Der blockierte Riese - Dr. Manfred Lütz - E-Book

Der blockierte Riese E-Book

Dr. Manfred Lütz

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Beschreibung

Für unkonventionelle Atheisten und für Christen, die das Jammern satt haben. Ist die katholische Kirche noch zu retten? Der aus Presse, Funk und Fernsehen bekannte Psychotherapeut Manfred Lütz hat seine aufregende These bereits 20.000 begeisterten Zuhörern vorgetragen: In ihrem Alltag spiegelt die Kirche das Verhaltensrepertoire einer typischen Alkoholikerfamilie wieder. Ihre Depression ist hausgemacht. Sie ist gelähmt durch eine gewaltige Selbstblockade. Der Autor lüftet Geheimnisse dieser rätselhaften Institution, deckt ihre versteckten Ressourcen auf und stellt der Kirche als Therapeut eine optimistische Zukunftsprognose. Das Buch ist witzig und zugleich seriös geschrieben. Es bietet eine Einführung in modernste Psychotherapie am Beispiel eines außergewöhnlichen Patienten - der katholischen Kirche. Es wurde geschrieben für psychotherapeutisch interessierte unkonventionelle Atheisten mit einer Schwäche für exotische Fälle und für Christen, die das Jammern satt haben. Das Buch liefert eine provozierende Gesellschaftsanalyse. Es gewährt Einblicke in die Organisationsberatung und ist nebenbei ein unterhaltsamer Spaziergang durch die zweitausendjährige spannende Krankengeschichte des Patienten. Diese weltumspannende Religionsgemeinschaft ist die älteste noch bestehende Großinstitution der Welt. Doch nimmt man auch bei ihr keine Bewegungen mehr wahr, sie wirkt blockiert und starr, reagiert sogar auf Schmerzreize nicht mehr. Vieles spricht dafür, daß sie zumindest ein kranker Riese ist. Erleben wir derzeit die Götterdämmerung dieses Riesen oder ist er gar tot? Durch ungewöhnliche Beleuchtungstechniken werden wichtige Geheimnisse dieser rätselhaften Einrichtung gelüftet und lehrreiche Überlebensstrategien aufgefunden. Der Autor kommt zu überraschenden Ergebnissen.

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Manfred Lütz

Der blockierte Riese

Psycho-Analyse der katholischen Kirche Mit Papst-Franziskus-Update

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Buch ist eine Einführung in moderne Psychotherapie am Beispiel eines außergewöhnlichen Patienten – der katholischen Kirche. Es wurde geschrieben für psychotherapeutisch interessierte unkonventionelle Atheisten mit einer Schwäche für exotische Fälle und für Christen, die das Jammern satt haben. Zugleich informiert das Buch unter ungewöhnlicher Beleuchtung über die katholische Kirche. Was waren in 2000 Jahren die Überlebensstrategien dieser ältesten Großinstitution der Welt und was könnten andere Organisationen oder jeder persönlich davon lernen? Wie könnte man aktuelle Probleme dieser Kirche vielleicht ganz unerwartet lösen?

Der Blockierte Riese ist das Buch, in dem der Autor am ausführlichsten einerseits moderne Psychotherapie und andererseits die katholische Kirche darstellt. Daher war eine gründliche Überbearbeitung unumgänglich, die vor allem die ermutigenden Impulse von Papst Franziskus aufgreift. So sind den Lesern dieses »neuen« Buches viel Spaß und neue Erkenntnisse zu wünschen, vor allem aber der Mut, ungewöhnliche Perspektiven zu erproben.

 

»Die Leichtigkeit im Abbauen der Barrieren ist das,

Inhaltsübersicht

Vorwort zur überarbeiteten NeuauflageGeleitwort zur ersten AuflageMottoVorwort zur ersten AuflageEinleitung – Der erfolgloseste Selbstmörder aller ZeitenI. Der blockierte Riese – Die katholische Kirche im Sturm1. Irritationen – Die Intoleranz der Toleranten2. Kollektive Pubertät – Vaterlose Gesellschaft und Heiliger Vater3. Familienmythen – Was wirst du in der Nachbarzelle tun?4. Drama – Die Retter, die Verfolger und das OpferII. Enttäuschungen – Götterdämmerung der Psychogurus1.Eugen Drewermann – Eine Tragödie2. Carl Rogers – Ein Missverständnis3. Jürgen Habermas – Ein Selbstmissverständnis4. Woody Allen – Eine ErnüchterungIII. Hoffnungen – Revolution der Psychotherapie1. Mara Selvini Palazzoli – Vom Sinn der Sucht2. Frieda Fromm-Reichmann – Die Contergan-Katastrophe der Psychotherapie3. Viktor Frankl – Wie man ein KZ überlebt4. Jürg Willi – Wie man Therapeuten sprachlos machtIV. Probleme – Katholische Anleitungen zum Unglücklichsein1. Das Utopiesyndrom – Wie man in Erlösungshunger übereinander herfällt2. Die großen Vereinfachungen – Überraschung im Schnellimbiss3. Die Starrheit der Rollen – Über hilfreiche Barbaren4. Die ahistorische Einstellung – Warum man nicht auf Bischöfe hoffen sollteV. Lösungen – Was die Kirche über die Verwendung von Ochsen und Zahnlücken lernen kann1. Lösungen im Schlafzimmer – Paul Watzlawick und die systemische Therapie2. Denken Sie nicht an rosarote Elefanten – Milton Erickson und die Hypnotherapie3. Wenn etwas nicht kaputt ist, mach es nicht ganz – Steve de Shazer und die lösungsorientierte Therapie4. Wenn der Haussegen schief hängt – Gunther Schmidt und die OrganisationsberatungVI. Kompetenzen – Über die Betriebsgeheimnisse der katholischen Kirche1. Die katholische Lösung – Was die katholische Kirche von einem Stammtisch unterscheidet2. Neue Beleuchtung – Ein erstaunlicher Besuch der alten Dame3. Perspektivwechsel – Über die Zahnlücken der Kirchengeschichte4. Bewältigungsstrategien – Den Ochsen über die Mauer werfenVII. Ressourcen – Warum »dieser Saustall zweitausend Jahre nicht untergegangen ist«1. Bekenntnis – Man kann sich die Löwen nicht aussuchen2. Gottesdienst – »Abgesehen von seinen heiligen Weihen ist dieser Pfarrer ein Esel«3. Gemeinschaft – Wie man hässliche Krähen lieben kann4. Caritas – Jenseits der katholischen HerzoperationVIII. Der entfesselte Riese – Wie man Änderungen erzwingen kannNachwortLiteraturverzeichnis
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Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage

Ein aufklärendes Buch über die unglaublich spannenden neuen Methoden moderner Psychotherapie und zugleich über die älteste Großinstitution der Welt, die katholische Kirche. Darum ging es mir, als ich 1999 erstmals den »blockierten Riesen« veröffentlichte. Gerade war das Drama um Eugen Drewermann zu Ende gegangen. Der Paderborner Theologe hatte mit einem wissenschaftlich fragwürdigen veralteten Psychoanalyse-Patchwork maximale mediale Aufmerksamkeit erregt und in der Kirche eine tiefe Verunsicherung erzeugt. Doch was war moderne Psychotherapie wirklich und was würde passieren, wenn man diese neuen Methoden auf die katholische Kirche anwendete? Diese Frage faszinierte mich. In Vorträgen und Fernsehdiskussionen hatte ich mich damit befasst. Nicht zuletzt hatte mich der österreichisch-amerikanische Psychotherapeut Paul Watzlawick dazu ermutigt. Aber erst Bernhard Meuser, damals Leiter des Pattloch Verlags, drängte mich über mehrere Jahre hinweg, daraus ein Buch zu machen.

Der Erfolg war überraschend. In kürzester Zeit erschienen mehrere Auflagen. Manche lasen das Buch vor allem als allgemeinverständliche Einführung in moderne Psychotherapie, andere als unterhaltsame Information über die katholische Kirche. Dabei interessierten sich bald auch evangelische Gemeinden für die hier vorgeschlagenen Lösungen, denn auch bei ihnen lagen die Probleme ähnlich. Und obwohl inzwischen längst schon nicht mehr Papst Johannes Paul II. die katholische Kirche regiert, sondern nach Benedikt XVI. bereits Papst Franziskus, bleibt das Anliegen des »blockierten Riesen« so aktuell wie damals: ungewöhnliche Lösungen aus scheinbar ausweglosen Problemen finden.

Deswegen habe ich mich entschlossen, dieses mein erstes Buch zu überarbeiten und auf den neuesten Stand zu bringen. Die Psychotherapie hat sich inzwischen weiterentwickelt, doch hat sie seitdem keine revolutionären Veränderungen erlebt. Auch die katholische Kirche ist nicht mehr die von 1999, manche Probleme haben sich abgeschwächt, andere sind drängender geworden, und einige Blockaden konnten gelöst werden. Aber gerade neuerdings erscheint der Riese mal wieder so wahnsinnig blockiert, dass kreative Lösungen dringlich sind wie selten zuvor. Ich habe mich also bemüht, das Buch zu aktualisieren, ohne die Grundstruktur zu verändern.

Seit 1999 habe ich weitere Bücher geschrieben. »Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen. Eine heitere Seelenkunde« ist zum Beispiel eine Einführung in Psychiatrie und Psychotherapie: alle Diagnosen, alle Therapien, unterhaltsam und allgemeinverständlich. Doch naturgemäß konnte da moderne Psychotherapie nur kurz abgehandelt werden. Im Buch »Gott – Eine kleine Geschichte des Größten« geht es um alle Argumente, die es für und gegen Gott gibt. Zwar kommt da dann auch die katholische Kirche vor, doch eher nur am Rande. Daher ist »Der blockierte Riese« nach wie vor das Buch, in dem ich am ausführlichsten einerseits moderne Psychotherapie und andererseits die katholische Kirche darstelle. Vor allem aber habe ich ganz neu die ermutigenden Impulse von Papst Franziskus ausführlich in dieses Buch eingearbeitet, so dass es ein Buch über die heutige Kirche geworden ist.

So wünsche ich den Lesern dieses »neuen« Buches viel Spaß und neue Erkenntnisse, vor allem aber den Mut, ungewöhnliche Perspektiven zu erproben. Ein nützliches Buch liest man richtig, wenn man anschließend anders lebt, wenigstens ein bisschen anders. Vielleicht gelingt das ja …

 

Bornheim, im März 2014

Manfred Lütz

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Geleitwort zur ersten Auflage

Vor noch nicht allzu langer Zeit war man in der Psychotherapie durchgängig der Ansicht, dass menschliche Probleme in aller Regel eine Sache des Individuums sind und auch dort analysiert und behandelt werden müssen. Individuelle Eigenschaften und ihre Pathologien standen im Mittelpunkt des Interesses. Die erzielten Ergebnisse blieben freilich weitgehend unbefriedigend. Die Entwicklung der systemischen Therapie hat demgegenüber die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen Menschen gelenkt, auch Gruppen wie zum Beispiel Familien in den Blick genommen und so einen Paradigmenwechsel in der Psychotherapie herbeigeführt. Dadurch trat die Befassung mit hilfreichen Veränderungen und effektiven Lösungen in den Vordergrund.

Was noch vor einigen Jahrzehnten kaum möglich schien, vollzieht sich inzwischen auf breiter Front: die Übernahme systemischen Denkens in vielen unterschiedlichen Therapieschulen. Darüber hinaus wurden diese Denkformen und dieses Wirklichkeitsverständnis aber auch in anderen Lebensbereichen erfolgreich angewandt. So hat die Unternehmensberatung davon profitiert, denn die Überwindung der Einschränkung auf das Individuum ermöglichte den neuen Therapieformen die Berücksichtigung umfangreicher und komplexer Beziehungssysteme.

Dieses Buch macht den interessanten Versuch, systemisches und lösungsorientiertes Denken auf eine Großorganisation, die katholische Kirche, anzuwenden. Es handelt sich dabei um einen in Therapeutenkreisen relativ unbekannten Patienten mit manchen irritierenden, aber auch zahlreichen erstaunlichen Facetten. Manfred Lütz ist es gelungen, ungewöhnliches Licht auf diese Einrichtung zu werfen und so ein spannendes und unterhaltsames Panorama der katholischen Kirche unter systemischer Perspektive zu zeichnen. Es werden originelle und aussichtsreiche Auswege aus krisenhaften Sackgassen gewiesen. Ein bemerkenswertes Buch, das beweist, dass die Nutzanwendung systemischen Denkens weit über die klassische Einzeltherapie hinausgeht. Ich wünsche dem Buch und systemischem Denken in Deutschland weite Verbreitung.

 

Palo Alto, im November 1998

Paul Watzlawick

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»Ich glaube jedoch, dass unter den Trümmern

der gegenwärtigen Institutionen noch die katholische Hierarchie weiterleben wird.«

Wladimir Iljitsch Lenin

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Vorwort zur ersten Auflage

Das vorliegende Buch unternimmt es, moderne systemisch lösungsorientierte Psychotherapieverfahren auf die krisenhafte Situation der katholischen Kirche anzuwenden.

Vielfältige Anregungen haben zum Entstehen dieses Buches beigetragen. Joachim Hesse, dem profunden Kenner neuester psychotherapeutischer Entwicklungen, danke ich dafür, mich vor nun fast zehn Jahren in vielen kontroversen und fruchtbaren Diskussionen auf diese neuen Sichtweisen neugierig gemacht zu haben. Die hier vorgelegten Thesen konnten sich dann in vielen Vorträgen der Kritik stellen und dadurch Kontur gewinnen. Nicht zuletzt waren es die kraftvollen und kreativen Lösungen meiner Patienten, die mich immer wieder motivierten, die Fruchtbarkeit dieser neuen Methoden auch an einem so ungewöhnlichen »Patienten« wie der katholischen Kirche auszuprobieren.

Der Bindestrich im Titel bei »Psycho-Analyse« ist bewusst gesetzt. Denn in diesem Buch steht nicht die klassische »Psychoanalyse« im Vordergrund – obwohl ihre Denkformen in den ersten Kapiteln Verwendung finden –, sondern modernere Verfahren, die zur »Analyse« und »Therapie« der Kirche in analoger Weise angewandt werden.

Herrn Professor Dr. Michael N. Ebertz, Freiburg, danke ich für die kritische Prüfung der soziologischen Aspekte und Herrn Professor Dr. Dipl.-Psych. Jörg Fengler, Köln, für manchen psychotherapeutischen Hinweis.

Ohne die anregenden Gespräche mit Herrn Bernhard Meuser, dem Leiter des Pattloch Verlages, und sein unermüdliches Drängen wäre das Buch gewiss so nicht zustande gekommen.

 

Wellerswist, im Januar 1999

Manfred Lütz

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Einleitung – Der erfolgloseste Selbstmörder aller Zeiten

Der bekannte österreichisch-amerikanische Psychotherapeut Paul Watzlawick war der Überzeugung, man finde die von ihm bevorzugten ungewöhnlichen Lösungen am ehesten bei »Barmännern, spontan remittierten Neurotikern, Vertretern, Ladendetektiven, Finanzberatern, Lehrern, Bewährungshelfern, Linienpiloten, Polizisten mit einem Talent für die Entschärfung brisanter Situationen, einigen eher charmanten Gaunern, erfolglosen Selbstmördern, Psychotherapeuten – und sogar einigen Eltern«.[1] In der Tat, wer sich mit moderner Psychotherapie befasst, kommt nicht umhin, die üblichen Trampelpfade zu verlassen und auf Abenteuerfahrt zu gehen. Doch diese Mühe lohnt sich, denn so eröffnen sich ganz erstaunliche Perspektiven. Das hat die Pioniere moderner Psychotherapie herausgefordert, die neu eingeschlagenen Wege mit radikaler Konsequenz zu Ende zu gehen. Das Ergebnis ist, dass die Erfolge dieser neuen Richtungen in den vergangenen Jahren zu einer Neuausrichtung in der gesamten Psychotherapie geführt haben und mehr noch, selbst große Wirtschaftsunternehmen nutzen moderne systemische und lösungsorientierte Sichtweisen, um Krisen elegant und effizient zu bewältigen.

Dieses Buch kann man als Einführung in solche neuen psychotherapeutischen Verfahren lesen. Freilich bleibt eine Einführung in die Psychotherapie immer trocken und spröde, wenn sie nicht an Beispielen erfolgt. Wie soll man aber einen Patienten finden, den alle Leser wenigstens vom Hörensagen her kennen? Da trifft es sich gut, dass gerade diese neue Therapierichtung die Einengung auf das isolierte Individuum überwunden hat und den Patienten immer als Teil sozialer Systeme sieht. Die Familientherapie hat den »Patienten Familie« entdeckt, und die Organisationsberatung hat solche Sichtweisen auf Großorganisationen übertragen. Gesucht wird für unsere Zwecke also eine hinreichend marode Großorganisation, die möglichst allen ein Begriff ist. Und da bietet sich in unseren Breitengraden geradezu der Musterfall eines Patienten an: die katholische Kirche!

Wo wäre das, was man so landläufig »verklemmt« nennt, wohl besser zu studieren? Wo kann man immer mal wieder Resignation, Frustrationen und bedrückte Stimmung bis hin zu veritablen Jammerdepressionen zuverlässiger und uneingeschränkter vorfinden? Wo ist eine Problemtrance schneller herstellbar? Und das alles erfreulicherweise bei großer Medienaufmerksamkeit, die es selbst Lesern, die noch nie einen Katholiken in freier Wildbahn bewusst erlebt haben, ermöglicht, sich wenigstens ungefähr vorzustellen, worum es sich handelt. Außerdem verfügt dieser Patient über eine ziemlich interessante Krankengeschichte, deren genauere Kenntnis nebenbei der Allgemeinbildung nützen kann. Schließlich haben sich schon alle möglichen Therapeuten an der katholischen Kirche ziemlich erfolglos abgearbeitet, was den neuen Methoden eine attraktive Chance gibt zu zeigen, was wirklich in ihnen steckt.

Mit klassischen Ansätzen würde man bei diesem Patienten vielleicht – psychoanalytisch – eine frühe Störung feststellen, die in den ersten Lebensmonaten angelegt war, oder – verhaltenstherapeutisch – falsche frühe Prägungen in Zeiten der Gründung. Das ist alles schon probiert worden, doch zu therapeutischen Fortschritten haben diese Bemühungen nicht geführt. Dennoch können solche herkömmlichen Sichtweisen nützlich sein für eine Beschreibung der Lage. Die Situation der katholischen Kirche erinnert nämlich geradezu penetrant an die schwierigste Familienkonstellation, die wir so kennen – die der Alkoholikerfamilie: Spaltungen, Depressionen, Abwertungen, Überverantwortlichkeit, Rollendiffusionen, Überlastung aller Beteiligten. Man kann den Alkoholismus geradezu als Selbstmord auf Raten bezeichnen, der ganze Familien ins Verderben stürzt.

Dass den Autor bei einem solchen Patienten unweigerlich eine gewisse Lust auf Therapie überkommen muss, hat damit zu tun, dass er lange Jahre Leiter der Suchtklinik war, die als erste in Deutschland ein modernes, konsequent systemisch lösungsorientiertes Psychotherapiekonzept erfolgreich anwandte. Paul Watzlawick, Steve de Shazer, Helm Stierlin, Gunther Schmidt, Fred Kanfer und viele andere Avantgardisten der Psychotherapie trugen persönlich zur Entwicklung und Umsetzung dieser Konzeption bei.[2] In der Beratung großer Wirtschaftsunternehmen fand der Autor die Fruchtbarkeit dieser neuen Sichtweisen ebenfalls immer wieder bestätigt.

Auch der Patient katholische Kirche ist ein Großunternehmen, in gewisser Weise sogar ein multinationaler Konzern. Auf einen Behandlungsversuch bei diesem blockierten Riesen käme es also jedenfalls an. Freilich, um das Wort von Paul Watzlawick aufzugreifen: Die katholische Kirche ist gewiss der erfolgloseste Selbstmörder der ganzen Menschheitsgeschichte. Zweitausend Jahre lang ist es ihr trotz eifriger Bemühungen nicht gelungen, sich selbst den Garaus zu machen. Da wäre von dieser merkwürdigen Einrichtung womöglich noch etwas zu lernen. Gleichzeitig könnte man dabei aber auf verborgene Kräfte stoßen, die für eine Therapie des Patienten nützlich sein könnten.

Für denjenigen, der den lieben Gott einen guten Mann sein lassen will und dem die Kirche ein böhmisches Dorf ist, kann dieses Buch Aufschluss über moderne Psychotherapie und über ein vielleicht ganz unterhaltsames Therapiebeispiel geben. Er wird darüber hinaus Einblicke in die europäische Geistesgeschichte nehmen und erfahren können, wie Katholiken so denken und leben. Vielleicht ist auch jemand, der für Dinosaurier schwärmt, an einem solchen zweitausendjährigen Urvieh besonders interessiert. Immerhin ist die katholische Kirche die älteste bestehende Großinstitution der Welt.

Für den Christen, zumal für den Katholiken, werden andere Aspekte im Vordergrund stehen. Er wird ebenfalls etwas über moderne Psychotherapie erfahren. Aber er wird die Darstellungen der Kirchengeschichte als die eigene »Familiengeschichte« lesen mit all den »Familienmythen« und traumatischen Krisen. Er ist ja Teil dieser »Alkoholikerfamilie«, und so werden ihn vor allem die Lösungen interessieren, die Entlastung bringen könnten, die aus Sackgassen herausführen und Kräfte für die Zukunft freisetzen. Vielleicht wird er überrascht sein, dass ein Psychotherapeut den Patienten Kirche für gar keinen so aussichtslosen Fall hält. Freilich würde auch die völlig ausgebrannte Frau eines passionierten Alkoholikers jedem therapeutischen Optimismus zunächst eher mit verärgerter Skepsis begegnen.

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I. Der blockierte Riese – Die katholische Kirche im Sturm

Begeben wir uns also zum Anwärmen gleich einmal mitten in den katholischen Suppentopf: Tatort Deutschland, eine beliebige katholische Pfarrgemeinde. Der Bischof kommt. Insider nennen diesen Vorgang Visitation. Früher sah dabei der Bischof in einer Pfarrgemeinde nach dem Rechten. Das ist heute anders. Heute ist es eher die Pfarrgemeinde, die den Bischof visitiert. Und das geht dann so: Zeitig vor dem Ereignis trifft sich der Pfarrgemeinderat, bestehend aus engagierten katholischen Christen mittleren Alters, und berät: Was fragen wir den Bischof? Nach monatelangen Debatten kommen völlig überraschenderweise unfehlbar folgende vier Themen zustande: erstens, Sexualität und Kirche oder: der Papst und die Kondome; zweitens, der Zölibat als Problem oder: fällt er nicht, haben wir nicht mehr genug Priester; drittens, Frauen und Kirche oder: ohne Frauenpriestertum keine Gleichberechtigung, und schließlich viertens, der römische Zentralismus, die Unfehlbarkeit des Papstes, zu wenig Demokratie in der Kirche oder: wir haben sowieso nichts zu sagen.

Analysiert man diese Diskussionsthemen, so fällt auf, dass sie eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Streng genommen ist ihnen lediglich eines gemeinsam: Der Bischof kann auf all das nur unbefriedigend antworten. Er kann nicht während der Visitation die katholische Sexualmoral revolutionieren und Kondome verteilen, er kann nicht während der Visitation den Zölibat aufheben und die Pfarrgemeinderatsvorsitzende heiraten, er kann nicht während der Visitation das Frauenpriestertum einführen und seine neue Frau gleich »durchweihen«, und er kann schließlich nicht während der Visitation den Vatikan abschaffen. Das heißt, er kann in der Tat all diese Fragen nur unbefriedigend beantworten. Er kann das natürlich je nach Mentalität auf sehr unterschiedliche Weise tun. Er kann diese Fragen rheinisch harmlos gemütlich – unbefriedigend beantworten, er kann sie hölzern pflichtbewusst preußisch – unbefriedigend beantworten, er kann diese Fragen kumpelhaft gesellig, ganz einer von uns! – unbefriedigend beantworten, er kann sie verärgert gereizt ungeduldig – unbefriedigend beantworten, er kann diese Fragen melancholisch resignativ entschuldigend – unbefriedigend beantworten, er kann sie charismatisch visionär durchgeistigt – unbefriedigend beantworten, er kann diese Fragen schließlich cholerisch empört deftig – unbefriedigend beantworten, er kann sie aber auch tief betroffen zerbrechlich und gequält – unbefriedigend beantworten. In jedem Fall wird der Bischof alle diese Fragen – unbefriedigend beantworten. Nach der Visitation gehen die Mitglieder des Pfarrgemeinderats nachdenklich nach Hause, man redet noch miteinander über dies und das. Schließlich sagt einer mit einem tiefen Seufzer: »Wenn man mal ganz ehrlich ist, im Grunde hat er alle unsere Fragen unbefriedigend beantwortet.« Auch der Bischof fährt bedrückt nach Hause zurück. Seinem Fahrer sagt er: »Ich kann es bald nicht mehr hören, wieder das Gleiche wie in der vorigen Gemeinde! Über die Besonderheiten und Talente dieser Gemeinde habe ich wieder so gut wie nichts erfahren!«

Psychologisch nennt man das eine sorgfältig geplante Frustration. Weihbischöfe, zu deren wesentlichen Beschäftigungen solche Veranstaltungen gehören, darf man daher getrost für Heiligsprechungskandidaten halten.

Nun bestehen Pfarrgemeinderäte gewöhnlich aus anständigen engagierten Christen, die oft mit großer Hingabe ihren Dienst in der Kirche tun. Es sind keine bürgerschreckenden Revoluzzer. Sie kommen aus dem Mittelstand, die Krawatte dominiert. Auch der Bischof ist in der Regel ein freundlicher, eher zurückhaltender älterer Herr, durchaus kein machtlüsterner rigider Chauvi, der nichts lieber täte, als andere Christen zu vergraulen. Dennoch endet dieses Zusammentreffen fast zwangsläufig in der beschriebenen Sackgasse. Zwar werden sich ganz gewiss weder die Mitglieder des Pfarrgemeinderats noch der Bischof auf ihrem Sterbebett für eine der genannten Fragen interessieren. Nicht die Sexualmoral, nicht der Zölibat, nicht das Frauenpriestertum und auch nicht der Vatikan werden sie dann beschäftigen, sondern viel eher die Frage Luthers: Wie finde ich einen gnädigen Gott? Dennoch werden beide Seiten immer wieder von jenem starren Ritus geradezu magisch angezogen, der doch, wie jeder wissen könnte, nur kräfteaufreibend ist und zu nichts Konstruktivem führt. Man nennt so etwas Problemtrance. Sie gleicht der bekannten Konstellation aus »Problemfamilien«, die heute höchst erfolgreich mit Methoden moderner Psychotherapie behandelt werden. Könnte man so nicht auch aus der oben beschriebenen Visitationstrance herauskommen?

Genau das will dieses Buch versuchen, und so handelt es einerseits von Psychologie und andererseits von der katholischen Kirche. Doch halt! Sollte man nicht denken, dass beide herzlich wenig miteinander zu tun haben? Die Psychologie scheint ganz gut ohne den lieben Gott auszukommen, und die katholische Kirche hat mit manchen Psychologen betrübliche Erfahrungen gemacht. Da, wo man versucht hat, Psychologie und Theologie zusammenzurühren, kam zumeist nur Unbekömmliches heraus: Psychologie, die sich zur Religion hochstilisierte mit gravitätischen Psychotherapeuten als neuen Beichtvätern, oder Theologen, die sich als Schrumpfformen von Psychogurus gebärdeten, die kleinen Brötchen, die sie in der Psychoszene buken, in der Kirche als Brot des Lebens verkaufend. Da ist es gewiss besser, beide Bereiche fein säuberlich auseinanderzuhalten.

Dennoch muss man zugeben, dass die oben am Beispiel der Visitationstrance geschilderten Verhältnisse in der katholischen Kirche einem Psychotherapeuten geradezu das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Ich kenne konservative Katholiken und progressive Katholiken. Bei beiden Gruppen ist trotz aller inhaltlichen Unterschiede die Stimmung interessanterweise völlig identisch: Es herrscht durchgehend Problemtrance, das heißt, es wird nur noch gejammert. Nun behauptet die Psychologie zwar, dass jammern gesellig mache, doch zeigt sich, dass in der Kirche nicht selten zu viel des Guten geschieht. Beklagt wird der Zustand der katholischen Kirche. Zwar liegen beide Fraktionen dem Inhalt nach gründlich im Streit, formal aber stimmt man sogar in der Analyse der Ursachen der Misere im Grunde vollkommen überein: Schuld am schlechten Zustand der Kirche sind die anderen, nämlich die jeweils andere Fraktion. Je nach intellektuellem Niveau und Temperament spielt sich das auf jeder Ebene ab zwischen Stammtisch und Habilitationsschrift. Die Anklagebank ist aber stets leer, denn die »anderen« sind gar nicht im Raum, und mit denen möchte man auch am besten gar nichts zu tun haben. So trifft man sich nur unter seinesgleichen und sagt dort den »anderen« mal so richtig die Meinung.

Dabei hat sich auch noch ein lästiger Mechanismus eingeschlichen, der irgendwelche Abwechslungen und Überraschungen verhindert: Es gibt inzwischen eine Art political correctness in beiden Lagern, die zur präzisen Organisation geistiger Windstille führt. Sie basiert auf strengen ungeschriebenen Gesetzen: Sagt jemand beispielsweise Positives über den Zölibat, so denken sich die Zuhörer dessen Meinung zu allen anderen kirchlichen Fragen sogleich hinzu. Sagt ein anderer Kritisches über den Reichtum der Kirche, muss er sich auch nicht weiter erklären. Für mehr visuelle Gemüter reicht übrigens schon die Orientierung an der Priesterkleidung aus für die Einteilung in Licht und Dunkel.

Dem Familientherapeuten bietet sich auf diese Weise das klassische Szenario einer »Problemfamilie«: Anstrengende Konflikte, Erstarrung der Rollen, dauernder Betrieb, und dennoch kommt aus all dem Trubel nichts Kreatives mehr heraus. Das alles schreit geradezu nach Psychotherapie. Die üblichen erfolglosen Rezepturen sind dabei freilich zu vermeiden. Das verleiht dem Ganzen etwas Experimentelles, bietet aber die Chance ungewöhnlicher Auswege aus einer verfahrenen Lage.

Wer in diesem Buch bloß Bestätigung sucht für das, was er immer schon gesagt hat, der sollte sich die Lektüre sparen. Denn ein solches Abenteuer wird nur Früchte bringen, wenn man nicht bloß bereit ist, wenigstens probeweise eine andere Perspektive einzunehmen, sondern sich auch mit einer ganz anderen Denkweise zu befassen.

1. Irritationen – Die Intoleranz der Toleranten

»Die katholische Kirche ist lustfeindlich, frauenfeindlich, undemokratisch, hierarchisch unterdrückend, veraltet, Romzentrisch, überhaupt institutionell«: So in etwa wird immer noch geredet, wenn die Sprache auf diese Kirche kommt. Dabei sticht zunächst das eigenartige Phänomen ins Auge, dass man für solche Behauptungen in der Regel offenbar keine Argumente benötigt. Wer so etwas sagt, dem wird fast in jedem beliebigen Kreis zugestimmt. Sogar bei vielen kirchlichen Gruppierungen waren das lange Zeit In-Bemerkungen. Abweichungen von diesem Kanon werden streng sanktioniert und gegebenenfalls mit Ausstoßung aus der Gruppe der Wohlmeinenden geahndet. Warum aber um alles in der Welt legen selbst Kirchenmitglieder auf die Einhaltung dieser Negativklischees einen so großen Wert?

Wer nach Gründen sucht, der stößt auf ein interessantes sozialpsychologisches Phänomen. Während Katholiken noch vor 60 Jahren eher genau gegenteilige Auffassungen vertraten und jeden Abweichler ausstießen – wehe, jemand sagte etwas gegen den Papst! –, ist das strenge konservative Festhalten an einem Überzeugungskodex heute unverändert, nur der Inhalt hat sich ins Gegenteil verkehrt. Da sich aber die Begriffe konservativ und progressiv unsinnigerweise über den Inhalt definieren, halten sich heutige Vertreter der oben genannten Klischees für mutige Progressive, während sie doch in Wirklichkeit in der strikt konservativen Haltung ihrer Vorväter verharren. Diese Konservativität der »Progressiven« ist eines der Grundprobleme der heutigen Kirche. Denn die eigene Selbstdefinition übersieht die unbewegliche und veränderungsfeindliche Starrheit der inhaltlich »progressiven« Positionen, die ganz im Trend liegen und damit kein vitales Innovationspotenzial enthalten. Hierhin gehört auch die so oft festzustellende erstaunliche Intoleranz der »Toleranten«, denn wer sich selbst als tolerant definiert, läuft Gefahr, für die eigene Intoleranz blind zu werden. Wer also behauptet, das traditionelle katholische Milieu gebe es nicht mehr, der hat vielleicht in der falschen Richtung gesucht. Spätestens der gutbürgerliche Habitus dieser so genannten Progressiven verrät, dass man es hier eben keineswegs mit kühnen Nonkonformisten zu tun hat.

Demgegenüber hat der kirchlich Konservative zwar nicht die Inhalte gewechselt, aber er wurde gezwungen, seine Verhaltensweisen völlig zu ändern. Er ist heute eher ein exotischer Außenseiter, der auf Barrikaden steht, die er dem Trend entgegenbaut. Seine Auffassungen gelten von vornherein als abwegig. Wenn er sich traut, auch nur eine der oben genannten Behauptungen vorsichtig in Frage zu stellen und damit ein Tabu zu brechen, muss er sich auf einsamem Posten einem Sturm von Anfeindungen erwehren. Manch einer bestätigt daher einfach die gängigen falschen Klischees und erklärt trotzig, es sei gut, dass die Kirche eben so sei. In derart bedrängter Lage verwundert es nicht, dass sich viele Konservative in Gruppen Gleichgesinnter zurückziehen, um wenigstens ein bisschen von dem tragenden Milieu zu erleben, das der soziologischen Situation des Konservativen eigentlich entspricht, Gruppen, die dann aber ebenfalls häufig in ihren Positionen erstarren.

Damit ergibt sich der merkwürdige Befund, dass das konservative katholische Milieu offensichtlich in zwei konservative Fraktionen auseinandergefallen ist, die sich in ihrem konservativen Beharrungsvermögen durch wechselseitige Polarisierungen und Beargwöhnung von Abweichlern in den eigenen Reihen noch stabilisieren. Es herrscht zwar äußerlich immer mal wieder klirrender Schlachtenlärm und große Aufgeregtheit zwischen beiden Gruppierungen, aber das sind bloß eingespielte Riten. In Wirklichkeit bewegt sich da nichts mehr.

Die oben genannten weit verbreiteten Negativklischees von der katholischen Kirche deuten freilich auch etwas ganz Rührendes an, nämlich die große Sehnsucht vieler Menschen, dass diese Kirche all ihre Hoffnungen hier auf dieser Welt verwirklichen könnte, wenn sie nur wollte. Sind doch erfüllte Sexualität, Selbstverwirklichung als Mann oder als Frau und schließlich das Projekt gesellschaftlicher und politischer Freiheit die irdischen Utopien einer Menschheit, die vor höheren Zielen resigniert hat. Von der katholischen Kirche erwartet man offenbar, dass sie jenen zerbrechlichen Zielen sakralen Bestand verleiht – und reagiert mit enttäuschter Empörung, wenn diese Kirche sich dem verweigert. Tatsächlich verkäme ja eine Religion, die nur noch festtagsgestimmte Paraphrase irdischer Utopien wäre, zur zeitvertreibenden doppelten Buchführung und machte sich überflüssig. So hält gerade die Weigerung der katholischen Kirche, sich einfach anzupassen und bloß im Diesseits aufzugehen, die Sehnsucht aufrecht, die die Aggressivität mancher Kirchenkritik speist.

Es gibt aber auch Bedingungen der Kirchenkrise, die ganz unabhängig von der Kirche selbst sind. Um das wahrzunehmen, ist es allerdings erforderlich, über den katholischen Tellerrand hinauszublicken. Wer die Kirche nicht auch als eine von vielen Institutionen sehen kann und weiß, dass alle Institutionen schon seit längerem eine Krise durchleben, der wird immer wieder nur kontextblinde binnenkirchliche Problemanalysen erstellen, die an der Sache vorbeigehen. So gibt es eine Krise der Gewerkschaften – die Austrittszahlen liegen hier höher als die Zahl der Kirchenaustritte.[3] Es gibt – unübersehbar – eine Krise der Politiker. Es gibt eine Krise der Schule – wir Psychotherapeuten behandeln heute mehr Lehrer, die Angst haben vor ihren Schülern, als Schüler, die Angst haben vor ihren Lehrern. Auch an der Universität mehren sich die Probleme – die Plagiatsaffären haben dem Ruf des akademischen Milieus schwer geschadet. Die Ärzteschaft ist ebenso krisengeschüttelt – allerorten machen Geistheiler und andere alternative Heilkünstler mit lautem Mediengeklingel von sich reden und erschüttern die Unvergleichlichkeit der »Halbgötter in Weiß«. Es gibt eine Krise der Polizei – schon vor 50 Jahren sang der österreichische Kabarettist Georg Kreisler: Wer schützt den Schutzmann? Und last, but not least: Es kriselt auch im Militär – die Wehrpflicht wurde abgeschafft und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts fragen viele junge Menschen überhaupt nach dem Sinn einer Armee. Da ist also die Krise der katholischen Kirche nur eine unter vielen Institutionskrisen. Offensichtlich binden sich Menschen im Zeitalter der Individualisierung nicht mehr gerne dauerhaft an Verbände und Autoritäten. Die Tatsache, dass auch die Kirche unter diesem allgemeinen soziologischen Trend zu leiden hat, darf nicht als Entschuldigung für mangelnde eigene Bemühungen um notwendige Veränderungen missbraucht werden. Aber es wäre provinzielle Kirchturmpolitik, diese soziologischen Phänomene einfach zu ignorieren – wie es in vielen Analysen der Kirchenkrise immer noch geschieht.

Freilich muss man zugeben, dass sich die Krise der katholischen Kirche von allen anderen Institutionskrisen auf eine spezifische Weise unterscheidet: Obwohl bekennende Katholiken in der heutigen Gesellschaft eine kleine Minderheit sind, ist die katholische Kirche in der Öffentlichkeit überproportional präsent, in der Regel mit einem geradezu monströsen Negativklischee, das mit hoher Suggestivkraft auch auf die Kirchenmitglieder selbst zurückwirkt. Ausnahmen gab es lediglich beim Tod Papst Johannes Pauls II. oder am Beginn der Pontifikate von Papst Benedikt XVI. und Papst Franziskus. Wie Gulliver liegt der blockierte Riese unbeweglich da, und Tausende kleiner Wichte scheinen damit befasst, ihn durch immer wiederholte schlimme Geschichten zu fesseln und gefesselt zu halten. Irritiert, hilflos und resigniert reagieren viele Katholiken auf das hohe Ausmaß an Aggressivität, das da gegen sie anbrandet, ohne dass sie sich wirklich erklären können, was sie denn so Schlimmes tun, wenn sie bloß sagen, dass sie katholisch sind.

2. Kollektive Pubertät – Vaterlose Gesellschaft und Heiliger Vater

Bei dem Versuch, diesen merkwürdigen Befund zu erklären, gewinnt ein Standardwerk der kritischen Linken irritierende Aktualität. 1963 verfasste Alexander Mitscherlich, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und später eines der Idole der achtundsechziger Studenten, das ideenreiche Buch »Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft«.[4] Darin machte er deutlich, dass in der Massengesellschaft die Väter in die Krise geraten seien. Das, was die klassische Psychoanalyse Freuds für die eigentliche Rolle der Väter erklärte, nämlich Repräsentanten von Norm und Moral zu sein und in die kulturellen Traditionen einzuführen, genau das konnten nach Mitscherlich in einer solchen Situation zumal deutsche Väter nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderem durch ihre Verwicklung in den Nationalsozialismus nicht mehr leisten. Auch wenn man diese These hinterfragen kann, so fällt doch ins Auge, dass das Ziel dieses Weges offensichtlich erreicht ist.

Man spricht heute von der äußeren und inneren Abwesenheit der Väter. Äußere Abwesenheit: Da sind diejenigen Väter, die ihrer Verantwortung leibhaftig entfliehen, indem sie die Mütter und ihre Kinder allein lassen. Das gilt nicht nur für Trennungs- und Scheidungssituationen, sondern auch für die Väter, die zwar formal Familienväter, aber in Wirklichkeit doch nicht da sind. Anlässlich der Verabschiedung eines Chefarztkollegen hörte ich den maliziösen Spruch, eine Arztfrau sei eine Witwe, deren Mann noch nicht gestorben ist. Das gilt aber auch für andere berufsvernarrte Väter. Innere Abwesenheit: Damit sind die Väter gemeint, die, was ihr psychisches Alter betrifft, immer etwa ein Jahr jünger sein wollen als der jüngste Sohn. Es sind Väter, die alles, aber auch wirklich alles verstehen und natürlich auch billigen, die mit diesen Söhnen womöglich auch noch kiffen gehen und die eigene Jugendlichkeit am liebsten verewigen würden. Mit all dem dementieren sie aber nur beständig ihre Rolle.

Auf diese Weise wird den betroffenen Kindern aber die Pubertät vorenthalten, das Entstehen einer eigenen Position im Protest gegen einen verlässlichen Widerstand. Wie viel von der allgemein beklagten »Jugendgewalt« ist allein gelassene vagabundierende Aggression, die Objekte sucht, welche ernsthaft standhalten? Aber auch Ersatzobjekte bieten sich nicht mehr an. Viele Lehrer sind der pädagogischen Auseinandersetzungen mit ihren Schülern schon längst überdrüssig, verzichten auf jeden Bildungsanspruch und verstehen sich nur noch als neutrale Wissensvermittler, bei denen Widerstand ins Leere läuft. Es gibt auch – Gott sei Dank – keinen »Vater Staat« mehr, und gegen Politiker kann man kaum mehr wirksam protestieren. Noch die achtundsechziger Studenten hatten in Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger eine Vatergestalt aus dem Bilderbuch, gegen die sie eifrig aufbegehren konnten. Doch heute kann niemand sicher sein, ob ein Politiker, gegen den er protestieren will, zum Zeitpunkt der angemeldeten Demonstration noch der gleichen Auffassung ist. Möglicherweise hat er inzwischen Umfrageergebnisse gelesen, die es ihm geraten erscheinen lassen, eine andere Meinung zu vertreten. Im schlimmsten Fall wird er sich an der Demonstration beteiligen und den Organisatoren für ihren Einsatz danken.

Die Lage wird dadurch verschärft, dass es auch im Erwachsenenalter einen Aggressionsstau gibt, der kaum abreagiert werden kann. So haben Menschen heute so viele Chefs wie noch nie in der Geschichte. Der Leibeigene früherer Jahrhunderte sah seinen Herrn manchmal bloß zweimal im Jahr, um ihm die Abgaben zu überreichen. Die Menschen in der freiheitlich demokratischen Grundordnung sind zwar formal freie Bürger in einem freien Land. De facto aber erleben sie täglich ihren Chef am Arbeitsplatz, der Anweisungen gibt, ohne dass sie ihren Ärger über ihn wirklich herauslassen könnten. Denn wer kann es sich schon leisten, den Arbeitsplatz zu gefährden, der doch existenzielle Grundlage ist? Der Handwerksgeselle des 19. Jahrhunderts konnte einfach weiter in die nächste Stadt ziehen. Der Arbeitnehmer von heute hat kaum eine Möglichkeit, auszuweichen. So lädt sich all die angestaute, unadressierte Aggression abends oft bei der falschen Adresse ab, nämlich beim Ehepartner. Wohin sonst könnte sie sich wenden? Weit und breit zeigt sich niemand mehr bereit, als Protestobjekt zur Verfügung zu stehen, und es gibt offensichtlich auch keine Institution mehr, die protestabel ist – außer einer einzigen: der katholischen Kirche!

Die evangelische Kirche kommt da übrigens nicht in Frage. Mein bester Freund ist evangelischer Christ und in seiner Kirche sehr engagiert, aber auch er beklagt eine Denkschriftenmentalität seiner Kirche, wo mit einem Einerseits-Andererseits oft unvereinbare Positionen in einen Text zusammengezwungen werden. Das birgt die Gefahr der öffentlichen Belanglosigkeit. Gegen einen solchen Text kann man kaum wirklich protestieren. Und das erklärt ein befremdliches Phänomen, das vor einigen Jahren Aufmerksamkeit erregte: Die Gründe für den Kirchenaustritt aus der evangelischen Kirche waren 1993 in einigen Gegenden: der Zölibat, der Papst und der Umgang mit Eugen Drewermann.[5] Man hat diesen absurden Befund damals damit zu erklären versucht, dass die Menschen schon gar nicht mehr wissen, was eigentlich katholisch und was evangelisch sei. Das ist allerdings wenig plausibel. Überzeugender ist eine psychologische Erklärung: Wenn man den Kirchenaustritt nämlich als einen Protest gegen »die da oben« versteht, dann kann man solchen Protest schlechterdings nicht irgendwie »evangelisch« begründen, sondern nur mit den gesellschaftsweit bekannten üblichen katholischen Protestthemen. Da man aber als Mitglied der evangelischen Kirche nun einmal nicht aus der katholischen Kirche austreten kann, tritt man sozusagen ersatzweise aus der evangelischen Kirche aus, begründet das aber korrekt mit den üblichen katholischen Protest-Themen.

Die katholische Kirche eignet sich in einer »vaterlosen Gesellschaft« besonders gut zum Ausfüllen dieser Leerstelle. Sie kennt verbindliche Autoritäten, die sich so markant äußern, dass gerade deswegen regelmäßig ein öffentlicher Proteststurm losbricht. Sie vertritt ungemütliche Normen und moralische Prinzipien und bekennt sich zu einer zweitausendjährigen Geschichte, alles Aufgaben, die die Psychoanalyse Freuds dem Vater zuschreibt. Dass an der Spitze dieser Kirche Männer, Bischöfe, Priester – französische Anrede »mon père« – und Diakone stehen und ganz an der Spitze ein veritabler »Heiliger Vater«, das muss einem klassischen Psychoanalytiker auf der Suche nach den verloren gegangenen Vätern am Ende geradezu Tränen der Rührung in die Augen treiben. Wen wundert es da noch, wenn an dieser alten Kirche all die nichtgelebten »Vaterkisten« ausgelassen werden, ja wenn diese Gesellschaft in einer Art kollektiver Pubertät gegen diesen »Vater« aufbegehrt, das einzig übrig gebliebene Protestobjekt von geheimnisvoller, geradezu atavistisch sakraler Potenz?[6]

Das erklärt ein weiteres merkwürdiges Phänomen. Die katholische Kirche wird heute öffentlich mit einem ihrer Tradition gänzlich fremden puritanisch leibfeindlichen Klischee belegt.[7] Öffentliche Debatten über diese Kirche geraten sehr schnell zu eigentümlich pubertärem Sexualitätsgeschwätz. In Wirklichkeit aber wurden von dieser Kirche bereits in den ersten Jahrhunderten rigoristische Strömungen wie Montanisten, Enkratiten, Manichäer als Irrlehrer ausgeschlossen. Gerade diese Leibfreundlichkeit der Christen, die an die Inkarnation, das heißt die »Fleischwerdung Gottes«, und an die Auferstehung »des Fleisches« glaubten, galt dem umgebenden Heidentum als anstößig, ja als gotteslästerlich. Ausgerechnet dieser Kirche, die also von Anfang an Leibfeinde hinauswarf, die im Gegensatz zu anderen christlichen Konfessionen den Geschlechtsverkehr als Vollzug eines Sakraments hoch schätzte und im katholischen Barockstil die Schönheit des nackten menschlichen Körpers sogar in den Gottesdiensträumen feierte, nötigt man ein sexualverbietendes misanthropisches Klischee auf.

Zu Zeiten Papst Johannes Pauls II., der als gelernter Moraltheologe immerhin eine gewisse Nähe zu solchen Themen zeigte, hat man einmal festgestellt, dass nur etwa fünf Prozent der Äußerungen des Papstes das Thema Sexualität berührten – doch über fünfzig Prozent der Medienberichterstattung in Deutschland über päpstliche Äußerungen galt diesem Bereich. Das betraf genauso Papst Benedikt XVI., der auf dem Weltjugendtag 2005 in Köln kein einziges Wort zur katholischen Sexualmoral sagte, aber die Jugendlichen zu begeistertem Glauben motivierte, und dennoch waren Kondome das scheinbar wichtigste Thema in manchen Medien. Auch Papst Franziskus verliert kaum ein Wort zu sexuellen Themen, wenn er die Kirche aufrüttelt. So ist die bis heute anhaltende Sexfixiertheit ein Medienphänomen. Manch pubertärer Jüngling blättert eine Illustrierte durch – bis Sex vorkommt, und es ist amüsant, sich auszumalen, wie in gleicher Weise hartgesottene Journalisten, die ansonsten ganz erwachsen sind, mit peinlicher Akribie päpstliche Äußerungen durchblättern – bis sie Sex finden. Erschwerend kam damals hinzu, dass Johannes Paul II. zwar in seinen Sozialenzykliken viele neue Akzente gesetzt, aber auf dem Gebiet der Sexualmoral nichts wirklich Neues gesagt hatte. All das hatten vor ihm Papst Johannes XXIII. und Papst Paul VI. auch schon gesagt. Wenn ein Journalist aber doch eigentlich Neues berichten sollte, dann ist es immerhin erstaunlich, dass der Papst reden konnte, worüber er wollte: Die Schlagzeile war, dass er beispielsweise immer noch bezüglich der Empfängnisverhütung die Auffassung der Enzyklika »Humanae vitae« von Papst Paul VI. teilte.

Psychologisch ist interessant, dass es hier offensichtlich gar nicht um Nachrichten geht. Man bedient vielmehr einen Ritus, der immer wieder das eigene »Erwachsensein« bestätigt, indem man »Pappi« mal so richtig die Meinung sagt. Und wo sind in der Pubertät die Konflikte schöner auszutragen als auf dem Gebiet der Sexualität, wo gerade doch das »Verbotene« so reizt. Wer aber um alles in der Welt verbietet hier noch etwas? Daher hat das, was in der Öffentlichkeit als die Haltung der katholischen Kirche zur Sexualität herumgeistert, bei näherem Hinsehen kaum etwas mit dieser Kirche selbst zu tun, sehr viel aber mit den gesellschaftlichen Projektionen auf sie.

Es hieße, die Macht sozialpsychologischer Effekte völlig zu verkennen, wenn man forderte, der Papst müsste einfach nur die Sexualmoral ein kleines bisschen windschnittiger gestalten und schon hätte die Kirche ihre Ruhe. Was auch immer Päpste sehr differenziert zur Sexualmoral sagen, es wird durch die Brille gesellschaftlicher Projektionen gelesen, und diese Gesellschaft wird die katholische Kirche nicht so leicht aus der leer gewordenen Position des Sexualvermiesers herauslassen. Dass manche »Konservative« auf dieses Spiel hereinfallen und irrtümlich meinen, mit leibfeindlichen Bemerkungen besonders katholisch zu sein, bestätigt nur die sozialpsychologische Macht wechselseitiger Rollenzuweisungen und die Starrheit solcher Rollen.

Wenn also der deutsche Michel donnernd aus dem Ohrensessel dem Papst und dieser ganzen katholischen Kirche mal so richtig die Meinung sagen kann, dann ist das eine subtile Form der Gewaltprophylaxe und damit eine effektivere Aggressionsabfuhr als der schönste Ehekrach. Es ist nämlich besser, wenn er geistig den Heiligen Vater verprügelt als körperlich eine ihm nahestehende Person. Das schont den Ehefrieden, dem es sogar dienen kann, wenn sich beide im Protest gegen diese Kirche traut vereinen.[8] Eine bekannte Journalistin reagierte einmal auf diese Thesen mit dem Ausruf: »Dann müsste man die katholische Kirche für diese Gesellschaft ja geradezu erfinden, wenn es sie nicht schon gäbe«, was ich nur bestätigen konnte.

Diese Sendung hatte damals übrigens den Titel: Tabu, Schutz oder Schranke? Ich war als katholischer Theologe eingeladen. Diese Spezies sollte damals bei derartigen Sendungen zumeist die Rolle des Spielverderbers übernehmen. Einige Tage vorher rief eine Journalistin bei mir an, um mich für die Moderatorin schon einmal kurz zu interviewen, und fragte, was ich denn so von Tabus hielte. Ich antwortete, ich sei rheinischer Katholik. Wir hätten überhaupt keine Tabus. Tabu, das sei ein Wort aus der Südsee, Maorisprache. Wir hätten zwar Normen, Moral, Verantwortung – aber keine Tabus. Daraufhin hörte ich sekundenlang am Telefon nichts mehr – und dann brach es aus der Journalistin heraus: »Na hören Sie mal, das geht aber nicht, Sie sind hier ›pro Tabu‹ vorgesehen.« Die Sendung kam dann doch zustande.

Man kann die Ratlosigkeit dieser Journalistin gut verstehen. Wenn in Freuds bekanntem Werk »Totem und Tabu« die Entstehung von Tabus auf den Urmythos vom Vatermord zurückgeführt wird,[9] dann müsste doch gerade diese in die Vaterrolle gezwungene Kirche die ideale Verteidigerin von Tabus sein. Schließlich ist die katholische Kirche die einzige bemerkenswerte Institution, gegenüber der Tabubrüche als Vatermordsurrogate noch wirksam inszeniert werden können. So wird heute der Blasphemie- und Skandalbedarf dieser Gesellschaft weitgehend auf Kosten der katholischen Kirche befriedigt. Da war es im Grunde fast verwunderlich, dass Aktaufnahmen am Altar des Kölner Domes erstmals 1996 versucht wurden, und auch die Reinszenierung zu Weihnachten 2013 wirkte wie infantiler Protest. Erschrockene Katholiken sollten dabei bedenken, wie sehr derartig unappetitliche Phänomene verdeutlichen, dass selbst für solche Perversen das mutwillig verletzte Sakrale in dieser Gesellschaft geradezu selbstverständlich nur in der katholischen Kirche repräsentiert ist. Interessant ist aber, dass die so heftige Aggression gegen den »Vater« letztlich eine tief sitzende Verbundenheit signalisiert: Kaum war Papst Johannes Paul II. unpässlich, fuhr ein Schreck gerade durch die Medien, die ihn sonst nur angriffen. Man pubertierte zwar gegen den Vater, aber sterben sollte er nicht.

All solche Vaterprojektionen widersprechen dem überkommenen Selbstverständnis der Kirche als »Mutter Kirche«. Noch Karl Rahner, streitbarer und kritischer Theologe, bekannte: »Die Kirche ist eine alte Frau mit vielen Runzeln und Falten. Aber sie ist meine Mutter. Und eine Mutter schlägt man nicht.«[10]

Als ungewollte Repräsentantin dessen, was die klassische Psychoanalyse als Väterlichkeit versteht, hat die katholische Kirche allerdings nicht nur für Moral und Normen einzustehen, sondern auch für die Einführung in die kulturellen Traditionen. Was die Geschichte betrifft, ist der Kirche dabei eine recht undankbare Aufgabe zugefallen. Ihr wird nämlich gesellschaftlich nicht erlaubt, für die positiven Leistungen der Geschichte zuständig zu sein, das übernimmt die narzisstisch selbstverliebte Gesellschaft unserer Tage mit Freude selbst. Es gibt aber gerade in der deutschen Geschichte so viel Schreckliches, dass die Deutschen diesen Bereich gerne loswerden. Und deswegen gibt es in dieser Gesellschaft einen breiten überparteilichen Konsens: Für die großen Leistungen der Geschichte waren natürlich die Nationen zuständig, etwa die Deutschen. Waren sie nicht Deutsche, der Dominikaner Meister Eckhard, Goethe, Schiller? Für die Katastrophen der Geschichte aber erklärt man die katholische Kirche für verantwortlich.

Man nehme die Hexenverbrennungen. Die gängige Meinung dazu ist, Hexenverbrennungen hätten im Mittelalter stattgefunden und die katholische Kirche sei daran schuld gewesen. Beides ist aber historisch falsch, wie jeder weiß, der sich mit dem Thema auch nur ansatzweise befasst hat.

Das christliche Mittelalter hat keine Hexen verbrannt.[11] Im Gegenteil, wer im Mittelalter behauptete, es gebe Hexen, der machte sich des Irrglaubens verdächtig, denn Hexenglaube war heidnischer germanischer Aberglaube. Es war eine Leistung des christlichen Mittelalters, diesen Aberglauben überwunden zu haben. Erst nach der Pest in der Mitte des 14. Jahrhunderts kehrten im Volk die heidnischen Gespenster zurück, und es traten in Mitteleuropa schreckliche Hexenverfolgungen als Volksbewegung auf. Bei Katastrophen neigen die Menschen bekanntlich dazu, Minderheiten oder Außenseiter als Sündenböcke auszuwählen und zu verfolgen. Neben den Juden waren das in dieser düsteren Zeit die Hexen. Mitte des 14. Jahrhunderts beginnt aber nach manchen Periodisierungsvorschlägen schon die Neuzeit, und die letzten Hexenverbrennungen fanden erst 1793 in Posen statt, also vor wenig mehr als zweihundert Jahren. Es war nicht das Mittelalter, sondern unser eigenes Zeitalter, die so rationale Neuzeit, das in den Hexen – um mit C.G. Jung zu sprechen – seinen irrationalen Schatten verbrannte.

Und die katholische Kirche? Die berüchtigte spanische Inquisition hat keine einzige Hexe verbrannt – aus dem gleichen Grund wie im Mittelalter: Hexenglaube galt als unchristlich. Nur in Mitteleuropa, in Frankreich, Polen und vor allem in Deutschland, wurden tumultuarisch Hexen verbrannt. Daran beteiligte sich die ganze Gesellschaft, zu der auch Kirchenmänner gehörten: Die »Hexenbulle« von Papst Innozenz VIII., die die Hexenverfolgungen wenigstens regulieren sollte – aber in unseren heutigen Augen natürlich inakzeptabel ist –, wurde von Deutschen für Deutschland erwirkt. Diese katholischen Deutschen Heinrich Institoris und Jakob Sprenger und die evangelischen Deutschen Luther und Melanchthon waren sich im Hexenwahn einig. Über die Reformation kam es sogar zum Export des deutschen Hexenbrennens nach Nordeuropa.

Das heißt aber im Klartext: Die schrecklichen Hexenverfolgungen sind nicht eine Aktion der universalen katholischen Kirche, sie sind vielmehr Teil unserer deutschen historischen Schuld. Doch dieser Peinlichkeit haben sich die Deutschen dadurch enthoben, dass sie diese Schuld an die katholische Kirche delegiert haben: Die hexenbrennenden katholischen deutschen Dominikaner Institoris und Sprenger wurden zu abscheulichen Repräsentanten der katholischen Kirche gemacht, der katholische deutsche Dominikaner und Mystiker Meister Eckhard dagegen gilt als glänzender Repräsentant der deutschen Nation. So einfach ist das. Die Psychoanalyse nennt dieses Phänomen Gut-Böse-Spaltung, ein neurotisches Symptom. Wie bei Aschenputtel gehen die Guten (Ereignisse der deutschen Geschichte) ins Töpfchen (der deutschen Nationalgeschichte) und die Schlechten (Ereignisse der deutschen Geschichte) ins Kröpfchen (der katholischen Kirche).

Andererseits ist es selbstverständlich geworden, das Ausmaß der den Deutschen zuzurechnenden, ungespaltenen Geschichte zeitlich milde zu begrenzen. Ein deutscher Bundespräsident wird in Prag gerade noch deutsche Schuld der vergangenen achtzig Jahre thematisieren. Niemand erwartet, dass er über die Gräueltaten spricht, die deutsche Landsknechte im Dreißigjährigen Krieg dort verübten. Der Papst aber muss sich ganz selbstverständlich für den Fall Galilei rechtfertigen, der sich zur gleichen Zeit ereignete.

Dass die katholische Kirche sich nicht von ihrer ganzen Geschichte einfach distanziert, wie es sich mancher wackere Katholik wünscht, der des ewigen Streits müde ist, sondern dass sie, bei aller Selbstkritik im Einzelnen, diese Geschichte – oft auch als Last – auf sich nimmt, sichert dieser Gesellschaft historische Identität. Niemand, der die Geschichte, aus der er erwachsen ist, als seine eigene leugnet, kann im Wortsinne selbstbewusst und erwachsen leben. Es ist ein Zeichen der Schwäche, wenn sich eine Gesellschaft bloß auf negative Weise ihrer Identität vergewissert, indem sie sich ihrer Geschichte nur indirekt stellt, nämlich verkleidet im Protest gegen die Geschichte der katholischen Kirche.

Die von Jürgen Habermas schon vor Jahren diagnostizierte »Neue Unübersichtlichkeit«,[12] in der kaum jemand sicher ist, wofür er eigentlich eintreten soll, treibt auf solche Weise neurotisch anmutende Blüten. Man meint wenigstens zu wissen, wogegen man ist: gegen die katholische Kirche. Wer aber im Protest stecken bleibt, findet bekanntlich nicht zu wirklicher Unabhängigkeit vom Protestobjekt und zu reifer Identität. Hinzu kommt das Abhandenkommen des Ost-West-Konflikts, der bei Linken wie Rechten das Weltbild sauber hielt, zugleich mit dem Ende gestalteter Ideologien. Als Feindbild gibt es zur katholischen Kirche also keine Alternative mehr. Durch solche Feindbilder ist die Welt scheinbar einfacher zu verstehen und besser zu durchschauen. Im Sinne der Religionssoziologie Niklas Luhmanns hätte diese Identifikation der katholischen Kirche mit dem Bösen schlechthin fast schon religiösen Charakter, es wäre die Art von »Komplexitätsreduktion«, die nach Luhmann Religionen leisten.[13] Hat man einmal den archimedischen Punkt, aus dem heraus man die Welt erklären zu können meint – die Unheilsmacht der katholischen Kirche –, wird alles klar und beruhigend eindimensional. Auf nichts muss man dann noch die Antwort schuldig bleiben. Es gab eine ganze Literaturgattung, die von solchen simplen Weltformeln lebte und sich in unendlicher Geschwätzigkeit über Gott und die Welt verbreitete, überall die katholische Kirche als Bösewicht ausmachend. Dass es sich dabei zum Teil um kirchlich alimentierte Biedermänner und -frauen handelte, zeigt nur die Attraktivität dieser Denkform. Vor allem der Papst hatte in diesem Spiel eine derart festgelegte Rolle, dass er nichts Unerwartetes mehr sagen konnte: Was auch immer er äußerte, galt als bestenfalls falsch, schlimmstenfalls böswillig. Man fühlte sich erinnert an die meckernden Greise aus der Loge der Muppet-Show.

Das Ergebnis von alldem war geistiger Stillstand. Der Philosoph Peter Sloterdijk nannte kirchenkritische Bemerkungen bloß noch »Treibsätze für Karrieren«. In tödlicher Langeweile wurde insbesondere in den Medien ein starrer Ritus zelebriert. Regelmäßig vollzog beispielsweise das Hamburger Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« eine Art Selbstvergewisserungsritual und hielt sich dabei in pubertärer Abhängigkeit sogar an den kirchlichen Festkalender. Hatte man das Thema der Weihnachtsausgabe erfahren, war der Inhalt meist bis ins Detail vorhersehbar. Eine Zeitschrift, die sich sonst einen durchaus intellektuellen Anstrich gab, unterschritt bei diesem Thema mit eherner Zuverlässigkeit Boulevardniveau. Sie zeigte dabei auf ihre Weise geradezu eine Treue zur katholischen Kirche – die evangelische Kirche erwähnte sie kaum – und wirkte auf diese Kirche ob der Berechenbarkeit dieser Kritik auch nicht mehr irgendwie beunruhigend. Eine Ausnahme von dieser Regel war aber dann die brillante Berichterstattung des »Spiegel« anlässlich des Todes Papst Johannes Pauls II. Bei Benedikt XVI. schwenkte man dann wieder auf die Produktion eines absurden wirklichkeitsfremden Klischees ein, das in keinem anderen Land der Welt vermittelbar war. So ist dieser deutsche Papst bemerkenswerterweise nach wie vor in keinem Land so unbekannt wie in Deutschland. Zu Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus wurde vorübergehend zwischen »gutem« Papst und »schlechter« katholischer Kirche unterschieden.

In einer Lage, in der der Einzelne immer mehr auf sich selbst zurückgeworfen wird, ist das Gemeinsam-gegen-irgendetwas-Eintreten jedenfalls wenigstens ein Schattenbild sinnvermittelnder Gruppenbildung. Wenn allein die Existenz dieser Kirche dazu beiträgt, so darf doch nicht verkannt werden, dass jener institutionsfeindliche Individualisierungstrend die Erfahrung von Sinn und damit eine Grundlage religiöser Bindung künstlich schwächt. Sinn ist nicht produzierbar wie sonst alles, was heutigen Menschen wertvoll ist, sondern im Gegenteil, Sinn begegnet in der Beziehung, im »Du«, wie der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber herausgearbeitet hat,[14] oder im »Wir« einer Gemeinschaft. Daher ist der Versuch, im soziologischen Geschick der Individualisierung, Sinn aus sich selbst heraus zu produzieren, wie es in den Plastikreligionen der Esoterik geschieht, die dem Einzelnen losgelöst von Gemeinschaft und Verantwortung unverbindlichen Sinn verspricht, schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt. Dennoch trifft diese Bewegung zurzeit eine Kirche besonders, die sich freimütig gerade als verbindliche Institution definiert.