibe.«
»Ich mach auf«, sagt Mom und hastet Richtung Tür.
»Also, ich hab deinen Namen vorhin nicht verstanden«, sagt er grinsend.
»Marigold Anderson«, antworte ich knapp.
»Marigold«, sinniert er. »Wie die Ringelblume. Sie blüht nur für ein Jahr, dann geht sie ein. Interessant.«
Ich bin mir nicht sicher, wie ich die Bemerkung auffassen soll, also wechsle ich das Thema. »Wohnst du in der Nähe?«
»Nicht weit weg. Drüben zwischen der Rosemary und der Sweetwater Avenue, neben der Middle School.«
»Hey! Dort gehe ich ab nächster Woche zur Schule«, meldet sich Sammy zu Wort.
»Oh, echt jetzt? Ich war ebenfalls dort. Nimm dich vor Miss Dutton in Acht. Die ist eine richtige Schreckschraube!« Dann lächelt er mich an. »Also, ich schätze, du gehst auf die Kings High?«
Ich verdrehe die Augen. »Wahrscheinlich.«
»Neue Schulen sind immer schwierig, aber immerhin hast du dort schon einen Freund gefunden.«
Wer hat irgendwas davon gesagt, dass wir Freunde sind?
Als Mom zu uns zurückkehrt, trottet ein älterer, glatzköpfiger Mann hinter ihr her, der ihm verblüffend ähnlich sieht. Yusefs Onkel sieht sich im Zimmer um – sein Blick fällt zuerst auf das Snickers auf dem Boden, dann auf seinen Neffen, der irgendeinem fremden Mädchen einen Eisbeutel auf das Gesicht drückt – und schnaubt.
»In welchen Schlamassel bist du jetzt schon wieder geraten, Junge?«
»Hey Onkel, das sind Marigold und mein neuer bester Freund Sam.«
Sein Onkel kichert. »Schön, euch kennenzulernen. Ich bin Mr. Brown.«
Mom führt Mr. Brown in den Garten hinter dem Haus, um ihm die Hecken zu zeigen, die gestutzt werden müssen.
Sammy bringt Buddy durch die Vordertür nach draußen, um ihn zu beruhigen, und lässt mich mit Yusef allein. Während der mir den Eisbeutel weiter auf das Gesicht drückt, lässt er seinen Blick durch den gesamten Raum wandern, wie bei einer Bestandsaufnahme.
»Du weißt schon, dass ich auch allein zurechtkomme, oder?«, murre ich.
»Klar, aber mit meiner Hilfe ist es doch viel angenehmer, findest du nicht?« Er lehnt sich über meine Schulter und nickt in Richtung Terrarium. »Dein Sukkulentengarten dort drüben ist ja echt erste Sahne. Das ist die größte Hauswurz, die ich je gesehen hab. Und die Steine wurden wirklich hübsch angeordnet … Was? Worüber lachst du?«
»Es ist lustig, einem Kerl zuzuhören, wie … na, keine Ahnung, wie er von der Bepflanzung eines Terrariums schwärmt.«
Er zuckt mit den Achseln. »Hey, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Wo hat deine Mom das her? Online kosten die Dinger ein Vermögen.«
»Ich hab es selbst angelegt.«
»Ha! Ohne Scheiß? Bist ganz schön talentiert, Kali.«
Ein Spitzname. Ich spüre, wie eine erste Knospe in meinem Herzen sprießt, und reiße sie an der Wurzel aus.
»Also, du arbeitest schon eine ganze Weile für deinen Onkel, oder?«
»Seit ich klein war. Sein Fachgebiet ist Rasenpflege und Unkrautvernichtung. Ich bin der Gärtner, der Künstler.«
»Ich hatte mal einen Garten«, sage ich leise und bin überrascht, etwas so … Persönliches preiszugeben.
»Ach, wirklich? Na, vielleicht können wir gemeinsam einen neuen anlegen.« Er lächelt. »Ich hab das passende Werkzeug.«
Arrogant, großspurig und viel zu selbstbewusst … Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich reiße ihm den Kühlbeutel aus der Hand.
»Ähm, ja. Ich glaube, du solltest langsam gehen.«
Er lacht.
»Entspann dich! Ich verarsch dich doch nur!«
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Solltest du nicht lieber nachsehen, ob dein Onkel Hilfe braucht oder so?«
Yusef wird ernst, während er darüber nachdenkt, ob er es weiter versuchen oder aufgeben soll. Er entscheidet sich für Letzteres und schüttelt schweigend den Kopf, bevor er endlich an mir vorbeigeht. Sobald die Hintertür ins Schloss fällt, atme ich tief durch.
Mach dir keinen Kopf, ermahne ich mich und taste meine Hosentaschen ab. Er ist es nicht wert und … Hey, wo ist mein Smartphone?
Das einzig Gute an meinem damaligen Bettwanzenbefall ist meine neu entwickelte Fähigkeit, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen auf Anhieb zu finden. Ich verfolge meine Spuren zurück durch den Eingangsbereich, das Wohnzimmer und die Küche. In all der Aufregung muss es hinuntergefallen sein, aber ich sehe es weder auf dem Boden noch auf den Oberflächen. Ohne WLAN kann ich zwar nicht die Find My Phone-App auf meinem Computer starten, aber vielleicht kann ich es von Moms Handy aus anklingeln – das heißt, falls sie Empfang hat.
»Mom! Kann ich mir kurz dein Handy ausleihen?«, frage ich sie von der Veranda aus. »Ich kann meins nicht finden.«
»Klar, Schatz, es liegt im Schlafzimmer.«
Unter Yusefs wachsamem Blick haste ich zurück in das Haus.
Mach dir keinen Kopf. Du bist nicht für die Gefühle anderer Leute verantwortlich. Nur für deine eigenen.
Dort auf der Treppe liegt mein Smartphone, mit dem Display nach oben – mitten auf der dritten Stufe, als hätte es jemand dort drapiert. Ich kratze mir den Kopf, vielleicht ein wenig zu fest. Vorhin lag es noch nicht dort. Ich erinnere mich noch genau daran, nachgesehen zu haben. Auf dem dunklen Eichenholz ist der große helle Fleck nicht zu übersehen. Jemand muss es dort abgelegt haben.
Sammy. Das kann nur er gewesen sein.
3
»Da sind wir gerade mal einen Tag in der neuen Stadt, und du lässt dir schon aufs Maul hauen.«
»Halt die Klappe, Sammy«, erwidere ich lachend.
Sammy spritzt mich mit Wasser voll, während ich die Teller abtrockne. Zu Hause hätte ich das Abendessen ausgelassen, um stattdessen zu Tamara zu gehen, mir mit ihr einen Joint zu gönnen und ihr von meinem Zusammenstoß mit Yusef zu berichten. Hätten wir WLAN, dann hätte ich sie wenigstens via FaceTime angerufen.
»Ihr wisst aber schon, dass wir einen Geschirrspüler haben, oder?«, fragt Alec und zeigt auf die in die Küchenzeile eingelassene Maschine neben mir.
»Oh, stimmt ja. Hab ich vergessen«, antworte ich achselzuckend. »Wir hatten noch nie einen Geschirrspüler.«
»Außerdem macht es viel mehr Spaß, gemeinsam abzuwaschen«, ergänzt Sammy und spritzt mich weiter nass.
Piper beobachtet uns mit steinerner Miene vom Esszimmertisch aus. Höchstwahrscheinlich sucht sie gerade fieberhaft nach einer Möglichkeit, unserer heiteren Zweisamkeit ein Ende zu setzen. Es wirkt fast so, als würde sie auf Freude allergisch reagieren.
»Hey, ihr zwei! Passt auf den Holzboden auf!«, ermahnt uns Mom. »Na schön, ich verschwinde ins Bett. Mein Rücken bringt mich sonst um.«
Alec umrundet den Tisch und massiert ihr die Schultern.
