Der Buchhalter von Auschwitz - Reiner Engelmann - E-Book

Der Buchhalter von Auschwitz E-Book

Reiner Engelmann

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Beschreibung

»Auschwitz war ein Ort, an dem ich nicht hätte mitmachen dürfen«, so die späte Erkenntnis des Oskar Gröning.

Oskar Gröning ist 21 Jahre alt, als er als überzeugter SS-Mann nach Auschwitz abkommandiert wird. Seine Aufgabe besteht darin, die Wertsachen der Häftlinge zu verwalten. Obwohl Gröning von der Ermordung der Menschen weiß, rechtfertigt er seine Arbeit damit, dass er nicht unmittelbar an den Tötungen beteiligt ist. In einem der letzten großen Auschwitz-Prozesse wurde Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord an 300.000 Juden verurteilt. Reiner Engelmann hat seine Lebensstationen anhand von Interviews und Gerichtsprotokollen aufgeschrieben – ein wichtiger Beitrag über eine verführte Jugend, versäumte Gewissensentscheidungen und ein Leben mit Schuld.

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Seitenzahl: 219

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Reiner Engelmann

DER BUCHHALTER VON AUSCHWITZ

Die Schuld des Oskar Gröning

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Meinen Enkeln Paul, Lior und Leonid gewidmet

1. Auflage 2018© 2018 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Uwe-Michael GutzschhahnUmschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, unter Verwendung von Fotos von Picture Alliance / AP Photo; akg-images / Michael Telleraw · Herstellung: AJSatz und Reproduktion: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-22040-2V002www.cbj-verlag.de

In Gedenken an die Opfer des HolocaustWir können die Shoa nicht verstehen.Aber wir können und wir müssen verstehen,woher es kommt,wir müssen wachsam bleiben.Wenn es schon unmöglich ist zu verstehen,so ist doch das Wissen notwendig.Denn das Bewusstsein kann wieder verführtund verdunkelt werden:auch das unsere.

PRIMO LEVI

Inhalt

Vorwort

Prolog

Erster Teil – Die Schuld des Oskar Gröning

Zugfahrt nach Auschwitz I

Der junge Oskar Gröning

Der erste Tag in Auschwitz

Dienst in Auschwitz

Die Geschichte mit dem Säugling

Ein erträgliches Leben

Das Rote Haus

Der Dollarkönig

Kanada

Bruder Gerhard

Hochzeit

Wilhelm Tell von Auschwitz

Freunde und Kameraden

Vorboten

Ankunft eines Transports

Versetzung

Gefangenschaft

Ein bürgerliches Leben

Ein entscheidender Augenblick

Zweiter Teil – Die Ungarn-Aktion

Zugfahrt nach Auschwitz II

Schoschanka

Die junge Éva Fahidi

Kleine Schwester Gilike

Die Fünferreihe

Das Zigeunerlager

Verlegung

Wieder im Viehwaggon

Dritter Teil – Prozess und Urteil

Angeklagt

Sprache I

Sprache II

Sachverständige

Plädoyers

Im Namen des Volkes

Gröning muss seine Haftstrafe antreten

Warum erst jetzt?

Fluch und Segen der Frankfurter Auschwitz-Prozesse

Der Fall John Demjanjuk

Epilog

Nachwort

Glossar

Namen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Das Verfahren gegen den ehemaligen SS-Mann* Oskar Gröning war vermutlich einer der letzten großen Prozesse gegen Täter, die während der Nazi-Herrschaft in Auschwitz oder in anderen Konzentrationslagern ihren Dienst taten. Die meisten Täter leben nicht mehr, andere sind inzwischen sehr alt, und in jedem Einzelfall muss geprüft werden, ob der Betreffende aus gesundheitlichen Gründen überhaupt noch verhandlungsfähig ist.

Oskar Gröning hat sich, trotz seines hohen Alters von damals 93 Jahren und trotz gesundheitlicher Einschränkungen, gegen Ende seines Lebens noch einmal zu seiner Verantwortung bekannt und sich dem Gerichtsverfahren gestellt. Moralisch fühle er sich schuldig, betonte er sowohl während der Verhandlung als auch schon vorher in verschiedenen Interviews.

Genügt es jedoch, sich in Anbetracht des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen nur moralisch schuldig zu fühlen? Beihilfe zum Mord ist ein strafrechtlicher Tatbestand und dafür gibt es, genau wie bei Mord, keine Verjährung.

Warum aber werden die Täter, wie zum Beispiel Oskar Gröning, erst im hohen Alter vor Gericht gestellt? Kann man diese Menschen nicht in Ruhe ihren Lebensabend verbringen lassen?

Diese Fragen tauchen häufig im Zusammenhang mit NS-Verfahren auf, und wenn man richtig hinhört, schwingt auch ein Vorwurf darin mit. Lasst sie doch in Ruhe – sie sind alt!

Auf die Fragen gibt es mehrere Antworten. Eine davon lautet: Es gibt auch heute noch viele Überlebende von Auschwitz. Auch sie sind alt. Menschen, deren Eltern, Geschwister, Verwandte oder Freunde in Auschwitz ermordet wurden, haben jahrzehntelang unter diesen Verlusten gelitten; jahrzehntelang hatten sie nachts Albträume; jahrzehntelang haben sie Tränen vergossen; jahrzehntelang konnten sie nicht zusehen, wie der kleine Bruder oder die jüngere Schwester erwachsen wurde. Die Geschwister blieben immer Kinder, weil sie in frühem Alter auf grausame Weise in Auschwitz ermordet wurden.

Éva Fahidi, die in diesem Buch vorgestellt wird, ist eine von vielen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die Nebenkläger im Prozess gegen Oskar Gröning waren. Nicht nur für sie, sondern für alle Überlebenden war es von ganz großer Bedeutung, vor einem deutschen Gericht ihre Geschichte und die ihrer Familie erzählen zu können. Ihre Familienangehörigen werden sie dadurch nicht wieder zurückbekommen, doch sie haben ein Recht darauf, zu erleben, dass ein deutsches Gericht die Tötung von Menschen in Auschwitz als Verbrechen bezeichnet, unabhängig davon, welche Funktion die Täter im Konzentrationslager hatten.

Noch ein weiterer Punkt muss klargestellt werden. In unserem sprachlichen Alltag neigen wir gerne dazu, all jene, die in Konzentrationslagern eingesperrt waren, als Häftlinge zu bezeichnen. Der Begriff ›Häftling‹ impliziert jedoch, dass jemand eine Straftat begangen hat und deswegen inhaftiert ist.

Die Menschen, die in Auschwitz oder in anderen Lagern waren, sind aber keine Straftäter, sondern einfach Menschen, die entweder einer bestimmten Religion, einer Volksgruppe oder einer zu jener Zeit verfolgten Minderheit angehörten. Sie waren keine Verbrecher, sie waren Nachbarn, Kollegen, Vereinsmitglieder oder auch Freunde, an denen Unrecht begangen wurde. Es waren Verbrechen an unschuldigen Menschen.

Mit Oskar Gröning saßen gleichzeitig die deutsche Justiz und die deutsche Politik auf der Anklagebank. Jahrzehntelang haben Staatsanwaltschaften bei ihren Ermittlungen den Fokus ausschließlich darauf gerichtet, welche konkreten Taten ein SS-Mann zu einem bestimmten, nachweisbaren Zeitpunkt begangen hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Menschen in den Lagern ermordet wurden, gab es nur wenige Zeugen. Und die Angaben der Zeugen, die vernommen wurden, waren für eine Anklage oft zu unpräzise. Wie sollten sie auch genaue Angaben machen können? Sie hatten weder Kalender noch Uhren im Lager, um diese Verbrechen zeitlich genau zu fixieren. Hinzu kam die ständige Angst um das eigene Überleben.

Alles zusammen führte dazu, dass sich von den Tausenden Tätern nur ein sehr kleiner Teil vor Gericht verantworten musste, und zwar jene, denen man unmittelbare Tötungen entweder durch Zeugenaussagen oder andere Belege nachweisen konnte. Dieser Frage ist ein eigenes Kapitel im Buch gewidmet.

Mit einem Beschluss des Deutschen Bundestages aus dem Jahr 1960 verjährten alle Straftaten aus der NS-Zeit.

Auch auf Seiten der Politik bestand kein großes Interesse, Nazi-Verbrecher weiter zu verfolgen. Viele, die während der Diktatur zwischen 1933 und 1945 führende Funktionen hatten, besetzten auch in der Bundesrepublik Deutschland wieder entsprechende Positionen. Bundeskanzler Adenauer hatte erklärt, man brauche für den Aufbau des neuen Staates erfahrene Männer, die verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen müssten. Erfahrungen hatten sie gesammelt – während der NS-Zeit. In der jungen Bundesrepublik wurden sie erneut Richter, Staatsanwälte, Politiker, Staatssekretäre. Doch auch auf anderen Ebenen wurden Menschen beschäftigt, die in der NS-Zeit Erfahrungen in ihren jeweiligen Berufen gemacht hatten. Konnten Lehrer in der jungen Bundesrepublik Deutschland ein ernsthaftes Interesse daran haben, die NS-Zeit kritisch zu beleuchten?

Es gibt noch eine weitere Antwort auf die Ausgangsfrage. Wie und in welcher Gesellschaft möchten wir heute leben? Wollen wir über das hinwegsehen, was Millionen von Menschen angetan wurde, oder brauchen wir so etwas wie eine Kultur der Erinnerung?

Die Verbrechen sind geschehen. Sie gehören zu unserer Vergangenheit, die wir zur Kenntnis nehmen und aus der wir unsere Konsequenzen ziehen müssen. Oftmals wird davon gesprochen, wir müssten unsere Vergangenheit bewältigen. Wie soll das gehen? Sie ist geschehen!

Bewältigen sollen und müssen wir die Gegenwart. Wenn wir die Erkenntnisse aus der Vergangenheit, gerade auch mit dem Blick auf die Opfer, zur Grundlage für die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft nehmen, dann können wir behaupten, aus der Geschichte gelernt zu haben.

So hat der Prozess gegen Oskar Gröning auch heute noch, viele Jahre nach den Verbrechen, einen Sinn. Er lenkt einmal mehr das öffentliche Interesse auf jene Zeit, in der die Verbrechen nicht in deutschem Namen, sondern von Deutschen selbst verübt wurden.

Reiner Engelmann

Prolog

1948 kehrte er nach Hause zurück. Das war nicht selbstverständlich. Nach Kriegsende geriet er in britische Gefangenschaft, wurde in England zur Arbeit verpflichtet. Dann tauchte dort sein Name zusammen mit dreihundert weiteren auf einer Liste von Kriegsverbrechern auf. Alles Männer, die in Auschwitz ihren Dienst getan hatten. Tötung in Gaskammern, Menschenversuche und Misshandlungen lauteten die Vorwürfe. Oskar Gröning wurde Mittäterschaft unterstellt.

Ein Londoner Gericht entschied jedoch, keine Anklage zu erheben. Man beobachte die positive Entwicklung in Deutschland und das sei vorrangig.

Er war davongekommen. Er hatte nicht nur die letzten Kriegsmonate an der Front überlebt, er kehrte auch als freier Mann nach Deutschland zurück. Es hätte genauso gut anders kommen können, denn:

1942 kam er nach Auschwitz, erfuhr dort schon in den ersten Stunden, dass es sich nicht um ein Arbeitslager handelte, wie er zunächst vermutet hatte, sondern dass hier zu Tausenden Menschen ermordet wurden. Er fühlte sich in der Rolle eines Unbeteiligten bei diesen Vernichtungsaktionen, denn er hatte ja eine ganz andere Aufgabe. Er war für das Geld verantwortlich, das man den Häftlingen weggenommen hatte. Selbst wenn er auf der Rampe Dienst tat, fühlte er sich für das Schicksal der Ankommenden nicht zuständig, er musste nur ihr Gepäck bewachen.

Dass in Auschwitz Menschen starben, fand er normal. Deutschland sei im Krieg und im Krieg werde nun mal gestorben. So war seine Einstellung.

1944 begann die Ungarn-Aktion. In der Zeit von Mitte Mai bis Juli kamen täglich mehrere Züge mit jeweils bis zu viertausend Menschen auf der Rampe in Auschwitz an. So viele Transporte hatte er noch nicht erlebt. Die Einnahmen – Geld und Wertgegenstände der Opfer – waren in dieser Zeit überdimensional hoch. Er kam mit dem Zählen kaum nach. Dazu musste er auch noch Dienst auf der Rampe tun. An manchen Tagen arbeitete er rund um die Uhr.

Er wusste genau, was mit den Menschen passierte, deren Geld er zählte. Noch bevor er es in den Tresor gepackt hatte, waren sie bereits tot.

2015 stand er vor Gericht. Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen wurde ihm vorgeworfen. So viele Menschen wurden in den Frühjahrs- und Sommermonaten 1944 in den Gaskammern in Auschwitz ermordet. Juden aus Ungarn.

Jahrelang hatte er Auschwitz verdrängt und darüber geschwiegen. Als er Mitte der 1980er Jahre auf einen Auschwitz-Leugner traf, begann er zu reden. Auschwitz habe es gegeben, er sei dabei gewesen! Das bekannte er öffentlich.

Nun, gegen Ende seines Lebens, wollte er für sich offenbar noch etwas klären: die Frage seiner Schuld.

In diesem Prozess musste aber auch eine weitere Schuldfrage geklärt werden: Warum fand dieser Prozess erst zu einem so späten Zeitpunkt statt? Wo lagen Versäumnisse?

Der Prozess gegen Oskar Gröning hatte diese Fragen zu beantworten.

Erster TeilDie Schuld des Oskar Gröning

Woran du selbst schuldig bist,

das schiebe nicht auf die Verhältnisse.

Marcus Porcius Cato (ca. 190 v. Chr.)

Zugfahrt nach Auschwitz I

Ende September 1942 fuhr der Zug in Berlin ab Richtung Süden. Die jungen SS-Männer unterhielten sich auf der langen Fahrt, lachten, sangen Lieder, schauten aus dem Fenster, sahen, wie die Landschaft an ihnen vorbeizog. Für sie eine unbekannte Landschaft. Nach außen hin ließen sie sich nichts anmerken, aber einige grübelten offensichtlich darüber, was sie erwarten würde. Die erste Station war Katowice, dort mussten sie umsteigen. Noch eine gute Stunde hatten sie vor sich. Ihr Ziel war Auschwitz.

Auschwitz – davon hatten sie bislang nichts gehört. Sie hatten keine Vorstellung davon, was sie an diesem Ort erwarten würde. Der Ort war ihnen unbekannt.

Einer der jungen SS-Männer war Oskar Gröning, einundzwanzig Jahre alt.

Oskar Gröning hatte sich aus innerer Überzeugung freiwillig zur Waffen-SS gemeldet. Schon immer hatte er die großgewachsenen Soldaten bewundert. In ihnen sah er die Zukunft des Landes. Er wollte dazugehören, auf der Überholspur sein, bei den Siegern, sich feiern lassen, wenn der Krieg gewonnen war. Davon hatte er sich jahrelang durch die Propaganda überzeugen lassen. Davon war er schließlich fest überzeugt. Er war adolftreu, wie er sich selbst bezeichnete.

Zunächst wurde er aber nicht an der Front eingesetzt. In der SS-Verwaltung bekam er eine Stelle als Lohnbuchhalter. Die Arbeit gefiel ihm, füllte ihn aus, hier war er als gelernter Bankkaufmann an der richtigen Stelle. Obwohl er auch an der Front gekämpft hätte, wenn es ihm befohlen worden wäre. Aber in der SS-Verwaltung konnte er seine beruflichen Fähigkeiten mit seiner Position als Soldat gut verbinden und ausleben. Stolz marschierte er täglich in Uniform zum Dienst.

Ab September 1942 wurden jedoch von der SS-Leitung verstärkt kriegsversehrte Soldaten in der Verwaltung eingesetzt. Auch die Stelle von Oskar Gröning sollte neu besetzt werden. In dieser Zeit bekam er von einem Hauptsturmführer den Befehl, sich im SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamt in Berlin zu melden. Dort habe man einen Sonderauftrag für ihn und andere SS-Männer.

Oskar Gröning und mit ihm 21 weitere SS-Männer fuhren, ausgestattet mit Marschgepäck, nach Berlin. Mehrere Stunden waren sie mit dem Zug unterwegs, bis sie ihr Ziel erreichten.

Vermutet hatten sie zunächst, sie würden an die Front verlegt, doch dazu passte die Fahrt nach Berlin nicht. Für einen Einsatz an der Front hätten sie sich an einer Sammelstelle einfinden müssen. Die Adresse war aber keine Sammelstelle für Soldaten, sondern ein Gebäude, in dem die SS Büros hatte.

Der Konferenzraum des Wirtschaftsbüros mit den holzvertäfelten Wänden, in dem sie sich einfinden mussten, beeindruckte die jungen Männer sehr. Sie mussten sich im Halbkreis aufstellen und harrten der Dinge, die auf sie zukommen würden.

Hochrangige Offiziere betraten den Raum. Ohne lange Vorreden wurden die jungen Männer an ihren Treueeid erinnert, den sie beim Eintritt in die SS hatten leisten müssen. Oskar Gröning erinnerte sich gut daran. Er kannte den Treueeid, hätte ihn jederzeit aufsagen können. Schließlich hatte er ihn wieder und wieder geübt, jeder Satz musste sitzen, die Betonung stimmen.

»Ich schwöre Dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Deutschen Reiches, Treue und Tapferkeit!

Ich gelobe Dir und den von Dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod! So wahr mir Gott helfe!«

Sie erfuhren, dass sie mit einem Sonderauftrag betraut würden, der absolut vertraulich zu behandeln sei. Zu niemandem ein Wort – bis in den Tod, war die strikte Anweisung. Der Befehl lautete: »Mit Wirkung vom 25. September 1942 werden nachstehend aufgeführte SS-Angehörige zur Verwaltung ins Konzentrationslager Auschwitz versetzt.«

Einer der aufgeführten Namen war der von Oskar Gröning.

Ein Teil der Gruppe wurde also nach Auschwitz abkommandiert. Die übrigen kamen in andere Lager. Da die Verschwiegenheitsverpflichtung sofort Geltung hatte, erfuhr Oskar Gröning nicht, wohin man die weiteren Männer versetzte.

Weder Oskar Gröning noch die anderen Männer hatten eine Vorstellung davon, was auf sie zukommen würde. Fragend schauten sie sich an. Wo lag dieses Auschwitz? Was war das für ein Konzentrationslager, um das solche Geheimnisse gemacht wurden?

Der Auftrag, erfuhren sie weiter, sei mit gewissen Risiken und Schwierigkeiten verbunden, aber für das deutsche Volk, ja, für den Endsieg von hoher Bedeutung. Einzelheiten würden sie an ihrem Einsatzort erfahren. Mehr wurde ihnen an diesem Tag nicht mitgeteilt.

»Nun, meine Herren«, betonte einer der Offiziere, »können Sie beweisen, dass Sie es ernst meinen mit Ihrem abgelegten Gelöbnis und dem Motto auf Ihren Koppelschlössern: ›Meine Ehre heißt Treue‹.«

Damit ihnen die Bedeutung ihres Auftrags noch mal bewusst wurde, mussten sie einzeln vortreten und eine vorgefertigte Verschwiegenheitserklärung unterschreiben, in der sie erneut darauf hingewiesen wurden, dass sie weder mit Freunden noch Verwandten oder sonstigen Personen, die nicht zu ihrer Einheit gehörten, darüber reden durften.

Auch Oskar Gröning setzte seine Unterschrift unter den Text. Obwohl er nicht wusste, was auf ihn zukommen würde, erfüllte es ihn mit einem gewissen Stolz, eine so bedeutungsvolle Aufgabe zu bekommen.

Ohne dass er es ausdrücklich wusste, war er damit Teil der »Aktion Reinhard«* geworden.

Die zweiundzwanzig jungen SS-Männer wurden in kleinen Gruppen zu verschiedenen Bahnhöfen in Berlin gebracht. Die Züge fuhren in unterschiedliche Richtungen. Der mit Oskar Gröning in Richtung Katowice. Dort mussten sie umsteigen. Der Anschlusszug brachte sie dann nach Auschwitz.

Militärpolizisten holten sie vom Bahnhof ab und geleiteten sie zum Stammlager. Dort meldeten sie sich im zentralen Verwaltungsgebäude. Für die erste Nacht wurden ihnen provisorische Schlafstellen in SS-Baracken zugewiesen.

Noch am späten Abend lernten Oskar Gröning und die weiteren neu angekommenen Kameraden die ersten SS-Männer kennen, die dort ihren Dienst taten. Sie waren sehr höflich und zuvorkommend, gaben ihnen etwas zu essen, Brot, Speck, Ölsardinen, Rollmöpse. Gröning wunderte sich, dass die Verpflegung so üppig war, mitten im Krieg. Dazu gab es auch Rum und Wodka.

»Bedient euch!«, forderten die Kameraden Oskar Gröning und die anderen Neuen auf. »Esst, so viel ihr schafft!« Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.

Nach dem Essen fingen sie an, miteinander zu reden. Oskar Gröning interessierte, was Auschwitz für ein Lager war. Von Arbeits- und Umerziehungslagern hatte er schon gehört und so vermutete er anfangs, bei Auschwitz könne es sich um ein ähnliches Lager handeln. Oder eines, in dem Verbrecher ihre Strafe verbüßten.

Noch bevor einer der alteingesessenen SS-Männer eine Antwort geben konnte, wurde die Tür aufgerissen.

»Ein neuer Transport!«, rief ein SS-Mann.

Einige verließen eilig den Raum. Gröning wollte wissen, was das zu bedeuten habe.

Einer der Männer erklärte ihm, dass gerade ein neuer Transport mit Juden eingetroffen sei, die nun im Lager aufgenommen würden, wenn sie denn Glück hätten.

»Was heißt das?« wollte Gröning wissen. »Wieso müssen sie Glück haben?«

»Das heißt«, wurde ihm erklärt, »die, die noch arbeiten können, werden tatsächlich im Lager aufgenommen. Das sind aber die wenigsten. Die meisten sind nach der langen Fahrt krank oder geschwächt oder zu alt oder zu jung. Und die, nun ja, die werden eben entsorgt.«

Was dieser letzte Satz bedeutete, sollte Oskar Gröning bald erfahren.

Der junge Oskar Gröning

Oskar Gröning war vier Jahre alt, als seine Mutter 1925 starb. Sein Vater, ein Textilfacharbeiter, der in Nienburg an der Weser ein Stoffgeschäft betrieb, war nun allein für die Erziehung von Oskar und seinem älteren Bruder Gerhard zuständig.

Disziplin, Gehorsam, Zucht – unter diesen Maßstäben wuchsen die beiden Jungen heran. Der Vater, ein streng konservativer und kaisertreuer Mann, war im ersten Weltkrieg verwundet worden. Frustriert über den in seinen Augen ungerechten Versailler Friedensvertrag* [* s. Glossar Seite 200–217], wurde er Mitglied in der Vereinigung »Stahlhelm«*. Die Organisation galt als bewaffneter Arm der »Deutschnationalen Volkspartei«*. Wo immer es möglich war, wandte sich Vater Gröning gegen jegliche demokratischen Bestrebungen. Der Aufbau einer Autokratie in Deutschland war eines der zentralen Ziele, die die Organisation anstrebte. In einer Hassbotschaft vom September 1929 wurde formuliert, dass das »geknechtete Vaterland« zu befreien sei, neuer Lebensraum im Osten müsse gewonnen und das deutsche Volk wieder wehrhaft gemacht werden. Die Hauptfeinde, die Sozialdemokratie sowie das Judentum, und jegliche demokratischen Weltanschauungen seien zu bekämpfen.

Ganz in diesem Sinne schimpfte Vater Gröning häufig nicht nur in der Familie, sondern auch außerhalb, besonders im Gasthaus, über den »Händlergeist des Judentums«.

Der Vater setzte so die ersten Wertmaßstäbe in Oskars und auch Gerhards jungem Leben.

Es gab noch einen zweiten Mann, zu dem Oskar aufblickte: der Großvater. Er hatte in einem Eliteregiment des Herzogtums Braunschweig gedient. Wann immer es möglich war, schaute sich Oskar die Fotos seines Großvaters an, wie er in Uniform auf einem Pferd saß und in eine Trompete blies.

So einer wie der Großvater wollte der junge Oskar auch einmal werden. Ein Soldat, hoch zu Ross, angesehen nicht nur in der Stadt, sondern im ganzen Land. Das war sein Traum.

Oskars Vater meldete seinen Sohn zu Beginn der 30er Jahre in der Jugendorganisation des Stahlhelm* an. Hier sollte er noch weiter für sein Leben gefestigt werden. Und Oskar ließ sich begeistern von der Uniform, die nun auch er tragen durfte, von der Musik, zu der sie marschierten, und von den Geländespielen.

Oskar Gröning war dabei, gehörte dazu, verinnerlichte schon früh nationales Gedankengut.

Wenn die Stahlhelm-Jugend in seiner Heimatstadt Aufmärsche machte, marschierte Oskar Gröning mit. In Uniform und in der ersten Reihe ging es im Gleichschritt hinter der Fahne her. Die Marschtrommel gab das Tempo vor.

»Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s nochmal so gut!« Das war eines der Lieder, die sie dabei sangen.

Oskar Gröning hatte über diesen Text nicht viel nachgedacht. Gedankenlos sangen er und auch alle anderen das Lied. Was war schon dabei?

Die Nachbarsfamilie der Grönings hatte eine Eisenwarenhandlung. Und – sie waren Juden. Oskar spielte oft mit Änne, der Tochter. Meist waren sie draußen auf der Straße, warfen mit Murmeln oder vertrieben sich mit anderen Dingen die Zeit. Nachdem SS-Männer ein Schild mit der Aufschrift »Deutsche! Kauft nicht bei Juden!« an der Eisenwarenhandlung angebracht hatten, spielten die zwei nur noch im Hof.

HJ-Uniform. Im Hintergrund ein Plakat, mit dem für die Hitlerjugend geworben wurde

© akg-images

Hatte er an seine Nachbarin und Freundin Änne gedacht, als sie marschierend das Lied sangen? Nein, denn Oskar liebte Lieder, zu denen sie marschierten, und er sang immer inbrünstig mit. Die Texte hatten sie einfach nur gelernt, ohne sich weiter Gedanken über den Inhalt zu machen. Es waren ja Männer, zu denen sie aufschauten, die ihnen die Texte vermittelten. Was konnte daran also schlecht sein?

Nach der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 war es für Oskar Gröning selbstverständlich, dass er von der Stahlhelm-Jugend zur Hitlerjugend wechselte. Stolz zeigte er sich in seiner neuen Uniform.

Er wurde eingeführt in die Gedankenwelt der Nationalsozialisten. Auch hier hatte man das Judentum schnell zum Feind des Deutschen Reiches erklärt.

In dem »Lied der Hitlerjugend«, das zum Pflichtprogramm gehörte und in dem es u. a. heißt:

»Wir kennen keine Klassen,

nur Deutsche treu geschart,

der Weltfeind, den wir hassen,

ist nicht von deutscher Art.«

wurde einmal mehr Bekanntes aus der Familie und der Stahlhelm-Jugend bekräftigt.

Dass der »Weltfeind« das Judentum war, wurde auch an vielen anderen Stellen vermittelt. So zum Beispiel am 10. Mai 1933, dem Tag, an dem landesweit Bücher jüdischer oder anderer »entarteter«* Autoren verbrannt wurden. Oskar Gröning war mit Begeisterung dabei. Alles Fremde, das nicht zu deutschen Wertvorstellungen passte, sollte ausgemerzt werden. Damit hatte man den Jungen gegenüber die Bücherverbrennung begründet. Er verstand das alles noch nicht, aber gehorsam übergab er die Bücher den Flammen. Bücher, die er nicht kannte, geschweige denn gelesen hatte.

Wenn er schon mal ein Buch las, dann etwas, was ihnen in der HJ empfohlen wurde. »Wir sind die Jugend« war ein besonders wichtiges.

Was ihn begeisterte, war aber auch das Zusammensein mit anderen Jungen im gleichen Alter, wenn sie ein Wochenende im Zeltlager verbrachten, Geländespiele machten. Das alles gehörte für Oskar Gröning dazu, angefangen vom Aufbauen der Zelte, über das Brennholzsammeln fürs Lagerfeuer bis zum gemeinsamen Liedersingen abends.

Frei sein, unabhängig, nicht unter der Aufsicht der Erwachsenen, mit denen man tagtäglich zusammen war, das begeisterte nicht nur ihn, sondern alle, die in der Gruppe waren.

Auch die regelmäßigen Schießübungen faszinierten ihn und die anderen. Hier konnten sie schon mal auf den Volksfeind zielen.

Für den jungen Oskar Gröning war das eine herrliche Zeit. Alles passte zusammen. Die Vorstellungen in der Familie über die Zukunft Deutschlands stimmten mit denen in der Hitlerjugend überein.

»Und sie [die Volksfeinde, Anm. d. Autors] werden nicht mehr frei sein bis ans Ende ihres Lebens!«, so formulierte Adolf Hitler die Ziele, die er mit dem Auf- und Ausbau der Hitlerjugend verband.

Wenn Besuch bei Grönings war, schwärmte der Vater davon, dass die neue Regierung unter Adolf Hitler nur das Beste für Deutschland wolle, der wirtschaftliche Aufschwung sei bereits spürbar und die Arbeitslosen würden auch bald völlig von der Straße verschwinden. Sätze, die Oskar gefielen. Er war von den Überzeugungen des Vaters begeistert.

Weniger begeistert war Oskar Gröning dagegen von seinen eigenen Schulleistungen. Nicht nur seine Aktivitäten in der Hitlerjugend hielten ihn davon ab, mehr Zeit auf die Hausaufgaben zu verwenden, oftmals war es einfach die mangelnde Lust, sich um schulische Dinge zu kümmern. Trotzdem machte er noch eine ganz passable Mittlere Reife am Staatlichen Gymnasium in Nienburg.

Oskar Gröning als junger SS-Mann im Jahr 1942

© BILD: (privat)

Nach beendeter Schule begann er eine Lehre als Bankkaufmann bei der örtlichen Sparkasse. Wenige Monate später begann der 2. Weltkrieg und ein Teil der männlichen Bankangestellten wurde zur Wehrmacht einberufen. So wurden Oskar wie auch anderen Lehrlingen Aufgaben übertragen, die sie sonst in ihrer Position noch nicht hätten erledigen dürfen, ging es dabei doch um sehr viel Verantwortung. Oskar musste für längere Zeit an der Kasse arbeiten, Geld auszahlen und einnehmen. Die Buchführung, die man ihm damit übertragen hatte, musste stimmen.

Oskar, aber auch andere junge Männer seines Alters waren begeistert über die schnellen Siege der Wehrmacht.

»Endlich werden die Polen mal so richtig verkloppt!«, freute er sich mit seinen Kameraden.

Auch Frankreich war schnell eingenommen. Radio- und Zeitungsmeldungen verfolgten die Jungen mit wachsendem Interesse. Wie gerne wären sie jetzt schon mit dabei gewesen, wie gerne hätten sie jetzt schon mitgekämpft, von einem Sieg zum nächsten, wie gerne hätten sie sich jetzt schon feiern lassen. Doch dafür waren sie noch zu jung.

In Oskar Gröning wuchs eine Idee. Er wollte nicht warten, bis er eines Tages vielleicht zur Wehrmacht eingezogen würde, um mit den tapferen Soldaten, wie er es empfand, an der Front zu kämpfen. Er wollte schon jetzt etwas tun. Jetzt, bevor es zu spät sein könnte.

Nachdem er 1939 bereits in die NSDAP eingetreten war, fand er, dass es nun, Mitte 1940, an der Zeit war, zwei weitere Schritte zu vollziehen.

Oskar Gröning wurde Mitglied in der Waffen-SS. Er wollte dabei sein in dieser zackigen Truppe, wie er es für sich empfand. Er wollte zu denen dazugehören, zu denen andere aufschauten. Seine größte Sorge war, er könne zu spät kommen.

In einem Hotel vor Ort, in dem man sich zur Waffen-SS melden konnte, stellte er sich vor. Er wurde sofort aufgenommen. Allein der Vater war von diesem Schritt nicht begeistert. »Du wirst noch sehen, was du davon hast!« Mehr sagte er nicht dazu.

Voller Stolz präsentierte sich Oskar Göring in seiner neuen Uniform gemeinsam mit Tante Mariechen dem Fotografen. Oskar schaute auf diesem Foto voller Zuversicht in die Zukunft, allein Tante Mariechen schien skeptisch.

Oskar Gröning gehörte nun dazu. Er wollte Zahlmeister bei der SS werden. Die beorderte ihn zunächst zu den Besoldungsstellen des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes nach Ellwangen, später nach Dachau. Insgesamt zwei Jahre war er an diesen Dienststellen als Buchhalter tätig.

Mit dem Eintritt in die Waffen-SS vollzog Oskar Gröning aber noch einen weiteren, für ihn wichtigen Schritt. Der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler*, erwartete von den Mitgliedern der SS, dass sie aus der Kirche austraten. Linientreu, wie Oskar Gröning war, trat er aus der evangelischen Kirche aus.

Der erste Tag in Auschwitz

Nachdem Oskar Gröning und die anderen neu eingetroffenen SS-Männer ausgeschlafen und ausgiebig gefrühstückt hatten, mussten sie sich im zentralen Verwaltungsgebäude melden. Was würde auf sie zukommen? Welche Aufgaben würde man ihnen geben? Was hatte es mit dem großen Geheimnis auf sich? Diese Fragen begleiteten sie auf ihrem Weg.

Befragt wurden sie von mehreren hochrangigen SS