Von Möpsen und Rosinen - Miriam Pharo - E-Book

Von Möpsen und Rosinen E-Book

Miriam Pharo

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Beschreibung

Lucio Verdict hat alles verloren: seinen Job als Spion, seine Glaubwürdigkeit und seine Geliebte Kaori. Mit etwas Geld, zwei Koffern und Kaoris kleinem Sohn Shou strandet er im Münchner Umland des Jahres 2066, wo die Gesichter der Hundertjährigen so glatt sind wie Alabaster und bewaffnete Blumenmädchen für die Sicherheit sorgen. Bei seinen Ermittlungen bekommt es der frischgebackene Privatdetektiv unter anderem mit einem explosiven Mops, einer tollwütigen Oma und einer Rosine im Trenchcoat zu tun. Und er trifft eine alte Freundin wieder, die nicht vor Mord zurück schreckt … Enthält die Episoden "Jimmy der Mops", "Frikassee zum Frühstück", "Trouble in the Bubble", "Doktor Wo" und "Ratte im Schlafrock".

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Seitenzahl: 277

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Ähnliche


Miriam Pharo

Von Möpsen und Rosinen

Inhaltsverzeichnis

Titel

Impressum

Widmung

Jimmy der Mops

Frikassee zum Frühstück

Trouble in the Bubble

Doktor Wo

Ratte im Schlafrock

Glossar

Danksagung

Sektion 3/ Hanseapolis-Romane

Sektion 3 / Hanseapolis Band 1: Schlangenfutter (Leseprobe)

Kurzgeschichten

Impressum

Impressum neobooks

Impressum

Pharo, Miriam: ISAR 2066 – Von Möpsen und Rosinen

Originalausgabe

Cover Design by James, GoOnWrite.com

Korrektorat: Astrid Ann Jabusch

© Miriam Pharo, München 2013

Alle Rechte vorbehalten

http://www.miriam-pharo.com

ISBN-13 der Paperbackausgabe: 978-1492274100

Widmung

FÜR DIE LIEBE MEINES LEBENS

Jimmy der Mops

1. Ein Schmiss im Antlitz

„Oaschloch!“ Als Jimmy der Mops mein Büro entert, bin ich gerade dabei, die letzte Kiste auszupacken. Den blank polierten, schwarzen Schreibtisch zieren bereits eine polyforme Lichtskulptur und ein Hacker-Tablet. An den unsichtbaren Halterungen rundum reiht sich MiniCube an MiniCube – noch sind die Datenspeicher leer – und neben der Eingangstür hängt ein Panel mit den Hologrammen der am höchsten dotierten Verbrecher der Europäischen Föderation. Mit etwas Glück kreuzt einer dieser grimmig aussehenden Jackpots schon bald meinen Weg. Das Bullauge hinter dem Schreibtisch bietet freie Sicht auf die gelb verhangenen Berggipfel, vorausgesetzt eine Expressbahn jagt nicht gerade lautlos vorbei, was exakt alle sechsundsiebzig Sekunden geschieht.

In der Regel bedarf es einigem, um mich zu verblüffen. Jimmy gelingt das auf Anhieb. Wie ein Poller steht er mitten im Raum, klein und gedrungen, die Hände in die Seiten gestützt. Sein Gesicht ist mit roten Flecken übersät und er scheint kurz vor der Explosion zu stehen.

„So a bleeds Oaschloch!“, bellt er noch einmal für den Fall, dass ich schwerhörig bin. Als ich immer noch nicht reagiere, seufzt er hörbar. „Ich will wissen, welcher Mistkerl das getan hat!“ Bei diesen Worten reißt er sein Hemd auf und zeigt auf seinen Solarplexus, in dem ein fünf Zentimeter langer Bolzen steckt. „Das ist doch Ihr Job oder?“, brüllt er weiter.

Ich nicke und versuche das Klingeln in meinen Ohren zu ignorieren.

„Gut!“ Er wirkt erleichtert. „Ich kann Ihnen nur fünfhundert zahlen!“

Ich verziehe keine Miene. Die Monatsmiete für das Büro allein beträgt zweitausend Eurodollar, obwohl es sich im wenig glamourösen Außengürtel der Biosphäre befindet. Andererseits ist der Poller mein erster Klient. Sollte ich die Sache also nicht vermasseln, und das werde ich nicht, könnte das weitere Aufträge nach sich ziehen.

„Tut es weh?“, frage ich und zeige auf den Bolzen.

„Ja, Zefix!“

„Wie ist das passiert? Und könnten Sie bitte etwas leiser reden, sonst steht gleich die Security auf der Matte.“

„Geht nicht!“ Seine Augen drohen aus ihren Höhlen zu fallen. „Rede ich mit normaler Stimme oder versuche den Bolzen zu entfernen, detoniert das Teil!“

Unwillkürlich trete ich einen Schritt zurück. „Sie machen Witze.“

„Sehe ich vielleicht so aus?!“

„Werden Sie erpresst?“

„Nein! Keine Ahnung, was die Schweinerei soll! Heute Morgen bin ich mit diesem Ding da aufgewacht und daneben lag ein handgeschriebener Zettel!“

„Handgeschrieben?“ Das ist ungewöhnlich. „Haben Sie ihn dabei?“

Wortlos fischt er einen durchsichtigen Beutel mit einem Zettel aus der Tasche und reicht ihn mir. Ein umsichtiger Mitbürger. Ich werfe einen kurzen Blick darauf, dann lege ich ihn zur Seite. Ich werde ihn mir später genauer anschauen.

„Also, was is?“, reißt mich mein Gegenüber aus meinen Gedanken. „Helfen Sie mir oder nicht?“

„Ich tue es.“ Zwar fällt mein Lächeln angesichts des mickrigen Honorars etwas dünn aus, dennoch kann ich nicht verhehlen, dass der Fall einen gewissen Reiz birgt – auch wenn er mir samt Klient jede Sekunde um die Ohren fliegen könnte.

Ich bitte meinen Gast im Besuchersessel Platz zu nehmen und während sich das Wall-Flax seiner Körperform anpasst, nehme ich ihn in Augenschein. Er ist schätzungsweise zwischen fünfzig und sechzig – ziemlich jung für die Biosphäre – mit gegeltem Haar, Augen in der Farbe eines qualmenden Kamins und Pranken wie ein Boxer. Er ist nachlässig gekleidet, Hose und Hemd passen nicht zusammen, und weder trägt er Handschuhe noch Weste. Ein Wunder, dass er nicht von der Straße weg verhaftet wurde. Die geringste Abweichung der Norm wie das Nichttragen modischer Retrofits – Einglas oder Halstuch bei Männern, brodiertes Taschentuch oder Spitzenfichu bei Frauen, um die knitterigen Schultern zu verdecken – sorgt gewöhnlich für Unmut. Eine für mich entscheidende Erkenntnis. So glänzen meine Schaftstiefel mustergültig mit dem Schreibtisch um die Wette, Hose und Seidenweste lassen jeden Sonnenuntergang blass aussehen, die taillierte Jacke sitzt tadellos.

„Mein Name ist Jimmy Marquard! Ich bin der hiesige Coiffeur!“

Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch. Coiffeur? Auf mich wirkt er wie ein Totschläger. Ein flüchtiger Gedanke würde ausreichen, um einen direkten Kanal zur GCS, der globalen Plattform für Kommunikation, Information, Business und Entertainment, zu öffnen und sein Profil aufzurufen, doch für den Moment bleibt der Neurokommunikator in meiner Hornhaut deaktiviert und ich genieße die seltene Waffenruhe zwischen mir und dem Rest der Welt.

„Angenehm. Ich bin Lucio Verdict.“

„Ich weiß! Sonst wäre ich ja wohl nicht hier!“, dröhnt es mir entgegen. Es folgt ein erregtes, durch die Nase herausgepresstes Schnaufen, das mich spontan dazu veranlasst, den Poller durch einen Mops zu ersetzen. „Ich dachte, Sie wären älter. Und nicht so verdammt hübsch!“

Innerlich lächle ich. Männer mit perfekt modellierten Zügen werden oft unterschätzt, was immense Vorteile mit sich bringt und einer der Gründe ist, warum ich mir vor zehn Jahren auf Staatskosten genau dieses Gesicht habe machen lassen. Missbilligend verziehe ich die wohlgeformten Lippen, kneife die dunkelblauen Mandelaugen zusammen und fahre betont gelassen durch mein volles kastanienbraunes Haar. „Nun, Herr Mar…“

„Nennen Sie mich Jimmy!“

„Also gut, … Jimmy.“ In einer geschmeidigen Bewegung lehne ich mich gegen den Schreibtisch, ohne mein Gegenüber aus den Augen zu lassen. „Erzählen Sie mir mehr über dieses Ding in Ihrer Brust. Oder noch besser: Lassen Sie Ihre Gedanken für sich sprechen!“

Während Jimmy der Mops meine laut gestellten Fragen über den Neurokommunikator mental beantwortet, rhythmisch begleitet vom nervösen Zappeln seines rechten Beins, schaue ich durchs Bullauge nach draußen. Vor genau zwei Wochen bin ich in den Isar Auen angekommen. Beladen mit zwei Koffern, einer Geldkarte mit zehntausend Eurodollar, die mir Elias Kosloff bei unserem Abschied vermacht hat, und einem vierjährigen Kind, das kein Wort Deutsch spricht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der Kontrast zu Hanseapolis könnte nicht größer sein. Während der Moloch zwischen Nord- und Ostsee mit seiner wolkenkratzenden Silhouette kokettiert und von Gleitern, Lufttaxen und Frachtern millionenfach umschwärmt wird, ist das höchste Bauwerk in den Auen der SchinkenTony am Stachus, ein dreihundert Meter hoher Maibaum. Die weitläufige Region verdankt ihren Namen dem leeren Flussbett der Isar – ein Schmiss im Antlitz einer Landschaft, die zu lange der Sonne ausgesetzt worden ist. Von oben betrachtet gleichen die Auen einem braun marmorierten Vlies, aus dem ein Kind mutwillig drei große Löcher herausgeschnitten hat, um sie mit bunten Luftballons zu füllen. Nachdem Sonne und Wind aus Starnberger, Ammer- und Chiemsee jegliches Leben ausgesaugt hatten, bis nur noch leere Augenhöhlen übrig blieben, hat man auf dem trockenen Grund sieben Biosphären erbaut – im Volksmund „Karbunkel“ genannt: künstliche Blasen, gefüllt mit einem Sauerstoff-Kohlendioxid-Luftgemisch, das in Europa zuletzt vor dem Industriezeitalter eingeatmet wurde. Jede von ihnen ist einzigartig: Sphäre1 im nördlichen Teil des ehemaligen Ammersees zum Beispiel ist mit seinen Weizenfeldern, Pappelhainen und Holzhäusern von kitschiger Schäferromantik geprägt, während Sphäre5 am südlichen Bogen des Starnberger Grabens, wo sich mein Büro befindet, durch breite Alleen und prachtvolle Villen besticht. Die knapp fünfhunderttausend Einwohner sind mit viel Geld und Lebenserfahrung gesegnet; das Durchschnittsalter hier beträgt zweiundneunzig Jahre. Junge Leute dürfen sich den Alten nur mit Sondergenehmigung oder Arbeitserlaubnis nähern. Ich besitze beides.

Nördlich der „Karbunkel“ hockt München City wie eine fette Spinne in einem Netz aus Polymerröhren – die Tube –, deren Expressbahnen das Zentrum mit dem Rest der Welt verbinden. Die Stadt zählt rund fünf Millionen Einwohner und gehört damit zu den kleinsten Metropolen in der Europäischen Föderation. Das Kind und ich wohnen in einer der kleineren Siedlungen zwischen City und Sphäre1. Unser neues Zuhause liegt am Tube-Abschnitt 15, Apartment 1443. Mir kommt es vor, als würde sich in den Isar Auen alles unweit irgendeiner Expressbahn befinden. Da hier praktisch keine Flugaktivitäten stattfinden, steigt und fällt das öffentliche Leben mit dem Pulsieren der Tube.

2. Sei willig, brüll’ bis vier

Scharfe Sprengsätze verursachen bei mir gewöhnlich Juckreiz an schwer zugänglichen Stellen, und als Jimmy mein Büro verlässt, atme ich befreit auf. Eigenartig, dass die Detektoren im Gebäude nicht angeschlagen haben. Ob der Sprengsatz über eine Tantal-Ummantelung verfügt hat? Ich habe den Bolzen scannen wollen, doch Jimmy ist über die Tatsache, dass ich sein prominentestes Stück anfassen wollte, dermaßen in Panik geraten, dass ich mich schließlich mit einer 3-D-Aufnahme habe begnügen müssen.

Bei näherer Betrachtung des Bildes entpuppt sich der Bolzen als ein antikes Exemplar zur Verankerung von Metallteilen, und ein bildlicher Eins-zu-Eins-Vergleich mit einem Musterprodukt aus der GCS offenbart keinerlei äußerliche Unterschiede. Ich bin nicht wirklich überrascht und mache mich an die Analyse des handgeschriebenen Schriftstücks. Zu diesem Zweck krame ich aus der letzten Kiste einen Gegenstand heraus, einem Fingerhut nicht unähnlich, nur länger und aus weichem, netzartigen Gewebe: ein Analyzing Pocket System. Über den Neurokommunikator öffne ich das APC-Programm und aktiviere die entsprechenden Sensoren, dann stülpe ich mir den „Fingerhut“ über den rechten Zeigefinger und wische über das Blatt Papier. Schon werden die einzelnen Pigmente mikrochemisch untersucht, gleichzeitig wird die Struktur des Papiers abgetastet. Während die Analyse läuft, gebe ich gedanklich einen neuen Befehl ein und streiche über die blaue Tinte, dann nehme ich den „Hut“ vom Finger. Bis die Ergebnisse da sind, rufe ich Jimmys transkribierte Antworten auf dem Transfer ab.

„Ich kann mir nicht erklären, wie das passiert ist. Meine Wohnung besitzt ein Hightech-Sicherheitssystem, außerdem habe ich normalerweise einen leichten Schlaf. Mein Laden ist Bestandteil meiner Wohnung. Es war gar nicht so einfach, dafür eine Genehmigung zu erhalten. Ich verfüge über zweihundert Quadratmeter eigenen Raum.“ Obwohl die Worte gedanklich verfasst sind, glaube ich Jimmys Gebrüll immer noch zu hören. „Und das als Zugereister!"

Auf meine Frage, wie sein gestriger Tag verlaufen ist, hat er Folgendes geantwortet: „Ich war wie immer von 8 bis 21 Uhr im Laden.“

Ob es Ärger mit einem Kunden gegeben habe?

„Verdammt noch eins, nein! Ich bin bei meiner Kundschaft sehr beliebt!!!“

Trotz der drei Ausrufezeichen – wie zum Geier hat er sie zustande gebracht? – bezweifle ich das. Gutmenschen wachen selten mit einer Bombe auf der Brust auf. Dann habe ich wissen wollen, was er nach 21 Uhr gemacht hat.

„Ich habe mich frisch gemacht und bin zum Essen ins Leopold. Wie jeden Dienstag. Es ist ein exklusiver Privatklub auf dem Kaiserdamm. Einige meiner Kunden haben sich dafür eingesetzt, dass ich einmal die Woche dort einkehren darf. Ein großes Privileg!“

Ob dort irgendetwas Ungewöhnliches passiert sei?

„Eigentlich nicht. Außer, dass sich ein Mann an meinen Tisch gesetzt hat, den ich noch nie zuvor gesehen habe.Er hat sich mir als Kenny vorgestellt. Ein gut aussehender Bursche. Tolle Haare! Lang und weiß, leicht wellig. Zu seinem gelb-orange gestreiften Anzug trug er eine dunkelrote Halsbinde. Hey, hören Sie mir überhaupt zu?“

Was dieser Kenny gewollt habe?

„Nur reden. Hauptsächlich über die wachsende Kriminalität.“

Das wundert mich nicht. Seit Bestehen der Biosphären ist die Verbrechensrate Hauptgesprächsthema. Die Menschen haben eine regelrechte Paranoia entwickelt, was die verstärkte Präsenz von Sicherheitskräften erklärt, auch wenn wir noch nicht solche Verhältnisse haben wie in Sphäre7. Der Polizeichef von Herrenchiemsee regiert dort mit eiserner Faust.

„Nach dem Essen bin ich nach Hause gegangen. Es muss so gegen elf Uhr gewesen sein. Mein Laden liegt am Löwenbrunnen, exakt dreihundertvierundfünfzig Meter vom Leopold entfernt. Ich hab’s mal abgezählt.“

Ob ihm dieser Kenny gefolgt sei?

„Keine Ahnung. Ich habe mich etwas schlapp gefühlt und war froh, als ich endlich zu Hause war.“

Was er mit schlapp meinte?

„Leicht duselig. Ich bin sofort ins Bett gefallen. Wenn ich es mir recht überlege, war das schon etwas ungewöhnlich.“

Ob ihm dieser Kenny etwas ins Essen oder in sein Getränk gemischt haben könnte?

„So ein vornehmer Herr? Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Ob er Feinde habe und schon einmal bedroht worden sei?

„Nein! Ich habe keine Familie, außerdem werde ich von meiner Kundschaft geachtet. Sie müssen mir aus diesem Schlamassel helfen, Verdict! Ich weiß nämlich nicht, wie lange ich das …“

Eine tonlose Stimme über InterCom, dem allgegenwärtigen Knopf im Ohr, reißt mich aus meiner Betrachtung heraus. „APC-Analyse von Papier und Tinte abgeschlossen.“

Der darauf folgende Bericht wartet mit einer kleinen Überraschung auf: Das Papier ist sehr alt und stammt aus der Zeit um 1880, vor allem aber weist es jede Menge DNA-Rückstände auf. Begierig über diesen Pool an Möglichkeiten gehe ich die Liste durch. Namen liefert das Programm nicht, dafür aber Jahreszahlen und ich werde in meiner Euphorie gebremst. Ich muss blinzeln. Die Bewohner von Sphäre5 mögen zwar ihre beste Zeit hinter sich haben, doch einen hundertachtzigjährigen Greis – der Junior auf der Liste – werde ich sogar hier schwerlich finden. Etwas enttäuscht lehne ich mich in meinem Sessel zurück. Das wäre auch zu einfach gewesen. Nach einer kurzen Pause wende ich mich der Tinte zu. Die königsblaue Paste ist gut hundertfünfzig Jahre jünger als das Papier und wurde, wie alle Tintenarten aus dieser Epoche, am Schwarzen Meer hergestellt.

Erneut halte ich inne und überlege. Alles in allem neigt der Schreiber zu Konservativismus, was auf die meisten hier zutrifft. Das Papier ist ein Vermögen wert, also geht es um einen tief gehegten Groll. Ich bin noch nicht lange hier, aber ich weiß, dass es drei Dinge gibt, bei denen die Sphärenbewohner wenig Spaß verstehen: Bonität, äußere Erscheinung und innere Sicherheit. Ich schaue mir die Botschaft näher an:

Sei willig, brüll‘ bis vier,

tust du‘s nicht, dann explodier‘.

Wenn dir dein erbärmliches Leben teuer ist,

versuche nicht, den Bolzen zu entfernen.

Die erste Zeile kommt mir entfernt bekannt vor. Ein kurzer Blick in der GCS bestätigt meine Vermutung. Da hat jemand Wilhelm Buschs bekannten Vers „Sei wütend, zähl‘ bis vier, tust du’s nicht, dann explodier‘“ kurzerhand umgedichtet. Die vertraute Anrede zeugt von mangelndem Respekt, das „erbärmlich“ spricht eine klare Sprache. Die Wortwahl „teuer“ statt „lieb“ lässt mich aufhorchen. Vielleicht hat Jimmy einen Kunden oder Bekannten geprellt. Routinegemäß gehe ich Buschs Biographie durch, ohne jedoch eine erkennbare Verbindung zu finden, also beschließe ich, dem Leopold einen Besuch abzustatten.

Beim Hinausgehen verriegele ich die transparente Eingangstür meiner Parzelle, die sich daraufhin automatisch verdunkelt und lasse mit einem dumpfen Gefühl des Versagens meinen Blick über die goldene Inschrift schweifen. „Lucio Verdict. Problemlöser“, steht da in schlichten Lettern. Problemlöser. Ich nehme an, Elias Kosloff hätte die Bezeichnung „Ausputzer“ bevorzugt ...

Die Nachbarbüros werden von einer stark schwitzenden Advokatin, einem cholerischen Spediteur und anderen interessanten Gestalten bevölkert. Bis dato hat mir mein perfektes Lächeln dort wenig Sympathiepunkte eingebracht und als ich an ihren offenen Türen vorbeischlendere, sonne ich mich in widerwilliger Bewunderung.

Sphäre5 ist wie eine Käseglocke, die von einem mächtigen Wall umschlossen wird, nur dass hier nicht Schimmelkäse und Gouda verderben, sondern Menschen. Der äußere Gürtel, in dem vorzugsweise Industrie und Gewerbe untergebracht sind, erinnert optisch an die geflochtene Lehne eines altmodischen Plastiksessels. Das aufgeblähte Dach ist von einem farbigen Polymerstreifen durchbrochen und während ich den Gang hinuntergehe, zeichnet die senkrecht strahlende Sonne eine Linie auf dem Boden. Ein kreischbunter Wegweiser in dieUnendlichkeit.

Durch eine der zahlreichen Passagen dringt Stimmengewirr an mein Ohr. Ich löse mich von der hypnotischen Linie, gehe dem Geräusch nach und gelange so auf die vordere Galerie, wo sich Menschenmassen drängen, um in den zahllosen 24/7-Restos und Geschäften ihr Geld zu verprassen. Im Vorübergehen mache ich einen Krämerladen aus, der vorgibt, Antiquitäten zu verkaufen, sowie eine große !NR! Filiale. In den Isar Auen ist die Marke !NR! des Topdesigners Nathan Rehm der Renner. Kaum jemand, der nicht mindestens ein gebrandetes Retrofit trägt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass !NR! für I.N.R.I. steht – Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum. Seit mehr als fünfundzwanzig Jahren verkommt das Christentum in der Europäischen Föderation zur Bedeutungslosigkeit. Einer Kirche offen anzugehören, ist in diesem Teil der Welt verpönt, doch so leicht brechen die Menschen nicht mit alten Gewohnheiten, und wo früher einmal silberne Kreuze die Hälse der Gläubigen geschmückt haben, sind es jetzt sündhafte teure Seidentücher von !NR!.

Kurz verweile ich, die Hand auf der Balustrade, und schaue nach unten. Das Innere der Biosphäre ist terrassenförmig angeordnet, wobei mehrere Ringstraßen die Levels miteinander verbinden. Sie alle führen ins zentrale Prinzregenten-Viertel. Dort muss ich hin. Ich könnte eine Equipage nehmen – offene Inhouse-Scooter, die mit Helium-3 betrieben werden und Platz für bis zu zwanzig Personen bieten –, doch ich entscheide mich für den Hoverlift. Er ist nicht sehr bequem, dafür aber um ein Vielfaches schneller und schon bald rausche ich an verheißungsvoll klingenden Straßen und Plätzen vorbei: Ostersee-Boulevard, Tutzinger Dreieck, Alter Münchner Weg, Seeshaupter Rondell …Der Blick aus der verglasten Zelle ist halb so eindrucksvoll, wie man vielleicht glauben mag, was daran liegt, dass die Häuser aus quadratischen Hartgummimodulen bestehen, während billige Farne zu Grünanlagen zusammengeschart wurden, die jeder Fantasie entbehren. Als würde man durch das Eins-zu-eins-Modell einer Stadt wandeln, das niemals fertig gestellt wird. Der Gedanke deprimiert mich. Ich aktivere meinen Neurokommunikator, gebe den Zugriffscode für Regency ein, dem hiesigen Virtual-Environment-Programm, und plötzlich ist alles in Bewegung: Florale Mosaike kriechen über den grauen Beton, roter Sandstein kraxelt die Wände hoch, während sich Bougainvilleas über steinerne Balkone ergießen und kupferne Schornsteine nach den Wolken greifen. Der Himmel über meinem Kopf steht der Pracht am Boden in nichts nach: Pinselstriche in Hellgrün, Gelb und Orange leuchten auf tiefblauem Fond. Es vergehen nur wenige Sekunden, bis ich sehe, was alle sehen, und mein Herz zieht sich unwillkürlich zusammen. Ich vermisse den Schatten in den Gesichtern und Gassen der HafenCity …

Ursprünglich standen die Isar Auen nicht auf meiner Wunschliste für einen Neuanfang, doch nachdem mir einer meiner wenigen Freunde völlig überraschend seine Zweitwohnung kostengünstig angeboten hat, habe ich meine Pläne noch einmal überdacht. Zumal die hiesigen Schulen einen erstklassigen Ruf genießen und ich Kaori versprochen habe, mich gut um ihren Sohn zu kümmern. Ein Versprechen, das ich um jeden Preis zu halten gedenke.

Kaoris blutüberströmtes Gesicht drängt sich gewaltsam in meine Gedanken und ich richte schnell meinen Blick wieder nach draußen, wo ich zwischen zwei Häusern eine Wasserstelle entdecke, an deren Ufer sich Enten und Pfaue tummeln. Die Vögel sind genauso wenig real wie der Obstverkäufer an der Ecke davor. Mein Instinkt sagt mir, dass dort ein getarnter Security steht. Die sorgfältigen Sicherheitsmaßnahmen offen zur Schau zu stellen, wäre schier zu vulgär.

Als ich aus dem Lift steige, weist mir ein weißer Königspudel den Weg zum Leopold. Zur Auswahl stünden noch eine Libelle und ein englischer Bobby, doch der Pudel ist mein bevorzugter City-Guide. Sein kahl geschorenes Hinterteil heitert mich jedes Mal auf. Je näher ich dem Zentrum komme, desto erlesener mutet die Gesellschaft an. Menschliche Ausdünstungen sucht meine Nase hier vergeblich. Als wären die Herrschaften in Formaldehyd getränkt worden. Zu der gepflegten Erscheinung gehören regelmäßige Sitzungen im Defroisseur, einer hautstraffenden Photon-Kapsel, und die Gesichter, die mich umgeben, sind engelsgleich, wenn auch von vergreisten Augen durchlöchert. Viele von ihnen tragen Monokel oder Lorgnons, in denen ein Virtueller Kommunikator eingebaut ist, das Vorgängermodell meines Neurokommunikators.

Schon bald erreiche ich das Leopold. Vor dem schmiedeeisernen Portal fahre ich mir noch einmal durch die Haare, streiche meine Jacke glatt und rücke meinen !NR! Siegelring zurecht, dann trete ich einen Schritt vor, um gescannt zu werden.

„Sie haben keine Reservierung“, ertönt prompt eine Stimme aus dem Off.

„Ich bitte um Vergebung“, antworte ich der unsichtbaren Person am Monitor. „Aber ich möchte den Supervisor in einer wichtigen Angelegenheit sprechen. Es geht um die Sicherheit einer seiner Gäste.“

Wie zu erwarten war, öffnet sich bei meinen letzten Worten das Tor anstandslos. Unter meinen Füßen knirscht es leise, als ich den kurzen Weg zum Haus gehe. Obwohl ich weiß, dass der Kies nicht real ist, fühlt er sich echt an. VAs, Virtuality Architects, genießen zu Recht ein hohes Ansehen.

Im Vestibül, wo Gustav Klimts „Dame mit dem Fächer“ hängt, lasse ich meine Jacke zurück, bevor ich auf die breite marmorne Treppe mit den goldenen Verzierungen in der Mitte der Halle zuschreite. Wieder unterbreche ich Regency, um mich zu vergewissern, dass die Treppe wirklich existiert und ich nicht ins Leere trete. Ein absurder Reflex, aber ich kann nicht anders. Verblüfft muss ich feststellen, dass der ausschweifende Luxus um mich herum Fakt ist, deshalb beende ich fürs Erste das Virtual-Environment-Programm. Das Restaurant im ersten Level ist hell erleuchtet und schwirrt von heiterer und zusammenhangloser Konversation. An den Wänden hängen vergilbte Magazinseiten mit Fotos von deutschen Leinwandstars aus der längst vergangenen Ära des 2-D-Films mit Vornamen wie Til, Moritz oder Veronica, die außerhalb der Biosphären niemand mehr kennt. Einige der in Seide rauschenden Gäste speisen an Tischen, die von Silber und Porzellan nur so funkeln, andere sind um ein Buffet versammelt und nippen an ihren Gläsern. Als passionierter Koch, der ich bin, erkenne ich auf Anhieb hausgemachtes Birchermüsli, Avocado-Aufstrich und Stockfisch in Senfcrème. Sehnsüchtig denke ich an die letzten Monate zurück, als ich bei einem Millionär in Hanseapolis anstellig war und dort die teuersten Nahrungsmittel verarbeiten durfte. Und das in einer Stadt, in der gewöhnlich die Massen mit billigen Proteinriegeln und Algengratin abgespeist werden.

Durch eine Flügeltür rechts von mir erblicke ich einen kleinen Salon, der sofort geschlossen wird, als man meiner ansichtig wird. Etwas unschlüssig bummle ich herum, als sich mir eine spindeldürre Frau in einem fliederfarbenen Hosenanzug in den Weg stellt. Sie hat eine Haut wie Alabaster, dünne blutleere Lippen und einen harten Blick. In das graue Haar hat sie nach der neuesten Mode ein lila Tuch aus Gaze geflochten. Als ihre Augen beifällig über meine Erscheinung schweifen, frohlocke ich. Die erste Hürde wäre genommen.

„Kann ich Ihnen behilflich sein, Herr …?

„Verdict. Lucio Verdict. Ich möchte den Supervisor sprechen.“

„Ich bin Lena Wittgenstein“, kommt es schroff zurück, als ob damit alles erklärt sei. „Was kann ich für Sie tun?“

„Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich werde Sie auch nicht lange behelligen.“ Ich setze ein elfenhaftes Lächeln auf. „Gestern Abend gegen neun Uhr hat einer Ihrer Gäste beim Verlassen Ihres Etablissements versehentlich das Monokel meines Klienten eingesteckt. Der Herr hatte lange, weiße Haare und trug einen gelb-orange gestreiften Anzug mit dunkelroter Halsbinde. Mein Klient ist über den Verlust seines Kommunikators sehr betrübt. Vielleicht können Sie mir helfen, den Herrn ausfindig zu machen, damit ich die Affäre schnell und ohne Aufsehen bereinigen kann.“

„Das wird jemanden wie Sie vielleicht nicht interessieren, aber in unserem Haus herrscht Diskretion.“

„Selbstverständlich“, gebe ich mich zuvorkommend. „Aber bedenken Sie bitte, dass der Geschädigte ein ehrenwerter Gast Ihres Hauses ist.“

„Wer ist der Unglückselige?“

„Jimmy Marquard.“

„Dieser Haarfledderer?“ Ihrem Ton nach zu urteilen hält sie Jimmy für eine Lebensform, die knapp über einer Kakerlake rangiert. „Man kann ihn wohl kaum als ehrenwerten Gast des Leopold bezeichnen!“

„Und doch darf er hier speisen.“

Kurzes Schnauben, aber keine Antwort.

„Welchem Gönner verdankt er dieses Privileg?“

Ein argwöhnischer Blick trifft mich.

„Ich verstehe. Diskretion.“ Obwohl ich die Antwort bereits kenne, kann ich mir die folgende Frage nicht verkneifen. „Darf ich den gestrigen Video-Stream des Eingangs einsehen?“

Die Empörung steht der Gegenseite deutlich ins Gesicht geschrieben und ich beschließe, noch einen drauf zu setzen.

„Das braucht doch niemand zu erfahren“, flüstere ich und ziehe den Siegelring von meinem Finger, um ihn unauffällig zu überreichen.

Mit zusammengekniffenen Augen beugt sich Lena Wittgenstein nach vorne, bis sich unsere Nasen beinahe berühren. Ihr Parfum drängt sich mir gnadenlos auf und ich kann ein Niesen nur mit Mühe unterdrücken.

„Wagen Sie es nicht, mich zu beleidigen, Sie miese, kleine Ratte!“, entgegnet sie mit gefährlich leiser Stimme. „Oder dieses respektable Haus. Wenn Sie nicht sofort die Biege machen, rufe ich die Security!“

Interessante Wortwahl für die Leiterin eines altehrwürdigen Privatklubs. Ich stecke den Siegelring wieder an und verbeuge mich artig, bevor ich den Rückzug antrete. Die Xanthippe will ich etwas genauer unter die Lupe nehmen, und ich weiß auch schon, wer mir dabei helfen wird.

„Hallo Zuby.“

Über den Neurokommunikator könnte ich an jedem beliebigen Ort den Kontakt zu meiner Ex-Kollegin herstellen, doch in meinem Büro erscheint es mir am Klügsten, zumal es abhörsicher ist. Sofern so etwas überhaupt möglich ist, wenn man sich die GCS mit zehn Milliarden anderen Menschen teilt.

„Luc, was für eine nette Überraschung!“ Eine unscheinbare Frau mit warmen, dunklen Augen ist mitten im Zimmer aufgepoppt. Sie wirkt ehrlich erfreut.

„Lucio“, verbessere ich sie und lächele.

„Ich verstehe.“ Kurze Pause. „Wie geht’s dir? Ich habe gehört, du hast den Dienst quittiert.“

Ich zucke lediglich mit den Schultern. Quittiert worden wäre wohl die treffendere Bezeichnung.

Weil Zuby eine intelligente Frau ist, wechselt sie das Thema. „Wie lange ist es her? Drei Jahre? Haben wir damals nicht diesen Saukerl von Finanzminister mit der Hand in der Unterhose eines Jungen erwischt? Es war in Zürich, glaube ich.“ Sie lacht und ihre Augen blitzen hart auf.

Erneut verkneife ich mir die Antwort. Eine weitere Erinnerung, auf die ich gern verzichten würde.

„Mari hat’s gefreut“, setzt Zuby in heiterem Ton fort. „Ein Störenfried weniger auf ihrer roten Liste.“

Als ich den Namen der Frau höre, die mich eiskalt abserviert hat, nachdem ich ihr über zehn Jahre treu gedient habe, kommt mir die Galle hoch. Vielleicht ist Zuby doch nicht so intelligent, wie ich dachte. Andererseits hat sie schon immer gern Spielchen gespielt. Ich nehme es ihr nicht übel. Wir beide sind uns diesbezüglich sehr ähnlich.

Sie scheint mir die Gedanken von den Augen abzulesen, denn in diesem Moment huscht ein ernster Ausdruck über ihr Gesicht. „Ok, lassen wir den Smalltalk. Wie kann ich dir helfen?“

Das ist das Stichwort und ich lege los.

 3. Ein Geschenk des Hauses

Unweit vom Seeshaupter Rondell führt eine zypressengesäumte Allee schnurgerade zu einem weißen, klassizistischen Haus mit hohen schmalen Fenstern: das Beau Rivage, ein Asyl für Extrakte, in dem eine Handvoll Patienten rund um die Uhr von einem Pflegepersonal aus Fleisch und Blut betreut wird. Extrakte sind Individuen mit einem besonderen Talent oder außergewöhnlichen Aussehen, die für viel Geld die Rechte an ihrer Person abtreten und pixeligen Abbildern menschlichen Daseins ihre Seele vermachen. Vor über zwanzig Jahren hat Valeri Duchasnel, der weißhaarige Unbekannte aus dem Leopold, ein begnadeter Sänger und Gitarrist, genau das getan und damit die beispiellose Karriere von KennyD geebnet, einem weltbekannten Cyber-Rockstar. Noch heute singt dieser mit Duchasnels Stimme, betört mit dessen tiefgründigen Künstleraugen ein Milliardenpublikum und vollbringt wahre Wunder auf der Gitarre. Im Gegenzug sind Duchasnels eigene Gehversuche auf der Bühne kläglich gescheitert. Niemand hat ihn sehen oder hören wollen. Wie viele andere Extrakte auch hat er die Erkenntnis niemals verwunden, dass die Welt ihm ein Trugbild vorzieht, und ist schließlich im Beau Rivage gelandet. Inzwischen gaukelt ihm sein Verstand vor, KennyD zu sein. Wie mir Zuby wenig später versichert – als inoffizielle Mitarbeiterin des Europäischen Verwaltungsrats verfügt sie über vertrauenswürdige Quellen – ist Valeri Duchasnel ein harmloser, wenn auch wohlhabender Irrer, der dreimal in der Woche Freigang hat.

Im Asyl gebe ich mich als freier Autor aus, der für den Musikkanal WOJ einen Bericht über Duchasnels Anleihen aus Blues und Jazz machen will, und man gewährt uns eine Stunde draußen im Garten, der zur Straße hin durch eine hohe Mauer begrenzt ist. Wir setzen uns auf eine Bank, die um den Stamm einer imposanten Rosskastanie verläuft. Prompt beginnt es im Laubwerk über unseren Köpfen zu rascheln und ich bilde mir ein, eine warme Brise in meinem Nacken zu spüren. Erneut packt mich die Neugier und ich unterbreche Regency für einen kurzen Moment. Ein Fehler. War es mir bisher gelungen, den unterschwelligen Geruch von Hartgummi zu verdrängen, trifft er mich nun wie ein Schlag ins Gesicht. Das Gras unter meinen Füßen ist braun und zertrampelt, das Haus klotzig und streng und statt der Kastanie fristet ein Königsfarn mit verwelkten Wedelblättern ein trauriges Dasein. Wasser ist zu kostbar, um sie an Pflanzen zu verschwenden und zum wiederholten Male frage ich mich, warum die Städteplaner nicht einfach auf lebendes Gewächs verzichtet haben.

Valeri Duchasnel stellt sich als eindrucksvolle Erscheinung in weißem Leinen mit Bassstimme und theatralischem Gehabe heraus, das man ihm gern verzeiht.

„Herr D., Sie waren gestern Abend im Leopold …“

„Nennen Sie mich Kenny.“ Er lächelt mich breit an. Ich habe mich als ein Fan ausgegeben und so auf Anhieb sein Wohlwollen erlangt.

„In Ordnung … Kenny. Sie haben gestern mit einem Herrn gespeist, graue Augen, etwas vierschrötig. Können Sie sich erinnern?“

„Aber natürlich. Er kannte sich mit Alarmsystemen gut aus.“

„Warum haben Sie sich zu ihm gesetzt?“

„Er wirkte gescheit und ich dachte, er würde meine Gesellschaft zu würdigen wissen. Mein viertes Album „Trigital Brand“ hat sich über zwei Milliarden Mal verkauft, wussten Sie das?“

„Selbstverständlich. Ihre Musik hat die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts maßgeblich geprägt.“ Was nicht einmal gelogen ist. „Worüber haben Sie mit dem Mann gesprochen?“

„Über dies und das, aber vor allem über unser lasches Sicherheitssystem. Nicht auszudenken, wenn ein Stalker die Mauern meines Anwesens überwindet!“

„Das würde niemand wagen, Kenny. Dafür haben die Menschen zu viel Respekt vor Ihnen.“

„Sie haben Recht. Und doch ist die Zeit nicht spurlos an mir vorübergegangen. Trotz Defroisseur. Früher strömten die Frauen scharenweise hierher.“

„Ach was! Sie haben Ihre besten Jahre noch vor sich. Haben Sie dem Mann von gestern Abend einen Drink spendiert?“

„Nein, aber der Garçon hat uns echten Champagner serviert. Ein Geschenk des Hauses. Nach einem Glas bin ich gegangen. Im Laufe unseres Gesprächs stellte sich der Herr an meinem Tisch als nicht sehr gute Gesellschaft heraus. Er hatte keine Ahnung, wer ich bin und ich begann mich zu langweilen.“

„Das ist unverzeihlich!“

„So ist es, junger Mann. Ich verrate Ihnen jetzt etwas. Es ist niemals an die Öffentlichkeit durchgesickert, aber in den Vierzigerjahren hatte ich eine Affäre mit La Donna St. John. Ein chilenisches Playmate und …“

So geht es noch eine Weile, ohne dass ich etwas Neues erfahre. Inzwischen bin ich fast zu der Überzeugung gelangt, dass der Bolzen ohne Valeri Duchasnels Zutun in Jimmys Brust gelangt ist, zumal zwischen den beiden außer einem gemeinsamen Abendessen keine Verbindung besteht. Mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen, verabschiede ich mich von dem Extrakt und rufe beim Hinausgehen den Bericht über Lena Wittgenstein ab. Zwar existiert laut Zubys Nachforschungen auch hier keine offenkundige Verbindung zu Jimmy Marquard, dafür füllt die Leiterin des Leopold bei DELFI, der Verbrecherdatei der Europäischen Föderation, einen ganzen Aktenschrank. Im Laufe der letzten fünfzig Jahre geriet sie unzählige Male mit dem Gesetz in Konflikt, zuletzt als Mitbegründerin der faschistoiden Vereinigung für ein Neues Isar Auen. Ich kann mich schwach an die Schlagzeile bei YIN, dem Yahoogle Investigation Network, vor zwei Jahren erinnern, als die Vereinigung in ihrer Absichtserklärung verkündete, alle Einwohner aus München City verbannen zu wollen, die jünger sind als siebzig.

Um mir ein Bild von Jimmys Umfeld zu machen, statte ich ihm am frühen Abend einen Besuch ab; aber vor allem will ich wissen, wie er zu Lena Wittgenstein steht, bevor ich sie in die Mangel nehme. Mittlerweile hat Sphäre5 die Dämmerung eingeläutet: Die Wischer am Himmel sind zartrosa angehaucht, Mosaike, Balkone und Portale erstrahlen in den schillerndsten Farben. Auf dem Steinbrunnen vor Jimmys Laden hockt ein weißblauer Löwe und spuckt im hohen Bogen virtuelles Wasser in das Becken. Beim Anblick des nassen Goldes überkommt mich der Durst, was wohl der Zweck der Übung ist, und ich steuere den Beckenrand an, dort wo ein blaues Tropfensymbol im Stein eingemeißelt ist. Bei meiner Ankunft und Registrierung in München City wurde mir von offizieller Seite eine TransApp auf meinen rechten Unterarm aufgepinselt: ein dünner Film aus Nanozellen, der sich mit der menschlichen Epidermis verbindet, und auf dem meine Kontodaten gespeichert sind. Als ich mit dem Arm über den Brunnenrand fahre, scheint sich das Tropfensymbol zu verflüssigen: meine kostenlose Wasserration für diesen Tag. Gierig nehme ich einen der bereitstehenden Becher und trinke das kostbare Nass aus dem Steingefäß, das sich daraufhin wieder verschließt, viel zu schnell aus. Also gönne ich mir eine weitere Portion. Wieder fahre ich mit dem Unterarm über das Symbol, während der Betrag automatisch von meinem Konto abgebucht wird. Diesmal gehe ich mit Bedacht vor und setze mich auf den Beckenrand. Während ich trinke, beobachte ich die seelenlosen Gesichter, die an mir vorbeiwabern. Nicht alle Bewohner von Sphäre5 widern mich an, aber in diesem Moment lasse ich es zu, dass sie zu einer amorphen Masse verschwimmen.

Am Eingang von Jimmys Atelier tummelt sich ein buntes Völkchen, das sich bei genauerer Betrachtung als eine Gruppe von Hologrammen entpuppt. Eine elegante, höchst schmeichelhafte Variante von Jimmy schüttelt diversen Projektionen die Hand, von denen ich annehme, dass sie die Lokalprominenz darstellen. Mit einem leichten Bedauern blicke ich auf den leeren Becher in meiner Hand, bevor ich ihn zurückstelle, wo er augenblicklich recycelt wird, und setzte mich seufzend in Bewegung.

Als ich durch die offene Tür des Ateliers treten will, stellt sich mir der Holo-Jimmy in den Weg und entbietet mir ein fröhliches „Herzlich willkommen!“.

Unbeeindruckt gehe ich weiter.

„Wussten Sie schon? Fransen über den Augen verjüngt Ihr Gesicht um vier Dekaden!“, ruft er mir noch hinterher, dann wendet er sich wieder seinen prominenten Freunden zu.

Jimmys Atelier ist nicht groß, aber exquisit eingerichtet. Sechs pilzförmige Kapseln stehen sich in Dreierreihen blitzblank gegenüber. Als ich den Laden betrete, sind vier davon besetzt. Eine Mitarbeiterin sitzt weiter hinten mit einem Kunden an der Computerkonsole und entwirft für ihn eine Haarkreation, die später in einer der Kapseln mithilfe von Thermostrahlung, Gebläse sowie Schneid- und Schweißlaser umgesetzt wird. Offensichtlich herrscht Uneinigkeit und sie flüstern aufgeregt miteinander. Jimmy selbst ist nirgendwo zu sehen.