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Er stürzt dich in das nasse Grab Als in Braunschweig und Salzgitter Frauen attackiert werden, schrillen bei Denise Bachmann die Alarmglocken. Vor Jahren war sie knapp dem Flussmann entkommen, ein Psychopath der ihren Mann ermordet und sie selbst fast ertränkt hatte. Seitdem leidet sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung und reagiert empfindlich, wenn Gewässer zu Tatorten werden. Aber nicht nur die ermittelnde Kommissarin Anne Schröder fragt sich, ob immer derselbe Täter hinter den Angriffen steckt. Auch der Privatdetektiv Lorenz Gabriel teilt nach anfänglicher Skepsis diese Vermutung. Während Denise den Flussmann verdächtigt, deuten andere Hinweise auf einen Frauenhasser und sogenannten Incel hin. Denn der Psychopath sitzt doch sicher verwahrt in der JVA Celle, oder? Wenn nicht, dann befinden sich Denise und ihr Sohn Paul in höchster Gefahr, denn er hatte ihr bereits im Gerichtssaal grausame Rache geschworen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 dotbooks GmbH, Max-Joseph-Straße 7, 80333 Mü[email protected]/dotbooks/CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comSatz: CW Niemeyer Buchverlage GmbHE-Pub Produktion durch CW Niemeyer BuchverlageeISBN 978-3-8271-8738-3
Hardy CruegerDerBootsmann
+ + + Der australische Premierminister Anthony Albanese hat die zunehmende Gewalt gegen Frauen in seinem Land als nationale Krise bezeichnet. Alle vier Tage werde durchschnittlich in Australien eine Frau von ihrem Partner oder einem anderen Mann aus ihrem engeren Umfeld getötet, sagte der Regierungschef am Montag und fügte hinzu: „Männer müssen ihr Verhalten ändern. Wir müssen die ganze Kultur ändern.“Süddeutsche Zeitung, 29. April 2024+ + + „Die in der Nacht von Donnerstag auf Freitag erfolgte Cyberattacke auf Teile der digitalen Infrastruktur in Norddeutschland konnte erfolgreich abgewehrt werden. Am stärksten betroffen waren Einrichtungen der Justizbehörden und die Verwaltung von Neustadt am Rübenberge. An der Wiederherstellung der Systeme wird mit Hochdruck gearbeitet. Berichte über Schäden oder illegale Datenabflüsse liegen laut der ‚Digitalagentur Niedersachsen‘ zurzeit nicht vor. Die Cybercrime-Abteilung des Landeskriminalamtes Niedersachsen hat Ermittlungen eingeleitet und ruft alle relevanten IT-betreibenden Stellen zu einem erhöhten Bereitschafts- und Wachsamkeitsmodus auf, um etwaige Störungen der IT-Systeme frühzeitig zu erkennen und schnell dagegen vorzugehen.“Pressemitteilung des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport
1. Teil: Mittsommer
1
Es war an einem warmen Nachmittag im Juni, als Johanna Bulgakov ihr Auto im Ortsteil Melverode abstellte. Sie kam von der Frühschicht im Herzogin-Elisabeth-Hospital und hatte sich einen Spaziergang um den Südsee reichlich verdient. Die frische Luft, das Sonnenlicht, das satte Grün der Bäume und Sträucher wirkten nach den Stunden im fensterlosen Raum der Radiologie wie eine kostbare Medizin. Und das ohne Nebenwirkungen.
Sie stieg aus dem weißen Polo, prüfte sorgfältig, ob die Fahrertür wirklich verriegelt war, und ging dann auf die Brücke zu, die hier die Oker überspannte. Eine leichte Brise wehte eine Locke ihres schwarzen Haars in ihr Gesicht, als sie den Fluss überquerte, der etwa zwei Kilometer weiter nördlich das Stadtgebiet von Braunschweig erreichte. Auf der anderen Seite angekommen, entschied sie sich dafür, sich nach links zu wenden und den See im Uhrzeigersinn zu umrunden. Eine fatale Entscheidung, wie sich bald herausstellen sollte. Sicherer wäre die andere Richtung gewesen.
Johanna schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Die Gäste würden erst in vier Stunden bei ihr zu Hause vor der Tür stehen, und ihr Mann hatte die Einkäufe bereits erledigt. Auch wenn sie langsam ging, hätte sie noch genug Zeit für eine Runde. Aber sie wollte etwas für ihr Herz tun, das in den letzten Jahren, seit sie die 40 hinter sich gelassen hatte, nicht mehr ganz so rund lief. Also schritt sie forsch aus, legte die ersten paar Hundert Meter auf dem mit Büschen und Bäumen bewachsenen Weg zügig zurück, der sich auf dem schmalen Streifen Land entlangschlängelte, neben dem auf der linken Seite träge die Oker floss und rechter Hand die Oberfläche des Sees in der hochstehenden Sonne glitzerte.
Nach einigen Minuten hatte sie die Holzbrücke erreicht, die über einen kurzen Kanal führte, der Fluss und See miteinander verband. In der Mitte blieb sie stehen, schaute in den von grünem Gestrüpp gesäumten Wasserlauf, der nach einigen Metern in den See mündete. Es sah schlammig aus und war mit braunen Algen versetzt. Da hineinzufallen wäre auf keinen Fall ein Vergnügen, dachte sie und setzte sich wieder in Bewegung.
Auf dem Asphaltweg kamen ihr einige Spaziergänger entgegen. Sie überholte zwei Frauen mit Kinderwagen, die im Gespräch vertieft langsam dahinschlenderten. Wurde ihrerseits von zwei schnaufenden Joggern überholt, die weiter vorn einem großen weißen Hund ausweichen mussten. Als sie an ihm vorbeiging, schaute er sie neugierig aus großen, schwarzen Augen an, wandte sich dann aber seinem Herrchen zu, das auf einer Bank am Ufer des Sees eine Ruhepause eingelegt hatte.
Bevor sie die Südspitze des Sees erreichte, schaute sie noch einmal auf die smarte Uhr. Herzfrequenz und -rhythmus waren nicht top, aber okay, trotz des Wetters und der Siebeneinhalbstundenschicht, die hinter ihr lag. Sie atmete tief die warme, nach Wasser riechende Luft ein. Bog auf einen Holzsteg ein, der die Spitze des Sees abschnitt und direkt über das Wasser auf die andere Seite führte. Nicht weil der Weg kürzer war, sondern weil sie ihn schöner fand. Auf der anderen Seite saß auf einer Bank eine Gestalt, die sie beobachtete und sich erhob, als sie den Steg betrat.
Johanna Bulgakov war mittelgroß und kräftig, und ihre energischen Schritte erzeugten auf den Bohlen dumpfe Geräusche. Auf der Seite des Stegs, die dem Ufer zugewandt war, ragten in gleichmäßigen Abständen hüfthohe, hölzerne Pfeiler hervor, die mit Ketten verbunden waren und ein wackeliges Geländer bildeten. In vielen der Kettenglieder hingen Liebesschlösser mit eingravierten Namen und Herzen. Johanna verlangsamte ihren Schritt, blieb stehen und schaute sich zwei, drei an: Tim & Sara, Norbert & Klaus, Kira & Burak. Dann drehte sie sich um und blickte nach Norden über den lang gestreckten See. Auf dieser Seite gab es keine Pfeiler und keine Ketten. Hier lag einem das Wasser frei und offen direkt zu Füßen. Johanna füllte ihre Lunge mit einem langen tiefen Atemzug bis in die Spitzen.
Die leichte Brise erzeugte feine Rippen auf der himmelblauen Oberfläche, in der die Wolken weiße Tupfen bildeten und die Kronen der sich spiegelnden Uferbäume grüne Zacken. Heute war wirklich ein wunderschöner Tag, dachte sie. Holte wieder tief Luft. Entließ mit dem Atem alles, was sie auf der Arbeit genervt und verärgert hatte, in die frische, laue Juniluft. Erst als sie sich umdrehte und weiterging, sah sie den Mann, der den Steg von der anderen Seite aus betreten hatte und ihr entgegenschlenderte.
Er schien nicht viel größer zu sein als sie, aber rundlicher und jünger. Trug einen ballonseidenen blauen Trainingsanzug, eine verspiegelte Sonnenbrille und ein dunkles Basecap. Dünne Barthaare bedeckten die Außenseiten seiner Wangen und kräuselten sich bis unter das Kinn hin. Er ging wie im Straßenverkehr auf der rechten Seite des Stegs an den Ketten entlang, und als er an einem der Pfeiler vorbeikam, schlug er verspielt mit der flachen Hand darauf. Griff nach der Kette und hob sie im Laufen etwas an, sodass die Schlösser metallisch aneinander klirrten.
Johanna musste auf der Seite an ihm vorbeigehen, auf der es keine Poller und Ketten gab. Wegen der verspiegelten Sonnenbrille hatte sie kurz ein etwas ungutes Gefühl. Aber was sollte hier schon passieren? Auf dem Steg stand man wie auf einem Präsentierteller. Alle Leute, die hier unterwegs waren, konnten einen sehen. Und hören, wenn man schrie. Sie fühlte sich sicher, ging an dem Mann vorbei, der an ihr vorbeiging. Die klimpernde Kette losließ. Plötzlich beide Hände vorschießen ließ und sein ganzes Körpergewicht in den Stoß legte. „Blöde Kuh! Weg da!“, knurrte er und schubste sie vom Steg hinunter in das Wasser.
Johanna blieb nur Zeit, einen kurzen Schrei auszustoßen. Ein überraschtes, gequältes „Ahhh!“, bevor sie platschend in das kalte Wasser eintauchte. Es war nicht besonders tief. Ihre Hände prallten auf den schlammigen Seeboden. Schmerz durchzuckte ihre rechte Handfläche. Sie versuchte sich abzustützen, aber der Arm knickte ein. Ihr Kopf, ihr Gesicht war sekundenlang unter Wasser, bevor sie sich wieder orientieren konnte. Bevor sie den Schmerz ignorieren und sich durch die Wasseroberfläche zurück ins Licht kämpfte. Bevor sie wieder Luft einatmen konnte, mit einem dunklen krächzenden Röcheln* ...
(*weitere Informationen zu den realen Fällen im Nachwort)
2
Denise warf sich hin und her. Ihre Todespanik wuchs. Luft! Sie brauchte LUFT! Mit letzter Kraft drückte sie die Hände und Füße in den weichen Schlamm des Flusses. In den Schlick, den erdigen Modder. Fand aber keinen Halt. Rutschte weg. Der Druck auf ihren Hinterkopf wurde stärker. Unter Wasser wand sie sich hin und her, zappelte herum. Fuchtelte immer schwächer mit den Armen, während die Finsternis sich in ihrem Bewusstsein ausbreitete. Bis nur noch ein schwaches Leuchten übrig war. Das schließlich auch erlöschen würde. Erstickt im eiskalten Wasser der Oker, das die letzte Wärme aus ihrem Herzen stahl. Sah plötzlich Robin durch das trübe Wasser auf sich zuschweben. Sein Haar wedelte im Strom wie eine zarte Algenart. Er schüttelte den Kopf und streckte ihr eine Handfläche entgegen, die im dunklen Wasser hell schimmerte. Wies mit dem Finger nach oben. Es war noch nicht zu Ende. Und dann konnte sie sich wieder bewegen. Strampelte sich frei ... aus dem Schlamm ... aus der Decke ... erwachte ... im gleißenden Sonnenlicht des Nachmittags ... kein Schlamm ... kein Wasser ... atmete stoßartig ... fast wäre sie ertränkt worden. Damals.
Paul-Robin stand vor ihr und tätschelte ihre Hand. Knapp einen Meter groß, die gleichen Augen, die gleichen Gesichtszüge, sein Haar. „Mama. Bist du wach?“, fragte er mit hoher Stimme.
Denise richtete sich seufzend auf. „Ja, mein Schatz, ich bin wach.“ Sie strich ihrem Sohn über den Kopf. „Da habe ich wieder schlecht geträumt, was? Ich sollte mich nachmittags nicht hinlegen“, sagte sie und schob die Decke zur Seite. So intensiv hatte sie schon lange nicht mehr von ihrer brutalen Nahtoderfahrung geträumt. Von dem Mann, der sie unter das Wasser gedrückt hatte und sie ermorden wollte.
Über dreieinhalb Jahre war es her, dass der Serienmörder Constantin Fischer, der von den Medien Der Flussmann genannt worden war, erst ihren Ehemann ermordet und dann auch versucht hatte, sie zu töten. Mit einem Elektroschocker hatte er seine vielen Opfer bewegungsunfähig gemacht und sie dann in Flüssen ertränkt. Ihr Ehemann Robin war das letzte dieser Opfer gewesen, denn jetzt saß der Psychopath im Gefängnis und verbüßte eine siebzehnjährige Haftstrafe mit anschließender lebenslanger Sicherungsverwahrung. Wenn er nicht irgendwann, irgendwie würde entkommen können.
Denise lief eine Gänsehaut den Rücken hinunter, wenn sie an den Mann dachte. Wie kaltschnäuzig und arrogant lächelnd er im Gerichtssaal gesessen hatte. Ohne ein Fünkchen Reue. Ohne ein Körnchen Empathie. Und dieser Mensch hatte als Heil- und Erziehungspfleger gearbeitet, es war kaum zu glauben.
Sie blickte auf ihren Sohn, Paul-Robin, der seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war ... wenn sie ihn nicht hätte, dann ... Denise erhob sich von der Couch, knüllte die Decke zusammen und schob sie auf die Seite. „Wer möchte denn einen schönen kalten Kakao?“, fragte sie und schaute sich im Zimmer um.
„Ich! Ich! Ich!“, rief Paul und hopste ihr voraus in die Küche.
Der Junge war ziemlich aufgedreht, denn heute, am 21. Juni, war sein 3. Geburtstag. Sommersonnenwende. Im Schrebergarten von Tobi und Anika würden sie das Ereignis bis in den Abend hinein mit einem großen Grill und einem kleinen Lagerfeuer feiern. Aber vorher würden sie in das Lechlumer Holz fahren. Zu Robin.
Denise stellte den e-Up auf dem Parkplatz gegenüber dem Sternhaus ab, einem alten Ausflugslokal, das im Wald zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel lag, und holte Pauls kleines Laufrad aus dem Kofferraum. Der Junge setzte sich darauf, ahmte das Motorengeräusch eines Verbrenners nach und brauste los, den schnurgeraden Schotterweg hinunter, der durch den Wald führte. Obwohl es warm war, zog Denise ihre Jacke über, setzte sich den kleinen Rucksack auf den Rücken, nahm die rote Rose und ging ihrem Sohn hinterher, der geschickt die Schranke umfuhr, die die Autofahrer davon abhalten sollte, bis zu dem Bereich des Waldes zu fahren, der den Urnengräbern vorbehalten war.
Sie hatte für Robins letzte Ruhestätte den Friedwald im Lechlumer Holz gewählt, weil sie oft mit den Fahrrädern nach Wolfenbüttel gefahren waren und er diesen Teil des Waldes gemocht hatte. Weil er hoch über der Oker lag, mit einem weiten Ausblick über das Land, bis zu den Lichtenbergen in Salzgitter am westlichen Rand. „Ein historischer Flecken“, hatte er immer gesagt. Und das nicht nur, weil darin das Hohe Gericht, eine öffentliche Hinrichtungsstätte aus dem Mittelalter, lag.
„Paul! Fahr nicht so wild!“, rief sie ihrem Sohn zu, und, bratz, schon rutschte das Laufrad auf dem Schotter aus. Aber Paul war sofort wieder oben und rollte weiter. Sollte er doch. Hier könnte er höchstens im Gebüsch landen, das den Weg säumte. Buschwerk und hohe Buchen beschatteten den Weg zu dem Waldfriedhof, es war angenehm frisch und grün, und schnell hatten sie den halbrunden Unterstand aus Holz erreicht, der als Andachtsplatz diente und den Eingang auf das Friedhofsgelände markierte.
Paul preschte mit seinem Laufrad hinein, rutschte wieder weg, aber trudelte nur hin und her und hatte sich gleich wieder gefangen. Dann musst er absteigen, weil ab hier nur noch ein unebener Pfad hinein in den Friedwald führte. Er lehnte das Rad gegen den Unterstand, suchte die Hand seiner Mutter, und gemeinsam gingen sie durch das Unterholz zu der noch jungen Buche, unter der die Asche seines Vaters begraben lag.
Denise ging in die Hocke und legte die Rose unter den Baum. Paul schmiegte sich an sie, und so verweilten sie einige Minuten. Sie hatte ihm noch nicht erzählt, dass sein Vater ermordet worden war. Wie sollte ein dreijähriges Kind verstehen, was Mord war? Oder was ein Psychopath, der Menschen das Leben nahm, weil er mit seinem eigenen nicht klarkam? Weil er eine schlechte Kindheit gehabt hatte und vielleicht mit Gott haderte? Der ohne Skrupel und gewissenlos tötete.
Plötzlich hatte Denise das Gefühl, dass sie beobachtet wurden. Alle Geräusche um sie herum erstarben. Ihr wurde kalt. Sie drückte Paul an sich, drehte sich um und blickte über seinen Kopf hinweg in den stillen Wald. Konnte das dichte Grün der Sträucher nicht durchdringen. Die schwarzen Schatten zwischen den Ästen. Schaute zur anderen Seite über den Pfad, den sie gekommen waren. Wie durch einen Tunnel hindurch fokussierte sich ihr Blick auf einen kleinen Mittelpunkt. Drumherum nur diffuse, dunkle Trübnis. Da hinten, zwischen den Baumstämmen, bewegte sich da etwas? War da ein Schatten? Eine Person?
Schnell richtete sie sich auf. Eine Person in einem Parka? Ja! Sie versuchte den Tunnelblick abzuschütteln. Jemand stapfte da zwischen den Bäumen umher. Nur ein Schemen, der durch das Licht- und Schattenspiel, das die Sonne und die Blätter hervorriefen, nicht gut zu erkennen war. Sie begann zu zittern. Ganz leicht nur, denn es konnte nicht der Flussmann sein. Sie schüttelte den Kopf. Es war unmöglich. Erst als Paul ihre Hand ergriff und sagte: „Mama, da geht ein Opa“, konnte sie wieder klar sehen und erkannte einen älteren Mann mit weißem Haar.
Denise entspannte sich. Ein Witwer vielleicht, auf dem Weg zu dem Baum, an dessen Fuß die Urne mit der Asche seiner Frau vergraben war, oder die eines anderen geliebten Menschen.
„Komm“, sagte sie zu Paul. „Gehen wir zurück. Und fahren zu Tobi und Anika.“
Es war schon fast 17 Uhr, als sie im Schrebergarten am Lünischteich ankamen. Auf dem Gasgrill brutzelten bereits Gemüsespieße, Käse und Steaks. Salate und Getränke standen auf einem wackeligen Gartentisch. Ein paar kleine Kinder pesten durch den Garten, stürmten auf Paul zu, während die Eltern in Grüppchen herumstanden und palaverten.
„Hi Denise! Herzlichen Glückwunsch Paul!“ Madlen kam auf sie zu, strich mit einer schnellen Geste ihr langes blondes Haar hinter das Ohr, nahm den Jungen hoch und küsste ihn links und rechts auf die Wangen.
Lorenz Gabriel schlenderte herbei, schob den Hut nach hinten und ging vor Paul in die Hocke, nachdem Maddy ihn wieder abgesetzt hatte. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Junge“, sagte der Detektiv und drückte ihn kurz an sich. Dann stand er auf und gab Denise die Hand.
3
Sommersonnenwende. Längster Tag, kürzeste Nacht. Und der Geburtstag des kleinen Paul. Wie schnell die Zeit vergeht, dachte ich und mixte mir einen Saftcocktail aus Limetten, Rohrzucker, Pfefferminzblättern und Sodawasser. Die schrecklichen Ereignisse, die furchtbare Verfassung seiner Mutter, alles war mir noch vor Augen, als sei es erst gestern passiert. Ich sah sie mit rot gefärbten Haaren und in Joggingklamotten am Ufer der Oker entlanglaufen, um den Mörder ihres Mannes aus der Reserve zu locken. Unglaublicherweise hatte es wirklich geklappt. Jetzt saß der Psycho bis zu seinem Lebensende in Haft und würde nie wieder eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen. Bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte war der Mistkerl gegangen, weil man ihm die Micro-SD-Karten aus der Haut herausoperiert hatte, auf denen er die Fotos und Zeitungsartikel seiner Morde gespeichert hatte. Einen „schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte!“ hatte er angeprangert, und eine schwere Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit und der Menschenwürde, et cetera pp. Der Mörder, der mindestens sieben Menschenleben erbarmungslos ausgelöscht hatte, vielleicht auch mehr.
Und die Angehörigen traumatisiert. So wie Denise. Sie war höchstwahrscheinlich das einzige Opfer, das seine Attacke überlebt hatte. Jahrelang noch würde sie in therapeutischer Behandlung sein müssen. Ich hoffte, es würde ihr irgendwann besser gehen, und half ihr, so gut ich konnte, bei der Verarbeitung. Kümmerte mich, soweit es in meinen Kräften stand und wie es meine Zeit zuließ, um Mutter und Sohn.
Mit meinem Getränk setzte ich mich in einen der letzten freien Stühle und schaute mir die Leute um mich herum an, wie sie lachten und schwatzten. Ich hatte Denise das Leben gerettet. Ihr und dem kleinen Menschen, der in ihrem Bauch herangewachsen war. Hatte mein Konto damit mehr als ausgeglichen. Vor vielen Jahren ein Leben beendet, jetzt zwei gerettet. Und eine lebenslange Verantwortung für diese beiden Leben bekommen, das glaubte ich zumindest. Eigentlich hatte ich sogar drei Menschen gerettet, denn höchstwahrscheinlich wäre der Psychopath krepiert, wenn nicht ich ihn aus dem Wasser gezogen und mit einer Herzdruckmassage in das Leben zurückgepumpt hätte. Aber das machte mich nicht wirklich stolz, und ich wollte ihn nicht auf meinem Konto haben.
Ich trank von meinem Saftcocktail und schaute Denise an. Sie färbte sich das Haar nicht mehr knallrot und hatte es sich auch wieder länger wachsen lassen. Aber die Lockenfülle wie vor den furchtbaren Ereignissen erreichte es nicht mehr. Und zugenommen hatte sie. Wog jetzt wahrscheinlich die Hälfte mehr als zu der Zeit, in der wir uns kennengelernt hatten, sah aber insgesamt gesünder aus als damals und nicht mehr so verhärmt.
Manchmal erzählte sie mir von den Sitzungen bei ihrer Psychologin, Frau Doktor Engelhardt. Oder von den furchtbaren Albträumen, die sie quälten. Von ihren Ängsten, auf die Straße zu gehen, immer und überall verfolgt zu werden, bedroht und überfallen. Aber sie muss, sie will es schaffen, um Pauls willen. Nimmt die Medikamente, damit sie funktioniert. Wie gesagt, ich helfe ihr so gut ich kann. Wenn sie mich mitten in der Nacht anruft, eile ich zu ihr. Wenn sie sagt, heute geht es nicht alleine, dann komme ich vorbei und begleite sie zum Einkaufen, zum Krav Maga oder einfach beim Spazierengehen, weil Paul frische Luft braucht. Wenn ich Zeit habe. Ich bin ja noch nicht in Rente, und manche Aufträge – zum Beispiel das Sezieren der aus Bosheit und Missgunst geborenen Kinder von gescheiterten Ehen – erfordern viel Aufmerksamkeit.
Und sie hat diese Manie ausgebildet, einen Spleen, eine Macke könnte man sagen, alle möglichen kriminalistischen Vorfälle zu sammeln, die an oder auf den Gewässern der Umgebung passieren. Vor ein paar Monaten war es besonders schlimm. Da hatten Kanuten an der Leine bei Hannover eine alte Hose entdeckt, die in einem Baum über dem Fluss hing. Als sie näher kamen, sahen sie, dass da noch etwas drin steckte. Knochen. Sie riefen die Polizei, und die fand in der Hose den teilweise skelettierten Unterleib eines Mannes.*
Diese Meldung hatte sie sehr aufgewühlt. Sie meinte, dass es vielleicht ein früheres Opfer des Flussmannes gewesen war. Wasser ist tückisch. Niemand weiß, wie lange die Überreste des armen Kerls dort schon gehangen hatten. Wahrscheinlich seit dem letzten Hochwasser und ...
„Lorenz! Was ist los?“ Maddy weckte mich aus meinen Gedanken. „Wieder einen schweren Fall zu lösen, Detective Gab? Du hast Feierabend. Prost!“
„Du hast recht. Ich habe Feierabend“, sagte ich und hob das Glas.
4
Die Erste Kriminalhauptkommissarin Annegret Schröder saß an ihrem Schreibtisch in der Polizeidirektion Braunschweig und las die Anzeigen durch, die die Kollegen im Laufe des Tages aufgenommen und den Kommissaren des Kriminaldauerdienstes überlassen hatten, falls sie in der Nacht Zeit dafür fanden, sie zu bearbeiten. Zwei Sachbeschädigungen an Fahrzeugen in der Weststadt, eine räuberische Erpressung am Waisenhausdamm, bei der eine wertvolle Uhr und ein Handy erbeutet wurden, sowie eine Anzeige wegen Nötigung und Körperverletzung waren im digitalen Postkasten ihrer Abteilung gelandet.
Heute war Samstag, die kürzeste Nacht, und sie hatte ihren letzten KDD. Freute sich auf ihr Team, so nervig es auch sein konnte. Seufzend ließ sie ihren dicken braunen Zopf durch die lockere Faust der linken Hand gleiten, während die Rechte den Text der räuberischen Erpressung hochscrollte. Am helllichten Tag, mitten in der Stadt, war das Opfer, ein 65-Jähriger mit einer Gehbehinderung, von zwei Männern angegangen, bedroht und zur Herausgabe der genannten Gegenstände gezwungen worden. „Sonst du verlieren mehr als das!“, hatte einer der Täter wohl zu ihm gesagt und ihm ein Messer gezeigt.
Die Erste Kommissarin schaute nach, ob es an der betreffenden Stelle oder in der Umgebung Kameras gab. An der Lieferantenzufahrt von C&A hing mindestens eine. Sie suchte die Nummer des Sicherheitsdienstleisters heraus, gab die entsprechenden Daten weiter, stellte dann erst beim Amtsgericht den Antrag auf Herausgabe und die Veröffentlichung eventuell verwertbarer Bilder der Täter. Dann schickte sie per Mail die Beschreibung der Uhr an einige Juweliere mit der Bitte, sich zu melden, wenn jemand sie ihnen zum Kauf anbot. Mehr konnte sie in der Sache momentan nicht tun und wandte sich der Nötigung und schweren Körperverletzung zu.
Am Südsee hatte ein junger Mann eine Frau von einem Steg aus ins Wasser gestoßen. Die Frau behauptete, den Mann nicht zu kennen, und es sei auch kein Streit vorausgegangen. Die Attacke sei aus heiterem Himmel gekommen, als sie aneinander vorbeigegangen waren. Zum Glück hatte das Opfer nur eine Abschürfung an der rechten Hand davongetragen. Nasse Kleidung. Und einen Schock. Angeblich hatte er „Blöde Kuh, geh mir aus dem Weg!“ gesagt.
Frau Schröder öffnete Google Maps und schaute sich den Tatort an. Am südlichen Ende des Sees gab es tatsächlich einen Steg, auf dem man über den See wandeln konnte. Sie klickte die Fotos an, die Besucher dort gemacht und hochgeladen hatten. Auf der zum See hingewandten Seite hatte der Steg kein Geländer.
Vor sich hinmurmelnd, las sie weiter. Nachdem die Frau mit blutender Hand, klitschnass und zitternd, wie sie es beschrieben hatte, auf den Steg zurückgeklettert war, kam ein älterer Mann mit einem Hund herbeigelaufen, der auch die Polizei und den Krankenwagen gerufen hatte. Beide hatten sie ausgesagt, dass der bärtige Täter einen ballonseidenen blauen Trainingsanzug mit dünnen weißen Streifen an der Seite und ein dunkles Basecap getragen hatte. Und eine verspiegelte Sonnenbrille, aber das hatte nur die Frau ausgesagt.
Nachdenklich spielte die Erste mit dem Ende ihres langen Zopfes. Einen ballonseidenen blauen Trainingsanzug. Wer trug so etwas heute noch? Und eine verspiegelte Sonnenbrille. Das waren eher Relikte aus den 1980ern. Vielleicht war er doch älter, als das Opfer ausgesagt hatte? Oder hatte der Täter das extra zur Tarnung angezogen? Das könnte bedeuten, dass er die Frau vorsätzlich vom Steg in den See gestoßen hatte.
Mit den Fingern fuhr sie das Muster ihres Zopfes nach. Eine verspiegelte Sonnenbrille. Das hatte sie doch schon einmal gelesen. Es war noch gar nicht so lange her. Aber wo nur? Mit zusammengezogenen Augenbrauen kopierte sie die Worte in die Suchleiste des Intranets und bekam einen Treffer. Allerdings von der Polizeiinspektion Salzgitter. Genauer, von den Kollegen der Station Salzgitter-Gebhardshagen. Anfang des Monats hatte dort eine Frau einen Mann ebenso beschrieben, der sie am Herrenhaus auf der Straße Vor der Burg angespuckt und als Hure beschimpft hatte.
Annegret Schröder lehnte sich zurück. War das wirklich derselbe Mann? Wenn ja, was war das für ein Kerl? Warum tat der das?
Sie schüttelte den Kopf, beugte sich wieder vor und schrieb eine Pressemeldung, aber nur über den Vorfall am Südsee. Gerade als sie sie abgeschickt hatte, quäkte ihr Funkgerät los: „Es wurde eine 1-2-1 auf eine Straßenbahn Luisenstraße Ecke Hedwigstraße gemeldet.“*
„Auch das noch“, murmelte sie, denn das war der Code für einen Schusswaffengebrauch. Rasch schrieb sie eine Notiz, dass sie mit der Frau sprechen wollte. Dann stieß sie sich vom Schreibtisch ab, als auch schon die Bürotür aufging und ihr KDD-Kollege Wolter im Rahmen stand.
„Wollen Sie fahren?“, fragte er und wedelte mit dem Autoschlüssel.
5
Erst am Mittag des nächsten Tages, als Paul seinen Mittagsschlaf hielt, hatte Denise etwas Zeit für sich. Vormittags waren sie beim Eltern-Kind-Schwimmen gewesen, jetzt hingen die Badesachen ausgespült auf der Leine auf dem Balkon. Der Kurs war nicht nur für ihren Sohn gut. Ihre Psychologin hatte es als Therapie empfohlen, damit sich Denise’ Wasserphobie nicht verfestigte. Und bisher hatte es geklappt. Zwar kostete es sie immer wieder Überwindung, in das flache Wasserbecken im Stadtbad zu steigen, aber mit der Zeit wurde es besser. Und sie tat es für Paul. Er musste schwimmen lernen. Und tauchen.
Denise setzte sich mit einem Cappuccino auf die Couch, nahm das Notebook auf die Knie und rief einen Newsblog auf, loggte sich in ihren Account ein und begann zu lesen. Überflog die Überschriften der Kriegsberichte, las den ein oder anderen gesellschaftspolitischen Artikel, bis sie bei den „Nachrichten aus der Region“ angekommen war. Die nächste Kulturnacht stand bevor, und an der Hedwigstraße hatte jemand auf eine Straßenbahn geschossen. So weit waren wir nun also auch in Braunschweig, dachte sie kopfschüttelnd und fragte sich, wo diese Leute bloß immer die Waffen herhatten. Dann scrollte sie runter, und was dort stand, ließ sie erstarren.
Am Südsee war eine Frau ins Wasser gestoßen worden. Von einem unbekannten Mann. Sofort waren die Bilder wieder in ihrem Kopf. Das furchtbare Gefühl, unter Wasser gedrückt zu werden und nicht atmen zu können. Die Eiseskälte, die sich in ihrem Körper ausgebreitet hatte, als der wahnsinnige Mörder auch sie hatte ertränken wollen.
Dann las sie sich den Artikel noch einmal durch. Machte ein Bildschirmfoto und speicherte es in dem Ordner „Vorfälle an Gewässern“ unter Braunschweig. Dachte kurz nach. Klickte auf Salzgitter und öffnete das einzige Dokument, das dort platziert war. Ein Artikel von der Nachrichtenplattform „Regional Heute“. Im Frühjahr hatte ein bärtiger Mann mit Basecap von einem grau-gelben Boot aus zwei Mädchen beschimpft, die am Ufer des Salzgittersees gesessen hatten. Beschimpft, mit einem abgekauten Apfel beworfen und gedroht, sie ins Wasser zu schmeißen und zu ersäufen „wie neugeborene Katzen, die kein Mensch braucht!“, hatte er wohl gesagt. Der Vater der einen stammte aus Botswana. Sie hatte dunkle Haut, und der Mann hatte sie mehrmals mit dem übelsten Schimpfwort bezeichnet, das es zusammengesetzt aus Rassismus und Frauenverachtung gab. „Widerwärtig“, so stand es in dem Artikel. Und er soll eine verspiegelte Sonnenbrille getragen haben.
Denise öffnete ein Bild der Landkarte von Süd-Niedersachsen, auf der sie alle Vorkommnisse mit roten Punkten markiert hatte. Das hängende Gerippe bei Hannover, eine Frau, die im Oberlauf der Oker bei einer Wildwasserfahrt ertrunken war, ein Kind, das in der Aller bei Gifhorn gerade noch gerettet werden konnte, das Auto, das bei Peine in den Mittellandkanal gestürzt war, die beiden Mädchen in Salzgitter. Jetzt fügte sie einen Punkt am Südsee in Braunschweig hinzu.
Danach griff sie nach dem Kaffeebecher, hielt ihn in beiden Händen und schaute auf die roten Markierungen. Es kam näher. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie unterdrückte das Zittern und nahm einen Schluck. Was immer Es war. Sicher nicht der Horrorclown von Stephen King. Ein Mensch aus Fleisch und Blut, so wie der Mann, der Robin getötet hatte und der in einer Justizvollzugsanstalt für psychisch kranke Straftäter saß. Constantin Fischer, der ihr während der Gerichtsverhandlung hämische Blicke zugeworfen hatte. Seine Augen hatten gesagt: Dich kriege ich auch noch! Irgendwann kriege ich dich, Denise Bachmann! Und dann hatte er gegrinst. Hämisch, überheblich, arrogant. In dem Augenblick hatte sie sich eine Waffe gewünscht. Eine Pistole, mit der sie in das furchtbar selbstgefällige Gesicht schießen und dieses unmenschliche Grinsen auslöschen könnte.
„Mama?“ Mit zerzaustem Haar kletterte Paul zu ihr auf die Couch.
„Komm her, Schatz.“ Sie schob alles von sich, die bösen Gedanken, das Notebook, den Kaffeebecher, und nahm ihren Sohn in den Arm.
Am Nachmittag fuhren sie, wie fast jeden Sonntag, zu der Hoheworthbrücke in den Bürgerpark, neben der sich das Holzkreuz mit Robins Namen befand, das sein Freund Tobias gebaut und in die Erde gesteckt hatte. Hier war er ermordet worden. Und beinahe sie selbst und Paul auch, wenn nicht Lorenz Gabriel plötzlich aufgetaucht wäre. Der hatte das Holzkreuz aus der Erde gerissen und den Flussmann mit wuchtigen Schlägen von ihr heruntergeprügelt, bis der Psychopath kopfüber und bewusstlos in der Oker gelegen hatte.
Das Kreuz stand im Gras zwischen einer mächtigen Trauerweide und einer Platane. Ein abgeschirmter, ruhiger Platz, oft von Gänsen besucht, wie deren Kot bewies. Aber die Blumen, die Engelchen und die Grableuchten der Erinnerungsstätte waren nicht geschändet. Es überraschte sie immer wieder, wie viele Braunschweigerinnen und Braunschweiger nach der langen Zeit noch Mitgefühl zeigten, denn nicht alle Dinge, die dort lagen, waren von ihr. Denise ging vor dem Kreuz in die Hocke, nahm verblühte Rosen heraus und steckte drei neue in eine Vase.
Paul stand am Ufer und warf ein Stöckchen in das Wasser, als ein bärtiger Mann mit einem dunklen Basecap auf dem Kopf in einem aufblasbaren grau-gelben Kajak an ihm vorbeipaddelte. „Na, kleiner Mann. Pass auf, dass du nicht reinfällst, hier ist schon mal jemand ertrunken“, sagte er und fuhr weiter flussabwärts in die Stadt hinein.
Sofort stand Denise neben ihrem Sohn und legte schützend den Arm um ihn. „Da hat der Mann recht. Am Wasser muss man immer aufpassen.“
„Ich kann doch schwimmen“, sagte Paul.
„Ja, das kannst du“, Denise küsste ihren Sohn auf den Kopf und schaute mit gefurchter Stirn dem Kajak hinterher, so, wie man einem Krokodil hinterherschauen würde, das einem zu nahe gekommen war.
6
Constantin Fischer stand unter der eiskalten Dusche im Waschraum der JVA Celle. Das Wasser rann über die roten Wülste der sieben Narben auf seiner Haut und ließ sie etwas verblassen. Er seifte sich ein und genoss die Abkühlung nach dem Lauftraining in der heißen Luft des Mittsommers. Drei andere schwere Jungs waren mit ihm im Waschraum. Noch ein Kaltduscher, ein Warm- und ein Heißduscher. Allesamt saßen sie wegen Mordes, aber keiner von ihnen hatte so viele Menschen getötet wie er, der Flussmann.
In ihren Augen war der Typ komplett irre, denn er hatte seine Taten weder aus Rache noch aus finanziellen oder familiären Gründen begangen. Der Heißduscher, Erkan Ösiel, hatte ihn mal gefragt, warum er die vielen Menschen umgebracht hatte. „Weil Gott nicht wusste, dass ich existiere“, hatte Fischer mit Grabesstimme geantwortet. „Aber jetzt hat er mich doch gesehen.“
Erkan war ein skrupelloser Bursche, der seine kleine Schwester in einen Hinterhalt gelockt und dann erstochen hatte, weil sie nicht den Mann heiraten wollte, den die Familie für sie ausgesucht hatte. Es war für ihn schwer, das Motiv des Flussmannes zu verstehen, deshalb fragte er noch mal nach: „Es war also Allahs Wille?“
Fischer hatte seine Hand vorschießen lassen und die Kehle des Türken umklammert. „Wenn ich jetzt zudrücke, ist dein Tod ganz allein mein Wille, deshalb“, hatte er mit blitzenden Augen gezischt und ihn dann so hart von sich weggestoßen, dass der Mann zu Boden gestürzt war. Seitdem hatte er nicht mehr besonders viel Kontakt zu seinen Mitinsassen, den er aber in keiner Weise vermisste.
Nachdem er sich abgetrocknet hatte, war es Zeit, und er ging zurück in seine Zelle. Schmiss das Handtuch auf den Stuhl und legte sich auf das Bett, während das Schloss der Tür summend und klackend einrastete. An die Decke über seinem Bett hatte er Fotos geklebt. Eines zeigte diese verfluchte Frau, die ihm entkommen war. Das andere den alten Kerl, der ihn niedergeschlagen und so verhindert hatte, dass er sie von ihrem Schmerz über den Verlust ihres Ehemannes hatte erlösen können. Ein drittes eben diesen Ehemann.
„Ich möchte Reue finden“, hatte er mit Büßermiene der Psychologin erzählt, als die Wärter das Vorhandensein der Fotos gemeldet hatten.
„Das ist ein guter Gedanke, Herr Fischer. Ich denke, die Fotos sind genau dort, wo sie hingehören“, hatte sie gesagt und erlaubt, dass sie hängen bleiben durften.
Oft starrte er die Fotos an und ergötzte sich an den Gedanken, was er mit den beiden machen würde, wenn er hier herauskommen könnte. Aber er musste noch dreizehn Jahre absitzen, und dann folgte die Sicherungsverwahrung bis an sein Lebensende. Verdammt! Blitzschnell schlug er mit der Seite der linken Faust gegen die Wand.
Dann begann er zu weinen. Über seine eigene Dummheit. Darüber, dass er sich getäuscht hatte. Gott hatte ihn doch gesehen. Und was er getan hatte. Spät erst, aber er hatte ihn gesehen. Seine verdammte Mutter hatte wohl doch recht gehabt: Gott sieht alles! Und wieder schlug er mit der Faust gegen die Wand, und der Schmerz durchfuhr ihn wie damals, als sie ihn an das Bett gefesselt und mit dem hölzernen Fleischhammer malträtiert hatte, nur weil er ihre mistigen kleinen Kläffer mit dem Stromkabel aus der Steckdose gepiesackt hatte.
Mit nassen Augen schaute er wieder hoch zur Decke und stellte sich vor, wie er Denise Bachmann und ihren Schergen mit genau solch einem Draht quälte. Am besten gefesselt und an ein Kreuz genagelt wie Jesus. Und statt der Lanze würde er einen Draht mit 220 Volt nehmen!
Wieder schlug er gegen die Wand. Niemals würde dieser Traum wahr werden. „Niemals“, schrie er in seiner Verzweiflung, denn er war für immer eingesperrt.
Alle Varianten einer Flucht hatte er durchgespielt. Bestechung. Geiselnahme. Krankheit. Auch konnte er sich nicht unter den Mauern hindurch ins Freie graben. Aber es musste eine Möglichkeit geben. Irgendwann würde ihm etwas einfallen. Irgendwann würde es eine günstige Gelegenheit geben.
Er wischte sich die Tränen ab. Er musste sich beruhigen und durfte nicht wieder randalieren. Er stand auf und fing an, in der Zelle auf und ab zu gehen. Vielleicht sollte er doch die Psychologin als Geisel nehmen? Aber erfahrungsgemäß kamen Geiselnehmer nicht weit. Vor allen Dingen nicht ohne Hilfe von außen. Oder sollte er sie bezirzen? Er hatte mal davon gehört, dass das ein Häftling erfolgreich getan hatte. Er blieb stehen, runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über die Narbe im Gesicht, ein Andenken, das ihm der Scherge mit dem Holzkreuz beigebracht hatte.
Es war viele Jahre her. Er kam nicht auf den Namen. Ein Serienmörder, der seine Opfer in der Heide ... ja, der Heidemörder war das!* Er hatte seiner Psychologin Liebe vorgegaukelt, und sie hatte ihm geholfen. Aber seine Irrenärztin war über sechzig und mit einer Frau verheiratet, keine Chance.
Er setzte sich wieder in Bewegung. Ging hin und her wie eine ungezähmte, wilde Bestie in einem Käfig. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dachte er, als die Klappe in seiner Zellentür geöffnet wurde. Er blieb stehen, hob das Kinn und kreuzte die Arme vor der Brust.
Das Gesicht von Schließer Müller erschien: „Post für Sie, Fischer“, sagte er und hielt ihm durch die Luke ein weißes Couvert hin. „Hat der Kollege am Freitag wohl vergessen, Ihnen zu bringen.“
„Werde ich entlassen?“, fragte er und nahm den Brief entgegen.
„Entlassen, haha, der war gut. Nein, nur verlegt“, sagte der Wärter und schloss die Klappe wieder.
Constantin Fischer öffnete den Brief, las ihn und begann immer breiter zu grinsen. Las ihn noch einmal. Griff einen der Aktenordner, der auf dem kleinen Tisch stand, und einen Teil der Unterlagen zu seinem Prozess enthielt. Öffnete ihn, heftete den Brief dort ab. Dann legte er sich lächelnd auf das Bett und schaute auf die Fotos an der Decke darüber. Hob eine Hand, winkte ihnen zu. „Bis bald“, murmelte er und begann ernsthaft darüber nachzudenken, woraus er sich eine Waffe basteln könnte. Vielleicht wäre der Aktenordner eine Überlegung wert.
7
Die Erste Kriminalhauptkommissarin Annegret Schröder hatte sich von ihrer allerletzten Schicht im Kriminaldauerdienst, die sie am Wochenende hinter sich gebracht hatte, einigermaßen erholt. Es war ziemlich stressig gewesen nach den Schüssen in Braunschweigs Wildem Westen.
„Wie Sie ja wissen, hat es bei der Schießerei zum Glück keine Verletzten oder gar Tote gegeben“, sagte sie zum Abschluss ihrer Ausführungen in die Runde, die überwiegend aus Kommissaren der Abteilung für die Organisierte Kriminalität bestand. „An dem Abend gingen wir von mindestens drei Schussabgaben aus. Nur eine Kugel hat die Frontscheibe der Straßenbahn durchschlagen. Fahrer und Fahrgäste haben mächtig Glück gehabt. Alles andere steht in dem Bericht. Wenn Sie noch Fragen haben?“
„Nein, ich denke, das wäre es dann, Anne, vielen Dank“, sagte Kommissar Sanders. „Gut, dass Sie uns zeitnah informiert haben. Es scheint sich wirklich um eine Auseinandersetzung verfeindeter Clans zu handeln. Zwei der drei Männer, denen die Schüsse galten, sind uns bekannt.“
„Dann wünsche ich Ihnen eine erfolgreiche Ermittlung, Carsten“, sagte Frau Schröder, nickte den anderen zu, schob ihren Stuhl nach hinten und verließ den Konferenzraum der Abteilung.
Nach einem halben Jahr im KDD war sie jetzt wieder im normalen Dienst und ging durch die Gänge der Polizeidirektion Braunschweig in ihr eigenes Büro zurück, das sie sich mit Kriminalhauptkommissar Alex Lichtenberg teilte. Ein ruhiger Mann Anfang fünfzig, mit einem kräftigen Bauchansatz und immer noch vollem, dunklem Haar.
„Hallo Anne, wie war es bei den Kollegen der OK?“
Die Erste ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl sinken. „Ich frage mich, was die von mir wollten. Steht doch alles im Bericht.“
Lichtenberg lachte: „Vielleicht wollte der Sanders dich nur mal wieder sehen?“
„Scherzkeks“, auch sie lachte und wählte sich in ihren Account ein. Sanders war smart, aber absolut nicht ihr Typ. Außerdem hatte er eine Partnerin, und sie selber war momentan nicht auf der Suche nach einer Beziehung. „Gibt es etwas Neues?“, fragte sie und scrollte durch ihre Intranet-Mails und die digitalen Aktenschränke.
„Immer, Anne. Bei uns gibt es immer etwas Neues. Wir sind schließlich die Polizei.“
„Ja, du Schlaumeier“, sagte sie und schaute sich den Status quo der Vorfälle aus ihrem letzten Dauerdienst-Wochenende an, während Lichtenberg sich wieder in seine zu bearbeitenden Fälle vertiefte.
Das Gericht hatte die Herausgabe der Kameraaufzeichnungen von C&A am Waisenhausdamm genehmigt. Sie schickte die Genehmigung an den Sicherheitsdienst des Kaufhauses und hoffte, dass die Bilder bald kommen würden. Dann rief sie den Geschädigten an und fragte ihn, ob er über ein Foto der gestohlenen Uhr verfüge. Er sagte, er habe einige, und sie bat ihn, sie ihr per E-Mail zuzuschicken, und gab ihm die Adresse von Kommissar Klunker, dem sie die weitere Arbeit an dem Fall übertrug. Wenn sie vorlagen, würde er die Fotos an die Sach- und Personenfahndung weiterleiten.
Dann las sie sich noch einmal den Tathergang des Vorfalls am Südsee durch, der gestern wirklich in der Zeitung gestanden hatte. Eigentlich wollte sie den Fall an Kommissarin Deppe, vormals Deppe-Kleinschmidt, delegieren. Aber die Kollegin hatte kein Fingerspitzengefühl, und das brauchte es hier vielleicht. Sie beschloss, den Fall selbst zu übernehmen, und wählte die Nummer der Frau, die dort ins Wasser gestoßen worden war. Frau Bulgakov war nach der Attacke ein paar Tage krankgeschrieben, um sich davon zu erholen.
„Danke, dass Sie sich melden, Frau Schröder. Ich dachte schon, das interessiert nur die Zeitung. Und bei der Polizei eh niemanden.“
„Das interessiert uns schon, wenn jemandem Gewalt angetan wird, dazu sind wir ja da. Ich wollte mir das Geschehene noch einmal von Ihnen persönlich schildern lassen.“
Die Krankenschwester erzählte ihr noch einmal, wie sie den Steg entlanggegangen war, wie der Mann sie aus heiterem Himmel ins Wasser geschubst hatte, und beschrieb den Täter und den Tathergang so, wie es in dem Bericht stand.
„Und Sie haben den Mann nie zuvor gesehen?“
„Nein. Nie. Er hat mich einfach angegriffen. Ohne Grund ...“, die Stimme von Frau Bulgakov begann zu zittern, und sie schluchzte auf. „... das ist doch ... da denkt man doch ... das kann einem immer und überall passieren. Und vielleicht Schlimmeres. Als wäre man ... Dreck.“
Je nach Nervenkostüm steckten die Menschen solche Übergriffe besser oder schlechter weg, dachte die Erste. „Soll ich Ihnen jemanden schicken, der sich um Sie kümmert?“
Frau Bulgakov räusperte sich. „Nein, ich denke, das geht schon. Mir ist ja bis auf den Schreck und die Schürfwunde an der Hand zum Glück nichts passiert. Und meine Familie ist ja da.“
„Dann danke ich Ihnen für das Gespräch. Auf Wiederhören“, sagte die Kommissarin und legte den Hörer auf. Nachdenklich stützte sie das Kinn auf ihre Faust. Dann griff sie zu Stift und Papier und machte sich Notizen zu den beiden Fällen am Südsee und in Gebhardshagen.
8