Sektion 3|Hanseapolis - Präludium - Miriam Pharo - E-Book

Sektion 3|Hanseapolis - Präludium E-Book

Miriam Pharo

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Beschreibung

Auf der Jagd! Die Europäische Föderation im Jahr 2066: In Venezia a Cupola ist Karneval - wie jeden Tag seit die einstige Lagunenstadt vom Medienkonzern Glob4Kic! zum Freizeitpark umfunktioniert wurde. In den nächtlichen Wirren des Festes erschlägt der talentierte Dieb Aldo Farouche einen Hehler und flüchtet Hals über Kopf nach Hanseapolis. Dort wird wenig später seine kristallisierte Leiche gefunden und die Ermittler Elias Kosloff und Louann Marino stehen vor einem Rätsel. Welches Geheimnis birgt der bei dem Toten gefundene Jeanne-Kristall? Und wo befinden sich die mysteriösen Präludien, die in Zusammenhang mit dem Mord zu stehen scheinen? Kosloff und Marino werden immer weiter in ein undurchsichtiges Netz aus Täuschungen verstrickt. Glob4Kic!, die Wölfin aus Ramla City, die Bruderschaft der Schwarzen Schlange - jeder der Kontrahenten verfolgt ein eigenes Ziel. Der finale Kampf um Macht und Kontrolle ist der Schlusspunkt der atemlosen Jagd nach den Präludien! "Miriam Pharo verfügt über ein sehr gutes Gespür für Szenenaufbau, Schnitte und Montage, das zweifellos von einer filmischen Erzählweise beeinflusst ist." Phantastik-Couch Der dritte Teil des SF-Erfolgskrimis "Sektion 3|Hanseapolis - Präludium Hanseapolis" schildert einen ganz neuen Fall des Ermittlerduos Kosloff/Marino. Getreu den 24 Präludien von Frédéric Chopin ist der Roman in 24 Kapitel aufgeteilt und von der Grundstimmung her orientiert sich Miriam Pharo an Chopins Musik. Ein wahrlich meisterhaftes Lesevergnügen!

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Miriam Pharo

Sektion 3 | HanseapolisPräludium

Pharo, Miriam: Sektion 3|Hanseapolis – Präludium Hamburg, ACABUS Verlag 2012

Originalausgabe ISBN: 978-3-86282-149-5 PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-150-1 ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-151-8

Lektorat: Silke Meyer, ACABUS Verlag Umschlaggestaltung: ACABUS Verlag Corporate Design der Reihe: Christina Brix Covermotiv: Alexander Preuss,http://www.abalakin.de/artworks.asp Fotografie „Spiegelung“: Daniel Schwarzt, http://www.papiertourist.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2012

Inhalt

1. Agitato

2. Lento

3. Vivace

4. Largo

5. Molto allegro

6. Lento assai

7. Andantino

8. Molto agitato

9. Largo

10. Molto allegro

11. Vivace

12. Presto

13. Lento

14. Allegro

15. Sostenuto

16. Presto con fuoco

17. Allegretto

18. Molto allegro

19. Vivace

20. Largo

21. Cantabile

22. Molto agitato

23. Moderato

24. Allegro appassionato

Epilog

„Ermittlungsarbeit hat Vorrang. Aber nicht vor Rindercarpaccio!“

Elias Kosloff

1

Agitato

„Hier Zahara Sun für YIN Live! Ich stehe auf der südlichen Landeplattform des Amsinck-Towers, um den heutigen Ehrengast unseres Justizreports Raubtier im Visier zu begrüßen. Er ist ein Polizeiheld und für seine Gewaltausbrüche berüchtigt. Im Laufe seiner langjährigen Karriere bei der Sektion 3, dem Morddezernat unserer schönen Stadt, hat er Hunderte von bösen Jungs das Fürchten gelehrt. Einige von ihnen, vorrangig Menschenhändler und Industriemagnaten, kreisen gerade in ihren Gefängnistrabanten im Orbit über unseren Köpfen. Eine verrückte Vorstellung. Augenblick mal … Ich glaube, da kommt etwas auf uns zu … tatsächlich, eine schwarze Sichel im Landeanflug. Ein Polizeigleiter, wie es aussieht. Da steht etwas geschrieben. M … E … C … 5 … 4 … 9. Bingo! Das ist unser Mann! Ich stelle mich lieber hinter die Mauer. Wir wollen ihn ja nicht vorzeitig verschrecken. Wie man hört, wurde er mehrfach verwundet. Das erklärt vielleicht seine … Ah, da ist er ja! Senior Detective Kosloff! Zahara Sun, YIN Live.“

„Scheiße.“

„Unsere Community möchte Sie, den berühmtesten Cop von Hanseapolis, näher kennenlernen. Würden Sie mir bitte einige Fragen beantworten? Seit Sie und Ihre Partnerin, Louann Marino, den Hoven-Fall gelöst haben, sind Sie richtige Stars …“

„Lassen Sie mich in Ruhe.“

„Senior Detective, jetzt rennen Sie doch nicht so! Ihre Partnerin wurde angeschossen. Angeblich stand es für sie auf Messers Schneide. Wie geht es ihr heute?“

„Sie hat es überlebt.“

„Was für ein Glück. Wird sie bleibende Schäden davontragen?“

„Nein.“

„Stimmt es, dass Sie Louann Marino bei Dienstantritt eine ganz persönliche Einführung angedeihen ließen?“

„Ich hoffe für Sie, dass Ihre unglückliche Formulierung ein Versehen ist …“

„Mitnichten, Senior Detective. Ich habe Informationen erhalten, wonach Sie beide ungeschützten Sex hatten – nur 48 Stunden nach Ihrer ersten Begegnung.“

„Wer hat Ihnen denn diesen Mist erzählt?“

„Gerade Sie als Cop werden verstehen, dass ich meine Quelle nicht preisgeben kann.“

„Wie überaus praktisch.“

„Anderes Thema. Sie besitzen ein Luxusapartment mit einer sagenhaften Aussicht auf die HafenCity. Gewähren Sie unserer Community mal einen Blick hinein?

„Nur über meine Leiche!“

„Nur einen ganz kurzen.“

„Nein!“

„Wie können Sie sich als Cop überhaupt ein solches Apartment leisten? Vor allem in einer City, die aus allen Nähten platzt? Auf der Null-Ebene hausen die Menschen in Rattenlöchern.“

„Drehen Sie lieber darüber einen Bericht. Das wäre sinnvoller. Und jetzt hauen Sie ab!“

„Bitte bleiben Sie stehen!“

„Was an ‚Hauen Sie ab!‘ haben Sie nicht verstanden?“

„Sie haben den Menschen da draußen gegenüber eine Verpflichtung!“

„Richtig! Nämlich, sie vor dem Abschaum der Stadt zu schützen.“

„Was gucken Sie mich dabei so an?“

„Nur so ein Gedanke …“

„Ich möchte Sie zu Ihrer hohen Aufklärungsquote beglückwünschen! Kein Wunder, dass Sie in der Sektion 3 eine Legende sind …“

„Ah, jetzt kommen Sie mir mit der Tour. Ich mache nur meinen Job!“

„Dabei gehen Sie zeitweise sehr … äh … leidenschaftlich vor. Im Laufe einer Ihrer Ermittlungen ist der Konzertsaal der Elbphilharmonie in die Luft geflogen. Die Restaurierungsarbeiten sind immer noch in vollem Gange, obwohl das schon ein halbes Jahr her ist.“

„Was wollen Sie eigentlich von mir?“

„Danke, dass Sie stehen geblieben sind. Jetzt haben wir Sie klar auf dem Screen. Man munkelt, Sie waren in Ihrer Jugend Mitglied bei der Bruderschaft der Schwarzen Schlange. Ist da was dran?“

„Kein Kommentar.“

„Im Manifest der Bruderschaft steht, dass sie den moralischen Verfall unserer Gesellschaft ausrotten will. Wenn nötig durch Methoden, die man als rustikal bezeichnen muss. Können Sie das bestätigen?“

„Kein Kommentar.“

„Eine letzte Frage noch.“

„Verpissen Sie sich!“

„Sie waren mal verheiratet …“

„Jetzt reicht’s aber!“

„Hey, was tun Sie da? Fassen Sie die mobile Übertragungseinheit nicht an!“

„Sehen Sie zu, dass Sie, besser gesagt, Ihr Hologramm Land gewinnt, sonst verhafte ich Sie wegen Behinderung eines Detectives in Ausübung seiner Pflicht.“

„Ich werde mich beim Polizeipräfekten über Sie beschweren, Kosloff.“

„Ja, Sie mich auch!“

„Herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Interview, Senior Detective! Puh … unser Held hat den Charme nicht gerade mit Löffeln gefressen, was? Haha. Das war Zahara Sun live vom Amsinck-Tower für Yahoogle Investigation Network. Zurück ins Studio. Ist die Übertragungseinheit aus? Gut. Was für ein Arschloch!“

2

Lento

Der Schattenriss mit der langnasigen Pestmaske, der über die nebelverhangene Brücke ging, hatte schwere Schuld auf sich geladen. Die Feuchtigkeit kroch unter sein Hemd und er zog den Umhang fester um sich. Ihn fröstelte. Bis vor einer Stunde war Aldo Farouche nur ein gewöhnlicher Dieb gewesen. Jetzt war er auch ein Mörder. Ich muss schleunigst von hier verschwinden, hämmerte es in seinem Kopf. Trauer überkam den zierlichen Mann. Er hatte den Hehler in der Calle Scaleta nicht umbringen wollen. Die Situation war eskaliert. Der VIP-Zugangscode zum Dogenpalast hätte ihm ein Vermögen einbringen müssen, doch Pantalone hatte ihn übers Ohr hauen wollen. Es war zu einem Handgemenge gekommen, in dessen Verlauf der Spitzbärtige mit schwarzer Maske und rotem Wams zu einem schussbereiten Laser gegriffen hatte. Klarer Fall von Stilbruch. Aldo hatte sich lediglich zur Wehr gesetzt, als er den Schädel des anderen mit einem silbernen Kerzenständer zertrümmert hatte. Er mochte feingliedrig sein, doch er war flink wie ein Wiesel; vermutlich wog er auch kaum mehr.

Von der nahen Kirche schlug es gerade zwei Uhr morgens, als fröhliches Stimmengewirr durch den grauen Dunst an sein Ohr drang. Touristen. Das flackernde Licht der Straßenlaternen wies ihm den Weg zu der sich nähernden Gruppe. Die drei Männer und zwei Frauen lachten und unterhielten sich lautstark. Vermutlich waren sie angetrunken. Unter den schwarzen Umhängen blitzten Satin und Spitze auf, die weißen Halskrausen und federgeschmückten Dreispitze durchstachen den Nebelschleier. Beim Vorbeigehen stoben sie auseinander und Aldo nickte höflich. Einer der Männer trug ein buntes Flickenkostüm und eine plattnasige schwarze Beulenmaske: Arlecchino, dessen Augenschlitze plötzlich Feuer spien, als eine der Frauen mit übermütig leuchtenden Wangen Aldos Arm an ihre nackte Brust drückte. Die Botschaft war klar. Nicht heute Abend, süße Columbina, dachte der frischgebackene Mörder und drängte sich rasch vorbei. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, war ein eifersüchtiger Harlekin, der auf Krawall aus war. Masken waren unberechenbar. Sie brachen Tabus, entfesselten Dämonen und machten unvorsichtig, was Aldos Arbeit häufig enorm erleichterte. So auch diesmal. Als die fünf Menschen schnatternd hinter ihm im Dunst verschwanden, waren sie um eine Perlenbrosche und einen Virtuellen Kommunikator ärmer.

Der Polymer-Himmel über der Piazza San Marco war aschgrau, die Temperatur lag bei konstanten 9,2 °C, die Luftfeuchtigkeit betrug fast hundert Prozent. Wie jeden Tag seit fast zwanzig Jahren. Die Menge, die unablässig auf den Platz strömte, setzte einen grellen Kontrapunkt aus grotesken Masken, pompösen Gewändern und lauten Gesten. Auf überdachten Holzbühnen führten Gaukler Kunststücke vor und von irgendwoher wehte barocke Musik herüber. Der Lärm war ohrenbetäubend, die Stimmung beschwingt, denn es war Karnevalswoche: zum 1.022. Mal seit Eröffnung der Kuppelstadt im Jahr 2047.

Zur Rettung der maroden Altstadt von Venedig hatte die Europäische Föderation zu jener Zeit entschieden, den sechs Quadratkilometer großen Bereich zwischen der Piazzale Tronchetto im Nordosten und der Isola di Sant’Elena im Südosten zu privatisieren. Für eine astronomische Summe erwarb der internationale Medienkonzern Glob4Kic! die Stadt samt ihren Bewohnern. Die heruntergekommenen Häuser und Paläste wurden aufwändig restauriert, die Fassaden mit einem selbstreinigenden Anstrich versehen, die versandeten Kanäle mit dunkelgrünem Hydropurit gefüllt, einer gallertartigen Masse, deren Dichte einen ähnlichen Auftrieb aufwies wie Wasser, aber um ein Vielfaches günstiger war. Als krönender Abschluss wurde die aufgefrischte Pracht von einer Domkuppel aus dunklem Polymer überzogen – inklusive eines gigantischen Firmenlogos.

Info Break

Die Alteingesessenen sind inzwischen ausgestorben oder haben beachtliche Abfindungen erhalten, damit sie CupolaV verlassen. Ihre Rollen werden durch externes Personal besetzt. Wer die Physiognomie eines Handwerkers hat, beziehungsweise der Vorstellung eines solchen entspricht, und ein Mindestmaß an Geschicklichkeit beweist, wird mit der alten Kunst vertraut gemacht. So wächst in der Kuppel seit Jahren eine neue Zunft von Maskenmachern, Tischlern, Gondelbauern und Schneidern heran. Wer gut mit Zahlen umgehen kann und ein Gespür fürs Geschäft hat, erlernt den Beruf des Kaufmanns und darf einen Laden betreiben. Auch die weiblichen und männlichen Konkubinen sind handverlesen. Nur die Crème de la Crème aus den staatlichen Vermittlungsbehörden findet ihren Weg in die entsprechenden Etablissements.

Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN

In Venezia a Cupola, kurz CupolaV – ausgesprochen wurde es „Cupola 5“ –, war alles real. Keine holografischen Abbilder, sondern echte Menschen, echte Häuser, echte Empfindungen. Der Carnevale di Venezia war eine ganzjährige Attraktion für die gut Betuchten in der Europäischen Föderation; das Ambiente sollte so wirklichkeitsgetreu wie möglich sein. Lediglich bei Körpergerüchen war Schluss mit der Authentizität, deshalb waren alle Kostüme und Accessoires mit duftneutralisierenden Nano-Partikeln ausstaffiert.

Ganz gleich, was in der Kuppel passierte: Gute Laune war Programm. So auch am 2. September 2066, als echte Polizisten nur wenige Meter von der Piazza entfernt eine Leiche aus dem Hydropurit fischten. Die Menschentraube, die zusammengedrängt am Ufer stand, hielt die Bergung für ein prickelndes Intermezzo. Wer hätte es ihr verdenken können? Die Inszenierung der Leiche war bühnenreif: Gefangen im Kanal trieb der leblose Körper mit dem Gesicht nach oben, die Arme seitlich ausgestreckt. Die schwarze Maske mit dem spitzen Bart sah aus, als wäre sie in einen Topf Sauerkirschkonfitüre gefallen, und wenn man dem Geraune einiger Zaungäste hinterher Glauben schenken mochte, hatten die Augenlider des Toten noch gezuckt, als dieser im stummen Vorwurf zum Firmenlogo von Glob4Kic! hinaufgestarrt hatte.

Von einem oberen Fenster des Dogenpalastes aus beobachtete die Kuratorin der Kuppelstadt den traditionellen Volo dell’angelo, bei dem eine weiß gekleidete junge Frau an einem altmodischen Drahtseil über den Platz schwebte. Die Menge jubelte. Nella Sciutto schnaubte. Der grausige Fund unweit der Piazza San Marco hatte sich bereits wie ein Lauffeuer verbreitet. Diebstahl und Trickbetrügereien waren in CupolaV an der Tagesordnung und solange sie nicht überhand nahmen, wurden sie weitgehend toleriert, passten sie doch zum ruchlosen Image der Stadt. Bei Mord verstanden Sciuttos Arbeitgeber allerdings keinen Spaß und so war die Kuratorin für diesen Nachmittag in die Zentrale von Glob4Kic! beordert worden. Eine solche Sauerei auf der Zielgeraden hat mir gerade noch gefehlt, dachte die schwergewichtige Frau missmutig. Die Kuratoren wechselten alle zehn Jahre. Nur noch neun Monate, dann wäre Sciuttos Dienstzeit abgelaufen. Die Stelle als Kurator war sehr begehrt, denn sie wurde außerordentlich gut vergütet. Doch nach dem 600. Volo und unzähligen Konfettiwolken wurde es selbst dem größten Fan zuviel der Narretei. Inzwischen konnte Sciutto es kaum abwarten, ihren Platz zu räumen.

Obwohl sie ihrem Arbeitgeber „draußen“ Rede und Antwort stehen musste, war sie froh, für kurze Zeit der grauen Kuppel zu entfliehen. Inzwischen hasste sie den bunt lärmenden Miniaturkosmos mit seiner feuchten Kälte und sehnte sich schmerzhaft nach Helligkeit und Wärme. Daran änderten auch die täglichen Expositionen im Sonnentank nichts.

Als sie Minuten später etwas unbeholfen in die rotgold verzierte Staatsgondel stieg, schwankte der Kahn bedrohlich unter ihrem Gewicht und sie stieß einen leisen Schrei aus. Geflissentlich ignorierte sie den abfälligen Blick des Gondoliere. Während sich die Barkasse in Bewegung setzte, hielt die Kuratorin sich krampfhaft am Rand fest und versuchte den Gedanken an die eisige Kälte zu verdrängen, die ihre Beine hochkroch. Ihr Weg führte über den Canale Grande, vorbei an schmucken Häusern mit wehenden Fahnen und bunt verzierten Fassaden. Kleine, kurze Wellen kräuselten das dunkelgrüne Hydropurit, auf beiden Seiten des Kanals schaukelten die Boote in ihrem Kielwasser. Eine maskenlose Frau schlug die Fensterläden ihres Hauses auf und beugte sich interessiert nach vorne, um die Matrone im prachtvollen Gefährt besser sehen zu können, die zum Schutz gegen die Kälte ihren Thermokragen hochgeklappt hatte.

Trotz seiner Hundertfünfzig-Kilo-Fracht lenkte der Gondoliere die Barkasse mit sicherer Hand; die Sensortechnik im Rumpf balancierte das zusätzliche Gewicht problemlos aus. Fast lautlos glitt das elegante Gefährt unter einer der zahlreichen Brücken hindurch, dann bog es rechts in einen schmalen Einbahnkanal ein, um nach wenigen Metern nach links zwischen zwei Häusern einzuschwenken. Sciutto würdigte die gotischen Fassaden und weiß verzierten Arkaden, die gemächlich an ihr vorüberzogen, mit keinem Blick. Nur einmal erregte eine Bewegung ihre Aufmerksamkeit. In einer Seitengasse erhaschte sie einen kurzen Blick auf zwei vollständig bekleidete Menschen, die offenbar kopulierten. Angewidert schaute sie weg. In den ersten Jahren war sie unersättlich gewesen; heute allerdings war sie dieser Art von Aktivität überdrüssig.

Als am Ende des Kanals die Porta del Roma auftauchte, ein imposantes Tor mit schlanken, spitz zulaufenden Türmchen und einem reich geschmückten Dreiecksgiebel, atmete sie erleichtert auf. Ungeduldig packte sie ihre Sachen zusammen, während die Barkasse geschmeidig am Steg anlegte. Der Gondoliere sprang ans Ufer, um die ausfahrbare Metallplanke, die diskret im Anleger installiert war, zu aktivieren, dann beugte er sich galant hinüber, um Sciutto beim Aussteigen zu helfen. Ohne ein Wort des Dankes kam die Kuratorin der Aufforderung nach, um gleich darauf ihre Schritte zu einer geheimen Pforte zu lenken, die in einem der beiden Zwillingstürme eingelassen war. Per Netzhaut-Scan setzte sie den Öffnungsmechanismus in Gang und wartete, bis ein mannshohes Relief, das den Sündenfall darstellte, seitlich wegglitt und den Ausgang freigab. Die vulgäre Geste des Gondoliere in ihrem Rücken bemerkte sie nicht.

Nella Sciutto passierte die Pforte nach Terra Venezia und prallte gegen eine Hitzemauer. Kurz schwankte sie, dann schloss sie für einen Moment die Augen und genoss ihren Übertritt in eine andere Welt. Eine Welt aus lichtdurchflutetem Glas und molliger Stille, in der eine leere Expressbahn wartete – wie eine Schlange beim Sonnenbad, die jeden Moment aus ihrem Tagtraum gerissen werden würde. Gemächlich schritt die Kuratorin über den weiß gekachelten Boden, um in die Bahn zu steigen und auf einem der samtbezogenen Sitze Platz zu nehmen. Die Thermojacke legte sie neben sich, bevor sie erwartungsvoll nach draußen schaute. Die Salzschicht der ausgedörrten Adria loderte weiß bis zum Horizont, lediglich der tiefblaue Himmel bereitete ihr ein jähes Ende. Vier einzelne Pyramiden durchschnitten die bikolore Aussicht: die Città 3 im Vordergrund sowie ihre drei schemenhaften Schwestern in der Ferne.

Info Break

Die vier Cittàs bilden das kulturelle und öffentliche Zentrum von Terra Venezia. Jede von ihnen beherbergt rund zwei Millionen Menschen, unzählige Shoppingmalls, Wohn- und Bürokomplexe, Freizeitparks, Universitäten, Stadien und ein Palazzo Municipale, eine lokale Verwaltungsbehörde. Die Pyramiden sind durch Röhren aus Polymer, die bekanntermaßen als Tubes bezeichnet werden, sowie durch Air-Shuttles miteinander verbunden.

Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN

Mit einem leisen Zischen setzte sich die unbemannte Expressbahn in Bewegung und Sciutto seufzte. Da die Tube nur wenige Meter über dem sandigen Boden verlief, gab sich die Frau der Illusion hin, über dem Wüstenmeer zu schweben. Je näher die Bahn der Millionencity kam, desto mehr füllte sie sich und bald war auch der letzte Stehplatz besetzt. Während sich die Menschen gegenseitig auf die Füße traten, blieb Sciuttos Privatabteil am Ende des Zuges leer. Eine dunkelrote Wall-Flax, eine harte bewegliche Luftkissenwand, sorgte dafür, dass die Kuratorin, vor den missbilligenden Blicken der anderen Passagiere geschützt, die Fahrt weiterhin unbeschwert genießen konnte.

Währenddessen nahm die Città 3 immer gewaltigere Ausmaße an. Die rotgoldene, schuppige Fassade wirkte seltsam unbeständig. Gewissermaßen war sie das auch, denn die horizontalen und vertikalen Außen-Expresslifte befanden sich in ständiger Bewegung. Das Sonnenlicht, das sich in der vergoldeten Stahl- und Glaskonstruktion der Pyramide brach, traf unvermittelt Sciuttos Pupillen. Sie hatte noch nicht einmal Luft geholt, um ihren Unmut lautstark kund zu tun, als sich die Thermotrop-Haube der Tube ein Stück weit verdunkelte. Wie bei einem Fisch, den man ins Wasser zurückgeworfen hatte, klappte ihr Mund wieder zu. Ihr Doppelkinn zitterte, während sich die Falten auf ihrer Stirn synchron glätteten.

Nur eine halbe Stunde später zerfurchte sich ihre Stirn abermals. „Das ist nicht Ihr Ernst?“ Widerwillig löste sie ihren Blick von dem grandiosen Panorama, das sich unter ihr ausbreitete, und drehte sich zu dem Mann um, der hinter ihr stand. Sie befand sich im 99. Level der Pyramide und hatte die Ansicht der sandigen Leere draußen gierig in sich aufgesogen.

„Leider ja. Der mutmaßliche Mörder ist uns entwischt. Soweit wir wissen, ist er in Hanseapolis untergetaucht.“ Der Sicherheitsberater von Glob4Kic! schaute sie unverwandt an. Er war schlank, gutaussehend und mit hohen Wangenknochen ausgestattet. Lässig lehnte er in der Mitte des kahlen Konferenzraums an einem einzeln stehenden Board aus Bronze, das eine stilisierte Löwentatze darstellte. Der Löwe war Venedigs Wappentier und CupolaV das größte Prestigeprojekt des Glob4Kic!-Konzerns. Die Firmenzentrale strotzte daher vor Löwensymbolik.

„Wer war das Opfer?“

„Ein Hehler namens Gino Petri, der die Maske des Pantalone trug.“

„Pantalone, der Kaufmann? Was für eine Ironie“, erwiderte Sciutto. Sie warf einen letzten Blick nach draußen, dann ging sie zu der stilisierten Löwentatze hinüber, um sich ebenfalls dort anzulehnen. Zum Glück hatte der Sicherheitsberater nicht auf einem der schmalen, s-förmigen Löwenschwänze Platz genommen, die überall im Raum verstreut standen. „Was, glauben Sie, ist passiert?“, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf.

„Keine Ahnung. Hauptsache, wir haben den Mörder identifiziert.“

„Wie heißt er?“

„Sein Name ist Aldo Farouche“, lautete die sehr bestimmte Antwort.

Nella Sciutto schaute ihr Gegenüber irritiert an. „Sie scheinen sich da sehr sicher zu sein.“

„Wir haben den Beweis auf NanoCam.“ Der Sicherheitsberater besaß nicht einmal den Anstand, verlegen auszusehen.

„Wie meinen Sie das?“, entrüstete sich Sciutto. „Ich dachte, Audio- und Videoaufzeichnungen sind in CupolaV verboten.“

„Für wie naiv halten Sie uns, Signora? Natürlich ist die gesamte Kuppel verwanzt. Alles andere wäre ein unkalkulierbares Risiko.“

„Wieso weiß ich nichts davon?“ Das Doppelkinn zitterte empört.

„Je weniger davon wissen, desto besser.“

„Ich bin doch nicht irgendwer, sondern die Kuratorin dieser Stadt.“

Der Sicherheitsberater schaute sie mit hochgezogener Augenbraue an. „Sie wollen doch nicht schon wieder damit anfangen, Signora Sciutto? Sie wussten von Anfang an, dass sich Ihre Befugnisse lediglich auf repräsentative Aufgaben beschränken.“

„Wenn das so ist, frage ich mich, was ich hier soll!“

„Sie vergreifen sich im Ton, Signora.“

Sciutto schluckte die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, widerwillig herunter – noch neun Monate – und kam zum ursprünglichen Thema zurück.

„Warum konnte dieser Farouche nicht gleich nach der Tat verhaftet werden?“

„Irgendwie ist es ihm gelungen, unser Überwachungssystem zu überlisten.“

„Ach wirklich?“

Jetzt war es der Sicherheitsberater, der ihr die Antwort schuldig blieb.

„Woher wissen Sie dann, dass er nach Hanseapolis geflohen ist?“, setzte Sciutto nach.

„Die DNA-Erkennung am Airport.“

„Ich verstehe.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Wenn Sie ganz lieb bitten, borgen die Ihnen vielleicht ihr Hightech-Überwachungssystem.“

„Sehr witzig.“

„Warum haben Sie mich wirklich hierher beordert?“ Nella Sciutto blickte ihr Gegenüber scharf an. Sie war vielleicht etwas behäbig, aber nicht dumm.

„Ein Cousin zweiten Grades von Ihnen lebt in Hanseapolis.“

„Fox Sternheim?“

„Genau der. Soweit wir wissen, ist er Leiter der Sektion 3. Mit seiner Hilfe könnten wir Aldo Farouche dingfest machen und hier vor Gericht stellen. Wir müssen ein Exempel statuieren und der Öffentlichkeit beweisen, dass wir in solchen Fällen hart durchgreifen. Morde sind nicht gut fürs Geschäft.“

Sciutto stöhnte innerlich auf. Fox Sternheim. Mit ihm hatte sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Abgesehen davon konnte sie diesen geschniegelten Perfektionisten nicht ausstehen. Der läuft immer rum, als hätte er einen Stock im Hintern, dachte sie finster.

„Sehen Sie zu, dass Sternheim mitspielt, und wir sorgen dafür, dass Sie schon in den nächsten Wochen als Kuratorin abgelöst werden. Ihr Gehalt bekommen Sie selbstverständlich bis zum Ende der vertraglich festgesetzten Frist.“ Eine lange Pause entstand. „Wie klingt das für Sie?“ Die Siegesgewissheit ließ das Lächeln des Sicherheitsberaters noch weißer erscheinen.

Wie Musik in meinen Ohren, jubelte Nella Sciutto im Stillen und aktivierte ihren Neurokommunikator. Der Stockträger schuldete ihr noch einen Gefallen.

3

Vivace

In der grellen Mittagssonne waberte der Schwarze Damm, der die Hochstadt vom verseuchten Sumpfland trennte, wie eine düstere Erscheinung. Glitzerndes Gegenstück bildete die Elbe mit ihrer Kraftfeldbarriere, die sich schlangengleich durch das Hamburger Viertel wand; ihren Lauf säumten das helixförmige VisioForum, die frisch getaufte Asimov Arena, die noch vor Kurzem Hoven Kolosseum geheißen hatte, und andere wolkenkratzende Eitelkeiten. Schwärme von Gleitern, Lufttaxen und Frachtern schwirrten scheinbar ziellos hin und her, als wären sie soeben von einem Riesen aufgeschreckt worden.

Nördlich der HafenCity – unweit des phallusförmigen Tower of Lust, wo Prostituierte auf Lebenszeit ihrem staatlich reglementierten Beruf nachgingen – befand sich die Sektion 3, das Morddezernat von Hanseapolis. Im oberen Level des gedrungenen, fliederfarbenen Komplexes ging es ungewohnt heiter zu. Gut ein Dutzend Augenpaare starrte gebannt auf einen großen, halb transparenten GCS-Screen. Die Global Communication Sphere, die weltweite Plattform für Kommunikation, Information, Business und Entertainment, strahlte zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Morgen ein Kurzinterview aus, das in der Sektion für Wirbel sorgte.

„Senior Detective Kosloff! Zahara Sun, YIN Live.“

„Scheiße.“

„Stimmt es, dass Sie und Marino ungeschützten Sex hatten nur 48 Stunden nach Ihrer ersten Begegnung?“

„Sie hat es überlebt.“

„Wird sie bleibende Schäden davontragen?“

„Nein!“

Zwischen den flügelförmigen Paravents, die den Briefingraum von den benachbarten Zimmern abgrenzten, stiegen Pfiffe und Gelächter auf. Einzig die Miene eines der anwesenden Cops verfinsterte sich. Ein beängstigender Anblick: Elias Kosloff maß fast zwei Meter, seine Haare waren schneeweiß, obwohl er erst knapp über 40 war, und seine Nase war unnatürlich gerade, als sei sie nach einem Bruch komplett ersetzt worden. Durch seine linke Augenbraue verlief eine wulstige Narbe, doch das wirklich Furchterregende an ihm waren die Augen selbst. Die Iris schien aus flüssigem Quecksilber zu bestehen – eine fehlgeschlagene Genmanipulation.

„Man munkelt, Sie waren in Ihrer Jugend Mitglied bei der Bruderschaft der Schwarzen Schlange …“

„Lassen Sie mich in Ruhe.“

Nachdenklich strich Elias über die Onyx-Schlange auf seiner linken Hand: schwarze Onyx-Plättchen, die sichtbar in seiner Haut implantiert waren und sich vom Nagel seines Mittelfingers aus über den Arm bis zum Hals wanden. Das Gejohle um ihn herum verstummte jäh. Die Kollegen wechselten heimliche Blicke, während Elias so tat, als würde er diese nicht bemerken. Stattdessen starrte er weiter auf den Screen. Sie hatten nicht nur das Gespräch, sondern auch sein Gesicht manipuliert: die Narbe leuchtete wie ein Feuermal und seine Pupillen hatten einen bizarren rötlichen Schimmer. Zudem klang seine Stimme tiefer als sonst. Als ob mein Anblick auch so nicht schon abstoßend genug wäre, dachte er wütend.

„Bleiben Sie doch stehen! Eine letzte Frage noch.“

„Verpissen Sie sich!“

„Hey, was tun Sie da? Fassen Sie die Übertragungseinheit nicht an!“

„Sehen Sie zu, dass Sie … besser gesagt, Ihr Hologramm Land gewinnt.“

„Ich werde mich beim Polizeipräfekten beschweren, Kosloff!“

„Drehen Sie lieber über diesen Abschaum einen Bericht. Das wäre sinnvoller. Und jetzt hauen Sie ab!“

Elias platzte der Kragen. „Verflucht noch mal“, rief er erbost. Seine raue Stimme klang schneidend. „Das habe ich so nie gesagt!“

„Uns machst du nichts vor“, scherzte einer der umstehenden Officers. „Es ist doch allgemein bekannt, was du und der Polizeipräfekt für gute Kumpels sind!“ Erneut brandete Gelächter auf.

Bevor Elias antworten konnte, knarrte es in seinem InterCom, dem allgegenwärtigen Knopf im Ohr. „Senior Detective Kosloff, kommen Sie unverzüglich in mein Büro.“

Der hoch gewachsene Cop ballte innerlich die Fäuste. Das gibt Ärger.

Auf dem Weg zum Head Office sah Elias schon von Weitem, dass sich seine Partnerin, Louann Marino, bereits dort eingefunden hatte. Sie saß mit dem Rücken zu ihm, die langen dunklen Haare waren, untypisch für sie, zu einem einfachen Zopf zusammengebunden. Er stellte sich vor, wie sie die Beine im dunkelgrauen Overall parallel nebeneinander hielt, die ernsten braunen Augen auf den Mann vor sich gerichtet, und musste unwillkürlich lächeln. Der sorglose Moment verschwand allerdings so schnell, wie er gekommen war, als er an den Bericht dachte, der über GCS verbreitet wurde. Wie würde Marino darauf reagieren? Zögernd trat er durch die Tür des gläsernen Office.

Der Mann hinter dem Schreibtisch schaute von seinen Unterlagen auf und wies Elias an, neben seiner Partnerin Platz zu nehmen. Fox Sternheim hatte ein etwas eingefallenes Gesicht, das von klaren blauen Augen beherrscht wurde. Er war nicht sehr groß, dafür aber drahtig und robust. Wie es bei kleineren Menschen oft der Fall war, hielt er sich betont gerade.

Elias beschloss, in die Offensive zu gehen. „Chef, wenn es um diesen YIN-Bericht geht, muss ich Ihnen sagen …“

„Darum geht es nicht“, schnitt ihm Sternheim das Wort ab. „Ich bin nicht von gestern, Senior Detective. Ich weiß, wie die Medienmeute vorgeht. Trotzdem hatte ich heute Morgen bereits eine unangenehme Unterhaltung mit dem Polizeipräfekten.“ Ein strenger Ausdruck trat in Sternheims blaue Augen. „Ihr Glück, dass er kein Fan von Zahara Sun ist. Trotzdem: Meiden Sie bitte in Zukunft diese Art von Publicity.“

Hab ich mir das vielleicht ausgesucht?, dachte Elias gereizt und sah verstohlen zu Louann, die seinen Blick aus dem Augenwinkel auffing. Eine leichte Röte überzog ihre Wangen und Elias’ Laune hob sich augenblicklich. Grinsend schlug er die Beine übereinander, bevor er sich wieder seinem Vorgesetzten zuwandte.

„Mir wurde zugetragen, dass sich ein mutmaßlicher Mörder in Hanseapolis aufhält“, begann Sternheim.

„Was? Nur einer?“, warf Elias ein.

Ein verärgerter Blick traf ihn. „Der Delinquent heißt Aldo Farouche und wird verdächtigt, in CupolaV einen Mann ermordet zu haben. Die Betreiber von CupolaV und die örtlichen Sicherheitskräfte haben uns gebeten, ihn zu finden und auszuliefern.“

„Was wissen wir über ihn?“, fragte Louann geschäftig nach.

„Er ist registriertes Föderationsmitglied und berufsmäßiger Dieb. Alle Infos liegen auf dem Zentralserver. Ich erwarte schnelle Ergebnisse. Ach, und Kosloff …“

„Ja?“

„Es ist ausdrücklich gewünscht, dass wir unauffällig vorgehen.“ Sternheims Stimme hatte an Schärfe gewonnen.

Wider Erwarten war es Louann, die antwortete. „Tun wir das nicht immer?“ Sie schaute in die Runde und lächelte.

„Also gut. Was haben wir hier?“, murmelte Elias.

Er saß gemeinsam mit Louann in der Kommandozentrale ihres MECs und starrte auf die Infos, die im Sekundentakt auf den Screens aufpoppten.

Info Break

Das MEC – Mobiles Einsatz Center der Polizei –ist ein gepanzerter Polizeigleiter, der als Streife, Office und Verhörraum dient. Die Ordnungshüter verbringen hier neunzig Prozent ihrer Dienstzeit., in der Regel paarweise. Die 5er Serie ist mit zwei High Energy Lasern, einem Mikro-wellen-Werfer –im polizeilichen Sprachgebrauch zur „nicht tödlichen Unterbindung von Störern“ – Multifunktionskonsolen und Screens, tragbaren CS/X-Geräten zur Tatortanalyse und einem Erste-Hilfe-Robot ausgestattet.

Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN

Das gelb gehaltene Interieur war in vier Einheiten aufgeteilt. Im spitzen Teil befand sich die Kommandozentrale mit den Konsolen, den Screens und zwei bequemen Sesseln, in denen es sich Elias und Louann gemütlich gemacht hatten. In der Mitte erhob sich ein dreidimensionales Map-Board zur Ansicht von Gebäude- und Lageplänen. Weil es zuweilen vorkam, dass Cops zweiundsiebzig Stunden und länger Streifendienst machen mussten, stand im rechten Flügel eine Sleeping Box, die den Nutzer in einen künstlichen Schlaf versetzte. Der Sarg, wie der silberne Sarkophag auch genannt wurde, ersetzte zwar keinen achtstündigen Schlaf im eigenen Bett, doch die künstliche Induktion der REM-Phase, der Tiefschlafphase, brachte kurzfristige Erholung. Hinter dem Verhörraum links im MEC befand sich die Waffenkammer.

„Ein Video-Stream …“, meinte Elias plötzlich. „Interessant.“

Louann runzelte die Stirn. „Ich dachte immer, CupolaV wäre überwachungsfrei.“

„Anscheinend nicht.“

„Das ist ’ne echte Sauerei, ehrlich! Die werben doch damit, dass die Privatsphäre ihrer Gäste unter allen Umständen gewahrt bleibt.“

„Tja.“ Elias zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Die halten ihre Kugel gern sauber. Wer will ihnen das verdenken?“

„Hmm … Ist das der Tatort?“

„Sieht nicht so aus. Da es der einzige Stream ist, gibt es offenbar von der Tat selbst keine Aufzeichnung. Wahrscheinlich befand sich der Tatort außerhalb der Reichweite der NanoCams. Das hier ist der Moment, wo sich unser Verdächtiger der Leiche entledigt.“

Auf dem Stream sah man, wie ein zierlicher Mann mit Pestmaske sichtlich angestrengt einen schweren Körper über die Pflastersteine zog. Die nebelverhangene Szenerie quälender Langsamkeit wirkte surreal. Während der maskierte Kopf des Opfers über den Boden holperte, hielt der mutmaßliche Täter immer wieder inne – unter der grotesken Nase entwich stoßweise der Atem –, um die Leiche dann unter größter Mühe weiter in Richtung Kanal zu schleifen. Nach einigen Minuten, die Louann wie eine Ewigkeit vorkamen, gelang es der Pestmaske endlich, den anderen über die Mole ins Hydropurit zu rollen.

Befreit atmete sie auf. „Besitzt das Überwachungssystem denn keinen Gefahrenmelder? Zum Beispiel, wenn jemand aus Versehen in den Kanal fällt?“, fragte sie. Ihre Stimme klang belegt.

„Keine Ahnung. Vielleicht gehört ein Bad im Hydropurit in CupolaV zum süßen Leben dazu. Jedenfalls hat das unserem Täter einen halben Tag Vorsprung verschafft.“

„Mutmaßlichen Täter. Woher wissen wir, dass der Mann mit der Pestmaske Aldo Farouche ist?“

„Die Auswertung des Video-Streams bezüglich der Größe des Mannes, des geschätzten Gewichts, der Bewegungsabfolge und der Entourage des Opfers hat 95 Prozent Matches ergeben.“

„Dann scheint die Sache ja klar zu sein“, murmelte Louann und strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. „Wie sieht er eigentlich unter der Pestmaske aus?“

Elias tat ihr den Gefallen. „Fahndungsfoto Aldo Farouche“, befahl er. Prompt erschien selbiges auf dem Screen.

„Ach, herrje!“, entfuhr es Louann. „Der arme Kerl wurde nicht gerade mit Schönheit gesegnet.“

Elias brummte nur und Louann fluchte innerlich angesichts ihrer Taktlosigkeit. In der Absicht von ihrer Äußerung abzulenken, stürzte sie sich auf die vorliegenden Informationen und las diese laut vor. Aldo Farouche war Jahrgang 2033, wie sie selbst auch, was sie irgendwie rührte. Er war nördlich von Grand Paris aufgewachsen, in einer berüchtigten Banlieue, deren Name von gesetzestreuen Bürgern nur im Flüsterton genannt wurde. Seine Kindheit muss schrecklich gewesen sein, dachte Louann in einem plötzlichen Anfall von Mitleid. Beim Vocationtest zweiter Klasse, dem sich jedes Föderationsmitglied im jugendlichen Alter unterziehen musste, um Fähigkeiten und soziale Kompatibilität zu ergründen, hatte Farouche katastrophal abgeschnitten. Ein Jahr später hatte er die Chance bekommen, den Test zu wiederholen, doch auch diesmal war das zufriedenstellende Resultat ausgeblieben. In solchen Härtefällen wurde der Betreffende gewöhnlich für den Dienst am Gemeinwohl rekrutiert. Doch bevor man Farouche im Alter von vierzehn Jahren zu den Tantal-Minen nach Zentralafrika in die Lehre hatte schicken können, war er ausgebüchst. Einige Jahre gelang es ihm, unentdeckt zu bleiben, bis er 2051 wegen Diebstahls verhaftet und zu drei Jahren Korrekturhaft verurteilt wurde. Wieder konnte er fliehen. Seither war er vollends von der Bildfläche verschwunden.

„Er hat dazugelernt“, kommentierte Elias trocken, während Louann Farouches letzte Aufnahme aus dem Jahre 2051 musterte. Unter kurzen rötlich braunen Haaren, die sich für keine Richtung entscheiden wollten, blickte ihr ein schmales Gesicht entgegen: mit Knopfaugen, die ungewöhnlich weit auseinanderstanden, und einem etwas zu groß geratenen Mund, um den ein gequälter Zug lag. Hier war eindeutig kein Geld für Verschönerungen vorhanden gewesen.

„Etwas dürftig“, äußerte Elias.

„Was?“ Irritiert löste Louann ihren Blick vom Screen.

„Die Akte“, murrte er. „Keine sichtbaren familiären Stränge, keine Freunde. Wie zum Teufel sollen wir diesen Freak finden?“

„Sag das nicht!“

„Was soll ich nicht sagen?“

„Freak. Das ist nicht … nett.“ Louanns vorwurfsvoller Blick traf Elias’ volle Breitseite. Sie holte zu einer weiteren Erklärung aus. „Du weißt doch selbst …“

„Schon gut!“, unterbrach er sie ein wenig forsch. „Ich hab’s kapiert.“

Beide schwiegen, dann nahm Louann die Unterhaltung wieder auf, als wäre nichts gewesen. „Der Vocationtest könnte Anhaltspunkte liefern. Der gibt gewöhnlich ein klares Bild ab.“

„Ja, von einem Heranwachsenden in der Pubertät.“ Elias schnaubte. „Sehr aufschlussreich!“

„Du hältst wohl nicht viel von dem Test?“

„Ein fauler Zauber der Föderation, um aufkeimende Individualität in eine gesellschaftskonforme Schablone zu pressen.“

„Findest du nicht, dass es ein sinnvolles Instrument zur Förderung von Talenten und Entfaltung unterdrückter Persönlichkeiten ist?“

„Nein, tue ich nicht“, presste Elias hervor. „Erspar mir bitte dieses propagandistische Gesülze, Marino.“

Das war deutlich und Louann verkniff sich eine Antwort.

„Ich bin froh, dass dieser Test erst eingeführt wurde, als ich schon zu alt dafür war“, sprach Elias weiter. Seine vernarbte Augenbraue hob sich kurz. „Ich bin sicher, du hast bei dem Test zufriedenstellend abgeschnitten.“

„Man hat mir eine hohe soziale Verträglichkeit attestiert“, erwiderte Louann leise. „Ich sei einsichtig, anpassungsfähig, hilfsbereit … lauter solche Sachen eben.“ Unangenehm berührt schaute sie auf ihre Hände.

„Das perfekte Föderationsmitglied.“

In Louanns Ohren klangen Elias’ Worte höhnisch und sie blickte stirnrunzelnd zu ihm herüber, doch zu ihrer Überraschung umspielte ein leises Lächeln seinen Mund. Dann wurde sein Gesichtsausdruck unvermittelt wieder ernst.

„Na gut, von mir aus“, sagte er. „Lass uns den Vocationtest dieses Kerls etwas genauer unter die Lupe nehmen.“

Der Vid-Report vom 5. Juli 2046 enthüllte das Bild eines viel zu dünnen Jungen, der leicht stotterte und dessen gehetzter Blick nie ruhte. Farouche war ein durchschnittlich intelligentes Kind gewesen, introvertiert und bindungsschwach, das einem „Domizil mit psycho-sozialen Auffälligkeiten“ entstammte, so die amtliche Bezeichnung für Vernachlässigung und Verwahrlosung eines Kindes. Seine Antworten waren vage, manchmal zurückweisend oder sogar aggressiv. Louann seufzte hörbar.

Elias, der sich Notizen machte, schaute auf. „Was ist denn nun wieder?“

„Er wirkt so traurig“, war die dumpfe Antwort.

Nun war es an Elias zu seufzen. „Louann, hör auf, dir jede verkrachte Existenz zu Herzen zu nehmen. In unserem Job werden dir solche Typen tagtäglich begegnen“, sprach er eindringlich auf sie ein. „Wenn du das nicht lässt, wirst du kaputt gehen.“

„Wie schaffst du das nur? Du bist doch nicht aus Stein oder doch?“

„Jahrelange Übung“, antwortete er betont lässig. „Also, was wissen wir über diesen Kerl?“

Louann holte tief Luft. „Farouche war schon früh auf sich gestellt“, berichtete sie mit leicht zittriger Stimme. „Ihm wurden eine scharfe Beobachtungsgabe und geschickte Hände attestiert. Schon mit neun Jahren wurde er straffällig … Er hielt sich mit Diebstählen über Wasser.“ Was für eine Verschwendung von Talent, dachte sie. „Dabei ist er wohl geblieben.“

„Beim Vocationtest erreichte er gerade mal ein Zehntel der möglichen Punktzahl“, las Elias vom Screen ab. „Unangepasstes Sozialverhalten und seine Unsicherheit im Umgang mit anderen haben die staatlichen Prüfer nicht gerade in Begeisterung versetzt. Hier steht, dass diese Unsicherheit bei ihm schnell in Niedertracht umschlagen konnte, dennoch nie in körperliche Gewalt.“

Louann runzelte die Stirn. „Und der soll ein Mörder sein?“, äußerte sie laut ihre Bedenken.

„Menschen können sich ändern“, lautete Elias’ knapper Kommentar.

„Aber in seinem psychologischen Profil steht …“

„Ach, komm, Marino! Jeder Mensch wird Gewalt anwenden, wenn er lange genug drangsaliert wird.“ Er lehnte sich weiter vor. „Das hier ist allerdings interessant.“

„Was?“ Louann wandte sich ihm zu, verärgert, dass er ihr wieder einmal in die Parade gefahren war. Diese Eigenart an ihm ging ihr gehörig auf den Nerv und sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihm mal wieder ins Gesicht springen würde.

„Unser Fr… der Gesuchte leidet unter Akrophobie“, fuhr Elias fort.

„Höhenangst?“

„Ja. Früher litten viele Menschen darunter. Die Krankheit wurde genetisch weitgehend ausgemerzt. Bis auf einige Ausnahmen …“

„Was für Ausnahmen?“

„In den 30er Jahren wurden die Bewohner in den Banlieues um Grand Paris bewusst mit dieser Art von Phobie infiziert. Und zwar durch ihren eigenen Stadtrat. Die Menschen dachten, sie bekämen eine kostenlose Schutzimpfung gegen die ultraviolette Strahlung, stattdessen bekamen sie einen Virus verpasst, der direkt ins Gehirn gewandert ist.“

„Du scherzt wohl!“ Ungläubig schüttelte Louann den Kopf.

„Leider nein. Man wollte sicher gehen, dass die Menschen am Boden unter sich bleiben und nicht auf die dumme Idee kamen, nach Höherem zu streben.“ Er stieß ein bitteres Lachen aus angesichts der Doppeldeutigkeit seiner Aussage.

„Und das hat funktioniert?“

„Nun ja, einige Ausreißer wird es sicher gegeben haben.“

„Wie Aldo Farouche?“

„Glaube ich nicht, wenn man bedenkt, wo er die letzten Jahre verbracht hat.“

„Stimmt: CupolaV befindet sich sogar einige Meter unter dem Meeresspiegel“, erwiderte Louann und lehnte sich entspannt zurück. Die Massagesensoren in ihrem Sessel setzten sich automatisch in Gang und sie verkniff sich in letzter Sekunde ein genussvolles Stöhnen. „Was also heißen würde, dass wir Farouche zuerst auf der Null-Ebene suchen sollten.“

„Ja.“ Elias rieb sich geistesabwesend über die Onyx-Plättchen auf seiner linken Hand. Noch vor sechs Monaten hatte die schwarze Schlange Louann eine Heidenangst eingejagt, inzwischen hatte sie sich an den Anblick gewöhnt.

„Also gut“, überlegte sie laut. „Das Fahndungshologramm mit Alterungsmodifikation liegt zwar auf dem Hauptserver inklusive aller Abwandlungsvarianten, dennoch sollten wir eine separate Nachricht an die diensthabenden MECs versenden sowie an die offiziellen und nicht-offiziellen Stellen der Verwaltungsbehörden und der Inneren Sicherheit mit der Bitte um Unterstützung, Dringlichkeitsstufe Drei.“

Elias schenkte ihr einen anerkennenden Blick. „So machen wir’s.“

Während Louann die entsprechenden Eingaben machte, kam ihr ein Gedanke. „Woher weißt du das mit den Banlieues? Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stadtrat eine Rundmail geschickt hat, nach dem Motto: Wir haben dem Mob die Flügel gestutzt.“

„Von Nes.“

„Deinem Freund bei der Inneren?“

„Genau dem.“

„Wann stellst du ihn mir denn mal vor?“

Elias stellte sich dumm. „Wen?“

„Nes! Ich würde ihn gern endlich kennenlernen“, kam es wie aus der Pistole geschossen. Louann wusste, dass dieser für seinen hohen Frauenverschleiß berüchtigt war.

Elias’ Gesichtsausdruck sprach Bände. „Warum sollte ich das tun?“

„Immerhin hattest du das Vergnügen, an meiner besten Freundin eine tiefgehende … äh … Analyse vorzunehmen, während ich im künstlichen Koma lag. Hab ich jedenfalls gehört.“

Elias, dem natürlich klar war, worauf seine Partnerin anspielte – nämlich seine Bettakrobatik mit der rothaarigen Selena vor vier Monaten –, erwiderte nichts. Ihm war die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, sichtlich unangenehm.

„Das wäre nur gerecht“, insistierte Louann und setzte noch einmal nach. „Außerdem ist Raoul momentan ausgebucht.“ Raoul war Louanns bevorzugtes City Toy, ein gekaufter Liebhaber mit staatlicher Lizenz und großer Zungenfertigkeit.

Elias knurrte. „Können wir jetzt wieder auf den Fall zurückkommen?“

„Natürlich“, flötete Louann, die sich an Elias’ Verlegenheit weidete. Das, mein lieber Freund, geschieht dir ganz recht, frohlockte sie innerlich. Es wird dir eine Lehre sein, meine beste Freundin zu nageln!

4

Largo

Die Hoffnungslosigkeit, die in den Straßen aus jedem Riss hervorkroch, überzog die langen Schlangen vor den Armenküchen wie eine tödliche Krankheit und setzte sich in den Augen der Ausharrenden fest. Aldo Farouche zog den Kopf ein, vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und ging einen Schritt schneller. Ihm kam es so vor, als würden ihn die Häuserreihen mit ihren vernagelten Fenstern tumb anglotzen. Er hatte so lange in CupolaV gelebt, dass er das Elend in den unteren Levels der europäischen Megacitys fast vollständig aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Bis jetzt. In den Straßen wimmelte es vor Menschen; einige drückten sich grüppchenweise in den offenen Bäuchen verlassener Einkaufspassagen herum, saßen auf den verrotteten Rolltreppen und flüsterten miteinander. Hier und da stieg ein dünner weißer Schwaden auf, wenn ein kostbarer Tabacco-Stick die Runde machte.

Nach unten starrend vermied Aldo jeglichen Blickkontakt. Die Atemmaske auf seinem Gesicht und das Augenprotektionsgel, das jeder Neuankömmling am Transkontinental Airport von Hanseapolis kostenfrei ausgehändigt bekam, fühlten sich ungewohnt an. Die ersten Minuten hatte er geglaubt zu ersticken und seine Augen hatten unaufhörlich getränt. Ihm war jedoch nichts anderes übrig geblieben, als sich damit abzufinden, denn auf der Null-Ebene von Hanseapolis war der Gehalt an Stickoxiden und Schwermetallen gefährlich hoch. Wer es sich leisten konnte, lebte oberhalb von Level 15. Um das Erstickungsgefühl am Boden perfekt zu machen, staute sich die trockene Luft in den Straßen, was Aldo ebenso zusetzte wie das gleißende Sonnenlicht, das sich durch seine Gesichtshaut zu fressen schien. Nur wenn der Wind aufkam und zwischen die Häuserschluchten fegte, schienen die Menschen aufzuatmen, auch wenn der aufgewirbelte Staub die Schmutzschicht auf Haar und Kleidung lediglich um eine weitere Maserung bereicherte.

Zwischen den Towern, die bis zum Mond zu wachsen schienen, waren gigantische GCS-Screens gespannt, die ihre bunten Bilder aus aller Welt rund um die Uhr sendeten.

Info Break

Es ist empirisch erwiesen, dass auf der Null-Ebene der europäischen Megacitys die Bevölkerungszahl im direkten Umfeld der GCS-Screens sprunghaft ansteigt und damit auch die Verbrechensrate. Für die Bewohner ist die Global Communication Sphere oft die einzige Zerstreuung und so nehmen die meisten das erhöhte Risiko gleichmütig in Kauf.

Quelle: Yahoogle Investigation Network YIN

Aldo, den die News im Sekundentakt, die Geschichtchen und Skandale nur bedingt interessierten, hatte sich für eine Bleibe abseits vom Rummel entschieden. Für ihn war Hanseapolis lediglich eine Zwischenstation. Sein eigentliches Ziel war die Strait of Dover, ein rechtsfreier Raum im Herzen der Europäischen Föderation, wo jedem Asyl gewährt wurde, der über ausreichende finanzielle Mittel verfügte. Big Spender profitierten sogar vom Bonus einer diskreten Überführung – inklusive Edelnutten und Champagner.

Vor seinem übereilten Aufbruch aus CupolaV hatte Aldo fünf wertvolle Stücke aus seinem Diebesgut in eine Tasche mit illegaler Capsule-Technologie gesteckt, die oberflächliches Scanning, wie es auf den föderativen Airports üblich war, in die Irre führte. Das hauchdünne Metallgeflecht im Futteral absorbierte die Scanner-Energie und wandelte sie in Wärmenergie um. Diese Energie wiederum setzte ein Bild hinter dem Geflecht frei, das ein falsches Echo zurückwarf. Statt eines MiniCubes mit pikanten Details aus dem Privatleben eines Admirals a.D., einer Gebetskette mit dreißig Kristallen, einem alten, voll funktionstüchtigen iPad5 und einem osmanischen Schwert mit saphirbesetztem Griff hatten die Sicherheitssysteme in Terra Venezia und Hanseapolis lediglich sauber verpackte Kleidungsstücke sowie ein paar Schuhe ausgemacht. Die Controller an den Checkpoints vertrauten der Technik blind. Gut für ihn. Seine übrigen Schätze lagen sicher versteckt im ehemaligen Fondaco dei Tedeschi am Canale Grande und er hoffte darauf, sie eines Tages zu bergen.

Obgleich er erstklassige Ware im Gepäck hatte, würde es für ihn nicht einfach werden, in Hanseapolis einen vertrauenswürdigen Käufer zu finden. Er besaß in der hiesigen Szene keine Kontakte. Bis er sich ein eigenes Netzwerk aufgebaut hatte, würde er sich als Auftragsdieb verdingen müssen. Mochte die Konkurrenz noch so groß sein, er war überzeugt, dass es ihm nicht an Jobs mangeln würde, war er doch in seinem Metier sehr bewandert. Die Geldkarte für sein Singapurer Konto trug er immer bei sich, und obwohl sie auf eine Scheinidentität ausgestellt war, wagte er es nicht, Transaktionen von über hundert Eurodollar zu tätigen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen.

Zum Glück bescherte ihm sein Können bereits am ersten Tag eine menschenwürdige Bleibe im Distrikt Bergedorf. Sie war klein und besaß den Charme einer Einzelzelle, hatte jedoch den großen Vorteil in einer Straße zu liegen, die von der Sonne niemals beschienen wurde. Was ein Segen war, denn die Jahresdurchschnittstemperatur in Hanseapolis betrug 37,5 °C. Und teure Thermotrop-Technologie – gezielte Verschattung von transparenten Polymer-Fenstern, die durch Temperaturanstieg hervorgerufen wurde – suchte man auf den unteren Levels vergebens. Aldos Vermieter war ein Finne namens Paavo Laine, der nur einen Steinwurf entfernt ein 24/7-Resto im unteren Sockel einer Skybridge betrieb. Aldo hatte sich dort lediglich einen Schluck Hot Beer genehmigen wollen, um den staubigen Geschmack des Elends aus seiner Kehle zu spülen, als ihm der Wirt sein Leid geklagt hatte. Der schärfste Konkurrent des gesprächigen Finnen, ein Asiat aus dem Östlichen Bund, dessen Geschäft sich ein Level höher befand, hatte seit einigen Wochen ein Gericht auf seiner Holo-Karte, das die Leute süchtig zu machen schien. Was zur Folge hatte, dass Paavo die Kundschaft in Scharen davongelaufen war. Zunächst hatte Aldo den Wortschwall schweigend über sich ergehen lassen, dann aber seine Chance gewittert. Noch in der gleichen Nacht hatte er das Wunderrezept für Paavo „sichergestellt“. Bei einer anschließenden chemischen Analyse zeigte sich, dass der Asiat seine Speisen mit einem verbotenen Euphorikum versetzte. Daraufhin war es zwischen den beiden Konkurrenten zu einem heftigen Wortwechsel gekommen, bei dem Paavo der Quittenfresse gedroht hatte, besorgte Verfechter des Reinheitsgebots vorbeizuschicken. Seitdem war die Welt am Fuß der Skybridge wieder im Lot und Aldo nicht mehr ohne Obdach.

Jetzt saß er in seinem Mini-Apartment, einer mintgrünen Röhre mit schmalem Bett, Stahlschrank und Nasszelle, und starrte auf den Kunststoffboden, da wo er die Capsule-Tasche samt Inhalt unter den Platten versteckt hatte. Vor seinen unsteten Augen spielte sich der Mord an Pantalone immer wieder ab. Warum ist er auf mich losgegangen?, fragte er sich zum wiederholten Male. Beide hatten seit Jahren Geschäfte gemacht, ohne dass es irgendwelche Probleme gegeben hätte. Doch diesmal war alles anders verlaufen. Kaum hatte Aldo den kleinen Laden betreten, hatte Pantalone ihn angebrüllt.

„Du hinterfotzige Ratte! Ich hätte es wissen müssen!“

Bevor Aldo hatte nachfragen können, hatte der andere schon einen Laser gezogen. Ohne nachzudenken, hatte sich Aldo den nächstbesten Gegenstand gekrallt und seinem Angreifer damit eins übergezogen. Schnelligkeit war eine seiner Stärken. Zu seinem Leidwesen war der ergriffene Gegenstand ein schwerer Kerzenleuchter gewesen, der Pantalones Schädel hatte aufplatzen lassen wie eine Melone.

„Das Leben ist wie Wüstensand, ständig in Bewegung und völlig unberechenbar.“ Die letzten Worte seines Vaters, bevor ihn dieser aus dem Haus geworfen hatte, klangen Aldo noch deutlich in den Ohren; so deutlich, als sei es erst gestern und nicht einen Tag vor seinem elften Geburtstag gewesen. Er seufzte. Ausnahmsweise hatte dieser Hurensohn etwas Wahres gesagt. In CupolaV hatte er sich ein gutes Leben aufgebaut, auch wenn er vom Erlös seiner meist kostbaren Ausbeute einiges hatte abzweigen müssen, um habgierige Gesellen wie die Supervisors von Glob4Kic! zu schmieren. Dennoch war er zufrieden gewesen, endlich seinen Platz gefunden zu haben. Aldo fröstelte. Die ungewisse Zukunft jagte ihm eine Heidenangst ein – und hinter einer Maske verstecken konnte er sich jetzt auch nicht mehr.

„Rufus, Kumppani! Was möchtest du essen?“

Der tiefe Bass des Wirtes dröhnte durch den gesamten Raum, als der Koloss mit einer weit ausholenden Geste und einem breiten Grinsen seinen neuen Gast heranwinkte. Das 24/7-Resto Paavos Galaxie war nur zu einem Drittel gefüllt und so steuerte Aldo, der sich neuerdings Rufus nannte, einen Platz direkt neben der Essenstheke an, wo sein breitschultriger Vermieter gut gelaunt mit diversen Gerichten hantierte.

Aldo begrüßte den Finnen mit einem dünnen Lächeln. Der Hüne mit seiner lauten Herzlichkeit bereitete ihm Unbehagen. Nicht, dass Aldo ihm in irgendeiner Weise misstraut hätte, doch für jemanden wie ihn, der seine Mitmenschen auf Abstand hielt, war der glatzköpfige Mann mit der gewaltigen Körpermasse entschieden zu präsent. Trotzdem ließ er sich ab und zu in dessen Resto sehen. Zum einen fühlte er sich Paavo gegenüber verpflichtet, zum anderen war das Essen hier genießbar – eine Riesenleistung, wenn man bedachte, dass die Lebensmittelversorgung auf der Null-Ebene katastrophal war. Außerdem musste er anerkennen, dass Paavo mit viel Fantasie und wenig Budget das triste Sockelinnere der Skybridge in ein wahres Schmuckstück verwandelt hatte. Decke und Betonwände waren mit winzigen Metallspänen verkleidet, die in allen Richtungen abstanden; dazwischen steckten Leuchtdioden, deren Lichter sich tausenfach im Metall brachen und den kreisförmigen Raum in ein Farbenmeer tauchten. Um die schwarz gehaltene Theke herum waren spiralförmig Gästenischen angeordnet, die entfernt an kleine Monde erinnerten. Die Wirkung war erstaunlich: als säße man in einem kosmischen Nebel, der um ein schwarzes Loch rotierte.