Der Bund der Zwölf - Miriam Pharo - E-Book

Der Bund der Zwölf E-Book

Miriam Pharo

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Es ist Frühling, und im Paris des Jahres 1926 pulsiert das Leben, die Menschen feiern, als gäbe es kein Morgen. Bis eine Reihe mysteriöser Todesfälle die Metropole erschüttert. Die Opfer, allesamt Mitglieder der gehobenen Gesellschaft, altern innerhalb weniger Stunden und sterben qualvoll. Die Polizei ist ratlos. Handelt es sich um eine Krankheit? Oder gar um eine Mordserie? Weil Tote schlecht fürs Geschäft sind, stellt Klubbesitzer Vincent Lefèvre mithilfe der burschikosen Magali eigene Nachforschungen an. Die Spur führt zur Philharmonie der zwei Welten, einem berühmten Orchester mit einem finsteren Geheimnis ...

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Seitenzahl: 399

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Miriam Pharo

Der Bund der Zwölf

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Zitat

Auftakt

Kapitel 1 Paris, April 1926

Kapitel 2 Paris, April 1926

Kapitel 3 Warschau, September 1919

Kapitel 4 Paris, April 1926

Kapitel 5 Prag, Januar 1920

Kapitel 6 Paris, April 1926

Kapitel 7 Paris, April 1926

Kapitel 8 Florenz, Mai 1921

Kapitel 9 Paris, April 1926

Intermezzo

Kapitel 10 Paris, April 1926

Kapitel 11 Paris, April 1926

Kapitel 12 Paris, April 1926

Kapitel 13 Paris, April 1926

Kapitel 14 Paris, April 1926

Kapitel 15 Leningrad, 1. Januar 1925

Kapitel 16 Paris, April 1926

Kapitel 17 Paris, April 1926

Kapitel 18 Paris, April 1926

Kapitel 19 Paris, April 1926

Kapitel 20 Le Touquet, Mai 1926

Kapitel 21 Paris, Mai 1926

Kapitel 22 Paris, Mai 1926

Kapitel 23 Paris, Mai 1926

Kapitel 24 Paris, Mai 1926

Kapitel 25 Paris, Mai 1926

Kapitel 26 Paris, Mai 1926

Kapitel 27 Paris, Mai 1926

Kapitel 28 Paris, Mai 1926

Kapitel 29 Paris, Mai 1926

Kapitel 30 Paris, Mai 1926

Kapitel 31 Irgendwo in der Lombardei, anno 1678

Kapitel 32 Paris Mai 1926

Kapitel 33 Paris, Mai 1926

Kapitel 34 Paris, Mai 1926

Kapitel 35 Paris, Mai 1926

Kapitel 36 Paris, Juni 1926

Nachklang

Quellenangaben

Danksagung

Über die Autorin

Sektion 3 / Hanseapolis-Romane

ISAR 2066 – Von Möpsen und Rosinen

Kurzgeschichten

Impressum neobooks

Widmung

Für meinen Großvater Alfred Kullmann, Dirigent, Komponist und Schüler von Richard Strauß

Leider habe ich dich nie kennengelernt, bist du doch viel zu früh von uns gegangen. Doch mit der Liebe zur Musik hast du unserer Familie und damit auch mir das größte Geschenk gemacht.

Zitat

Oben auf dem Hügel stand ein Junge und goss ein Bäumchen.

„Ich passe auf dich auf“, sagte er. „Und wenn du einmal groß bist, schlafe ich in deinem Schatten.“

Auftakt

Der Tanz auf dem Dorfplatz wirbelt gerade auf seinen Höhepunkt zu, als die ersten Anzeichen des Gewitters erklingen. In der Ferne reitet der Donner auf dem Tremolo der Kontrabässe, und nur einen Augenblick später verdüstert sich der Himmel. Von Unruhe getrieben rasen die Violinen wild auf und ab. Die Landleute stieben auseinander, um einen Unterschlupf zu suchen. Ein, zwei, drei Paukenschläge, schon bricht die Hölle los. In den Violinen zucken die Blitze, in den Bratschen wütet der Wind, und als sich der Sturm immer mehr aufbläht, überzieht Anna ein kalter Schauer, drohen die entfesselten Streicher sie fortzureißen …

Doch der große Arturo Menotti weiß die Elemente zu beherrschen. Mit seiner weißen Mähne und seinem funkelnden Blick haftet ihm etwas Göttliches an, und mit einer knappen Bewegung weist er die Streicher in ihre Schranken. Schon grollen sie davon, und der Himmel öffnet sich. Anna atmet auf. Das Gewitter ist vorüber. Für einen kurzen Moment schließt sie die Augen, bevor sie ihre Klarinette an den Mund führt, um ihr eine kleine Melodie zu entlocken. Ein Hirtengesang, der zum Himmel emporsteigt, so rein und klar. Vor ihrem inneren Auge sieht Anna die stillen Felder im Abendlicht, sieht die Landleute zögernd hinaustreten, den Blick auf den Himmel gerichtet. Als Nachtigall und Wachtel ihre Stimmen erheben, hält die Welt den Atem an. Bald gesellt sich Annas Kuckuck dazu. An diesem Abend ist er sorglos und froh, sein Ruf ist voll und kräftig. Für einen Augenblick gehört der Himmel den Holzinstrumenten, bevor das gesamte Orchester wieder mit einstimmt. Vereint zu einem letzten großen musikalischen Wunder. Mit weit ausholenden Gesten holt Arturo Menotti seine Kinder zu sich heran, hegt die einen, mahnt die anderen, sorgt für die nötige Balance, bis die ersten Sterne am Firmament aufleuchten und Beethovens Pastorale leise verklingt. Dann ist nur noch Stille. Ein Seufzen ergreift das Publikum, um kurz darauf zu einem gewaltigen Beben anzuschwellen, das die Wände des ehrwürdigen Konzertsaals erzittern lässt. Anna lächelt. Ein vollendeter Ausklang.

Kapitel 1Paris, April 1926

Eine milde Brise bauschte den Vorhang nach innen und wies damit auf die honorable Madame Boneasse, die mit einem Gläschen Kräuterlikör und einer ledergebundenen Ausgabe von Das Bildnis des Dorian Gray den Abend einläutete. Im Haus war es ruhig. Zu hören waren nur das Rascheln der Buchseiten und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Die fernen Geräusche der Stadt, die gelegentlich durch das halb offene Fenster sickerten, vermochten den Frieden nicht zu stören, und so wurde das monotone Knarzen des Schaukelstuhls schon bald von einem sanften Schnarchen abgelöst.

Schlag halb elf zerbarst das friedliche Bild unter lautem Hupen, gefolgt von einem infernalen Krachen und Knattern. Madame Boneasse fuhr erschrocken hoch, was zur Folge hatte, dass Oscar Wilde samt Lesebrille von ihren Knien rutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete.

„Wie? Was?“

Verwirrt blickte sich die alte Frau um, bevor sie sich umständlich aus dem Schaukelstuhl schälte und zum kleinen Spiegel stürzte, der neben der Zimmertür hing. Um ein Haar wäre sie auf ihre Lesebrille getreten.

„Ach, du meine Güte“, murmelte sie und zupfte sich die grauen Strähnen zurecht.

Erneut drangen diese schrecklichen Geräusche ins Zimmer, begleitet von einem stechenden Gestank, der Madame Boneasse veranlasste, unverzüglich das Fenster samt Läden zu schließen. Geschäftig strich sie über ihr Baumwollkleid, bevor sie etwas Eau de Cologne in ihre Handflächen tröpfelte und sich damit über Nacken und Stirn fuhr. Noch schnell einen Schluck Limettensaft, in der Hoffnung, dieser würde den Geruch des Kräuterlikörs übertönen, dann eilte sie nach draußen. Ihr Zimmer grenzte direkt ans Vestibül.

„Jeanne!“, rief sie energisch. „Jeanne!“

Ein junges Mädchen mit weißer Schürze stürzte um die Ecke.

„Ja, Madame?“

„Die Herrschaften sind soeben vorgefahren. Hast du die B… das Bett vorgewärmt?“

An den Gedanken, dass Monsieur und Madame Milhaud im selben Zimmer schliefen, konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.

„Aber es ist so warm draußen.“

„Wir haben erst April, du dumme Gans! Im April werden die Betten immer vorgewärmt. Sieh zu, dass du heiße Backsteine heranschaffst! Du hast doch welche auf Vorrat?“

Das Mädchen nickte eifrig.

„Gut, gut. Die Herrschaften werden vermutlich nicht gleich zu Bett gehen, sondern den Abend in der Bibliothek ausklingen lassen. Also los, beeil dich!“

Das Dienstmädchen ließ zwar ein Schnauben hören, doch weil es auf dem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal erklomm, ließ es ihm Madame Boneasse durchgehen. Sie strich sich noch einmal übers Haar. Keine Minute zu früh. Schon erschallte hinter der großen Eingangstür ein lautes Lachen, und man hörte, wie jemand mit einem Schlüsselbund hantierte. Madame Boneasse straffte sich und öffnete die Tür.

„Meine Gute“, dröhnte ihr Monsieur Milhauds angenehmer Bass entgegen. „Sie haben mich zu Tode erschreckt!“

Der Hausherr war ein korpulenter Mann in den Vierzigern mit einem mächtigen Schnauzer und einem rötlichen Gesicht, das von seiner Vorliebe für gutes Essen und übermäßigen Weingenuss zeugte. Ungeachtet seiner Körperfülle saß sein Abendanzug tadellos. Den Flanellmantel hatte er lässig über den Arm gehängt. Die Frau an seiner Seite war noch sehr jung, eine Schönheit mit aschblonden Locken und großen hellen Augen, die Lippen scharlachrot geschminkt. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus blauem Chiffon. Der Gipfel der Sittenlosigkeit war in Madame Boneasses Augen die lange Perlenkette, die die Nacktheit des Rückens betonte.

„Hier!“, rief Monsieur Milhaud und warf seiner Haushälterin Mantel und Hut zu, die sie gerade noch mit Mühe auffing.

„Also wirklich, Maurice!“ Véronique Milhaud warf ihrem Mann einen sorgenvollen Blick zu. „Was wird Madame Boneasse von uns denken?“

„Nur Gutes, meine Liebe, nur Gutes. Sie mag ein strenges Gesicht aufsetzen, aber in Wirklichkeit hat sie ein Herz aus Gold.“ Maurice Milhaud zwickte der alten Frau in die Wange, was sie prompt erröten ließ. „Nicht wahr, Sie Engel?“

„Aber, Monsieur …“

„Schon gut.“ Er lachte freundlich. „Wir gehen jetzt in die Bibliothek und genehmigen uns noch einen kleinen Schlummertrunk.“

„Wollen wir nicht lieber gleich zu Bett gehen, Liebling?“, entgegnete seine Frau. „Der Abend war überaus anstrengend.“

Monsieur Milhaud hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. „Ich bin geschockt, meine Liebe. Muss ich mir Sorgen machen?“

Angesichts seines komischen Gesichtsausdrucks entfuhr ihr ein kleines Lachen. „Mitnichten. Aber lass mich vorher die Schuhe ausziehen, ja? Sie bringen mich noch um.“

„Nur zu! Du weißt, ich liebe deine kleinen Zehen“, antwortete Monsieur Milhaud gut gelaunt, bevor er sich wieder Madame Boneasse zuwandte. „Machen Sie einfach da weiter, wo Sie gerade aufgehört haben, meine Gute! Was immer es war.“ Diesmal klang sein Tonfall eine Spur unanständig. „Wir kommen schon allein zurecht.“

„Ganz wie Sie wünschen.“ Insgeheim war die Haushälterin froh, nicht mehr gebraucht zu werden. In ihrem Alter ertrug sie diese Art von Übermut nicht mehr. „Gute Nacht, Madame. Gute Nacht, Monsieur.“

„Gute Nacht“, erklang es unisono zurück.

Als das glamouröse Paar hinter der Holztür der Bibliothek verschwand, wurde es im Vestibül augenblicklich schattiger. Madame Boneasse raffte ihre Röcke und stieg die ausladende Treppe hoch, um nachzusehen, ob Jeanne das Schlafzimmer ordnungsgemäß hergerichtet hatte. Das freimütige Gelächter, das von unten durch die Wände perlte, brachte sie kurz aus dem Tritt. Mürrisch schüttelte sie den Kopf. Wie sich doch die Zeiten geändert hatten!

„Madame Boneasse!“

Schlaftrunken drückte die alte Frau den Kopf tiefer ins Kissen.

„Wachen Sie auf, Madame Boneasse!“

„Was ist?“

„Ich glaube, mit den Herrschaften stimmt etwas nicht.“

Die Haushälterin stützte sich auf und kniff die Augen zusammen. Jeanne stand im Nachthemd an ihrem Bett, eine Kerze in der Hand. Ihr Gesicht wirkte geisterhaft, die Panik in ihrer Stimme jagte der alten Frau einen kalten Schauer über den Rücken.

„Hör auf, mir Angst zu machen, Kind!“, maulte sie. „Was ist los?“

„Ich weiß es nicht genau“. Das Dienstmädchen zitterte wie Espenlaub. „Ich glaube, ich habe Madame um Hilfe rufen hören.“

Jetzt war die Haushälterin hellwach. „Warum hast du nicht nachgesehen?“

„Ich habe mich nicht getraut“, kam es kleinlaut zurück.

„Was hattest du überhaupt außerhalb deiner Kammer zu suchen?“

„Ich konnte nicht schlafen und bin an der Treppe auf und ab gegangen.“

Madame Boneasse seufzte. Viel wahrscheinlicher war es, dass sich Jeanne in die Bibliothek hatte schleichen wollen, um aus der Bar etwas Cognac zu stibitzen, und währenddessen etwas gehört hatte.

„Und du bist dir sicher, dass es kein Traum war?“

„Ganz sicher, Madame.“

„In Ordnung.“ Schwerfällig hievte sich die Haushälterin aus dem Bett, suchte mit den nackten Füßen nach ihren Pantoffeln, dann stand sie auf.

„Mach das Ding aus“, sagte sie und zeigte auf die Kerze. „Wir haben Elektrizität.“

„Ja, Madame.“

„Bleib hier. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.“

„Ja, Madame.“

Beim Hinausgehen streifte sich die alte Frau einen Morgenmantel über, dann durchquerte sie das Vestibül und ging schnaufend die Treppe hoch. Sie hätte es niemals laut ausgesprochen, doch für einen dieser modischen Aufzüge hätte sie in dem Moment ihren rechten Arm hergegeben. Das Schlafzimmer der Herrschaften befand sich rechts am Ende des Gangs. Leise trat sie auf die Tür zu und lauschte. Abgesehen von ihrem eigenen Keuchen war es totenstill. Vielleicht hat sich Jeanne alles nur eingebildet, dachte sie, und wartete einen Augenblick. Immer noch nichts. Gerade als sie sich abwenden wollte, hörte sie ein Wimmern. Im höchsten Maße beunruhigt beugte sie sich nach vorn. Erneutes Wimmern. Sie holte tief Luft und klopfte an. Das Geräusch hinter der Tür brach jäh ab.

„Madame?“, fragte sie leise. „Alles in Ordnung?“

Statt einer Antwort setzte das Wimmern wieder ein, diesmal lauter, und eine eisige Faust griff nach Madame Boneasses Herz. Monsieur Milhaud würde seiner jungen Frau doch nichts antun? Sie diente ihm seit siebzehn Jahren und hatte noch nie erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen Menschen erhoben hätte. Andererseits gab es immer ein erstes Mal.

„Kann ich hereinkommen, Madame?“

„Ach, meine Gute …“

Vor Entsetzen fasste sich die Haushälterin an die Kehle. Die Stimme auf der anderen Seite gehörte nicht Madame, sondern Monsieur Milhaud! Eine gefühlte Ewigkeit stand die alte Frau vor der Tür, doch letztlich gewann ihr Pflichtbewusstsein die Oberhand, und sie drückte die Klinke hinunter. Im Zimmer brannte eine einzelne Nachttischlampe, deren mattes Licht alles jenseits des Bettes schemenhaft erscheinen ließ. Dennoch kam Madame Boneasse nicht umhin zu bemerken, dass sich der Raum in Unordnung befand. Kleider lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden, die zerknüllte Tagesdecke lugte unterm Bett hervor, und Madames Spitzenunterwäsche zierte in unschicklicher Weise die dickbäuchige Mingvase neben der Tür. In der Luft lag etwas, das nicht zu diesem fröhlichen Durcheinander passte. Madame Boneasse konnte nicht sagen, was es war, aber es drohte, ihr die Luft abzuschnüren.

„Ich knipse die Stehlampe an“, murmelte sie.

„Nein.“ Die Stimme, die aus der Richtung des Bettes kam, klang brüchig. „Bitte nicht.“

Die Haushälterin machte sich aufs Schlimmste gefasst, als sie dem Klang der Stimme folgte. Im letzten Krieg hatte sie ungeachtet ihres Alters in einem Lazarett gedient und mehr als einmal der Hölle ins menschliche Antlitz geschaut. Der Anblick jedoch, der sich ihr bot, kaum, dass sie am Fuß des Bettes angekommen war, hatte nichts mit Verätzungen, Schuss- oder Brandwunden zu tun.

„Jesus, Maria und Josef!“ Die alte Frau bekreuzigte sich, während ihr Körper Halt am Bettpfosten suchte. „Was ist passiert?“

„Ich weiß es nicht.“ Der sonore Bass von Monsieur Milhaud klang hohl. Beinahe geisterhaft.

Madame Boneasse holte tief Luft, bevor sie nähertrat und sich über ihre Herrin beugte. Ein Lufthauch traf ihre Wange. Der runzlige Mund unter ihr bewegte sich, offenbar versuchte sie etwas zu sagen.

„Monsieur, sie spricht.“

Maurice Milhauds Augen schwammen in Tränen. „Ich weiß, aber ich kann sie nicht verstehen.“ Er schluchzte. „Ich kann es nicht.“

Die alte Frau richtete sich wieder auf. „Ich werde den Doktor anrufen, und in der Zwischenzeit quartieren wir Sie ...“

„Ich verlasse meine Frau nicht.“

„Aber Monsieur!“ Die Haushälterin rang hilflos mit den Händen. „Vielleicht ist es ansteckend.“

„Nein!“ Der Ton in der Stimme duldete keinen Widerspruch. Ein letztes Aufbäumen.

„Wie Sie meinen“, stammelte die honorable Madame Boneasse, bevor sie endgültig die Fassung verlor und aus dem Zimmer stürzte, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Als der Arzt eine Stunde später eintraf, war Véronique Milhaud bereits tot. Sie war an Altersschwäche gestorben – im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren.

Kapitel 2Paris, April 1926

„Das wird Ihnen nicht gefallen, Patron!“

Vincent Lefèvre trat aus dem Badezimmer. „Was wird mir nicht gefallen?“

Der Besitzer des Nuits Folles, eines berüchtigten Nachtklubs in Pigalle, war ein dunkelhaariger Mann in den Dreißigern, groß und von kräftiger Statur. Als er die Schultern unter dem brokatenen Hausmantel bewegte, zeichneten sich darunter die Muskeln ab. Ein Tropf also, wer sich vom warmen Braunton seiner Augen täuschen ließ. Gustave Ledoux, ehemaliger französischer Boxchampion im Mittelgewicht und Mädchen für alles, war kein Tropf. Sachte nahm er das Frühstückstablett vom Servierwagen und stellte es auf den kleinen runden Tisch direkt am Fenster. Dann schenkte er Kaffee in eine Schale ein, fügte etwas Milch und ein Stück Zucker hinzu, bevor er einen Schritt zurücktrat.

Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck setzte sich Vincent an den Tisch, nahm ein Croissant aus dem Korb und tunkte es in seinen Kaffee. Mit einer kurzen Handbewegung forderte er Gustave auf, sich zu ihm zu gesellen, was dieser auch tat. Die wortlose Einladung, sich ebenfalls zu bedienen, lehnte er jedoch ab.

Nachdem Vincent zwei Croissants vertilgt hatte, sah er auf.

„Also, was ist?“

Gustave zeigte auf die Zeitung, die auf dem Frühstückstablett lag. Als Vincent die Titelseite sah, stieß er einen lauten Fluch aus.

„Sag‘ ich doch“, murmelte Gustave und rieb seine schiefe Nase. Das tat er immer, wenn er beunruhigt war.

Auf dem Titelblatt des Petit Journal Illustré prangte eine rötlich braune Zeichnung. Zu sehen war ein schreiender Mann in einem Himmelbett, neben ihm lag eine skelettierte Frau im hauchzarten Nachthemd. Rechts im Bild spähten einige Dienstboten durch die halb offene Schlafzimmertür, auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck des Grauens. Vincent griff nach der Zeitung, schlug sie auf und fluchte einmal mehr. Da stand es. Gleich auf der zweiten Seite zwischen der Rubrik „Ihr Arzt empfiehlt“ und Tipps, wie man schnell zu Reichtum gelangte: Die Methusalem-Seuche forderte ihr dreizehntes Opfer. Sein Blick humpelte schwerfällig über den Artikel, saugte sich mehrmals an kniffligen Wörtern fest, um sich nach einer gefühlten Ewigkeit enttäuscht abzuwenden. In der Zeitung stand nichts, was Vincent nicht bereits wusste. Wie in den zwölf Fällen davor war jemand innerhalb weniger Stunden vergreist und gestorben. Ein grausames Ende, das diesmal eine junge Frau namens Véronique Milhaud ereilt hatte. Die Ärzte und Experten, die aus Deutschland, der Schweiz und weiß Gott woher angereist waren, standen vor einem Rätsel. In einer Stellungnahme erklärte der ermittelnde Kommissar, ein gewisser Bernard Fournier, dass bei dem neuesten Opfer weder Spuren von Gift noch Beweise für äußere Gewalteinwirkung gefunden worden waren. Dennoch wäre der Ehemann, wie in solchen Fällen üblich, der Hauptverdächtige, und natürlich würde man ihn befragen. Inoffiziellen Quellen der Polizei zufolge machte man sich dennoch keine Illusionen, was das Ergebnis der Vernehmung betraf.

Die Methusalem-Seuche, im Übrigen eine Namensschöpfung der Zeitungen, war vor zwei Monaten wie ein Fluch über Paris hereingebrochen. Dass die Opfer der illustren Gesellschaft angehörten, bereitete Vincent Magenschmerzen, denn die Reichen und Schönen waren es, die den Großteil seiner Klientel ausmachten. Seit Bekanntwerden der Todesfälle waren die Einnahmen dramatisch eingebrochen. Obwohl Mistinguettin seinem Klub auftrat, neben Josephine Baker die populärste Sängerin in Paris, waren die Tische nur noch spärlich besetzt. Statt auszugehen, verkrochen sich die Menschen im vermeintlichen Schutz ihrer eigenen vier Wände. Zu allem Überfluss schürten reaktionäre Kräfte das Gerücht, die Seuche sei durch diese neuartige „Negermusik“ aus Amerika ausgelöst worden.

Vincent knallte die Zeitung auf den Tisch. „Gustave, das Telefon!“

Der Angesprochene sprang auf, holte den schwarzen Apparat, der sich auf dem Nachttisch befand, und stellte ihn auf den Servierwagen.

„Hier, Patron.“

„Danke.“ Vincent nahm den Hörer ab. „Guten Tag, Mademoiselle. Geben Sie mir die Polizeistation des 4. Arrondissements ... Ja, ich warte.“

Ungeduldig klopfte er mit dem Fuß auf den Boden, dann verharrte er mitten in der Bewegung. „Wie meinen Sie das, die Leitung ist belegt? … Aha … Ja … Nein, warten Sie! Bitte verbinden Sie mich mit MON-335 … Ja, danke.“ Der Fuß nahm sein rhythmisches Klopfen erneut auf, um gleich wieder innezuhalten. „Magali? Ich bin’s, Vincent … Was? Nein! Du musst mich zur Polizeistation von Notre-Dame fahren … Nein, nein! Ich will nur mit jemandem sprechen … Gustave muss heute Vormittag zum Arzt. Seine alte Kriegsverletzung macht ihm wieder zu schaffen … Richte ich ihm aus. Also, wie sieht’s aus? … Die Metro? Ich habe einen Peugeot 177 in der Garage stehen!“ Das schwarzrote Automobil, das eine Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h erreichte, war Vincents ganzer Stolz, auch wenn er es nicht fahren konnte. „Ach komm, du weißt doch, dass ich einen Höllenrespekt davor habe. Du dagegen bist ein echter Haudegen am Steuer! ... Es liegt mir fern, dir Honig ums Maul zu schmieren … Kolossal! Du hast was gut bei mir … Deinen Bugatti? Muss das sein? … Schon gut! Wenn du unbedingt darauf bestehst, nehmen wir deinen Bugatti.“ Vincent rollte entnervt mit den Augen. „Wann kannst du frühestens im Klub sein?“

Keine vierzig Minuten später stürmte eine junge Frau durch den zweiflügeligen Eingang des Nuits Folles und ließ den Blick prüfend über den Saal wandern. Noch harrten die Stühle umgedreht auf den Tischen, Bühne und Tanzfläche waren verwaist, die blank polierten Spiegel ohne Anbeter. Als sie Vincent mit dem alten Portier, den alle nur Papi nannten, an der Bar entdeckte, winkte sie fröhlich. Magali war eine schicke junge Frau von achtundzwanzig Jahren, die ihren rostroten Schopf in einem kurzen Bob trug. Die schweren Lider unter den schwungvoll gezeichneten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen melancholischen Ausdruck, auch wenn der Blick aus ihren hellgrünen Augen meist unverschämt direkt war. Sie war von knabenhaftem Wuchs und trug eine graue Hose, dazu ein weißes Männerhemd und eine dunkelrote Jacke mit Schalkragen und Blume im Knopfloch. Magali war das, was man eine Garçonne nannte. Frauen, die ihre Emanzipation durch einen männlichen Kleidungsstil zum Ausdruck brachten.

„Vincent, Schatz! Du siehst müde aus.“

„Willst du, dass die uns gleich dabehalten?“, schimpfte dieser statt einer Begrüßung und zeigte auf ihre Hose.

Magali schnaubte. „Was bist du nur für ein Spießer!“ Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. „Sieht doch gut aus.“ Dann drückte sie dem alten Portier einen Kuss auf die Wange. „Guten Tag, Papi!“

„Mademoiselle“, murmelte dieser verlegen.

„Hör auf, ihn durcheinanderzubringen“, maulte Vincent.

Doch Magali lachte nur. „Du bist heute wieder blendender Laune, wie ich sehe!“

Vincent und sie waren seit vielen Jahren befreundet. Kennengelernt hatten sie sich an einem warmen Sommertag im Park der Tuilerien. Zu einer Zeit, als Magali noch Marie Le Bellec hieß, Wonneproppen in Matrosenanzügen ihre Spielreifen manierlich den Weg entlangtrieben und elegante Herren hutlüftend die Damenwelt zum Erröten brachten. Mittendrin dann dieser junge Mann mit der Ballonmütze und dem mürrischen Charme, der verwegen genug war, den Spaziergängern trotz gesetzlichen Verbots Limonade zu verkaufen. Marie, von so viel Verruchtheit fasziniert, sprach den Fremden an und verliebte sich bereits in den ersten Minuten unsterblich. Was unausweichlich war, hatte sie doch nie zuvor einen Rebell kennengelernt. Er, der die Schwelle zum Erwachsensein bereits überschritten hatte, war ihren kindlichen Avancen mit Gleichmut begegnet. Heute lachten sie beide darüber.

Marie Le Bellec stammte ursprünglich aus Brest und war das Ergebnis einer außerehelichen Liaison. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in die Obhut von Benediktinerinnen gegeben, während sich ihre fromme, von Schuld zerfressene Mutter nach Afrika begab, um das Wort Gottes zu verbreiten. Wo sie recht bald an Malaria erkrankte und verstarb. Von ihrem Vater wusste Marie nur, dass er Leutnant bei der Marine gewesen war. Mit fünfzehn Jahren, kurz bevor sie die Weihe empfangen sollte, lief sie weg und landete in Paris. Sie hatte Glück. Nach einigen unliebsamen Begegnungen mit der Polizei wegen Herumstreunens fand sie Unterschlupf bei einem älteren jüdischen Ehepaar, das sich ihrer annahm und sie bei einem befreundeten Tuchhändler in die Lehre schickte.

Eines Abends, als sie mit Vincent am Ufer der Seine saß und einem hell erleuchteten Kahn hinterherblickte, der den Fluss mit Geschnatter und Gelächter überzog, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit hinter düsteren Klostermauern. Von den nicht enden wollenden Gebeten zu einem ungerechten Gott, vom Tragen der Unterhose auf dem Kopf als Strafe fürs Bettnässen und vom leisen Weinen der Jüngeren im ungeheizten Schlafsaal. Im Gegenzug berichtete Vincent von den Pariser Waisenhäusern, wo es nicht Gebete, sondern Stockschläge hagelte und wo nicht nasse Unterhosen die Kinderhäupter zierten, sondern Kopfläuse. Nur das nächtliche Weinen war das gleiche gewesen.

Nach diesem Abend kamen sie nie wieder auf das Thema zu sprechen.

Im Laufe der Jahre brachte sie ihm das Lesen und Schreiben bei, er lehrte sie, sich über Autoritäten hinwegzusetzen. Nach Ausbruch des Krieges trennten sich ihre Wege. Zu der Zeit, als sie ihre Kaufmannslehre beendete, galt Vincent als vermisst, doch zwei Jahre nach Kriegsende liefen sie sich anlässlich der Feier zum 14. Juli auf dem Champs de Mars zufällig in die Arme. Vincent, der kurz davor stand, seinen Nachtklub zu eröffnen, bot ihr eine Partnerschaft an. Fortan kümmerte sie sich um die Buchhaltung und das Personal. Wie Vincent an das Kapital für den Klub gekommen war, wusste sie bis heute nicht. Die einen munkelten, er habe während des Krieges für die Engländer spioniert und sich seine Dienste teuer bezahlen lassen, andere meinten, er habe in großem Stil mit Waffen gehandelt. Ihr war es egal.

Wie die meisten Nachtklubs in Montmartre und Pigalle erwies sich das NuitsFolles als Goldgrube, denn nach den Schrecken des Krieges dürstete es die Menschen nach Zerstreuung. Während Vincent den Luxus in vollen Zügen genoss, brach Marie Le Bellec endgültig mit ihrer Vergangenheit und nahm den provenzalischen Namen Magali an, „weil er an gelbe Tischdecken und duftende Lavendelkissen erinnert“.

„Was ist nun?“, fragte Vincent ungeduldig und riss sie aus ihren Gedanken. „Fahren wir oder nicht?“

„In der Ruhe liegt die Kraft, Sportsfreund“, erwiderte Magali unbeeindruckt.

Doch der „Sportsfreund“ hörte sie nicht mehr. Er befand sich bereits auf dem Weg nach draußen.

In der Polizeistation des 4. Arrondissementsherrschte Ausnahmezustand. Eine Menschenmenge stand dicht gedrängt im Vorraum und sorgte für Tumult, was für sich genommen nichts Ungewöhnliches war, doch statt der üblichen Verbrechervisagen, grell geschminkten Münder und obszönen Gesten, prägten schwarze Melonen, teure Pelzmäntel und geschwenkte Gehstöcke das Bild. Der diensthabende Brigadier am Empfang war offenkundig überfordert.

„Messieurs dames!“, rief er alle paar Sekunden. „Messieurs dames, bitte beruhigen Sie sich!“

Doch die Herrschaften hatten wenig Einsehen. Stattdessen schallten immer die gleichen Rufe durch den Raum. „Kommissar Fournier! Wir wollen mit Kommissar Fournier sprechen!“

Vincent und Magali versuchten vergeblich, sich durch die aufgebrachte Menschenmenge zu kämpfen. Alle hatten dasselbe Anliegen, und Kommissar Fournier tat den Teufel, sich sehen zu lassen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Magali besorgt. Inmitten vieler Menschen fühlte sie sich unwohl.

Vincent zuckte mit den Schultern. Seiner Miene nach zu urteilen war auch er alles andere als begeistert. Magali wollte gerade einen Witz machen, um von ihrem Unbehagen abzulenken, als ihr Herzschlag ohne Vorwarnung aussetzte. Im selben Moment geriet die Welt in Schieflage, und die junge Frau krallte sich in ihrer Panik an einem pelzigen Arm zu ihrer Linken fest.

„Entschuldigen Sie“, keuchte sie, als die Besitzerin sie postwendend anfauchte, und fasste sich mit beiden Händen an die Brust.

Dann fing ihr heimtückisches Herz wieder an zu schlagen, und es fühlte sich an, als lieferten sich in ihrem Brustkorb betrunkene Pferde ein Rennen. Mit der Übelkeit kämpfend schloss Magali die Augen. Als sie diese wieder öffnete, fiel ihr unsteter Blick auf einen Mann, der sich auf den diensthabenden Brigadier zubewegte. Warum er ihr ins Auge stach, wusste sie nicht. An ihm war nichts Besonderes. Er war durchschnittlich groß, hatte dunkelblonde Haare oder vielleicht waren sie auch braun, und er trug einen grauen Mantel. Obwohl er nun direkt neben dem Brigadier stand, schien dieser ihn nicht zu bemerken, was schon recht eigenartig war.

Da löste sich der Mann plötzlich auf.

Magali blinzelte. Wie ist so etwas möglich? Der Gedanke war noch nicht zu Ende gebracht, als der Mann mehrere Meter hinter dem Brigadier wieder in Erscheinung trat; im abgesperrten Bereich, dort wo sich die Büros und Gefängniszellen befanden. Neugierig blickte er sich um, bevor er erneut mit seiner Umgebung verschmolz. Magalis Herz klopfte hart und unregelmäßig. Die Szene erinnerte sie an den Film Der Scheich, den sie einmal in einem Lichtspielhaus gesehen hatte. Er war immer wieder gerissen, was dazu geführt hatte, dass Rudolph Valentino wie von Zauberhand von einem Schauplatz zum anderen gehüpft war. Am Ende hattenalle ihr Eintrittsgeld zurückerhalten.

„Vincent?“ Ihre Stimme klang etwas zitterig, als sie sich an ihren Freund wandte, der seinen finsteren Blick durch den Raum schweifen ließ. „Hast du gerade den Mann gesehen, der durch die Sperre gegangen ist?“

„Welchen Mann?“ Vincent sah auf sie hinunter und erschrak. „Verdammt, was ist passiert?“

„Wieso fragst du?“

„Du bist bleich wie der Tod!“ Er legte seinen Arm um ihre Schulter. „Du musst dich ausruhen. Wir suchen dir einen freien Stuhl.“

„Nein, nein, lass mal! Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Es sind wahrscheinlich nur die vielen Menschen.“ Erschöpft lehnte sie sich an ihn. „Es ist wirklich nichts.“

Ein Ruck ging durch Vincents Körper. „Weißt du was? Lass uns von hier verschwinden! Das bringt doch eh nichts. Wir kommen lieber ein andermal wieder, wenn die …“

„Na so was, Vincent Lefèvre!“, warf sich eine spöttische Stimme dazwischen. „Was verschafft uns die zweifelhafte Ehre? Willst du dich endlich stellen?“

Sichtlich verärgert und ohne Magali loszulassen, drehte sich Vincent um. Vor ihnen stand ein dicklicher Mann in dunkelblauer Uniform, mit geschwellter Brust und auffallend hellen Augen.

„Sieh an, Emile Dubois.“

„Für dich immer noch Brigadier Dubois.“

Vincent schnaubte nur, während Magali ein gequältes „Guten Tag“ herauspresste.

„Mademoiselle“, grüßte dieser zurück und rang sich ein schmales Lächeln ab. „Also, was wollt ihr hier?“

„Das geht Sie nichts an, Brigadier!“

„Noch einmal in diesem Ton, Lefèvre, und es wird mir ein Vergnügen sein, dich einzubuchten!“ Der Blick des Polizisten war feindselig. „Ich hoffe, du hast deine Hände schön bei dir behalten.“

„Was wollen Sie damit andeuten?“

„Ich habe gesehen, wie deine hübsche Begleiterin nach einer Dame gegrapscht hat. Wäre nicht das erste Mal, dass sich Schmeißfliegen wie ihr bei den anständigen Leuten bedienen.“

Vincent, dessen Gesicht purpurrot geworden war, wollte etwas erwidern, doch Magali zupfte an seinem Ärmel.

„Hör nicht auf ihn!“, sagte sie eindringlich und zog ihn fast gewaltsam zum Ausgang. „Lass uns lieber gehen.“

Brigadier Dubois ließ es sich nicht nehmen, ihnen noch eine Drohung hinterherzuschicken, die aber angesichts des Tumults im Vorraum erheblich an Wirkung einbüßte. Draußen auf der Straße ließ Vincent seiner Wut freien Lauf. Seine lauten Flüche hallten von den Häuserwänden wider, bis Magali und er außer Hörweite der Polizeistation waren.

„Schmeißfliegen?“, bemerkte ein feixender Vincent wenig später. „War das nicht etwas dick aufgetragen, Emile?“

„Aber nein.“ Der andere schmunzelte. „Ich finde, es klang sehr glaubwürdig.“

Vincent lachte. „Du bist ein verdammter Romantiker.“

Daraufhin fielen sich die beiden Männer in die Arme, während Magali den Kopf schüttelte.

„Dass ihr immer so übertreiben müsst! An euch sind echte Possenreißer verloren gegangen, wisst ihr das?“, sagte sie und quittierte den vorwurfsvollen Blick der zwei Freunde, die im selben Viertel aufgewachsen waren, mit einem amüsierten Lächeln.

Die drei befanden sich im Pavillon eines kleinen Parks unweit der Polizeistation, wo sich die Laubbäume in ihrem ersten Grün präsentierten. Eine vornehme Zurückhaltung, die sie zur Freude der Anwohner in Bälde ablegen würden.

„Wenigstens habt ihr mich mit eurer kleinen Vorstellung von meinem Unwohlsein abgelenkt“, fügte Magali hinzu.

„Zu viele Menschen?“, mutmaßte Emile, der sie gut kannte.

Sie nickte. Den Mann in der Polizeistation erwähnte sie nicht. Vermutlich war er nur Einbildung gewesen.

Nachdem Emile ein paar aufmunternde Worte gemurmelt hatte, räusperte er sich. „Also, was kann ich für euch tun?“

„Es geht um die Methusalem-Seuche“, begann Vincent.

Der Polizist stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ja, ich weiß“, beeilte sich Vincent zu sagen. „Aber diese Toten sind schlecht fürs Geschäft, Emile. Ich will wissen, wie weit euer Kommissar mit seinen Ermittlungen ist. Dreizehn Opfer und noch immer keine Spur?“

Der Angesprochene trat einen Schritt vor. „Unter uns gesagt: Ich glaube, dass Fournier einen Verdacht hat“, antwortete er leise. „In den letzten Tagen hat er sehr geheimnisvoll getan.“

„Was für einen Verdacht?“

„Keine Ahnung. Er hält sich bedeckt. Ich nehme an, er sammelt noch die entsprechenden Beweise. Die Todesfälle sorgen für viel Wirbel, wisst ihr, vor allem bei den einflussreichen Leuten.“ Emiles Stimme war inzwischen nur noch ein Flüstern. „Der Polizeipräfekt ist außer sich. Fournier darf keinen Fehler machen und den Falschen beschuldigen.“

„Hoffentlich findet er bald seine Beweise. Sonst müssen wir das Nuits Folles schließen.“ Vincent ballte die Fäuste. „Ich will nicht, dass es so weit kommt!“

„Wird es schon nicht“, murmelte Emile, doch in Magalis Ohren klangen die Worte wenig überzeugend.

„Diese Seuche ist grauenvoll. Sie erinnert mich an Abraham Stokers Dracula“, warf sie ein und unterdrückte ein Schaudern. „Das letzte Opfer war noch so jung.“

Vincent warf ihr einen schiefen Blick zu. „Sag bloß, du liest diesen Schund?“

„Schund?“, erwiderte sie. „Das sagt ausgerechnet jemand, der Jules Verne verehrt. Einen Märchenerzähler!“

„Einen Visionär!“, warfen Emile und Vincent gleichzeitig ein.

Magali prustete verächtlich. „Eine Reise zum Mond? Ich bitte euch.“

„Also, das ist ja wohl …“, begann Vincent, doch er sollte seinen Satz niemals beenden, denn in diesem Moment erklangen einige Querstraßen weiter schrille Trillerpfeifen, dazwischen waren Rufe zu hören.

„Ich glaube, es kommt aus der Richtung der Polizeistation“, sagte Magali mit einem unguten Gefühl.

„Vielleicht sind die feinen Herrschaften übereinander hergefallen, dann müsste ich sie alle einsperren. Das wäre doch mal ein Spaß!“ Emile lachte, ein Laut, der aus den Tiefen seines Bauchs kam. „Ich muss zurück. Tut mir leid, Leute.“

„Pflicht ist Pflicht, Brigadier!“ Vincent bedachte seinen alten Freund mit einem schneidigen Salut, was ihm prompt einen nicht ernst gemeinten Boxhieb einbrachte.

„Magali, es war mir wie immer ein Vergnügen.“ Emile tippte an seine Mütze. „Bis bald, ihr beiden!“ Sprachs und verließ den Park im Laufschritt, wobei sein Cape emsig hinter ihm her flatterte.

„Ich verstehe nicht, warum er nicht schon längst Brigadier en Chef ist“, sagte Magali, während sie ihm versonnen nachblickte.

„Er hat keinen Ehrgeiz. Hat er noch nie gehabt. Seine Orchideenzucht geht ihm über alles.“

„Ein Jammer“, erwiderte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Jules Verne … pfff.“

„Abraham Stoker“, schnaubte Vincent zurück.

Besitzergreifend legte er ihre linke Hand auf seinen rechten Arm, dann geleitete er sie zum Bugatti, der zwei Straßen entfernt geparkt war.

Kapitel 3Warschau, September 1919

Annas Bestimmung nahm an einem nasskalten Herbsttag im Warschau des Jahres 1919 ihren Anfang.

Kaum war der Streifenpolizist hinter der nächsten Ecke verschwunden, lösten sich zwei Gestalten aus dem Schatten des Hauseingangs. Ein Mann und ein kleines Mädchen. Er trug einen Frack, der schon bessere Tage gesehen hatte, sie ein geblümtes Kleid mit weißer Knopfleiste. Sie hatten schwarze Instrumentenkoffer bei sich und postierten sich der Akustik wegen unter dem gewölbten Eingang eines Kaufhauses. Nachdem die beiden ihre Musikinstrumente hervorgekramt hatten – der Mann spielte Violine, das Mädchen Klarinette – machten sie da weiter, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hatten. Mit dem zweiten Satz aus Mozarts Klarinettenkonzert. Wie jeden Tag waren auf der Marszatkowska, einer der Prachtstraßen Warschaus, viele Menschen unterwegs, und im Nu bildete sich ein Halbkreis um die beiden Musiker. Selbst einem wenig geschulten Zuhörer musste auffallen, dass der Mann mittelmäßig spielte, während die Kleine eine Zauberin auf der Klarinette war. Auch wenn ihr Spiel nicht frei von Fehlern war, spürte man in dem schmächtigen Körper eine Kraft, die über kurz oder lang zu etwas Großem, Unglaublichem erblühen würde. Ihr Adagio stieß in seelische Tiefen vor, trieb die verschütteten Träume der Zuhörer an die Oberfläche, wo sie sich als Tränen offenbarten. Die Marszatkowska löste sich auf: die knochigen Bäume, der Asphalt, selbst die rumpelnde Tram ... Die Welt hielt den Atem an. Bis das Duo ein heiteres Stück anstimmte, das Gioacchino Rossini mit achtzehn Jahren komponiert hatte und ein Lächeln auf die Gesichter rundum zauberte. Obgleich von einfacher Natur schien das Werk für den Mann und das Kind eine besondere Bedeutung zu haben, denn sie warfen sich beim Spielen liebevolle Blicke zu, und selbst die Sonne riskierte einen kurzen Blick. Als der letzte Ton verhallte, war zunächst nur ein kollektives Seufzen zu hören, danach brach ein Beifallssturm los, der in heiteres Klimpern mündete. Die Münzen flogen nur so in die offenen Instrumentenkoffer! Nicht wenige blieben noch eine Weile stehen, in der Hoffnung, es gäbe noch eine Zugabe, doch schon bald zerstreuten sich die Menschen in alle Richtungen. Die einen überquerten die Straße, die anderen rannten zur Tram, dritte ließen sich von den reich bestückten Schaufenstern der Kaufhäuser ins Innere locken. Die Welt hatte sie wieder.

Nur ein einzelner Herr blieb zurück. Er war groß und stattlich, trug einen langen Mantel mit rotem Schal, einen breitkrempigen Hut und einen Spazierstock. Sein Gesicht lag im Schatten, dafür quollen die weißen Haare großzügig unter seinem Hut hervor.

Der Straßenmusikant war gerade dabei, die Instrumente wegzupacken, das Mädchen half ihm, als der Herr auf sie zutrat. Erschrocken blickte der Mann auf. Offenbar befürchtete er, es könnte sich um einen Gesetzeshüter handeln, oder sogar Schlimmeres.

Der Herr lüftete den Hut. Zum Vorschein kam ein hageres Gesicht mit tiefen Mundfalten und klaren blauen Augen.

„Vergeben Sie mir, Signore. Ich wollte Sie nicht erschrecken“, beeilte er sich zu sagen. „Mein Name ist Arturo Menotti. Das eben war eine hochkarätige Darbietung. Wem verdanke ich dieses unerwartete Vergnügen?“ Er sprach Polnisch mit einem melodiösen italienischen Akzent.

„Ich heiße Andrej.“ Der Musiker zog es vor, seinen Nachnamen nicht zu nennen. „Und das hier ist meine Tochter … Anna.“

„Erstaunlich“, murmelte Signore Menotti und blickte nunmehr auf das Kind, das sich hinter seinem Vater versteckte. „Wo hat sie so zu spielen gelernt?“

„Ich habe es ihr beigebracht“, antwortete der Musiker nicht ohne Stolz. „Vor dem Krieg war ich Mitglied eines Kammerorchesters.“

„Sie hat wohl Ihr Talent geerbt“, sagte Signore Menotti höflich.

Der Musiker lächelte. „Nun, es ist wohl mehr als das. Sie ist gerade mal elf und hat mich bereits überflügelt.“

„Wirklich ganz erstaunlich.“ Signore Menotti räusperte sich. „Sie müssen wissen, ich leite ein großes Symphonieorchester, und zurzeit gastieren wir in Ihrer schönen Stadt.“

Bei diesen Worten wurde der Musiker eine Spur blasser, sagte aber nichts.

„Ich bin stets auf der Suche nach Talenten. Außergewöhnlichen Talenten“, fügte der Italiener eindringlich hinzu. „Und Ihre Tochter ist es zweifellos.“

„Und?“ Es klang lauernd.

„Geben Sie sie in meine Obhut, und ich biete ihr nicht nur eine erstklassige Ausbildung, sondern auch die Chance, eine weltberühmte Künstlerin zu werden.“

„Sie ist stumm“, erwiderte der Musiker.

„Aber nicht taub, oder?“ Signore Menotti lächelte mild.

„Nein, natürlich nicht“, sagte der Musiker. „Ich kenne viele erfolgreiche Vertreter unserer Zunft, doch Frauen waren niemals darunter.“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Was für ein Orchester soll das sein?“

Arturo Menotti kramte einen Handzettel aus seiner Manteltasche hervor. „Hier!“, sagte er und drückte seinem Gegenüber das Stück Papier in die Hand. „Ich setze Sie und Ihre Tochter auf die Gästeliste. Es wäre mir eine außerordentliche Freude, Sie dort zu sehen. Kommen Sie nach dem Konzert hinter die Bühne, und wir reden weiter.“

Der Italiener lüftete seinen Hut zum Abschied, dann wandte er sich ab. Seine große Gestalt war bald in der Menge verschwunden, doch hallte das ΄Tok Tok΄ seines Spazierstocks noch lange nach.

Voller Argwohn starrte der Musiker auf den Handzettel: Heute Abend im Großen Theater! Die weltberühmte Philharmonie der ZweiWelten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

Anna, die aus seinem Schatten getreten war, fixierte das Blatt Papier mit großen Augen. Was ist das, Tata?, wollte sie gestenreich wissen.

„Nichts“, antwortete dieser und zerknüllte den Handzettel. „Gar nichts.“

Andrej Kaminski focht einen inneren Kampf aus. Nichts liebte er so sehr wie seine Tochter, die er seit dem viel zu frühen Tod seiner Frau allein großzog. Obwohl sie niemals hatten hungern müssen, was einzig Annas außergewöhnlichem Talent zu verdanken war, lagen fünf lange Jahre der Trauer und der Entbehrungen hinter ihnen. Seine zahlreichen Versuche, eine feste Anstellung als Musiker zu finden, waren bisher daran gescheitert, dass er entweder zu gut, zu schlecht oder zu alt war. Also hatten sie die Straße gewählt. Nicht die schlechteste Entscheidung, auch wenn sich Andrej schmerzlich bewusst war, dass es keine langfristige Lösung darstellte. Weder für seine Tochter noch für ihn, zumal er nicht jünger wurde und die Straße bereits ihre Spuren hinterlassen hatte. Seine rheumatischen Beschwerden häuften sich, und schon seit mehreren Wochen litt er an einer Bronchitis, die keine Anstalten machte, ihn wieder vom Haken zu lassen.

Mit zitternder Hand zog er den zusammengeknüllten Zettel aus seiner Hosentasche, legte ihn auf den Küchentisch und strich ihn glatt.

Heute Abend im Großen Theater. Die weltberühmte Philharmonieder Zwei Welten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

Ein einfaches Blatt Papier. Verlockend. Tückisch.

Die Zeit war reif, Anna auf eine ordentliche Schule zu schicken, zumal er sich außerstande sah, sie weiter zu fördern. Nicht nur musikalisch, sondern auch wegen ihrer Versehrtheit – wie er dieses Wort hasste – stieß er immer häufiger an seine Grenzen. Seine kleine Tochter verdiente eine Zukunft. So betrachtet war Menottis Angebot ein Geschenk des Himmels, nur dass er dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen. Anna war der einzige Lichtblick in seinem Leben, seine Existenzberechtigung. Wie könnte er sie da einem Fremden überlassen?

Während ein Muster aus Schatten und Sonnenstrahlen über den Tisch wanderte, starrte er auf den Zettel und hörte erst damit auf, nachdem die Wörter von den Schatten vollends verschluckt worden waren. Er fällte seine Entscheidung zwei Stunden vor Konzertbeginn. Was hatte er schon zu verlieren? Außerdem war der Gedanke verlockend, nach Jahren der Absenz wieder einen Konzertsaal von innen zu sehen. Also badete er die kleine Anna, schrubbte ihre Haut, bis diese ganz rosig war, zog ihr ihr hübschestes Kleid an, das mit dem Spitzenkrägelchen und den Puffärmeln, bürstete ihr Haar und flocht es zu einem langen Zopf. Inzwischen hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Sollte es zu Verhandlungen kommen, würde er darauf bestehen, ebenfalls engagiert zu werden. Entweder Anna und er würden gemeinsam im Orchester spielen oder keiner von ihnen!

Die Fassadenbeleuchtung des Großen Theaters tauchte die Pelze und edlen Roben in strahlenden Glanz, und die Menschen stießen bewundernde Rufe aus. Ob der Pracht des Gebäudes oder ihrer eigenen Erscheinung wegen hätte Andrej nicht sagen können. Anna und er gaben ein vergleichsweise schäbiges Bild ab, was sein kleines Mädchen zum Glück nicht bemerkte. Es war ihr erster Konzertbesuch, und die Aufregung war ihr deutlich anzusehen. Mal trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen, mal balancierte sie auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Von Gefühlen überwältigt beugte sich Andrej zu ihr hinunter und küsste zärtlich ihren Scheitel. Anna dankte es ihm mit ihrem schönsten Lächeln.

Vor dem Kassenhäuschen hatte sich eine lange Schlange gebildet, doch kaum hatten sich Andrej und Anna ans Ende gestellt, als ein livrierter Platzanweiser auf sie zukam und sie aufforderte, ihm zu folgen. Gesenkten Hauptes und mit errötenden Wangen eilten sie an den wartenden Menschen vorbei und betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang. Unmittelbar fanden sie sich in einem Menschenstrom wieder, der sich träge durchs Foyer Richtung Saal schob. Der Platzanweiser lotste sie geschickt hindurch und wich nicht von ihrer Seite, bis sie in einer der vorderen Reihen Platz genommen hatten. Anschließend verabschiedete er sich mit einem dünnen Lächeln.

Andrej atmete tief ein. Er hatte den verheißungsvollen Duft eines Konzertsaals so lange entbehren müssen. Den Kopf in den Nacken gelegt betrachtete er die kunstvoll gearbeitete Decke, den weißen Stuck, die Malereien, die glitzernden Kronleuchter. In seinem Inneren breitete sich ein warmes Gefühl der Heimkehr aus, während Anna mit offenem Mund und tellergroßen Augen neben ihm saß. Bei ihrem Anblick musste er unwillkürlich lächeln.

Der Saal schien bis auf den letzten Platz ausverkauft zu sein, denn es vergingen noch viele Minuten, bis alle ihren Sitz eingenommen hatten. Minuten, in denen Andrej die aufgeblähten, gut genährten Menschen musterte und das Gefühl von Neid aus seinem Herzen zu verbannen versuchte. Gedankenverloren strich er mit der Hand über die linke Armlehne seines Stuhls, das Holz fühlte sich kühl und glatt an, bis seine Fingerkuppen unerwartet auf eine Unebenheit stießen. Sie war zugleich fest und weich und seltsam vertraut. Aber völlig fehl am Platz. Gerade als sich Andrej vorbeugte, um nachzuschauen, betraten der Chor und die Musiker die Bühne. Die Gespräche verstummten, und eine erwartungsvolle Spannung legte sich über den Saal. Die Armlehne rückte in den Hintergrund.

Arturo Menotti erschien. Groß. Schwarz. Allmächtig. Er wandte sich zum Publikum und vollführte eine elegante Verbeugung, dabei kam es Andrej so vor, als würde er ihm direkt in die Augen schauen. Anschließend wandte sich der Maestro wieder dem Orchester zu und hob die Arme. Er musste nicht mit seinem Taktstock auf das Pult klopfen, denn alle Blicke waren bereits auf ihn gerichtet.

Als der erste Ton von Mozarts Requiem erklang, raste Andrejs Herz vor Aufregung.

Zwei Stunden später war es gebrochen.

Ihm war auf grausame Weise klar geworden, dass es in diesem Orchester keinen Platz für ihn geben würde.

Nach diesem denkwürdigen Abend ging alles sehr schnell. Arturo Menotti zeigte sich über Andrejs „kluge Entscheidung“ außerordentlich erfreut und bot ihm einen Obolus für die Unannehmlichkeiten an, den Andrej jedoch zurückwies. Der Maestro erzählte etwas von uralten Instrumenten und einer segensreichen Jugend, von Geben und Nehmen, doch die Worte zerplatzten wie Seifenblasen, bevor sie Andrej erreichen konnten. Die bevorstehende Trennung beherrschte sein ganzes Denken. Er hatte gefleht, mitkommen zu dürfen, doch Menotti war unnachgiebig gewesen. In den ersten, entscheidenden Jahren dürfte nichts Annas musikalische Entwicklung behindern, so sein Argument, Andrej wäre nur Ballast, eine unwillkommene Ablenkung. Am Ende wurde entschieden, dass Anna bei ihrem Vater bleiben würde, bis das Orchester weiterzog.

Ihnen blieben zwei Wochen.

Zwei Wochen voller Tränen, Beteuerungen, Selbstvorwürfe und Zwetschgenklöße, Annas Lieblingsspeise. Dann kam der Tag des Abschieds. Der Herbst zeigte sich von seiner berauschenden Seite, nicht eine Wolke verunzierte den tiefblauen Himmel. Sie standen am Hintereingang des Großen Theaters, nur wenige Stunden, bevor die Philharmonie der Zwei Welten nach Prag weiterreisen und ihm sein kleines Mädchen für unbestimmte Zeit entreißen sollte. Mit fahlem Blick verfolgte Andrej, wie Arturo Menotti durch die Tür trat und Anna aufforderte, ihm zu folgen. Er öffnete den Mund, um sie zurückzuholen, das Abkommen für nichtig zu erklären, doch kein Ton kam aus seiner trockenen Kehle. Anna war bereits in den engen Korridor getreten, dessen weniges Licht vom breiten Rücken des Maestros verschluckt wurde. Dann ließ sie ein leises Schluchzen hören, das ihm von den Wänden widerhallend tödliche Stiche versetzte.

„Du musst keine Angst haben, Kind“, erklang Arturo Menottis allmächtiger Bass. „Ab jetzt sind wir deine Familie.“

Am Ende des Weges streckte der Maestro die Hand aus, um einen schweren Vorhang beiseitezuschieben. Als gleißendes Licht hinausströmte, wandte Anna instinktiv den Kopf ab.

„Auf Wiedersehen, Spätzchen!“, rief Andrej.

Zu mehr reichte es nicht.

Sie winkte ein letztes Mal, hielt die Arme vor ihrem Bauch über Kreuz – ich habe dich lieb, Tata –, dann trat sie durch das helle Karree.

Es gab einen Luftzug, die Tür schlug mit einem lauten Knall zu, und Andrej stand vor dem Nichts.

Kapitel 4Paris, April 1926

Das Schlagzeug tobte. Die Posaune krächzte. Die Trompete kreischte.

Noch vor wenigen Monaten hätte ein Wirrwarr aus Armen und Beinen ausgelassen dazu gezappelt, Kreisel aus bunten Fransen wären durch den Raum gewirbelt und hätten schmale Frauenfesseln enthüllt, die von schwarz polierten Männerschuhen umgarnt wurden. Stattdessen versuchte sich ein einsames Paar am wilden Rhythmus des Charleston, während die Gäste an den spärlich besetzten Tischen ringsum mit gelangweilten Mienen zusahen.

Magali, die gegenüber der Bühne oben im verglasten Büro stand, verzog bei diesem Anblick sorgenvoll das Gesicht. Sie trug ein aquamarines Kleid, farblich abgestimmte Hängeohrringe und kunstseidene Strümpfe. Ihre blauen Spangenpumps waren üppig mit Strass verziert. Die Lippen hatte sie dunkel nachgezeichnet, die Fingernägel waren rot lackiert. Im Klub herrschten andere Regeln, auch für eine Garçonne. Sie entdeckte Vincent, der in seinem purpurfarbenen Anzug die Gäste mit einem breiten Lächeln begrüßte, und ihr wurde schwer ums Herz. Sie wusste, wie viel Kraft es ihn kostete, gute Laune vorzugaukeln.

Da verstummte die Musik plötzlich, und ein dunkel gekleideter Mann betrat die Bühne. Gespannt starrten alle auf den Conférencier, der mit großen Worten und weit ausholenden Gesten die „unglaubliche und atemberaubende Mistinguett!“ ankündigte. Woraufhin der Saal aus seinem Dornröschenschlaf erwachte. Es waren nicht mehr als dreißig Gäste anwesend, aber sie veranstalteten einen Riesenradau. Klatschten, schrien, pfiffen, trampelten mit den Füßen. Als lachten sie dem Dämon, der Paris in seinen Klauen hielt, offen ins Gesicht. Dann wurde es dunkel, während ein einzelner Scheinwerfer eine kleine Frau mit kurzen rotblonden Locken und Kulleraugen beleuchtete, die auf die Bühne schritt. Sie trug ein schwarzes Kleid und eine Federboa. Als die Jazzband zu spielen begann, stemmte sie eine Hand in die Hüfte und wiegte sich im Rhythmus der Musik. Dann öffnete sie den Mund und schlug augenblicklich alle in ihren Bann. Es umgab sie die faszinierende Aura eines Stars, wie sie sich da bewegte und ihren Blick träge durch den Raum schweifen ließ. Ihre Stimme, schrill und eine Spur vulgär, kannte sich mit dem Leben aus. Mistinguett sang ihr berühmtes Chanson „La Java“, dann „ça c’est Paris“, und alle stimmten mit ein. Nach fünf Liedern kochte der Saal. Mistinguett warf Küsse in die johlende Menge, und Magali musste unwillkürlich lächeln. Diese Frau musste man lieben.

Gerade als die Sängerin ihre Zugabe anstimmte, betraten zwei neue Gäste den Klub. Sie trugen zu enge Anzüge mit schief angenähten Kragen und das Wort „Krawall“ in den Gesichtern geschrieben. Magali runzelte die Augenbrauen. Wo Freddy und Grapache auftauchten, war der Ärger vorprogrammiert. Die beiden Ganoven gehörten zum Gefolge der Näherin, einer Frau mit Vergangenheit, die in der ganzen Stadt illegale Wettbüros unterhielt. Die Großunternehmerin, wie sie sich selbst bezeichnete, nähte leidenschaftlich gern, vorzugsweise scheußlich aussehende Kleidungsstücke für ihre Mitarbeiter. Und wehe dem, der sich weigerte, sie zu tragen! Magali hatte die Näherin einmal aus der Ferne gesehen: eine üppig gebaute, ältere Frau mit blonden Korkenzieherlocken und durchdringendem Blick. Furchterregend.