Der blaue Himmel trügt - Reinhold Stecher - E-Book

Der blaue Himmel trügt E-Book

Reinhold Stecher

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Beschreibung

Erinnern – gedenken – mahnen Wie Bischof Reinhold Stecher die NS-Diktatur und den Krieg erlebt hat Achtzig Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ist und bleibt es geboten, die Erinnerung an die Gräuel und die Folgen des nationalsozialistischen Terrorregimes wach zu halten. Bischof Reinhold Stecher hat das als Zeitzeuge dieser – unseligen Zeit, die kein Altgold heroischer Verklärung verdient –, immer wieder mahnend getan. Dieses Buch spannt den Bogen von der Programnacht des 9./10. November 1938 in Innsbruck bis zur Rückkehr Stechers nach Österreich im Herbst 1945. 1941 wurde er von der Gestapo verhaftet, 1942 als Funker eines Gebirgsjäger-Regiments bei Ramuschewo (Russland) verletzt und 1943 an der finnisch-russischen Grenze eingesetzt, ehe er nach tausenden Kilometern Rückzug im Fjord von Trondheim (Norwegen) das Kriegsende erleben durfte. In Stechers Erinnerungen reicht, wie er schreibt, die Skala der wechselnden Gefühle von Entsetzen und Zorn über kritisches Bedenken und ehrfurchtsvoller Verneigung bis zur hoffnungsvollen Veränderung mit dem Blick auf die Verwirklichung einer Zivilisation der Liebe.

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Reinhold Stecher

Der blaueHimmel trügt

Erinnerungen an Diktatur und Krieg

Mit Aquarellen und Zeichnungen des AutorsHerausgegeben von Paul Ladurner

Mitglied der Verlagsgruppe „engagement“

2018

© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag

unter Verwendung eines Bildes von Reinhold Stecher

Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag

Lithografie: Artilitho, Lavis (I)

Druck und Bindung: L.E.G.O., Vicenza

ISBN 978-3-7022-3687-8 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-7022-3688-5 (Ebook)

E-Mail: [email protected]

Internet: www.tyrolia-verlag.at

Inhaltsverzeichnis

Eine kleine Vorbemerkung

Der blaue Himmel trübt – Frontflug über Karelien

Machtergreifung und Arbeitsdienst

70 Jahre „Reichskristallnacht“

Das Tischgebet der Tyrannei

Der letzte Bauernaufstand

Wallfahrt und Haft

Die Ereignisse um Maria Waldrast und die Folgen

Großer Brauner und Faschingskrapfen

Der Rasierseifendosendeckel

Das Lied der Lieder

Als Soldat in Russland, Lappland und Norwegen

Horror und Helfen

Das Tragtier Regina

Als die Zillertalbahn nach Ramuschewo fuhr

Heizmaterial

Die Turmuhr, die am Karfreitag sieben Mal schlug

Die Schwingtüre

Die Mühle

Die Goldene Stadt

Der Brotholer

Das Gloria in der Polarnacht – Heiliger Abend 1943

Der Deserteur

Der Antiheld

Schutzengelfest

Ein altes Lied berührt mich noch immer

Das Kronennordlicht

Die letzte Feldpostkarte

Das Lateinbuch

Nachhall

Pietät

Das Trauma

Nachwort des Herausgebers

Eine kleine Vorbemerkung

Wenn man mit den Erinnerungen in die unseligen Zeiten von 1938 bis 1945 zurückgreift, hat man fast das Bedürfnis, sich zu entschuldigen. Man fühlt sich wie ein redseliger Veteran. Und ich bin mir bewusst, dass diese Zeit, die für mich in der Gesamtbilanz persönlich, familiär, gesellschaftlich und politisch schrecklich war, kein Altgold heroischer Verklärung verdient. Aber andererseits gibt es heute so viele, die wissenschaftlich, literarisch oder journalistisch über diese Zeiten schreiben. Und es gibt viele wirklichkeitsverzerrende Filter, die da über die Darstellungen gelegt werden. Also ist es vielleicht auch berechtigt, wenn einer der noch verbleibenden Zeitzeugen das eine oder andere auch festhält.

Der blaue Himmel trügt

Frontflug über Karelien 1943

Der blaue Himmel trügt.

Die Wolken gaukeln

Friedensspiele vor.

Ihr Weiß hat keine Unschuld.

Sie sind nur Versteck

für Jäger und Gejagte.

Die Wälder und die Seen

unter mir – sie lügen alle.

Durch ihre Schönheit

schleicht der Tod zu Fuß,

durchquert die Sümpfe,

lauert in den Birken,

heult triumphierend

in der Flugbahn der Geschosse

und rastet dann

dort hinten,

rechts der Rollbahn,

auf dem Friedhof,

bei den vielen Kreuzen,

zufrieden aus.

Und er hat Grund dazu.

Verfluchter Flug,

du machst den Traum des Ikarus

zum Alptraum …

Wenn er jetzt

zur Wende ansetzt, der Pilot –

was wendet,

und wohin?

Der blaue Himmel trügt.

Mein Gott,

was ist aus deiner Welt geworden …

Reinhold Stecher

70 Jahre „Reichskristallnacht“

Vortrag am 9. November 2008

Es ist nicht leicht, als Zeitzeuge für diese dunkle Stunde des Landes eine Festansprache zu halten. Diese Nacht bietet eine Serenade des Grauens, ein Festival der Beschämung. Und vieles geht mir in diesem Augenblick durch den Sinn. Ich will versuchen, in die Skala der Gefühle ein wenig Ordnung zu bringen …

Das erste und unmittelbarste Gefühl war das Entsetzen. Ich kann mich noch erinnern, wie meine Mutter fassungslos zu mir gesagt hat: „Heute Nacht haben sie den lieben 88-jährigen Herrn Diamant ein paar Häuser weiter, an der Ecke Adamgasse–Salurner Straße, über die Stiege hinuntergeschlagen, dass die Blutspuren an den Wänden waren … Und der Herr Graubart ist tot …“ Wir waren doch immer bei Graubart zum Schuhe-Einkaufen. Und immer war der Herr Graubart im Geschäft, ein freundlicher Herr, den meine Mutter gekannt hat, für mich der Inbegriff des seriösen Kaufmanns. Meine Mutter hat auch Angestellte von ihm gekannt, die immer betont haben, dass der Chef so korrekt und sozial sei … Und nun ist er tot. Einfach umgebracht. Nicht von irgendeinem Mob aus kriminellen Kreisen. Nein, Akademiker waren dabei, Hochschüler aus den einschlägigen Organisationen. Und da waren bei den Horrorgerüchten dann die Namen meiner ehemaligen jüdischen Mitschüler (sie waren alle rechtzeitig außer Landes gegangen), aber die Elterngeneration war vielfach noch da. Die Namen Bauer, Berger, Grünhut, Pasch … Und die Kurzmanns mit dem kleinen Geschäft in der Altstadt. Ihr Sohn ist der Einzige, der von meinen Mitschülern noch lebt – in England. Er hat mir erzählt, wie er seine Eltern beschworen hat, doch auch mit ihm ins Ausland zu gehen. Sie wollten nicht. Der Vater hat gesagt, er sei doch Weltkriegsteilnehmer, mit Auszeichnungen, da könne doch nichts passieren … Sie sind geblieben und endeten in den Gaskammern … Wenn man diese Familienschicksale erlebt hat, befällt einen noch immer das lähmende Entsetzen. Wir wussten, welche Dämonie an der Macht war. Mein älterer Bruder hatte mit dem Gefängnis der Gestapo schon Bekanntschaft gemacht. Aber nun, in der „Kristallnacht“, war sie in voller Wucht da, die „Stunde der Finsternis“ – und mit ihr das Entsetzen.

Und das Zweite, das heraufsteigt, ist der Zorn. Ich habe meine Mutter noch nie so zornig gesehen. Ich lese jetzt gerade den Propheten Amos, den ältesten der Propheten. Er ist voller Empörung. Und seine Aufregung gilt nicht so sehr einer mangelnden Frömmigkeit, sein Zorn richtet sich gegen die Auflösung des Rechtsstaats. „Weh denen, die das Recht in bitteren Wermut verwandeln und die Gerechtigkeit zu Boden schlagen. Bei Gericht hassen sie den, der zur Gerechtigkeit mahnt, und wer Wahres redet, den verabscheuen sie … Ihr bringt den Unschuldigen in Not und verweigert dem Armen das Gericht …“

In der Kristallnacht hat der nationalsozialistische Staat sozusagen vor der Weltgeschichte feierlich seine Visitenkarte abgegeben, den Ausweis mit der fundamentalen Auflösung des Rechtsstaats. Die so genannte Volkswut war ja bestens organisiert: Sie spielten perfekt zusammen: Reichsregierung und Parteileitung, alle Dienststellen der SA und der SS, Sicherheitsdienst und Gestapo, Gauleiter und Kreisleiter, Stadtführung und die Schutzpolizei, die auf die verzweifelten Anrufe nicht reagieren durfte, Brandstifter und Mörder – und die verstummte Justiz. Und die Ermordeten und die 5000 zerstörten Synagogen und Geschäfte und die 30.000 Juden, die im Zusammenhang mit dieser Nacht in die KZs geliefert wurden. Das alles war nur ein Präludium für noch viel Schlimmeres. Aber die „Kristallnacht“ war die feierliche Bankrotterklärung des Rechtsstaates. Der Staat und das organisierte Verbrechen waren identisch.

Es ist schwer, Entsetzen und Zorn über Ereignisse, die 70 Jahre zurückliegen, einer jungen Generation von heute nahezubringen. Der Zeitzeuge ist in der Generation der Urgroßväter. Und es ist sicher verkehrt, einer später geborenen Generation irgendwelche Schuldvorwürfe zu machen. Aber ich habe bei Jungbürgerfeiern immer versucht, ein wenig nahezubringen, was für ein Wert der Rechtsstaat ist. Ideal kann er nie ganz verwirklicht werden. Aber wer ihn fundamental auflöst, wie das Dritte Reich, der wird als Regierung moralisch illegal und den trifft zu Recht der Zorn des Amos, der damals auch ohnmächtig war, aber der durch das Buch der Bücher weitergeht, als Drohung für alle Verächter der Menschenrechte.

Nach Entsetzen und Zorn erfordert aber die Erinnerung an die „Kristallnacht“ die Übersiedlung in den Raum des kühleren Bedenkens. Man muss die Hintergründe zu erfassen versuchen, den Wurzelverzweigungen des Hasses nachgraben, den Nährboden für Vorurteile, Sündenbocktendenzen, Horizontverengungen, Rassestolzdummheiten und Aberglauben.

Und da stoße ich unausweichlich auf den christlichen Antijudaismus. Er ist ein immer wieder auftauchendes Gespenst der abendländischen Geschichte und eine schwere Hypothek meiner Kirche.

Wenn man in die Welt mehr Licht bringen will, darf man den belastenden Schatten der Vergangenheit nicht ausweichen. Unser damaliger Professor für Kirchengeschichte, Josef Maaß SJ, der große Fachmann für Kirche und Politik, hat in der Vorlesung gesagt, wie wir auf die dunklen Dinge wie Hexenwahn und Judenhass und Ähnliches gestoßen sind: „Meine Herren, in der Kirchengeschichte gibt es nur eine Frage: Was ist gewesen und warum ist es dazu gekommen? Ob uns die Antwort passt oder nicht, es kann nur um die Wahrheit gehen, die man weder beschönigend verdrängen noch propagandistisch übertreiben darf …“ Es ist in der Kirchengeschichte wie in der Weltgeschichte: Die verfälschenden Übermaler sind immer am Werk. Die Wahrheit kann zwar unangenehm und beschämend sein, aber sie macht nüchterner, bescheidener, demütiger, antitriumphalistisch, wachsamer, sensibler für Gefahren.

1. StationInnsbruck, Mai 1938

Derzeit ist in Tirol das Rundgemälde über die Bergiselschlacht 1809 im Gespräch. Ich habe für das Bildungsprogramm eigentlich ein anderes, größeres Rundgemälde der heimischen Geschichte im Auge, das nicht nur die heroischen und glanzvollen Seiten der Historie konserviert, sondern eben auch die Schatten. Und in dieses Rundgemälde gehört beides: Bergiselschlacht und „Kristallnacht“. Und daraus sollte eine größere Sensibilität für Fehlentwicklungen der Vergangenheit und lauernde Gefahren der Gegenwart erwachsen, eine Sensibilität, die nicht nur dann reagiert, wenn irgendein Dummkopf in der Straßenbahn „Sieg Heil“ schreit, sondern auch in den höheren Etagen der Tagespolitik, bei Parteilaufbahnen und parlamentarischen Spielen.

Aber wenn ich an die Schrecken der „Kristallnacht“ denke, bewegen mich nach Entsetzen, Zorn und kritischer Analyse auch andere Gefühle. Ich fühle das Bedürfnis, mich zu verneigen.

Ich möchte mich verneigen vor den vielen unschuldigen Opfern. Sie sind im Frieden, weil Gott auf der Seite der Bedrängten und Verfolgten ist. Ich habe ein besonderes Bedürfnis, mich tief zu verneigen vor jenen großen Persönlichkeiten, die so Schreckliches erlebt, aber dann als Überlebende sich nicht nur tiefe Menschlichkeit bewahrt haben, sondern sich positiv für die Schaffung eines humanen Klimas und für Versöhnung eingesetzt haben. Ich darf hier zwei Beispiele erwähnen.

Das eine ist unser verehrter, nunmehr heimgegangener Prof. Jakob Allerhand, Universitätsprofessor für Judaistik in Wien. Ich war mit Sascha befreundet. Er hat mir seine Kindheit und Jugend erzählt. Als Zwölfjähriger ist er dem Todeslager entflohen. Über die Pripetsümpfe wurde das Waisenkind nach Sibirien verfrachtet, kam nach Kasachstan und dann auf abenteuerliche Weise in den Westen. Dieser Mann, mit dieser erschütternden Biografie, hat sich in Österreich immer für die Versöhnung von Kirche und Judentum eingesetzt. Und das ist bewundernswert. Denn wer so lange Bitterkeit im Leben gekannt hat, dem wäre nicht übelzunehmen, wenn er Verbitterung in sein Wesen aufgenommen hätte.

Ein zweiter Großer dieser Art, mit dem ich noch korrespondieren durfte, war Viktor Frankl, der Tiefenpsychologe und Schöpfer der Logotherapie. Ich bin auch dankbar, dass ich dieser für mich nicht selbstverständlichen Offenheit und positiven Einstellung bei Persönlichkeiten der Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck begegnen durfte. Ich schenke ihnen allen im Gedenken an das, was sie erleben mussten, eine tiefe Verneigung.

Und schließlich ertönt aus diesem Gedenken gebieterisch ein Befehl, ein Appell, ein Impuls: Verändern!

Wir dürfen in diesem Gedenken nicht im Nostalgischen hängen bleiben, auch nicht in einer Nacht, in der uns das Böse in seinen Bann schlägt.

An sich leben wir ja in einer Epoche, in der sich die Innovationen und Veränderungen in allen Bereichen der Menschheit überschlagen. Aber wenn es um Veränderungen in tiefsitzenden Grundhaltungen geht, in jahrhundertelang eingefressenen und eingerosteten Vorurteilen und irrationalen Abwehrhaltungen, dann ist Veränderung gar nicht so einfach. Überkonservativ eingestellte Kreise stemmen sich in Teilen der Gesellschaft gegen derartige Veränderungen. Manchmal klammert man sich sogar an pseudoreligiöse Begründungen. Das haben wir in der Kirche in den mutigen Vorstößen Johannes’ XXIII. und des Konzils zu spüren bekommen, als die Neugestaltung der Beziehungen zum Judentum auf dem Programm stand. Wer Mentalitäten verändern will, braucht eine tiefe Überzeugung und einen langen Atem der Geduld. Es ist bekanntlich auch mühsam und langwierig, kontaminierte Böden zu sanieren. Bei den Veränderungen gegen Antijudaismus und Antisemitismus geht es auch um giftige Altlasten am Grunde der Seelen.

Aber, meine verehrten Freunde, ein bisschen hat sich verändert. Ich war jahrzehntelang in Jugendarbeit und Schule. Ich weiß, dass der überwältigende Teil der jüngeren Generation mit diesen Vorstellungen von gestern und vorgestern nichts mehr am Hut hatte. Und ich freue mich über das herzliche Verhältnis zur Israelitischen Kultusgemeinde in Innsbruck und ihre Integration in der Öffentlichkeit. Sie ist nicht mehr eine isolierte Gruppe am Rande der Gesellschaft. Sie gehört zur Stadt und zum Land. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich mit dem Bus durch die Sillgasse fahre und immer wieder eine Schulklasse vor der Synagoge stehen sehe zur Besichtigung – genau dort, wo sie vor 70 Jahren gebrannt hat. Ich freue mich, dass unser Kristallnachtdenkmal zwar nicht so imposant ist, aber dass es im Wettbewerb von jungen Menschen in den Höheren Schulen gestaltet wurde. Und ich freue mich, wenn der Verschönerungsverein zusammen mit der Stadt einen ehemaligen jüdischen Friedhof, der dem Judentum ja besonders heilig ist, eine würdige Gestaltung sichert, obwohl der Platz bei den meisten gar nicht mehr im Bewusstsein war.

Ich freue mich über diese Veränderung, zu der das Ansehen und die geistige Offenheit einer Persönlichkeit wie Frau Prof. Dr. Esther Fritsch, aber auch die der Stadtgemeinde und des Landes wesentlich beigetragen haben. Es hat sich doch auch ein wenig verändert. Und so zeigt auch die dunkelste Nacht unserer lieben Stadt einen hellen Streif am Morgenhimmel.

Das also ist die Skala der wechselnden Gefühle in diesem Gedenken von Entsetzen und Zorn, über kritisches Bedenken und ehrfurchtsvolle Verneigung bis zur hoffnungsvollen Veränderung mit dem Blick auf die Verwirklichung einer Zivilisation der Liebe.

Das Tischgebet der Tyrannei

Die Machtübernahme durch den Nationalsozialismus in Österreich hat unser junges Leben völlig verändert. Unser alter Geschichtslehrer hatte in der letzten Stunde noch gesagt: „In diesen Tagen entscheidet es sich, ob Österreich unabhängig bleibt oder nicht. Ich muss euch etwas sagen: Wenn Österreich ausgelöscht wird, gibt es in Mitteleuropa eine Machtzusammenballung, die sich weiter ausdehnen wird. Das werden die anderen nie hinnehmen. Es wird wieder zu einem Krieg kommen, den wir genauso verlieren werden wie den Ersten Weltkrieg …“

Mit dem 13. März 1938 wurde jeder, der nicht mitmarschierte, ein Staatsbürger dritter Klasse. Und wir konnten, im Glauben von Elternhaus und Jugendbewegung geprägt, nicht mitmarschieren. Wir haben auch nie daran geglaubt, dass es zwischen Christentum und Nationalsozialismus je einen Kompromiss geben konnte. Darum haben wir den Versuch Kardinal Innitzers, mit einer Gefälligkeitserklärung das Schlimmste von der Kirche abzuwehren, nie verstanden. Aber Innitzer war nicht einfach die Kirche. Für die treue Basis der Kirche begann sofort die Verfolgung. Im Gau Tirol war sie am radikalsten.

Ich glaube, dass ich hier das allgemein vermittelte Geschichtsbild etwas korrigieren muss. Eine spätere, bis in universitäre Kreise üblich gewordene Darstellung war bemüht, mithilfe der damals gedrehten Propagandafilme den Eindruck zu erwecken, dass im angeschlossenen Österreich alle nur gejubelt hätten. Aber die Tausenden (und ihre Familien), die allein in meiner engeren Heimat in jenen Tagen verhaftet wurden, der vollständigen Willkür ausgeliefert waren und zum Teil in die Konzentrationslager wanderten, wurden nicht auf Zelluloid gebannt. Es gab hierzulande kaum eine bekennende katholische Lehrerin oder einen Lehrer, der nicht strafversetzt wurde. Viele hat diese Strafversetzung – für die schon eine Mitwirkung in der Kirche genügte – in fremde Länder verschlagen. Die beruflichen Chancen waren allein von der Partei bestimmt. Das Spinnennetz der Überwachung legte sich über jedes kirchliche Leben. Ein Ausflug eines Kaplans mit vier Jugendlichen galt bereits als illegale Gruppenbildung. Mein kleiner Bruder wurde mit 15 Jahren verhaftet, weil er der Boss der Ministranten war.

Ich wollte nur sagen: Es gab viele kleine Leute, die sich nicht beugten und schwerste Schicksale auf sich nahmen. Es gab österreichische Beamte, die ohne Arbeit mit ihren Familien jahrelang in schwierigsten Verhältnissen gelebt haben; Seelsorger, die des Landes verwiesen wurden; Frauen, die man in die Gefängnisse verfrachtete, weil sie in der Pfarre oder einer Organisation der Kirche aktiv waren. Von all diesen Tausenden von kleinen Schicksalen gibt es keine Filme, keine Dokumentation und darum auch keine Berücksichtigung im heutigen Geschichtsbild. Die aktenkundige Dokumentation fehlt auch deshalb, weil die Kirche nach dem Krieg von sich aus keinen einzigen Prozess angestrengt hat. Es wären viele Hunderte fällig gewesen. Diese Haltung war vom christlichen Standpunkt aus richtig, für die spätere Darstellung der objektiven Gegebenheiten aber verhängnisvoll.

Und so kommt es immer wieder zur vorwurfsvollen Frage der später Geborenen: „Warum wart ihr damals nicht mutiger? – Warum hat sich niemand gewehrt?“ Ganz abgesehen davon, dass Widerstand – auch in der geistigen Form – in einem derartigen System äußerst schwierig und immer mit Lebensgefahr verbunden ist: Es gab in jenen Tagen durchaus Bekennermut, auch wenn ihm keine Denkmäler gesetzt wurden.

Mir geht es nun um einen Augenblick, in dem sich der Ungeist der Zeit sozusagen konzentriert hat. Drei Tage nach der Matura kamen wir zum Reichsarbeitsdienst. Man nannte dieses erdbraune, mit blinkenden Spaten exerzierende Heer hochtrabend die „Schule der Nation“. Ich war siebzehn Jahre alt und ging neun Monate durch diese Schule, die im Wesentlichen darin bestand, mit Schleiferei und Drill das Denken möglichst auszuschalten. In den ersten Wochen durfte man sich im Lager überhaupt nur laufend bewegen. Gehen war verboten. Das erhabene Erziehungsziel dieser „Schule der Nation“ hatte ein großer Denker der Partei so formuliert: „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie die Windhunde“. So versuchte man, uns zu formen.

Ein einigermaßen ruhiger Tagespunkt war das Essen, das heißt, wenn man endlich im Tagesraum hinter dem Tisch saß. Vorher wurden Stiefelputz und Fingernägel scharf kontrolliert, da man ja den ganzen Vormittag im Dreck gelegen war. Aber schließlich saß man also da und wartete auf seinen Schlag aus der Schüssel. Da der Teufel bekanntlich der Affe Gottes ist, versuchte man für das Tischgebet einen Ersatz im Geiste des tausendjährigen Reiches mit entsprechend markigen Sprüchen.

Ich werde den ersten Tischspruch im Refektorium dieser Ordensgemeinschaft nie vergessen:

„Es wird nicht eher Friede in Deutschland, als der letzte Jude am letzten Pfaffendarm erhängt ist.“

Nach dieser richtungweisenden und appetitanregenden Parole brüllte der Feldmeister „Gut Hunger!“ – und die Abteilung brüllte zurück und löffelte dann den Eintopf.

Damals rauchten die Verbrennungsöfen der Konzentrationslager noch nicht. Die große Tötungsmaschinerie war erst im Aufbau. Es wurde in den Lagern schon gemordet, aber noch nicht zu Hunderttausenden. Man hat sich redlich bemüht, das ideologische Vorfeld entsprechend zu bearbeiten – eben mit Stimmungsmache der oben genannten Art. Und alles eigene Denken wurde mit „Stillgestanden!“, „Marschmarsch!“‚ Spaten?griffen, Paradeschrittklopfen und Liedergebrüll, mit Bettenbau und Stiefelkult, mit Schinderei bei der Schwerarbeit der Entsumpfung und Herumjagen auf dem Exerzierplatz bis zum Todmüdewerden ausgeschaltet.

Man schluckt die Sprüche und die Propaganda wie die undefinierbaren Bestandteile des Eintopfs. Irgendetwas bleibt bei den meisten weit unter der Bewusstseinsschwelle hängen. Für uns gab es eine einzige Abwehrkraft gegen diesen Wahnsinn: den Glauben. Er hatte auf einmal einen ganz anderen Stellenwert als in der Kinder- und Jugendzeit, die auf einmal so weit weg war wie ein fernes Märchen.

Nach dem Reichsarbeitsdienst haben fünf der 130 jungen Menschen in diesem Lager mit dem Studium der Theologie begonnen. Insofern war die Schule der Nation eine Pleite. Die Hassparole dieses perversen Tischgebetes hatte für mich später eine selbstverständlich ungewollte, aber doch tiefere positive Bedeutung.