Der Blick zurück - Thomas Tippner - E-Book

Der Blick zurück E-Book

Thomas Tippner

4,8

Beschreibung

Die erste Liebe im Leben ist die schönste Erfahrung, die ein Mensch machen kann. Gordon Heller wundert sich, als seine große Liebe aus Schulzeiten plötzlich wieder emotional bei ihm auftaucht, und er an nichts anderes mehr denken kann, als sie mal wiederzusehen. Ist sie denn noch das, was er damals in ihr sah? Gordon will es herausfinden und weiß plötzlich nicht mehr, wohin er gehört - in sein heutiges Leben oder in die Vergangenheit.

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Es war schon seltsam. Da lebte man sein Leben, machte den einen Schritt vor, manchmal wieder zurück oder zur Seite, um dann doch wieder ein Stück vorwärtszukommen. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, passierte es einem.

Man ahnte es vielleicht, tief in sich drin, weil man immer heimlich, still und leise danach gesucht hatte, aber bewusst erlebt hatte man es nie. Aber aus heiterem Himmel war das, was man nur in ganz einsamen Stunden vermisst hatte, da. Erst war es nur ein Gefühl, eine Regung, die man nicht wahrhaben wollte.

Ein kurzer Gedankenblitz, der einen innehalten ließ in seinem Tun, um sich dann zu fragen, als die erste Verwirrung abgeklungen war: Was war denn das? Um nach zwei, drei Tagen, an denen man seinen Alltag verfolgt, gestaltet und gelebt hatte, an diesen Augenblick zurückzudenken, der so sehr verwirrt hatte.

Sie?

Warum ausgerechnet sie?

Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen? Sieben Jahre? Zwölf Jahre?, fragte Gordon Heller sich, als er vor dem Tiefkühlregal im Supermarkt stand und gerade nach der fettreduzierten Margarine grif. Sind wir uns schon so lange nicht mehr begegnet? Zwölf Jahre?

Und jetzt, schlagartig, als wäre sie nie weggewesen, war sie wieder da und saß so fest in seinem Kopf, dass ihm flau im Magen wurde.

Ich verstehe das nicht, dachte er und vergaß völlig den um sich herum herrschenden Trubel. Warum? Wie lange bin ich jetzt aus der Schule raus? Oder habe ich sie später noch einmal gesehen?

Gordon war sich nicht sicher, während er nachdachte, ob er sie überhaupt jemals wiedergesehen hatte.

Privat auf jeden Fall nicht. Er blinzelte, als er sich vage daran erinnerte, dass er vor vier oder fünf Jahren einmal im Internet nach ihr gesucht hatte. Er hatte blind den Namen bei Google eingegeben, hatte nichts von ihr gefunden – außer dass sie ihr Abitur abgeschlossen hatte. Und das noch im gleichen Stadtteil, in dem sie zusammen aufgewachsen waren.

So hatte sich ihre Spur dann wieder verloren.

Bis heute wusste Gordon nicht einmal, warum er nach ihr gesucht hatte. Schließlich lebte er seit mehr als sieben Jahren mit ein und derselben Frau zusammen. Sie erwartete sein Baby. Und jetzt, wo er mit Sabrina einkaufen war, dachte er an eine Frau, die ihm gar nichts mehr sagte – gar nichts mehr sagen konnte.

Sie waren – im Großen und Ganzen – Fremde füreinander.

Warum aber, fragte er sich ehrlich, suche ich immer wieder nach ihr?

Katharina ...

Katharina Paulsen.

Um es ganz genau zu nehmen: Katharina-Linda Paulsen.

Linda, dachte er und musste schmunzeln.

Er hatte den Namen immer sehr schön gefunden. Besonders, weil er zu Katharina gehörte. Und dann der Nachname Paulsen. Irgendwie war das alles eine runde Sache gewesen.

Der Name sowie das Mädchen.

Er war damals schon, als sie zusammen auf die Grundschule gingen, total in sie vernarrt gewesen. Das ganze Geschwätz von Jungs und Mädchen, dass sie sich nicht mochten und ärgern mussten, hatte nie zwischen ihm und ihr existiert. Er hatte sie eher beschützt, weil er dachte, sie beschützen müssen zu müssen. Sie hat sich gerne beschützen lassen.

Das war vom ersten Tag an so gewesen, und wenn er ehrlich zu sich selber war, würde er sie auch heute noch beschützen.

Blödsinn, schüttelte er den Kopf, was denkst du da denn für einen Quatsch? Sie beschützen. Affentheater, Gordon, nichts anderes als blödes Affentheater. Du hast sie damals niedlich gefunden, ja, sie sogar in deinen kindlichen Vorstellungen geliebt. Mann, okay, du hast damals »Westerland« von den Ärzten gehört und an der Stelle »Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen« so laut mitgesungen, dass deine Mutter ins Zimmer gekommen war und grinsend gefragt hat, ob alles bei dir okay sei.

Oh ja, sie hatte damals dagestanden, durch den Türspalt geguckt und ihm einen Blick zugeworfen, den nur Mütter ihren Söhnen zuwarfen, wenn sie merkten, dass sich in ihnen etwas regte, das sie selbst einmal wie eine zum Himmel lodernde Flamme durchfahren hatte.

Ich hab sie weggeschickt, dachte er heute grinsend und erinnerte sich so lebhaft an das Schamgefühl, das in ihm aufgestiegen war, dass es ihm jetzt noch durch den Magen wehte. Nicht so stark wie damals, eher wie ein weicher, vergehender Windhauch, der raschelnd über eine Wiese wehte und es kaum schaffte, die Grashalme zu bewegen.

Bevor sie »Ist gut, mein Schatz« sagte, hat sie mich wissend angelächelt. So muttermäßig allwissend, dass ich mich nicht aus meinem Zimmer heraustraute und Angst hatte, sie würde alles über mich und Katharina Paulsen ..., nein, Katharina-Linda Paulsen wissen.

Gordon musste wieder schmunzeln, als er an die Situation dachte. Ja, er hatte sich damals wirklich ertappt gefühlt. So, als hätte er was angestellt und war erwischt worden. Dabei aber hatte er zu nichts anderem als zu einem Lied gesungen, in dem es eigentlich um nichts anderes ging als eine olle Insel im Meer, auf der Menschen ihren Spaß hatten.

In dem Moment jedoch, als er auf seinem Bett gestanden hatte, um darauf herumzuspringen, die Schallplatte das Lied spielte, hatte er genau so gefühlt, wie Farin Urlaub und Bela B. den Text gesungen hatten. Er hatte ebenso Sehnsüchte gehabt, war ebenso begeistert und verwirrt gewesen, aber doch auf einen einzigen Punkt fixiert, der ihn nicht mehr losließ.

Der ihn bis heute nicht mehr losließ ... und ihn verwirrte – besonders der Moment, der ihm vorhin wieder in den Sinn gekommen war.

Er hatte im Büro gesessen und sich mit Akten beschäftigt, als er plötzlich an sie dachte.

Nicht an Sabrina, nicht an das Baby, nein, an sie. An Katharina-Linda Paulsen.

Warum auch immer.

Er drehte sich um, um zum Einkaufswagen zu gehen. Ihn verwirrte die Tatsache, dass er sich an so viele Dinge erinnern konnte, die mit Katharina-Linda Paulsen zu tun hatte, noch mehr.

Der erste Schultag.

Das Verrückte daran war: Seltsamerweise konnte er sich nicht erinnern, was Sabrina damals getragen hatte, als sie sich kennenlernten – was Katharina, aber schon.

Es war ein weißes, schlichtes T-Shirt gewesen, dazu eine kurze Hose und schwarze, wenn er sich nicht irrte, glänzende Lackschuhe. Ihre blonden Haare waren zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden gewesen. Und die übergroße, rosafarbene Schultüte war ihm ebenso präsent wie die Tatsache, dass sie ihn an ihrem ersten Tag schon angelächelt hatte. Ihn, den Jungen aus einfachen Verhältnissen, der damals noch gar kein Verständnis für Rollenbilder und Statussymbole gehabt hatte.

Was aber hat Sabrina am Tag unserer ersten Begegnung getragen? Was? Ein bis zu den Knien reichendes Kleid, das bestickt war mit Blumen? Oder eine von ihren unmodischen, hässlichen Karottenjeans, und darüber ein viel zu großer, schlabberiger Pullover? Oder die weiße, auf Hüfte geschnittene Bluse, die ihren Busen, die Hüfte und irgendwie auch den knackigen Hintern betonte, den sie heute noch, nach sieben Jahren hat?

Ich weiß es nicht ...

Ich kann mich echt nicht erinnern.

An den ersten Geburtstag von Katharina, zu dem er eingeladen war, konnte er sich jedoch lebhaft erinnern. Und die Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen. Er wusste genau, dass er damals den ausgetragenen, alten AC/ DC-Pullover seines Bruders angezogen hatte und sich ganz schäbig fühlte, als er in Katharinas Wohnung trat. Die Cordhose war ebenso ausgeblichen gewesen und an seine Frisur wollte er gar nicht erst denken. Prinz Eisenherz wäre damals stolz auf ihn gewesen.

Als Kind war es ihm nie in den Sinn gekommen, sich über Statussymbole Gedanken zu machen. Außerdem kam er aus einem armen Haushalt. Nach der Scheidung seiner Eltern war seine Mutter froh gewesen, überhaupt irgendetwas zum Anziehen für die Kinder zu haben. Hätte es damals Oma und Opa mütterlicherseits nicht gegeben, wäre die Familie sicherlich das eine oder andere Mal hungrig ins Bett gegangen.

Verrückt, dass ich mich an das erinnere, wie ich damals ausgesehen habe. Und irre, dass ich genau weiß, was Katharina-Linda Paulsen damals getragen hat. Das rosafarbene Kleid mit den weißen, abgesetzten Spitzen. Ihr blondes Haar war zu zwei Zöpfen geflochten und ihr ebenmäßiges, schönes Gesicht, in dem es diese herrlichen, kreisrunden, großen blauen Augen gab, die vor Freude strahlten, war voller Begeisterung. Mein Geschenk interessierte sie gar nicht. Sie hat mich an der Hand gepackt, mich in ihr Zimmer gezerrt und mir all ihre Sachen gezeigt. Es war ihr egal, dass schon andere Gäste da waren. Dass andere Kinder mit ihr spielen wollten. Sie hat nur Augen für mich gehabt. Für niemand anderen. Nur für mich.

Gordon wurde bei all den Gedanken schwindelig. Warum brachen sie jetzt gerade auf ihn ein? Dazu noch in einem Supermarkt?

Vielleicht, weil du ein hoffnungsloser Träumer bist?, fragte er sich selber und erinnerte sich daran, dass er bei dem besagten Geburtstag neben Katharina gesessen hatte. Dass er schlechte Witze machte – wie ein Kind halt Witze macht – und dass sie darüber gelacht hatte. Ja, sie hatte über alles gelacht, was er sagte. Und sie hatte die spitzen Kommentare ihrer Mutter ebenso ignoriert wie er damals. Aber auch heute, so viele Jahre später, sah er die dünne, dem Sport zugeneigte Frau noch, wie sie sich mit der Würstchenzange in der Hand über den Tisch gebeugt und zu ihm gesagt hatte: »Wo du das schon wieder her hast.«

»Von dem Freund meiner Mama«, hatte er geantwortet und genau gesehen, wie Katharinas Mutter die Augen verdrehte.