Der Bürgermeister von Casterbridge. Leben und Tod eines Mannes von Charakter - Thomas Hardy - E-Book

Der Bürgermeister von Casterbridge. Leben und Tod eines Mannes von Charakter E-Book

Thomas Hardy.

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Beschreibung

Er zählt zu den unvergänglichen Romanfiguren der britischen Literatur: Mr. Henchard, der Bürgermeister mit dunkler Vergangenheit. In trunkenem Zustand verkaufte er Frau und Tochter auf dem Jahrmarkt. Diese Wahrheit versucht er zu verdrängen, doch sein früheres Leben droht ihn einzuholen …

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Seitenzahl: 624

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Thomas Hardy

Der Bürgermeister von Casterbridge

Leben und Tod eines Mannes von Charakter

Aus dem Englischen übersetzt, mit Anmerkungen und Nachwort von Eva-Maria König

Reclam

Originaltitel: The Life and Death of the Mayor of Casterbridge: A Story of a Man of Character

 

RECLAM TASCHENBUCH Nr. 962260

1985, 2024 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: © Glynn Vivian Art Gallery / Bridgeman Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2024

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962260-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020687-4

www.reclam.de

Inhalt

Der Bürgermeister von Casterbridge

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

XXVIII

XXIX

XXX

XXXI

XXXII

XXXIII

XXXIV

XXXV

XXXVI

XXXVII

XXXVIII

XXXIX

XL

XLI

XLII

XLIII

XLIV

XLV

Anhang

Anmerkungen

Nachwort

Zeittafel

Verzeichnis der fiktiven Orte und ihrer realen Vorbilder

Karte: The Wessex of the Novels

Der Bürgermeister von Casterbridge

I

Eines Abends im Spätsommer, bevor das neunzehnte Jahrhundert ein Drittel seiner Spanne erreicht hatte, näherten sich ein junger Mann und seine Frau, Letztere mit einem Kind auf dem Arm, zu Fuß dem großen Dorf Weydon-Priors in Upper Wessex. Sie waren einfach, doch nicht dürftig gekleidet, wenngleich die dicke graue Staubschicht, die sich von einer offensichtlich langen Reise auf ihren Schuhen und Kleidern angesammelt hatte, ihrem Aussehen zu diesem Zeitpunkt eine unvorteilhafte Schäbigkeit verlieh.

Der Mann war gut gewachsen, dunkelhäutig und von finsterem Aussehen, und sein Profil wies so geringfügig fliehende Züge auf, dass es nahezu senkrecht war. Er trug eine kurze Jacke aus braunem Kord, die neuer war als sein übriger Anzug, der aus einer Barchentweste mit weißen Hornknöpfen, ebensolchen Kniehosen, gegerbten Gamaschen und einem mit schwarzer, gelackter Leinwand überzogenen Strohhut bestand. Auf dem Rücken trug er mittels eines durchgeschlungenen Riemens einen Binsenkorb, aus dem an einer Seite der Griff eines Heumessers ragte; eine Kurbel für Strohseile war ebenfalls in der Öffnung zu sehen. Sein gemessener, unelastischer Gang war der Gang des kundigen Landmannes im Unterschied zum ungleichmäßigen Schlenkern des gewöhnlichen Arbeiters, während im Heben und Aufsetzen der beiden Füße zudem eine störrische und zynische Gleichgültigkeit lag, die ihm selbst eigentümlich war und die sich sogar in den regelmäßig abwechselnden Barchentfalten, erst am linken, dann am rechten Bein, zeigte, während er einherging.

Das eigentlich Sonderbare am Voranschreiten dieses Paares, das die Aufmerksamkeit jedes zufälligen Beobachters erregt hätte, der sie sonst wohl zu übersehen geneigt gewesen wäre, war jedoch das völlige Schweigen, das sie wahrten. Sie gingen Seite an Seite, so dass sie von weitem den Eindruck des leisen, zwanglos vertraulichen Plauderns von Leuten in bestem Einvernehmen vermittelten, bei näherem Hinsehen aber konnte man feststellen, dass der Mann ein bedrucktes Blatt las oder zu lesen vorgab, das er einigermaßen mühsam mit der Hand, um die der Riemen des Korbes geschlungen war, vor seine Augen hielt. Ob dieser ersichtliche Grund der wirkliche oder ob es ein vorgeblicher war, um sich einem Umgang zu entziehen, der ihm lästig gewesen wäre, hätte niemand als er selbst mit Bestimmtheit zu sagen vermocht, doch seine Schweigsamkeit war ungebrochen, und für die Frau war seine Gegenwart nicht im mindesten Gesellschaft. Im Grunde ging sie allein auf der Landstraße, abgesehen von dem Kind, das sie trug. Manchmal streifte der angewinkelte Ellbogen des Mannes beinahe ihre Schulter, denn sie hielt sich so dicht an seiner Seite, wie es ohne tatsächliche Berührung nur möglich war, doch es schien ihr nicht einzufallen, seinen Arm zu nehmen, noch ihm, ihn ihr anzubieten, und ohne im Entferntesten Überraschung darüber zu zeigen, nahm sie sein abweisendes Schweigen anscheinend als etwas Natürliches hin. Wurde von der kleinen Gruppe überhaupt ein Wort gesprochen, dann nur, wenn die Frau dem Kind – einem winzigen Mädchen in kurzen Kleidern und blauen Stiefelchen aus gestricktem Garn – gelegentlich etwas zuflüsterte und das Kind zur Erwiderung murmelnd plapperte.

Das hauptsächlich – nahezu einzig – Anziehende am Gesicht der jungen Frau war seine Wandelbarkeit. Wenn sie seitwärts auf das Mädchen hinunterblickte, wurde sie hübsch, ja sogar schön, insbesondere da ihre Züge dabei schräg die Strahlen der kräftig gefärbten Sonne auffingen, die ihre Lider und Nasenflügel transparent werden ließen und Feuer auf ihre Lippen brachten. Wenn sie dann im Schatten der Hecke still und in Gedanken weitertrottete, dann hatte sie den harten, halb teilnahmslosen Ausdruck einer, die aus den Händen von Zeit und Zufall alles für möglich erachtet, ausgenommen vielleicht faire Behandlung. Die erste Phase war das Werk der Natur, die zweite wahrscheinlich das der ZiviAnhlisation.

Dass der Mann und die Frau Eheleute waren und die Eltern des Mädchens auf ihrem Arm, daran bestand kaum ein Zweifel. Kein anderes als ein solches Verhältnis hätte die Atmosphäre schaler Vertrautheit erklärt, die das Trio wie mit einem Nimbus umgab, als sie sich die Straße entlangbewegten.

Die Frau hielt die Augen meistens vorwärts gerichtet, gleichwohl mit geringem Interesse, da auch die Szenerie solcherart war, dass sie an fast jedem beliebigen Flecken in jeder Gegend Englands zu dieser Jahreszeit ihresgleichen gefunden hätte; eine Straße, weder gerade noch gekrümmt, weder eben noch hügelig, von Hecken, Bäumen und anderer Vegetation gesäumt, welche in die schwärzlichgrüne Stufe der Färbung eingetreten war, die die Blätter durchlaufen müssen auf ihrem vorbestimmten Weg zu bräunlich und gelb und rot. Der Grasrand der Böschung und die nächsten Zweige der Heckenzäune waren vom Staub überpudert, den eilige Fahrzeuge aufgewirbelt hatten, demselben Staub, der auch auf der Straße lag und ihre Tritte dämpfte wie ein Teppich; und dies, sowie das erwähnte Fehlen jeglicher Unterhaltung, machte jeden fremden Laut wahrnehmbar.

Lange Zeit gab es keinen außer der Stimme eines schwachen Vogels, der ein abgedroschenes altes Abendlied sang, das man zweifellos zur selben Stunde mit denselben Trillern, Achteln und Fermaten zu jedem Sonnenuntergang dieser Jahreszeit seit unzähligen Jahrhunderten auf dem Hügel hätte hören können. Doch als sie sich dem Dorf näherten, drang aus derselben Richtung vielfältiges entferntes Geschrei und Geklapper von einem höher gelegenen Ort an ihr Ohr, welcher jedoch dem Blick noch durch Blattwerk verborgen war. Als man soeben die ersten Häuser von Weydon-Priors sehen konnte, traf die kleine Gruppe auf einen Rübenhacker, der über der Schulter seine Hacke trug, von welcher ein Essensbeutel herabhing. Der Lesende blickte sogleich auf.

»Gibt’s hier was zu tun?«, fragte er phlegmatisch und deutete mit einem Wedeln des bedruckten Blattes auf das Dorf vor ihm. Und weil er meinte, der Arbeiter verstehe ihn nicht, setzte er hinzu: »Irgendwas im Heubindergewerbe?«

Der Rübenhacker aber schüttelte bereits den Kopf. »Oh, steh ihm bei; ist der Mann wohl bei Verstand, dass er zu dieser Jahreszeit um eine solche Arbeit nach Weydon kommt?«

»Ist dort vielleicht ein Haus zu vermieten – ein kleines neues Häuschen, grad gebaut, oder so?«, fragte der andere.

Der Pessimist blieb bei seiner Verneinung. »Abreißen ist mehr die Weydoner Art. Vor’ges Jahr sind fünf Häuser abgebrochen worden, dies Jahr drei, und die Leute haben nichts, wo sie hingehen können, nee, nich mal ’nen strohgedeckten Unterstand; so geht’s in Weydon-Priors.«

Der Heubinder, der er offensichtlich war, nickte mit einiger Geringschätzigkeit. Er blickte zum Dorf hinüber und fuhr fort: »Da ist aber doch was los, oder?«

»Ja, ’s ist Jahrmarktstag. Doch was Sie jetzt hören, ist nicht viel mehr als das Geschwätz und Getu’, um den Kindern und Toren das Geld aus der Tasche zu locken, denn das eigentliche Geschäft wird früher abgemacht. Ich hab’s den ganzen Tag beim Arbeiten hören können, bin aber nicht raufgegangen, ’s ging mich nichts an.«

Der Heubinder und seine Familie setzten ihren Weg fort und betraten bald das Jahrmarktsfeld, das Standplätze und Hürden zeigte, wo viele hundert Pferde und Schafe am Vormittag ausgestellt und verkauft worden waren, die man jetzt jedoch größtenteils weggebracht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war, wie ihr Gewährsmann angemerkt hatte, nicht mehr viel vom eigentlichen Geschäft geblieben, es ging hauptsächlich noch um die Versteigerung von ein paar minderwertigen Tieren, die man anders nicht loswerden konnte und die von den Händlern der besseren Klasse, die früh kamen und gingen, schlichtweg zurückgewiesen worden waren. Doch war das Gedränge jetzt dichter als während der Morgenstunden, denn der leichtsinnige Anteil an Besuchern, zu dem Handwerksgesellen, die sich einen freien Tag machten, ein oder auch zwei vereinzelte Soldaten auf Urlaub, Dorfkrämer und dergleichen zählten, strömte erst seit kurzem herbei; Menschen, die ein angemessenes Betätigungsfeld inmitten der Guckkästen, Spielzeugstände, Wachsfiguren, belebten Ungeheuer, selbstlosen Heilkundigen, die zum Wohl der Allgemeinheit unterwegs waren, Taschenspieler, Trödler und Wahrsagerinnen fanden.

Keinem unserer Wanderer stand der Sinn nach diesen Dingen, und sie sahen sich nach einem Erfrischungszelt um unter den vielen, von denen die Hochebene übersät war. Zwei, die ihnen im ockerfarbenen Dunst des verlöschenden Sonnenlichtes am nächsten standen, schienen beinahe gleich einladend. Eins war aus neuer, milchfarbener Leinwand und hatte rote Wimpel an der Spitze; es kündigte »Gutes selbstgebrautes Bier, Ale und Cider« an; das andere war nicht mehr so neu, ein kleines eisernes Ofenrohr ragte an der Rückseite heraus, und vorn befand sich das Plakat: »Hier gute Weizengrütze zu verkaufen«.

Der Mann wog im Geist die beiden Aufschriften gegeneinander ab und neigte mehr zum ersten Zelt.

»Nein – nein – das andere«, sagte die Frau. »Ich mag Weizengrütze immer gern und Elizabeth-Jane auch; und du wirst sie auch mögen. Sie ist nahrhaft nach einem langen, harten Tag.«

»Hab sie nie probiert«, sagte der Mann. Er gab jedoch ihren Darlegungen nach, und sie betraten unverzüglich die Grützenbude.

Drinnen saß eine recht zahlreiche Gesellschaft an den langen schmalen Tischen, die längs der beiden Seiten des Zeltes aufgestellt waren. Am oberen Ende stand ein Ofen mit einem Holzkohlenfeuer, über dem ein großer, dreibeiniger Kessel hing, der am Rand genügend poliert war, um zu zeigen, dass er aus Glockenbronze bestand. Eine hexenhafte Gestalt von ungefähr fünfzig Jahren stand all diesem vor in einer weißen Schürze, die ihr, so weit sie reichte, einen Anschein von Respektierlichkeit verlieh und deshalb großzügig genug geschnitten war, um ihre Taille fast ganz zu umschließen. Sie rührte langsam den Inhalt des Topfes um. Das dumpfe Kratzen ihres großen Löffels war im ganzen Zelt zu hören, während sie so die Mischung aus ungemahlenem Korn, Mehl, Milch, Rosinen, Korinthen und was nicht allem, aus der sich der altertümliche Brei, mit dem sie handelte, zusammensetzte, vor dem Anbrennen bewahrte. Gefäße, die die einzelnen Zutaten enthielten, standen auf einem weißgedeckten Tisch aus Brettern und Holzböcken daneben.

Der junge Mann und die Frau verlangten jeder eine Schale der dampfenden Mischung und setzten sich, um sie geruhsam zu verzehren. Soweit war alles gut, denn Weizengrütze war, wie die Frau gesagt hatte, nahrhaft und ein so anständiges Essen, wie man es innerhalb der vier Meere nur bekommen konnte, wenn auch denen, die sie nicht gewohnt waren, die zu Zitronenkerngröße aufgequollenen obenauf schwimmenden Weizenkörner zunächst abstoßend vorkommen mochten.

Aber es war da noch mehr in dem Zelt, als dem flüchtigen Blick auffiel, und der Mann hatte es mit dem Instinkt eines verderbten Charakters schnell gewittert. Nachdem er seine Schüssel zögernd in Angriff genommen hatte, beobachtete er das Vorgehen der Hexe aus den Augenwinkeln und sah, welches Spiel sie trieb. Er blinzelte ihr zu und schob ihr seine Schale als Erwiderung auf ihr Nicken hin, worauf sie eine Flasche unter dem Tisch hervorholte, verstohlen ein Quantum des Inhalts abmaß und in die Weizengrütze des Mannes kippte. Die hineingegossene Flüssigkeit war Rum. Der Mann ließ ihr dafür ebenso verstohlen Geld zur Bezahlung zugehen.

So kräftig angereichert, fiel das Gemisch weit mehr zu seiner Zufriedenheit aus als in seinem ursprünglichen Zustand. Seine Frau hatte den Vorgang mit großer Unruhe beobachtet, doch er überredete sie, auch ihres versetzen zu lassen, und nach einigen Bedenken stimmte sie einer milderen Beigabe zu.

Der Mann leerte seine Schale und rief nach einerweiteren, wobei er ein Zeichen gab, den Anteil an Rum noch zu verstärken. Die Wirkung wurde bald in seinem Verhalten sichtbar, und seine Frau stellte nur allzu traurig fest, dass sie, indem sie die Klippen des lizensierten Getränkezeltes wacker umschifft hatte, hier unter den Schmugglern in die Tiefen eines Malstroms geraten war.

Das Kind begann ungeduldig zu plappern, und die Frau sagte mehr als einmal zu ihrem Mann: »Michael, wie steht es mit unserer Unterkunft? Du weißt, dass es vielleicht schwierig wird, eine zu bekommen, wenn wir nicht bald gehen.«

Doch er war taub für dieses vogelhafte Zwitschern. Er redete laut mit der übrigen Gesellschaft. Nachdem das Kind mit großen sinnenden Blicken auf die Kerzen geschaut hatte, als sie angezündet wurden, fielen seine schwarzen Augen zu, dann öffneten sie sich, dann schlossen sie sich wieder, und es schlief.

Nach der ersten Schale war der Mann heiter geworden, nach der zweiten war er fidel, nach der dritten zänkisch, nach der vierten begannen sich die Eigenschaften in seinem Verhalten bemerkbar zu machen, die durch die Form seines Gesichtes, das gelegentliche Zusammenpressen seines Mundes und das feurige Leuchten seiner dunklen Augen angedeutet wurden, er zeigte sich hochfahrend, ja funkelnd vor Streitlust.

Die Unterhaltung wandte sich hochfliegenden Dingen zu, wie oft bei solchen Gelegenheiten. Der Ruin guter Männer durch schlechte Ehefrauen, insbesondere die Vereitelung hoher Ziele und Hoffnungen manch eines vielversprechenden Jünglings und die Auslöschung seiner Tatkraft durch eine frühe unkluge Heirat, war das Thema.

»Das hab ich am eigenen Leibe erfahren«, sagte der Heubinder mit nachdenklicher Bitterkeit, die nahezu ein Grollen war. »Ich hab mit achtzehn geheiratet, Dummkopf, der ich war, und das hab ich nun davon.« Er wies mit einem Wedeln der Hand, das die Armseligkeit des Vorgeführten zum Ausdruck bringen sollte, auf sich selbst und seine Familie.

Seine junge Ehefrau, die an solche Bemerkungen gewöhnt zu sein schien, tat, als höre sie sie nicht, und flüsterte dem einschlafenden und erwachenden Kind, das gerade groß genug war, dass sie es für einen Augenblick auf die Bank neben sich setzen konnte, wenn sie ihre Arme ausruhen wollte, immer wieder zärtliche, belanglose Worte zu. Der Mann fuhr fort: »Ich hab nicht mehr als fünfzehn Schilling auf der Welt, und doch bin ich in meinem Handwerk ’ne gute erfahrene Arbeitskraft. Ich würd’ ganz England herausfordern, mich im Futtergeschäft zu schlagen, und wenn ich wieder ein freier Mann wär, dann hätt’ ich tausend Pfund, bevor ich aufgehört hätte. Aber diese kleinen Dinge weiß man ja nie, bis die letzte Chance, danach zu handeln, vorbei ist.«

Man konnte hören, wie der Auktionator, der draußen auf dem Platz die alten Pferde verkaufte, sagte: »Dies sind jetzt die letzten – wer will die letzten für’n Butterbrot? Soll ich vierzig Schilling sagen? ’s ist ’ne vielversprechende Zuchtstute, ’n bisschen über fünf Jahre alt, und’s fehlt ihm nichts, dem Pferd, außer dass es ’n bisschen hohl im Kreuz ist und ihm von einem andern mit ’nem Huftritt das linke Auge ausgeschlagen wurde, von der eigenen Schwester, als sie die Straße entlangkam.«

»Ich für mein Teil sehe nicht ein, warum Männer, die Frauen haben und sie nicht wollen, sie nicht loswerden sollten wie diese Zigeunerkerle ihre alten Gaule«, sagte der Mann im Zelt. »Warum sollten sie sie nicht feilbieten und an Männer versteigern, die solche Artikel gebrauchen können? He? Mein Gott, ich würd’ meine noch diese Minute verkaufen, wenn jemand sie kaufen wollte!«

»Es gibt welche, die’s tun würden«, erwiderten einige der Gäste und betrachteten die Frau, die keineswegs hässlich war.

»Stimmt«, sagte ein rauchender Herr, dessen Rock an Kragen, Ellbogen, Säumen und Schultern den feinen Glanz aufwies, den langewährende Reibung mit schmutzigen Oberflächen hervorruft, und der für gewöhnlich auf Möbeln erwünschter ist als auf Kleidungsstücken. Seinem Aussehen nach war er früher möglicherweise Stallknecht oder Kutscher bei einer Gutsherrschaft in der Umgebung gewesen. »Ich darf wohl sagen, ich bin in so guten Kreisen aufgezogen, wie’s nur geht«, setzte er hinzu, »und wenn ich nicht weiß, was echte Kultivierung ist, dann weiß es keiner, und ich sage, sie hat’s – in den Knochen, hört ihr, sag ich – so viel wie jedes Weibchen hier auf dem Jahrmarkt –, obwohl man’s vielleicht noch ’n bisschen rausbringen müsste.« Dann schlug er die Beine übereinander und nahm mit einem wohlbemessenen Blick auf einen Punkt in der Luft seine Pfeife wieder auf.

Der angetrunkene junge Ehemann machte sekundenlang große Augen über dieses unerwartete Lob seiner Frau, halb zweifelnd an der Weisheit seiner eigenen Einstellung gegenüber der Besitzerin solcher Qualitäten. Doch schnell verfiel er wieder in seine frühere Überzeugung und sagte schroff: »Nun denn, hier ist Ihre Chance; ich bin offen für ein Angebot auf diese Perle der Schöpfung.«

Sie wandte sich ihrem Mann zu und murmelte: »Michael, du hast diesen Unsinn schon vorher an öffentlichen Orten geredet. Ein Scherz ist ein Scherz, aber pass auf, du könntest ihn einmal zu viel machen!«

»Ich weiß, dass ich das schon vorher gesagt habe; und ich hab’s so gemeint. Alles, was mir fehlt, ist ein Käufer.«

In diesem Augenblick flog eine Schwalbe – eine der letzten dieses Sommers –, die zufällig ihren Weg durch eine Öffnung in den oberen Teil des Zeltes gefunden hatte, in schnellen Bögen über ihren Köpfen hin und her, so dass ihr alle Augen geistesabwesend folgten. Wie sie so den Vogel beobachteten, bis er entschlüpft war, dachte die versammelte Gesellschaft nicht mehr daran, auf das Angebot des Landarbeiters einzugehen, und die Sache war abgetan. Doch eine Viertelstunde später kehrte der Mann, der seine Weizengrütze weiterhin in zunehmendem Maße hatte versetzen lassen, wenngleich er entweder so willensstark oder ein solch verwegener Zecher war, dass er immer noch einigermaßen nüchtern erschien, ins alte Fahrwasser zurück, wie in einer musikalischen Fantasie das Instrument das ursprüngliche Thema wieder aufnimmt. »Hier – ich warte drauf zu wissen, was mit meinem Angebot ist. Die Frau ist mir zu nichts nütze. Wer will sie haben?«

Die Gesellschaft war inzwischen entschieden ausgeartet, und die erneute Anfrage wurde mit einem beifälligen Lachen aufgenommen. Die Frau flüsterte; sie war besorgt und bat flehentlich: »Komm, komm, es wird dunkel, und dieser Unsinn geht nicht an. Wenn du nicht mitkommst, dann gehe ich ohne dich. Komm!«

Sie wartete und wartete, doch er rührte sich nicht. Nach zehn Minuten unterbrach der Mann abrupt die zusammenhanglose Unterhaltung der Grützentrinker: »Ich hab die Frage gestellt, und keiner hat sie beantwortet. Will irgendein Lumpenhans oder Strohpeter unter euch meine Ware kaufen?«

Das Verhalten der Frau veränderte sich, und ihr Gesicht nahm die grimmige Form und Farbe an, die bereits erwähnt wurde.

»Mike, Mike«, sagte sie, »es wird ernst. Oh! – allzu ernst!«

»Will jemand sie kaufen?«, sagte der Mann.

»Ich wünschte, jemand würde es tun«, sagte sie fest. »Ihr gegenwärtiger Besitzer ist ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack!«

»Du auch nicht nach meinem«, sagte er. »So stimmen wir darin überein. Meine Herren, hören Sie? Es ist ein Übereinkommen, uns zu trennen. Sie soll das Mädchen mitnehmen, wenn sie will, und ihrer Wege gehen. Ich nehm mein Werkzeug und geh meiner Wege, ’s ist so einfach wie die biblische Geschichte. Also, Susan, steh auf und zeig dich.«

»Tu’s nicht, Kindchen«, flüsterte eine dralle Schnürbandverkäuferin in bauschigen Unterröcken, die in der Nähe der Frau saß, »dein guter Mann weiß nicht, was er sagt.«

Die Frau jedoch stand wirklich auf. »Nun, wer ist der Versteigerer?«, rief der Heubinder.

»Ich«, antwortete prompt ein kleiner Mann mit einer Nase, die einem Kupferknauf ähnelte, einer feucht klingenden Stimme und Augen wie Knopflöchern. »Wer macht ein Angebot auf diese Dame?«

Die Frau sah zu Boden, als bewahre sie ihre Position nur durch äußerste Willensanstrengung.

»Fünf Schilling«, sagte jemand, worauf Gelächter erfolgte.

»Keine Beleidigungen«, sagte der Ehemann. »Wer bietet eine Guinee?«

Niemand antwortete, und die Schnürbandverkäuferin warf ein: »Benehmen Sie sich doch moralisch, guter Mann, um der himmlischen Liebe willen! Oh, mit was für ’ner Grausamkeit die arme Seele verheiratet ist. Tisch und Bett sind teuer für manche Summe, bei meiner Seel’.«

»Gehen Sie höher, Versteigerer«, sagte der Heubinder.

»Zwei Guineen!«, sagte der Versteigerer, und niemand gab Antwort.

»Wenn Sie sie dafür nicht nehmen, müssen Sie in zehn Sekunden mehr geben«, sagte der Ehemann. »Nun gut. Also, Versteigerer, tun Sie noch eine dazu.«

»Drei Guineen – drei Guineen zum ersten!«, sagte der schnupfende Mann.

»Kein Angebot?«, sagte der Ehemann. »Mein Gott, sie hat mich wohl mindestens fünfzigmal so viel gekostet. Machen Sie weiter.«

»Vier Guineen!«, rief der Versteigerer.

»Ich will Ihnen was sagen, ich werd sie nicht für weniger als fünf verkaufen«, sagte der Ehemann und schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Schüsseln tanzten. »Ich werd sie für fünf Guineen demjenigen verkaufen, der mir das Geld zahlen und sie gut behandeln will, und er soll sie für immer haben und nie wieder was von mir hören. Aber sie soll nicht für weniger gehen. Also los – fünf Guineen, und sie ist die eure. Susan, du bist einverstanden?« Sie neigte den Kopf mit absoluter Gleichgültigkeit.

»Fünf Guineen«, sagte der Versteigerer, »oder sie wird zurückgezogen. Gibt jemand so viel? Zum letzten Mal. Ja oder nein?«

»Ja«, sagte eine laute Stimme vom Eingang.

Alle Blicke wandten sich um. In der dreieckigen Öffnung, die die Tür des Zeltes bildete, stand ein Matrose, der, von den übrigen unbemerkt, innerhalb der letzten zwei oder drei Minuten dazugekommen war. Totenstille folgte auf seine Zusage.

»Sie sagen, Sie tun’s?«, fragte der Ehemann und starrte ihn an.

»Das sag ich«, erwiderte der Matrose.

»Sagen ist eine Sache und Zahlen ’ne andere. Wo ist das Geld?«

Der Matrose zögerte einen Augenblick, blickte wieder auf die Frau, kam herein und faltete fünf knisternde Papierscheine auseinander und warf sie auf das Tischtuch. Es waren fünf Pfundnoten der Bank von England. Daraufhin ließ er die Schillinge einzeln niederklimpern – eins, zwei, drei, vier, fünf.

Der Anblick echten Geldes in voller Höhe als Erwiderung auf eine Herausforderung, die bis dahin als leicht hypothetisch eingeschätzt worden war, hatte eine große Wirkung auf die Zuschauer. Ihre Augen hefteten sich auf die Gesichter der Hauptakteure und dann auf die Banknoten, wie sie da, von den Schillingen beschwert, auf dem Tisch lagen.

Bis zu diesem Augenblick hätte man nicht mit Gewissheit behaupten können, dass es der Mann, trotz seiner peinigenden Erklärung, wirklich ernst meinte. Tatsächlich hatten die Zuschauer den Vorgang insgesamt als ein Stück ausgelassener, auf die Spitze getriebener Spöttelei betrachtet und angenommen, dass er, da ohne Arbeit, infolgedessen auch ohne Frieden mit der Welt, mit der Gesellschaft und mit seinen nächsten Angehörigen war. Doch mit der Forderung und Antwort echten Bargeldes schwand der fidele Leichtsinn der Szene. Eine gespenstische Farbe schien das Zelt zu erfüllen und das Aussehen aller, die darin waren, zu verändern. Die vergnügten Fältchen wichen aus den Gesichtern der Zuhörer, und sie warteten mit geöffneten Lippen.

»Also«, brach die Frau das Schweigen, so dass ihre leise, trockene Stimme ganz laut klang, »bevor du noch weitergehst, Michael, hör mir zu. Wenn du das Geld anrührst, gehen ich und dieses Mädchen mit dem Mann. Gib acht, dies ist kein Scherz mehr.«

»Ein Scherz? Natürlich ist es kein Scherz!«, rief ihr Mann, und sein Groll steigerte sich auf ihre Bemerkung hin. »Ich nehme das Geld, der Matrose nimmt dich. Das ist ganz einfach. Man hat es schon anderswo getan – warum nicht auch hier?«

»Es geht nur unter der Voraussetzung, dass die junge Frau will«, sagte der Matrose sanft. »Ich möchte um nichts in der Welt ihre Gefühle verletzen.«

»Meiner Treu, ich auch nicht«, sagte ihr Mann. »Aber sie will ja, vorausgesetzt sie kann das Kind haben. Sie hat das erst neulich gesagt, als ich davon sprach.«

»Schwören Sie das?«, sagte der Matrose zu ihr.

»Ja«, sagte sie, nachdem sie einen Blick auf ihres Mannes Gesicht geworfen und dort keine Reue gesehen hatte.

»Schön, sie soll das Kind haben, und der Handel ist perfekt«, sagte der Heubinder. Er nahm die Geldscheine des Matrosen, faltete sie gemächlich zusammen und steckte sie und die Schillinge mit dem Ausdruck der Endgültigkeit in eine verdeckte Brusttasche. Der Matrose schaute die Frau an und lächelte. »Kommen Sie!«, sagte er freundlich. »Die Kleine auch – je mehr, desto fröhlicher!« Sie hielt einen Moment inne und sah ihn genau an. Dann senkte sie die Augen wieder, sagte nichts, nahm das Kind auf und folgte ihm, als er dem Ausgang zuschritt. Dort angekommen, wandte sie sich um, zog ihren Ehering ab und schleuderte ihn durch das Zelt dem Heubinder ins Gesicht.

»Mike«, sagte sie, »ich habe ein paar Jahre lang mit dir gelebt und hatte nichts als Zank. Jetzt gehöre ich dir nicht mehr an. Ich will mein Glück woanders versuchen. Es wird besser für uns beide, für mich und Elizabeth-Jane, sein. Leb denn wohl!«

Sie fasste mit der rechten Hand den Arm des Matrosen und hob das Kind auf ihren linken; so ging sie aus dem Zelt und schluchzte bitterlich.

Ein stumpfer Blick der Betroffenheit erfüllte das Gesicht des Ehemanns, als ob er letztlich dieses Ende doch nicht vorhergesehen hätte, und einige der Gäste lachten.

»Ist sie fort?«, sagte er.

»Meiner Treu, ja, ganz fort ist sie«, sagten ein paar Bauern nahe der Tür.

Er erhob sich und ging mit dem vorsichtigen Schritt eines, der sich seines Alkoholquantums bewusst ist, zum Eingang. Einige andere folgten, und sie standen und schauten ins Dämmerlicht. Der Unterschied zwischen der inneren Friedlichkeit der Natur und den willentlichen Feindseligkeiten der Menschheit war an diesem Ort ganz deutlich. Im Gegensatz zu der Roheit der soeben im Zelt beendeten Handlung stand der Anblick mehrerer Pferde, die ihre Hälse liebevoll aneinanderrieben, während sie geduldig darauf warteten, für die Heimfahrt angeschirrt zu werden. Außerhalb des Jahrmarktes, in den Tälern und Wäldern, war alles ruhig. Die Sonne war eben untergegangen und der westliche Himmel von rosigen Wolken bedeckt, die unwandelbar erschienen und sich doch langsam veränderten. Dies zu beobachten war wie die Betrachtung eines erhabenen Bühnenwerkes aus einem verdunkelten Zuschauerraum. Angesichts dieser Szene, die auf jene andere folgte, regte sich ein natürlicher Instinkt, dem Menschen als dem Schandfleck in einem sonst freundlichen Universum abzuschwören, bis man sich erinnerte, dass alle irdischen Umstände wechselhaft sind und dass die Menschheit manche Nacht unschuldig schlafen mochte, wenn diese ruhigen Objekte laut tobten.

»Wo wohnt der Matrose?«, fragte ein Zuschauer, als sie sich vergebens umgeschaut hatten.

»Gott weiß, wo«, erwiderte der Mann, der die große Welt gesehen hatte. »Er ist hier zweifellos fremd.«

»Er kam vor ungefähr fünf Minuten herein«, sagte die Grützenfrau, die sich zu den Übrigen gesellte, die Hände in den Hüften. »Und dann ging er zurück, und dann guckte er wieder rein, und mir hat er nicht ’nen Penny eingebracht.«

»Geschieht dem Ehemann ganz recht«, sagte die Schnürbandverkäuferin. »Ein hübsches, rechtschaffenes Ding wie sie – was kann ein Mann mehr wollen? Ich frohlocke über den Geist der Frau. Ich hätte es auch so gemacht – gnade mir Gott, wenn nicht –, wenn ein Ehemann sich so zu mir benommen hätte. Ich würd’ gehen, und der könnt’ rufen und rufen, bis ihm die Kehle rau wär, aber ich würd’ nie zurückkommen, nicht bis zum Jüngsten Tag!«

»Na, der Frau wird’s jetzt besser gehn«, sagte ein anderer von bedächtigerer Art. »Denn Seefahrernaturen sind sehr guter Schutz für geschorene Lämmer, und der Mann scheint ’ne Menge Geld zu haben, was sie in letzter Zeit wohl nicht gewohnt war, allem Anschein nach.«

»Gebt acht – ich werd’ ihr nicht nachlaufen«, sagte der Heubinder und kehrte verstockt an seinen Platz zurück. »Lasst sie gehen! Wenn sie sich auf solche Grillen einlässt, muss sie dafür leiden. Es stand ihr nicht zu, das Mädchen mitzunehmen, 's ist mein Mädchen, und wenn's nochmal geschähe, sollte sie's nicht haben!«

Sei es aus irgendeinem schwachen Gefühl heraus, dass sie einen unentschuldbaren Vorgang mitangesehen hatten, sei es, weil es spät war, jedenfalls lichtete sich die Reihe der Kunden im Zelt kurz nach diesem Zwischenfall. Der Mann streckte seine Ellbogen auf dem Tisch vor, legte das Gesicht auf die Arme und begann bald zu schnarchen. Die Grützenverkäuferin beschloss, für die Nacht zu schließen, und nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass Rumflaschen, Milch, Korn, Rosinen und das Übrige, was ihr noch verblieben war, auf den Karren geladen wurden, kam sie an den Platz, wo der Mann lag. Sie schüttelte ihn, konnte ihn aber nicht aufwecken. Da das Zelt an dem Abend nicht abgebrochen werden sollte, weil der Jahrmarkt noch zwei oder drei Tage weiterging, beschloss sie, den Schläfer, der offensichtlich kein Landstreicher war, dort zu belassen, wo er war, und seinen Korb dazu. Sie löschte die letzte Kerze, ließ den Türaufschlag des Zeltes herab, ging hinaus und fuhr davon.

II

Die Morgensonne flutete durch die Ritzen der Leinwand, als der Mann erwachte. Ein warmer Glanz durchdrang die gesamte Atmosphäre des Jahrmarktszeltes, und eine einzelne große blaue Fliege summte musikalisch im Kreis herum. Außer dem Summen der Fliege war nicht ein Laut zu hören. Er blickte umher – auf die Bänke – auf den von Holzböcken gestützten Tisch – auf seinen Werkzeugkorb – auf den Ofen, wo die Weizengrütze gekocht hatte – auf die leeren Schalen – auf ein paar verschüttete Weizenkörner – auf die Korken, die den grasbewachsenen Boden übersäten. Unter diesem Allerlei entdeckte er einen kleinen, glänzenden Gegenstand und hob ihn auf. Es war der Ring seiner Frau.

Ein verworrenes Bild der Ereignisse des vorherigen Abends schien ihm wieder zu kommen, und er schob seine Hand in seine Brusttasche. Ein Rascheln offenbarte die Geldscheine des Matrosen, die er achtlos hineingeschoben hatte.

Diese zweite Bestätigung seiner getrübten Erinnerungen war genug; er wusste jetzt, dass es keine Träume waren. Er blieb sitzen und blickte einige Zeit zu Boden. »Ich muss hier raus, so schnell ich kann«, sagte er endlich bedächtig wie einer, der seine Gedanken nicht zu fassen kriegen konnte, ohne sie auszusprechen. »Sie ist fort – das ist sie bestimmt – fort mit dem Matrosen, der sie gekauft hat, und der kleinen Elizabeth-Jane. Wir sind hierher gewandert, und ich hatte die Weizengrütze und Rum darin – und habe sie verkauft. Ja, so ist’s geschehen, und da bin ich nun. Was soll ich also tun – bin ich wohl nüchtern genug, um zu gehen?« Er stand auf und befand, dass er in einer recht guten Verfassung war, um sich ungehindert fortzubewegen. Als Nächstes schulterte er seinen Werkzeugkorb und fand, dass er ihn tragen konnte. Dann hob er die Tür des Zeltes an und trat hinaus ins Freie.

Hier sah sich der Mann mit düsterer Neugier um. Die Frische des Septembermorgens belebte und kräftigte ihn, wie er dastand. Er und seine Familie waren bei ihrer Ankunft am Vorabend müde gewesen, und sie hatten nur wenig von dem Platz wahrgenommen, so dass er ihn jetzt mit neuen Augen betrachtete. Er stellte sich als der höchste Teil einer offenen Ebene dar, die an einem Ende durch eine Anpflanzung begrenzt wurde und über eine gewundene Straße zu erreichen war. Am Fuße befand sich das Dorf, das der Hochebene und dem alljährlichen Markt, der darauf abgehalten wurde, seinen Namen gab. Der Flecken erstreckte sich in Täler hinunter und weiter auf andere Hochflächen, die von Hügelgräbern übersät und von den Überresten prähistorischer Befestigungsanlagen durchzogen waren. Die ganze Szene lag unter den Strahlen einer soeben aufgegangenen Sonne, die noch keinen einzigen Halm des tauschweren Grases getrocknet hatte, auf das die gelben und roten Wagen weite Schatten warfen, wobei die der Felgen eines jeden Rades zur Form von Kometenbahnen verlängert wurden. All die Zigeuner und Schausteller, die auf dem Platz geblieben waren, lagen wohlig in ihren Karren oder Zelten oder in Pferdedecken gewickelt darunter und waren still und starr wie der Tod, abgesehen von einem gelegentlichen Schnarchen, das ihre Anwesenheit verriet. Doch die Siebenschläfer hatten einen Hund, und Hunde von mysteriöser Rasse, wie sie fahrendem Volk gehören, ebensosehr Katzen wie Hunde und ebensosehr Füchse wie Katzen, lagen auch dort herum. Ein kleiner fuhr unter einem der Karren auf, bellte aus Prinzip und legte sich schnell wieder hin. Er war der einzige nachweisliche Zuschauer beim Weggang des Heubinders vom Weydoner Jahrmarktsplatz.

Dies schien seinem Wunsch zu entsprechen. Er ging gedankenverloren weiter, ohne auf die Goldammern, die mit Strohhalmen in den Schnäbeln um die Hecken flatterten, zu achten, auf die Hüte der Pilze und das Klingeln der heimischen Schafsglocken, deren Träger das Glück gehabt hatten, nicht auf den Jahrmarkt gekommen zu sein. Als er eine gute Meile vom Schauplatz des vorherigen Abends entfernt einen Feldweg erreichte, setzte der Mann seinen Korb ab und lehnte sich an ein Tor. Ein paar schwierige Probleme beschäftigten ihn. »Hab ich gestern Abend jemandem meinen Namen genannt, oder hab ich meinen Namen nicht genannt?«, sagte er zu sich und kam endlich zu dem Schluss, er habe es nicht getan. Sein gesamtes Verhalten zeigte hinreichend, wie überrascht und gereizt er war, dass seine Frau ihn so wörtlich genommen hatte – so viel konnte man seinem Gesicht entnehmen und der Art, wie er an einem Strohhalm kaute, den er aus der Hecke gezogen hatte. Er wusste, dass sie einigermaßen erregt gewesen sein musste, um dies zu tun; außerdem musste sie geglaubt haben, das Geschäft besäße auf irgendeine Art bindende Kraft. In letzterer Hinsicht war er sich beinahe sicher, da er ihren von Leichtfertigkeit freien Charakter und die außerordentliche Schlichtheit ihres Verstandes kannte. Es mochten auch genügend Groll und wilde Entschlossenheit unter ihrer gewöhnlichen Sanftmut gewesen sein, die sie alle augenblicklichen Zweifel ersticken ließen. Als er bei einer früheren Gelegenheit im Rausch erklärt hatte, er würde sich ihrer entledigen, wie er es jetzt getan hatte, hatte sie im resignierten Ton eines Fatalisten erwidert, sie würde ihn dies nicht mehr viele Male sagen hören, bevor es geschähe … »Und doch weiß sie, dass ich nicht bei Sinnen bin, wenn ich das tue!«, rief er aus. »Nun, ich muss umherwandern, bis ich sie finde … Zum Kuckuck mit ihr, warum hat sie’s nicht besser gewusst, als mich in diese Schande zu bringen!«, brüllte er los. »Sie war doch nicht bezecht, wenn ich es auch war. Das sieht Susan ähnlich, so eine idiotische Einfalt. Fügsam! – Diese Fügsamkeit hat mir Schlimmeres angetan als die bitterste Wut!«

Als er ruhiger war, kehrte er zu seiner ursprünglichen Überzeugung zurück, dass er sie und seine kleine Elizabeth-Jane irgendwie finden musste und mit der Schande fertigwerden, so gut er konnte. Er hatte sie selbst verursacht und sollte sie auch ertragen. Doch zunächst beschloss er, einen Eid abzulegen, einen bedeutenderen Eid, als er je geschworen hatte: und um es recht zu tun, brauchte er einen angemessenen Ort und eine geeignete Szenerie, denn es war etwas Fetischistisches in den Glaubensüberzeugungen dieses Mannes. Er schulterte seinen Korb und ging weiter und warf seine Blicke forschend auf die Landschaft ringsum, während er einherging, bis er in einer Entfernung von drei oder vier Meilen die Dächer eines Dorfes und den Turm einer Kirche sah. Er ging sofort auf Letztere zu. Das Dorf lag ganz still, da es die reglose Stunde im bäuerlichen Alltagsleben war, die die Zeitspanne zwischen dem Aufbrechen der Feldarbeiter zu ihrer Arbeit und dem Aufstehen ihrer Frauen und Töchter zur Bereitung des Frühstücks für ihre Rückkehr ausfüllt.

Er erreichte daher die Kirche unbeobachtet, und da die Tür nur zugeklinkt war, trat er ein. Der Heubinder setzte seinen Korb beim Taufstein ab, durchquerte das Kirchenschiff, bis er zur Chorschranke gelangte, öffnete das Türchen und betrat den Chorraum, wo er einen Augenblick lang ein Gefühl des Sonderbaren zu verspüren schien, dann kniete er oben auf den Stufen nieder. Er senkte seinen Kopf auf das mit Schließen versehene Buch, das auf dem Altartisch lag und sagte laut: »Ich, Michael Henchard, lege an diesem Morgen des sechzehnten September hier an diesem feierlichen Ort vor Gott einen Eid ab, dass ich für die kommenden einundzwanzig Jahre alle starken Getränke meiden will, ein Jahr nämlich für jedes Jahr, das ich gelebt habe. Und dies schwöre ich auf dem Buche vor mir, und mögen mich Taubheit, Blindheit und Hilflosigkeit schlagen, wenn ich diesen meinen Eid breche!«

Als er es gesagt und das große Buch geküsst hatte, erhob sich der Heubinder und schien erleichtert, einen Anfang in eine neue Richtung gemacht zu haben. Während er noch für einen Augenblick im Eingang stand, sah er eine dicke Rauchwolke plötzlich aus dem roten Schornstein eines nahen Häuschens dringen und wusste, dass die Bewohnerin soeben ihr Holzfeuer angezündet hatte. Er ging zur Tür hinüber, und die Hausfrau willigte ein, ihm für geringes Entgelt ein Frühstück zu bereiten, was auch geschah. Dann machte er sich auf die Suche nach Frau und Kind. Wie verzwickt dieses Unterfangen war, wurde bald genug deutlich. Obwohl er nachforschte und sich erkundigte und hierhin und dorthin wanderte, Tag für Tag, waren keine Personen, wie er sie beschrieb, seit dem Abend des Jahrmarktes irgendwo gesehen worden. Und es erschwerte die Suche noch, dass er keinen Ton über den Namen des Matrosen erfahren konnte. Da ihm das Geld knapp wurde, beschloss er nach einigem Zögern, das Geld des Matrosen auf die Fortsetzung der Suche zu verwenden, doch es war gleichermaßen vergebens. In Wahrheit hinderte eine gewisse Scheu, sein Tun zu offenbaren, Michael Henchard daran, die Nachforschung mit dem lauten Jagdgeheul zu betreiben, das eine solche Verfolgung erfordert, um sie wirksam zu machen; und aus diesem Grund erhielt er wahrscheinlich keinen Hinweis, obwohl er alles tat, was keine Erklärung der Umstände erforderte, unter denen er sie verloren hatte.

Wochen wurden zu Monaten, und noch immer suchte er und schlug sich in der Zwischenzeit mit Gelegenheitsarbeiten durch. Mittlerweile war er in einem Hafenort angelangt, und dort brachte er in Erfahrung, dass Personen, die in etwa seiner Beschreibung entsprachen, kurze Zeit zuvor ausgewandert seien. Da sagte er sich, dass er nicht länger suchen wolle, sondern hingehen und sich in der Gegend niederlassen, die er schon seit einiger Zeit im Sinn hatte. Am nächsten Tag machte er sich auf und reiste gen Südwesten und hielt nicht inne, von nächtlicher Unterkunft abgesehen, bis er die Stadt Casterbridge, in einem sehr entlegenen Teil von Wessex, erreicht hatte.

III

Die Landstraße nach dem Dorf Weydon-Priors war wiederum von Staub bedeckt. Die Bäume hatten wie ehedem ihr bräunlichgrünes Aussehen angenommen, und wo einst die Familie Henchard zu dritt einhergegangen war, gingen nun zwei Personen, die zu jener Familie nicht ohne Beziehung waren.

Aufs Ganze gesehen hatte die Szene so viel von ihrer früheren Eigenart, selbst bis hin zu den Stimmen und dem Geklapper vom benachbarten Dorfanger, dass es von daher der auf die zuvor aufgezeichnete Episode folgende Nachmittag hätte sein können. Ein Wandel ließ sich nur in Einzelheiten wahrnehmen, doch hier war es offensichtlich, dass eine lange Reihe von Jahren vorübergegangen war. Eine der beiden, die auf der Straße gingen, war die, die sich bei der früheren Gelegenheit als Henchards junge Frau gezeigt hatte; ihr Gesicht hatte jetzt viel von seiner Rundlichkeit eingebüßt, ihre Haut sich in ihrer Beschaffenheit verändert, und obwohl ihr Haar die Farbe nicht verloren hatte, war es doch beträchtlich dünner als zuvor. Sie trug die Trauerkleider einer Witwe. Ihre Begleiterin, ebenfalls in Schwarz, erschien als eine wohlgestaltete junge Frau von ungefähr achtzehn Jahren, die vollständig im Besitz jener kurzlebigen wertvollen Essenz Jugend war, die selbst Schönheit ist, unabhängig von Gesichtsfarbe und -kontur. Ein Blick genügte, um das Auge wissen zu lassen, dass dies Susan Henchards erwachsene Tochter war. Während der mittlere Lebenssommer sein verhärtendes Zeichen auf das Gesicht der Mutter gedrückt hatte, waren ihre früheren frühlingshaften Eigentümlichkeiten von der Zeit so geschickt auf die zweite Gestalt, ihr Kind, übertragen worden, dass es jemandem, der darüber nachgedacht hätte, für den Augenblick als eine sonderbare Unvollkommenheit in der Fortsetzungskraft der Natur erschienen wäre, dass gewisse Tatsachen, um die die Mutter wusste, nicht auch im Geist der Tochter vorhanden waren.

Sie gingen Hand in Hand, und man konnte sehen, dass sie dies aus schlichter Zuneigung taten. Die Tochter trug in der anderen Hand einen Weidenkorb altmodischer Machart, die Mutter ein blaues Bündel, das in auffälligem Kontrast zu ihrem schwarzen Zeug stand.

Als sie am Rande des Dorfes anlangten, folgten sie demselben Pfad wie früher und stiegen zum Jahrmarkt hinauf. Auch hier war es augenfällig, dass die Jahre sich bemerkbar gemacht hatten. Gewisse mechanische Verbesserungen hätte man an den Karussells und Schiffschaukeln, an den Maschinen, die bäuerliche Kraft und Schwere maßen, und in den Aufbauten, die dem Schießvergnügen gewidmet waren, erkennen können. Doch das eigentliche Geschäft des Jahrmarkts war beträchtlich geschrumpft. Die neuen regelmäßigen Märkte der benachbarten Städte begannen den Handel, der sich hier seit Jahrhunderten vollzog, ernstlich zu beeinträchtigen. Die Hürden für Schafe, die Taue zum Anbinden der Pferde waren nur etwa halb so lang, wie sie einst gewesen waren. Die Stände der Schneider, Strumpfhändler, Böttcher, Leinwandhändler und dergleichen Gewerbe mehr waren fast verschwunden, und die Gefährte waren weit weniger zahlreich. Mutter und Tochter schlängelten sich ein Stückchen weit durch die Menge und blieben dann stehen.

»Warum haben wir unsere Zeit vertan und sind hierher gegangen? Ich dachte, du wolltest weiterkommen?«, sagte das Mädchen.

»Ja, meine liebe Elizabeth-Jane«, erklärte die andere.

»Doch ich hatte gerade Lust, hier heraufzuschauen.«

»Warum?«

»Hier war es, wo ich Newson zuerst begegnete – an solch einem Tag wie diesem.«

»Hier Vater zuerst begegnet? Ja, du hast mir schon davon erzählt. Und jetzt ist er ertrunken und von uns gegangen!« Während sie sprach, zog das Mädchen eine Karte aus der Tasche und blickte mit einem Seufzer darauf. Sie war schwarz umrandet, und innerhalb einer Verzierung, die an eine Gedenktafel erinnerte, waren die Worte geschrieben: »Zum liebevollen Gedächtnis an Richard Newson, Matrose, der unglückselig auf See verschollen ist, im Monat November 184-, einundvierzig Jahre alt.«

»Und hier war es«, fuhr ihre Mutter mit noch größerem Zögern fort, »wo ich zuletzt den Verwandten sah, nach dem wir suchen wollen – Mr. Michael Henchard.«

»Wie ist er genau mit uns verwandt, Mutter? Es ist mir nie deutlich gesagt worden.«

»Er ist, oder war – denn er mag schon tot sein – ein angeheirateter Verwandter«, sagte ihre Mutter bedachtsam.

»Das ist genau, was du schon ein Dutzend Mal gesagt hast«, erwiderte die junge Frau und sah dabei gleichgültig um sich, »er ist wohl kein naher Verwandter?«

»Keineswegs.«

»Er war ein Heubinder, nicht wahr, als du zuletzt von ihm gehört hast?«

»Ja, das war er.«

»Er hat mich wohl gar nicht gekannt?«, fuhr das Mädchen unschuldig fort.

Mrs. Henchard schwieg einen Moment und antwortete dann verlegen: »Natürlich nicht, Elizabeth-Jane. Aber komm hier entlang.« Sie ging auf einen anderen Teil des Feldes zu.

»Es hat nicht viel Zweck, sich hier nach jemandem zu erkundigen, möcht’ ich meinen«, bemerkte die Tochter, als sie ringsum schaute. »Leute auf Jahrmärkten wechseln wie die Blätter der Bäume, und ich könnte behaupten, dass du heute die Einzige hier bist, die vor all den Jahren hier war.«

»Dessen bin ich mir nicht so sicher«, sagte Mrs. Newson, wie sie sich jetzt nannte, und blickte eifrig auf etwas, das sich ein kleines Stück weiter unterhalb einer grünen Böschung befand.

»Sieh mal dort.«

Die Tochter schaute in die angezeigte Richtung. Das bezeichnete Objekt war ein Dreifuß aus Stöcken, die in die Erde geschlagen waren, woran ein dreibeiniger Kessel hing, der durch ein schwelendes Holzfeuer darunter warm gehalten wurde. Über den Topf beugte sich eine alte Frau, hager, verrunzelt und beinahe in Lumpen. Sie rührte den Inhalt des Topfes mit einem großen Löffel um und krächzte gelegentlich mit brüchiger Stimme: »Gute Weizengrütze zu verkaufen!«

Es war tatsächlich die ehemalige Inhaberin des Grützenzeltes – einst florierend, reinlich, weißbeschürzt und klimpernd vor Geld – jetzt zeltlos, schmutzig, ohne Tische und Bänke und fast ohne Kunden, außer zwei kleinen bräunlichen Jungen, die herankamen und »Für ’nen halben Penny, bitte – gut gemessen« verlangten, was sie in zwei angeschlagenen gelben Schalen aus gewöhnlichstem Steingut servierte.

»Sie war damals hier«, begann Mrs. Newson wieder und machte einen Schritt, wie um näherzutreten.

»Sprich nicht mit ihr – es ist nicht schicklich!«, drängte die andere.

»Ich will nur eben ein Wort sagen – du, Elizabeth-Jane, kannst hierbleiben.«

Dem Mädchen war dies nur recht, und sie wandte sich einigen Ständen mit buntbedruckten Stoffen zu, während ihre Mutter weiterging. Die alte Frau bettelte Letztere an, etwas zu kaufen, sobald sie sie sah, und kam Mrs. Henchard-Newsons Bitte um Grütze für einen Penny mit größerer Beflissenheit nach als in jüngeren Jahren, da sie noch Portionen für sechs Penny ausgab. Als die sogenannte Witwe die Schale mit dünnem, armseligem Brei, der die reichhaltigere Mischung von ehemals ersetzte, genommen hatte, öffnete die Hexe einen kleinen Korb hinter dem Feuer und flüsterte mit verschlagenem Blick: »’ne kleine Idee Rum rein? Geschmuggelt, wissen Sie – sagen wir, für zwei Penny – dann geht’s runter wie’n Stärkungstrank.«

Ihre Kundin lächelte bitter beim Wiederaufleben des alten Tricks und schüttelte den Kopf mit einer Bedeutung, die die alte Frau bei weitem nicht übersetzen konnte. Sie gab vor, mit dem dargebotenen bleiernen Löffel ein wenig von der Grütze zu essen, und sagte währenddessen behutsam zu der Hexe: »Sie haben wohl bessere Tage gesehen?«

»Ach, gnä’ Frau, das können Sie wohl sagen!«, erwiderte die alte Frau und öffnete sogleich die Schleusen ihres Herzens. »Ich habe auf diesem Jahrmarkt gestanden – als Mädchen, Frau und Witwe – an die neununddreißig Jahr, und in der Zeit hab ich erfahren, was es hieß, mit den reichsten Bäuchen im Land Geschäfte zu machen! Gnä’ Frau, Sie würden’s kaum glauben, dass ich einst Besitzerin eines großen Festzeltes war, der Hauptattraktion des Jahrmarkts. Niemand konnte kommen, niemand konnte gehen, ohne einen Teller von Mrs. Goodenoughs Weizengrütze zu essen. Ich kannte den Geschmack der Geistlichen und den der feinen Herrchen, und ich kannte den Geschmack der Stadt und den des Landes. Ich kannte sogar den Geschmack der rüden, schamlosen Weiber. Doch, Herr meines Lebens, die Welt hat kein Gedächtnis; geradlinige Geschäfte bringen keinen Gewinn – ’s sind die Verschlagenen und Hinterlistigen, die heutzutage vorankommen!«

Mrs. Newson blickte um sich – ihre Tochter beugte sich noch über die Stände in einiger Entfernung. »Können Sie sich noch«, sagte sie vorsichtig zu der alten Frau, »an den Verkauf einer Frau durch ihren Ehemann in Ihrem Zelt heute vor achtzehn Jahren erinnern?«

Die Hexe dachte nach und schüttelte halb den Kopf. »Wenn’s ’ne große Sache gewesen wär, wär’s mir sofort wieder eingefallen«, sagte sie. »Ich kann mich noch auf jeden ernstlichen Strauß zwischen Eheleuten besinnen, auf jeden Mord, jeden Totschlag, sogar jeden Taschendiebstahl – wenigstens die großen –, wenn’s mir beschieden war, ’s mitanzusehen. Doch einen Verkauf? Ging das eher ruhig vor sich?«

»Nun, ja, ich glaube wohl.«

Die Grützenfrau schüttelte wieder halb den Kopf.

»Und doch«, sagte sie, »– ja. Jedenfalls kann ich mich auf einen Mann besinnen, der irgend so etwas tat – einen Mann in einer Kordjacke mit ’nem Korb voll Werkzeug; doch, himmlischer Herrgott, wir scheren uns nicht drum, nicht um so was. Der einzige Grund, warum ich mich noch auf den Mann besinnen kann, ist, dass er das Jahr drauf wieder zum Jahrmarkt zurückkam und ganz im Vertrauen zu mir sagte, dass, wenn ’ne Frau je nach ihm fragen tät’, ich ihr sagen sollte, dass er nach – wohin doch? – Casterbridge – ja – nach Casterbridge gegangen sei, sagte er, doch, Herr meines Lebens, ich hätte nicht mehr dran gedacht!«

Mrs. Newson hätte die alte Frau belohnt, soweit es ihre geringen Mittel erlaubten, wenn sie nicht im Stillen daran gedacht hätte, dass ihr Mann durch den Trank der skrupellosen Frau erniedrigt worden war. Sie dankte ihrer Informantin kurz und gesellte sich wieder zu Elizabeth, die sie empfing mit: »Mutter, lass uns doch weitergehen – es war kaum schicklich für dich, dort eine Erfrischung zu kaufen. Ich sehe es nur die Gemeinsten tun.«

»Ich habe jedoch erfahren, was ich wollte«, sagte ihre Mutter ruhig. »Das letzte Mal, als unser Verwandter diesen Jahrmarkt besuchte, sagte er, er wohne in Casterbridge. Es ist ein langer, langer Weg von hier, und es ist viele Jahre her, dass er es sagte, doch ich denke, wir wollen hingehen.«

Damit verließen sie den Jahrmarkt und gingen weiter zum Dorf hinunter, wo sie ein Nachtquartier erhielten.

IV

Henchards Frau handelte in bester Absicht, doch sie hatte sich in Schwierigkeiten verstrickt. Wohl hundertmal schon war sie nahe daran gewesen, ihrer Tochter Elizabeth-Jane die wahre Geschichte ihres Lebens zu erzählen, dessen tragische Krise der Handel auf dem Jahrmarkt von Weydon gewesen war, bei dem sie nicht viel älter war als jetzt das Mädchen neben ihr. Doch sie hatte es sein lassen. Ein unschuldiges Mädchen war so in dem Glauben aufgewachsen, dass die Beziehungen zwischen dem heiteren Matrosen und ihrer Mutter die üblichen waren, wie es immer den Anschein gehabt hatte. Das Risiko, die tiefe Zuneigung eines Kindes durch bestürzende Vorstellungen, die mit seinem Wachstum gewachsen waren, zu gefährden, war zu furchtbar für Mrs. Henchard, als dass sie es erwägen konnte. Tatsächlich war es töricht erschienen, Elizabeth-Jane aufklären zu wollen.

Doch Susan Henchards Furcht, das Herz ihrer innig geliebten Tochter durch eine Enthüllung zu verlieren, hatte wenig mit einem Gefühl des Unrechtes von ihrer Seite zu tun. Ihre Schlichtheit – der ursprüngliche Grund für Henchards Verachtung – hatte es zugelassen, dass sie in der Überzeugung weiterlebte, Newson habe durch seinen Kauf ein moralisch bestehendes und vertretbares Recht auf sie erworben – obwohl die genauen Zusammenhänge und die gesetzlichen Grenzen dieses Rechtes undeutlich waren. Gebildeten Geistern mag es seltsam erscheinen, dass eine vernunftbegabte junge Ehefrau an die Ernsthaftigkeit einer solchen Übergabe glauben konnte; und gäbe es nicht zahlreiche weitere Fälle desselben Glaubens, möchte man die Sache kaum für wahr halten. Doch sie war keineswegs die erste oder letzte bäuerliche Frau, die ihrem Käufer fromm und gewissenhaft angehangen hatte, wie nur allzu viele ländliche Dokumente zeigen.

Die Geschichte von Susan Henchards Abenteuern in der Zwischenzeit kann in zwei bis drei Sätzen erzählt werden. Gänzlich hilflos war sie nach Kanada hinweggeführt worden, wo sie mehrere Jahre ohne großen weltlichen Erfolg gelebt hatten, obwohl sie so hart arbeitete, wie es eine Frau nur konnte, damit es in ihrem Häuschen fröhlich zuging und an nichts fehlte. Als Elizabeth-Jane ungefähr zwölf Jahre alt war, kehrten die drei nach England zurück und ließen sich in Falmouth nieder, wo Newson ein paar Jahre lang seinen Lebensunterhalt als Bootsführer und Handlanger im Küstendienst verdiente.

Dann schloss er sich dem Neufundlandhandel an, und während eben dieser Zeit erlebte Susan ein Erwachen. Eine Freundin, der sie ihre Geschichte anvertraute, machte sich darüber lustig, dass sie ihre Situation so ernsthaft akzeptierte, und vorbei war es mit ihrem inneren Frieden. Als Newson am Ende eines Winters heimkehrte, sah er, dass die Täuschung, die er so sorgsam aufrechterhalten hatte, für immer geschwunden war.

Es folgte dann eine Zeit der Traurigkeit, während der sie zu ihm von ihren Zweifeln sprach, ob sie noch länger mit ihm leben könne. Newson brach wieder zum Neufundlandhandel auf, als die Jahreszeit dafür kam. Die wenig später eintreffende unbestimmte Nachricht, er sei auf See verschollen, löste ein Problem, das für ihr sanftmütiges Gewissen zur Qual geworden war. Sie sah ihn nicht wieder.

Von Henchard hörten sie nichts. Für die Lehensleute der Arbeit war das England jener Tage ein Kontinent, und eine Meile war ein geographischer Grad.

Elizabeth-Jane entwickelte sich früh zur Fraulichkeit. Eines Tages, vielleicht einen Monat, nachdem sie von Newsons Tod vor der Küste von Neufundland erfahren hatten und das Mädchen ungefähr achtzehn war, saß sie auf einem Weidenstuhl in dem Häuschen, das sie noch bewohnten, und knüpfte Netze für die Fischer. Ihre Mutter, die in einer hinteren Ecke desselben Raumes mit derselben Arbeit beschäftigt war, ließ die schwere Holznadel, die sie einfädelte, sinken und betrachtete ihre Tochter gedankenvoll. Die Sonne schien zur Tür herein auf den Kopf der jungen Frau und das Haar, das sie lose trug, so dass die Strahlen hineinströmten wie in das Dickicht eines Haselstrauches. Ihr Gesicht besaß, obgleich es ein wenig bleich und unfertig war, in vielversprechendem Maße das Rohmaterial der Schönheit. Es war eine unterschwellige Anmut darin, die mühsam danach strebte, sich durch die vorläufigen Rundungen der Unreife hindurch und die zufälligen Beeinträchtigungen, die von den angespannten Lebensumständen herrührten, zu enthüllen. Sie war von schönem Knochenbau, schön jedoch noch kaum in Fleisch und Blut. Möglicherweise würde sie niemals volle Schönheit erreichen, es sei denn, sie könnte die verhärmenden Begleiterscheinungen ihrer täglichen Existenz umgehen, bevor die wandelbaren Teile ihres Gesichtsausdrucks ihre endgültige Ausformung angenommen hätten.

Der Anblick des Mädchens machte die Mutter traurig – nicht auf unbestimmte Weise, sondern durch logischen Schluss. Sie beide waren noch immer in einer Zwangsjacke der Armut, aus der sich zu befreien sie so oft um des Mädchens willen versucht hatte. Seit langem hatte die Frau bemerkt, wie eifrig und beständig der junge Geist ihrer Gefährtin sich um Erweiterung mühte; und doch blieb er jetzt, in ihrem achtzehnten Jahr, noch erst wenig entfaltet. Tatsächlich war Elizabeth-Janes Herzenswunsch – nüchtern und unterdrückt –, zu sehen, zu hören und zu verstehen. Wie konnte sie eine Frau von größerem Wissen, von höherem Ansehen – »besser«, wie sie es nannte – werden, dies war ihre beständige Frage an ihre Mutter. Sie forschte den Dingen tiefer nach, als andere Mädchen in ihrer Lage es jemals taten, und ihre Mutter seufzte, weil sie fühlte, dass sie ihr bei diesem Forschen nicht helfen konnte.

Der Matrose, ob nun ertrunken oder nicht, war ihnen jetzt wahrscheinlich verloren, und Susans unerschütterliches frommes Festhalten an ihm als ihrem eigentlichen Ehemann, bis ihre Ansichten durch Aufklärung erschüttert wurden, war nicht mehr geboten. Sie fragte sich, ob nicht, nun da sie wieder frei war, der gegenwärtige Augenblick ein so günstiger wäre, wie sie ihn in einer Welt, in der alles so ungünstig gewesen war, nur finden konnte, um in einer verzweifelten Anstrengung Elizabeth voranzubringen. Ihren Stolz hinunterzuschlucken und nach ihrem ersten Ehemann zu suchen erschien – ob das nun weise war oder nicht – als der beste Schritt für den Anfang. Er hatte sich vielleicht ins Grab getrunken. Doch andererseits mochte er dafür zu viel Verstand gehabt haben; denn zu ihrer Zeit mit ihm hatte er nur zu Zechereien geneigt, war kein Gewohnheitstrinker gewesen.

Auf jeden Fall stand die Korrektheit einer Rückkehr zu ihm, wenn er noch lebte, außer Frage. Das Heikle an der Suche nach ihm lag darin, Elizabeth aufzuklären, ein Vorgehen, das in Betracht zu ziehen ihre Mutter nicht ertragen konnte. Schließlich beschloss sie, die Sache anzugehen, ohne dem Mädchen ihre frühere Beziehung zu Henchard anzuvertrauen, und es ihm, wenn sie ihn fänden, zu überlassen, welche Schritte er zu diesem Zweck unternehmen wollte. Dies erklärt ihre Unterhaltung auf dem Jahrmarkt und den halbinformierten Zustand, in dem Elizabeth weiterhin belassen wurde.

Solchermaßen setzten sie ihre Reise fort und vertrauten einzig auf das schwache Licht, das die Grützenfrau auf Henchards Aufenthalt geworfen hatte. Strengste Sparsamkeit war unerlässlich. Mal hätte man sie zu Fuß, mal auf Bauernwagen, mal auf Fuhrmannsgespannen sehen können, und so kamen sie Casterbridge näher. Elizabeth-Jane entdeckte zu ihrer Besorgnis, dass die Gesundheit ihrer Mutter nicht mehr war wie einst, und immer wieder war in ihrem Reden jener resignierte Ton, der anzeigte, wie wenig es ihr, wenn nicht das Mädchen wäre, leidtäte, von einem Leben, dessen sie gründlich müde wurde, Abschied zu nehmen.

Es war an einem Freitagabend, fast Mitte September, und kurz vor der Dämmerung, als sie den Gipfel eines Hügels erreichten, der etwa eine Meile von dem Ort, den sie suchten, entfernt lag. Zur Landstraße hin standen hier Hecken auf hohen Böschungen, und sie kletterten auf den grünen Rasen, der dahinter lag, und setzten sich nieder. Von dem Fleck aus konnte man die ganze Stadt und ihre Umgebung übersehen.

»Was für ein altmodischer Ort das zu sein scheint!«, sagte Elizabeth-Jane, während ihre schweigende Mutter über andere als topographische Dinge nachsann. »Er ist ganz zusammengedrängt und von einer viereckigen Mauer aus Bäumen eingeschlossen, wie ein Stück Gartenland mit einer Buchsbaumeinfassung.«

Seine Viereckigkeit war tatsächlich das, was am meisten ins Auge fiel an diesem altertümlichen Städtchen, dem Städtchen Casterbridge, das zu jener Zeit, wiewohl sie nicht lange zurückliegt, von jedwedem Hauch des Modernen unberührt war. Es war kompakt wie eine Schachtel Dominosteine. Es hatte keine Vororte – im üblichen Sinn. Land und Stadt trafen sich auf einer mathematischen Linie.

Hoch emporsteigenden Vögeln musste Casterbridge an diesem schönen Abend als ein Mosaik aus gedämpften Rot-, Braun-, Grau- und Kristalltönen erscheinen, das durch einen rechtwinkligen Rahmen tiefen Grüns zusammengehalten wurde. Dem auf gleicher Höhe befindlichen Auge der Menschen war es eine undeutliche Masse hinter einer dichten Einfriedung aus Linden und Kastanien, inmitten von Meilen abgerundeten Hochlands und konkav gewölbter Felder gelegen.

Allmählich zergliederte der Blick die Masse in Türme, Giebel, Schornsteine und Fensterflügel, wobei die höchsten Verglasungen blind und blutunterlaufen von dem Kupferfeuer strahlten, das sie von dem Gürtel sonnenerleuchteter Wolken im Westen auffingen.

Von der Mitte jeder der Seiten dieses baumbegrenzten Vierecks gingen Alleen aus nach Ost, West und Süd in die ausgedehnte Weite von Getreideland und Talmulden bis zu einer Entfernung von etwa einer Meile. Auf einer dieser Alleen schickten sich die Fußgänger an, die Stadt zu betreten. Bevor sie sich erhoben hatten, um weiterzugehen, waren zwei Männer an der anderen Seite der Hecke vorübergekommen, die in ein Streitgespräch verwickelt waren.

»Nanu«, sagte Elizabeth, als sie entschwanden, »haben nicht diese Männer bestimmt im Gespräch den Namen Henchard erwähnt – den Namen unseres Verwandten?«

»Ich meine es auch«, sagte Mrs. Newson.

»Das scheint ein Hinweis für uns zu sein, dass er noch hier ist.«

»Ja.«

»Soll ich ihnen nachlaufen und sie nach ihm fragen –«

»Nein, nein, nein! Um nichts in der Welt gerade jetzt. Er mag im Arbeitshaus sein oder im Stock, was wissen wir schon.«

»Du liebe Zeit – warum denkst du denn so etwas, Mutter?«

»Es war nur dahergesagt – nichts weiter! Aber wir müssen im stillen Erkundigungen anstellen.«

Da sie sich genügend ausgeruht hatten, setzten sie beim Einbruch des Abends ihren Weg fort. Die dichten Bäume der Allee machten die Straße dunkel wie einen Tunnel, obgleich das offene Land zu beiden Seiten noch unter schwachem Tageslicht war; mit anderen Worten, sie schritten durch eine Mitternacht zwischen zwei Dämmerungen hindurch. Die Merkmale der Stadt waren von lebhaftem Interesse für Elizabeths Mutter, nun da die menschliche Seite in den Vordergrund trat. Sobald sie herangewandert waren, konnten sie sehen, dass die Einfriedung knorriger Bäume, die Casterbridge umrahmte, selbst eine Allee war, die oberhalb einer niedrigen grünen Böschung oder Steilwand lag, mit einem Graben davor, der jetzt sichtbar wurde. Hinter Allee und Böschung befand sich eine mehr oder weniger durchgehende Mauer, und hinter der Mauer drängten sich die Wohnstätten der Bürger.

Die zwei Frauen wussten es nicht, doch waren diese äußeren Merkmale nichts als das alte Verteidigungswerk der Stadt, das als Promenade angelegt war.

Die Lampen schimmerten jetzt durch den Baumgürtel und vermittelten ein Gefühl von Behagen und Gemütlichkeit drinnen und ließen gleichzeitig das unerleuchtete Land draußen sonderbar einsam und leer erscheinen in Anbetracht seiner Nähe zum Leben. Der Unterschied zwischen Stadt und Land wurde noch verstärkt durch Klänge, die jetzt vor allem zu ihnen drangen – die Töne einer Blaskapelle. Die Reisenden bogen in die High Street ein, wo es Holzhäuser mit vorkragenden Stockwerken gab, deren kleinscheibige Fenstergitter von Köpervorhängen auf einer Ziehschnur abgeschirmt waren und unter deren Giebelbalken alte Spinnweben im Luftzug wehten. Da gab es Backsteinfachwerkhäuser, die ihre hauptsächliche Stütze von den angrenzenden bezogen. Da gab es mit Ziegeln ausgebesserte Schieferdächer und mit Schiefer ausgebesserte Ziegeldächer und gelegentlich ein Strohdach.1

Dass es Bauern- und Hirtenvolk war, dem die Stadt ihre Existenz verdankte, zeigte sich in der Art der Gegenstände, die in den Schaufenstern ausgestellt waren. Sensen, Sicheln, Schermesser, Hippen, Spaten, Queräxte und Hacken beim Eisenwarenhändler, Bienenkörbe, Butterkästen und -fässer, Melkschemel und Eimer, Heurechen, Feldkruken und Sätücher beim Böttcher, Wagenseile und Pfluggeschirr beim Sattler, Karren, Schubkarren und Mühlengerät beim Stellmacher und Maschinenbauer, Einreibemittel für Pferde beim Apotheker, und beim Handschuhmacher und Lederschneider Heckenhandschuhe, Kniekappen für Strohdecker, Gamaschen für Pflüger, und Holzschuhe und Pantinen für die Dörfler.

Sie kamen an eine graue Kirche, deren massiver viereckiger Turm sich trutzig in den dunkel werdenden Himmel erhob, wobei die unteren Teile genügend von den nächsten Laternen beleuchtet wurden, um zu zeigen, wie vollständig Zeit und Wetter aus den Fugen des Mauerwerkes den Mörtel herausgenagt und in die so entstandenen Ritzen kleine Büschel von Mauerpfeffer und Gras eingepflanzt hatten, beinahe bis zu den Zinnen hinauf. Von diesem Turm schlug die Uhr acht, und daraufhin begann eine Glocke mit gebieterischem Schall zu tönen. Man läutete noch die Abendglocke in Casterbridge, und sie wurde von den Einwohnern als ein Signal genutzt, ihre Geschäfte zu schließen. Kaum schwangen die tiefen Töne der Glocke zwischen den Häuserfronten, als sich ein Klappern von Fensterläden die ganze High Street entlang erhob. Nach ein paar Minuten war das Geschäft in Casterbridge für den Tag beendet.