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Johannes, ein Pastor, hat während der Pandemie bedürftige Menschen im Stich gelassen und damit gegen seine eigenen Überzeugungen gehandelt. Nun begibt er sich auf den Camino San Salvador von León nach Oviedo, um mit sich ins Reine zu kommen. Auf seiner Reise trifft er Clara, eine Fitness- und Ernährungstrainerin, die nach einer schweren COVID-Erkrankung und persönlichen Verlusten mit ihrem Leben hadert, sowie Felix, einen jungen Mann, der nach einer Herzmuskelentzündung durch die Impfung dauerhaft geschwächt ist und seine Lebensperspektive sucht. Immer wieder begegnen sich die drei auf dem Pilgerweg, konfrontiert mit Vorwürfen, Unverständnis, Wut und Verzweiflung. In ihren Gesprächen und Erlebnissen finden sie neue Erkenntnisse und letztlich die Hoffnung, die zu einer Versöhnung mit ihrer Vergangenheit führen könnte. 'Der Camino der Hoffnung' ist eine bewegende Geschichte über die eigenen Grenzen, Verlust, Versöhnung und die Kraft menschlicher Begegnungen. Begleiten Sie Johannes, Clara und Felix auf ihrer Pilgerreise und erleben Sie, wie selbst in dunkelsten Zeiten immer noch Hoffnung entstehen kann.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1 – León
2 – León – Carbajal de la Legua
3 – Carbajal de la Legua – Cabanillas
4 – Cabanillas – La Robla
5 – La Robla
6 – La Robla – La Pola de Gordón
7 – La Pola de Gordón – Buiza
8 – Buiza – Poladura de la Tercia
9 – Poladura de la Tercia – Payares
10 – Payares – Llanos de Somerón
11 – Llanos de Somerón – Campumanes
12 – Campomanes – Pola de Lena
13 – Pola de Lena – Ujo
14 – Ujo – Lloreo
15 – Lloreo – Olloniego
16 – Olloniego – Oviedo
17 – Oviedo
Alle in diesem Buch dargestellten Personen, Ereignisse und Orte sind vollständig fiktiv. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Personen, lebendig oder verstorben, sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Die Namen, Charaktere, Unternehmen und anderen Elemente dieser Geschichte wurden von dem Autor erdacht und dienen ausschließlich der Unterhaltung. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen, lebenden oder verstorbenen, ist nicht beabsichtigt und sollte nicht als solche interpretiert werden.
Das vom Leben gezeichnete Gesicht einer alten Frau näherte sich Johannes Winter, ganz langsam, aber unaufhaltsam. Ihre Augen, tief und unergründlich, starrten ihn an, während sie sich immer mehr in sein Blickfeld schob. Ihr Haar war grau, zerzaust und unordentlich, und sie trug eine hellgrüne OP-Maske, die ihr Gesicht fast vollständig verhüllte. Wer war sie? Johannes konnte sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Doch da war etwas an ihrem Blick, das ihm bekannt vorkam, etwas, das sich wie eine schwer lastende Erinnerung anfühlte.
Plötzlich sprach sie laut zu ihm: „Wo warst du, als ich dich gebraucht habe?“ Ihre Stimme schnitt wie ein Messer durch die Stille. Johannes wollte zurückweichen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er wollte antworten, doch kein Laut kam über seine Lippen. Es war, als ob seine Stimme erstickt worden wäre, gefangen in seiner Kehle. Das Gesicht kam immer näher, fast berührte es seine Nase. Der Raum um ihn herum schien sich zu verengen, bis es plötzlich still war.
Und dann war sie weg. An ihrer Stelle stand nun Carmen, seine Frau. Ihre Augen, die die gleichen schmerzlichen Fragen stellten, wie die der alten Frau, durchbohrten ihn mit einem unverhohlenen Vorwurf. „Ich hätte dich so dringend gebraucht. Wo warst du?“ Ihre Stimme war leise, aber der Schmerz darin laut genug, um ihn wie ein Schlag zu treffen. Johannes wollte einige Worte sprechen, doch seine Lippen blieben stumm. Verzweiflung kroch in ihm hoch. Warum konnte er nichts sagen? Warum konnte er ihr nicht erklären, was er nicht einmal selbst verstand?
Plötzlich tauchte Larissa auf, seine zehnjährige Tochter. Sie stand neben Carmen, ihre Augen fest auf ihn gerichtet. Ihr Blick war unerbittlich, bohrte sich wie ein scharfer Pfeil in seine Seele. Lange Stille. Nur das schwere, durchdringende Anstarren, das all seine Abwehrmechanismen durchbrach.
„Papa“, sagte sie schließlich, ihre Stimme fast ein Flüstern. „Wo bist du gewesen, als ich dich so sehr gebraucht habe?“ Wieder wollte er antworten. Die Worte lagen ihm auf der Zunge, doch sie wollten nicht heraus. Er öffnete den Mund, doch kein Ton kam.
Die alte Frau erschien nun wieder, doch diesmal stand sie neben Carmen. Alle drei – Carmen, Larissa und die fremde Frau – starrten ihn an, ihre Gesichter von bitterem Vorwurf gezeichnet. Ihre Augen waren wie Fesseln, die ihn festhielten, ihn gefangen nahmen, bis er sich in einem Strudel aus Schuld und Verzweiflung zu verlieren drohte.
Dann, wie aus dem Nichts, hörte er eine liebliche, warme Frauenstimme, die durch die Flugzeugkabine schallte.
„Señoras y señores, hemos dejado la altitud de crucero y ahora estamos iniciando la aproximación a León.” Johannes blinzelte, ein Teil von ihm wollte nicht aufwachen, doch die Realität holte ihn zurück. Die Ansage auf Spanisch war fast unverständlich für ihn, doch er wusste, dass gleich eine englische Version folgen würde. Kurz darauf erleuchteten die Anschnallzeichen, und ein Signalton erklang.
Der Traum war vorbei. Er hatte es erneut geträumt. In den letzten Monaten hatte dieser Albtraum ihn immer wieder heimgesucht, ein wiederkehrender Kurzfilm über seine eigene innere Zerrissenheit. Doch jetzt war er hier, auf dem Flug von Barcelona nach León, ganz wach, ganz real. Er saß in Reihe neun am Fenster des Canadair Regional Jet 1000. Die Flugzeugkabine war bis auf den letzten Platz besetzt.
Neben Johannes saß eine ältere Dame, vermutlich um die 75 Jahre alt, die sich lebhaft mit einem älteren Mann auf der anderen Seite des Gangs auf Spanisch unterhielt. Sie sprach schnell und gestikulierte mit lebendigem Eifer, ihre Stimme voller Energie und Lebenslust. Johannes konnte nicht einmal die Hälfte verstehen, doch es war offensichtlich, dass die beiden sich gut kannten und eine angeregte Unterhaltung führten. Die Dame schnallte sich an und plauderte weiter, ohne sich von ihrer Umgebung stören zu lassen. Es begann ihn zu nerven. Ihre fröhliche Ausgelassenheit schien in krassem Gegensatz zu seinen eigenen, schwerwiegenden Gedanken zu stehen.
Einmal hatte er sich im Flugzeug umgesehen, ob es andere Pilger geben würde. Die Outdoorkleidung, ein Sonnenhut, Wanderschuhe und Wanderstöcke: all das würde Pilger sehr schnell verraten. Er sah tatsächlich einige Passagiere in Wanderoutfit. Doch keine der Personen in seiner Nähe sprach deutsch. Ein älteres Paar hatte einen starken amerikanischen Akzent und die dazu passende selbstsichere und laute Aussprache. Zwei andere Rucksacktouristen schienen Einzelreisende zu sein. Sie saßen an unterschiedlichen Plätzen und sprachen, wie Johannes selbst, kaum ein Wort. Seine Hoffnung könnte sich erfüllen: er wäre mit sich alleine auf dem Weg und nicht in einer ’deutschen Reisegruppe‘.
Monatelang hatte er mit sich gerungen, eine Auszeit zu nehmen. Als Pastor der evangelischen Kirche in Ottendorf war er seit elf Jahren im Dienst. Doch in letzter Zeit fühlte er sich immer weniger im Einklang mit sich selbst. Zu viele Fragen zu seinen Idealen, zu viel Unklarheit über den Weg, den er noch gehen wollte. Die Belastung durch den Beruf, die Pandemie, seine Familie und die Kirche hatte seine Seele erschöpft. Er hatte sich in den letzten Jahren immer wieder gefragt, ob er noch der Mann war, der er einmal sein wollte.
Die Entscheidung, in Spanien zu pilgern, war für ihn der Versuch, sich selbst wiederzufinden. Der Camino de Santiago sollte es eigentlich werden, doch nachdem er sich näher mit der Strecke und der nötigen Fitness auseinandergesetzt hatte, kamen ihm Zweifel. Mit 39 Jahren und ohne regelmäßige körperliche Betätigung konnte er sich kaum vorstellen, die anstrengende Route zu bewältigen. Ein Freund hatte ihm stattdessen den Camino San Salvador empfohlen – eine kürzere Route von León nach Oviedo, die zwar auch gebirgig war, aber sich gut in kleinere Etappen aufteilen ließ und weniger frequentiert war. Das klang nach der Ruhe, die er suchte.
Als das Flugzeug schließlich sanft auf der Landebahn in León aufsetzte, war Johannes erleichtert. Er hatte es geschafft. Mit seiner Regenjacke und Gürteltasche verließ er das Flugzeug. Sein Pilgersymbol hatte er längst umgehängt: das Pektoralkreuz aus Holz, ähnlich dem Kreuz im heiligen Schrein von Oviedo. Der Flughafen war klein und überschaubar, und nach wenigen Minuten hatte er seinen Rucksack vom Gepäckband abgeholt und machte sich auf den Weg aus dem Terminalgebäude. Die Fahrt mit dem Bus in die Stadtmitte war ruhig, und die kurzen Straßenabschnitte gaben ihm Gelegenheit, sich auf die kommende Zeit vorzubereiten.
In der Stadtmitte angekommen, schlenderte er durch die Straßen, überquerte den Rio Bernesga und setzte sich auf eine Bank, um die Atmosphäre von León auf sich wirken zu lassen. Hier, zwischen modernen Gebäuden und klassischen Wohnhäusern, konnte er die Ruhe noch nicht erahnen, die er suchte. Es war nicht mehr weit bis zu seiner Unterkunft, der Albergue de las Carbajalas. Eine einfache Pilgerherberge, wie er sie sich gewünscht hatte. Schlichte Betten, der Duft von gebrauchten Socken und alter, abgestandener Luft – alles erinnerte ihn daran, warum er hier war. Es sollte nicht um Komfort gehen, sondern um das Wesentliche.
Nachdem er sich in der Herberge eingetragen hatte und seinen Pilgerausweis, den Credencial del Peregrino, abgeholt hatte, machte er sich auf den Weg zur Kathedrale von León. Die gotische Schönheit des Bauwerks samt den beiden Ecktürmen beeindruckte ihn zutiefst. Im Innenraum setzte er sich auf eine der Bänke und ließ sich von der Stille und den alten Fenstern in den Bann ziehen. Mehr als eine Stunde verging, während er in den tiefen, farbigen Glasfenstern versank, als könnten sie ihm Antworten auf seine eigenen Fragen geben.
Johannes suchte noch die Statue des einsamen Pilgers am Convento de San Marcos auf. Ein wahres Muss für jeden Pilger, sagte man. Die Bronzestatue zeigte einen erschöpften Pilger, der unter einem Kreuz sitzend seine Sandalen ausgezogen hatte, um seine Füße zu erfrischen. Nachdenklich blickte dieser Pilger in den Himmel. Johannes betrachtete die Statue eine ganze Weile. Der Ausdruck des Pilgers war so ruhig und still, doch auch von Müdigkeit gezeichnet. In diesem Moment fand er sich in dem nachdenklichen Körperausdruck des bronzenen Pilgers fast wieder. Er wollte unbedingt noch ein Bild von sich selbst neben der Statue haben.
Die Sonne des späten Nachmittags hüllte alles in ein warmes, goldenes Licht. Da kam ein junger Mann vorbei. Johannes winkte ihm zu und zeigte auf die Statue.
„Una foto, por favor?“, fragte Johannes, in der Hoffnung, dass der Fremde ihm einen Moment helfen würde.
Der junge Mann hielt an, ein Lächeln auf den Lippen. „Sí, claro, mache ich.“ Er nahm das Smartphone, und Johannes bemerkte mit einem Anflug von Überraschung, dass der Mann Deutsch sprach.
‘So schnell trifft man sie dann doch, die Deutschen’, dachte Johannes schmunzelnd, während er sich für das Bild in Position setzte.
„Mach ruhig ein paar mehr Bilder“, sagte Johannes, als er sich neben die Statue setzte. Er nahm die gleiche Haltung ein wie der bronzene Pilger, zog jedoch seine Schuhe nicht aus. Da saßen sie nun, zwei einsame Pilger in fast identischer Pose, der eine aus Bronze, der andere aus Fleisch und Blut.
„Besten Dank, gracias“, sagte Johannes, als der junge Mann schließlich das Smartphone zurückgab.
„Klar, gern geschehen“, antwortete der junge Mann, und Johannes bemerkte, dass er in den Augen des Fremden eine gewisse Neugierde las. Der Mann zögerte kurz, dann fragte er: „Läufst du auch den Camino nach Oviedo?“
Johannes hielt inne. Der Moment schien plötzlich schwerer zu wiegen, als er erwartet hatte. „Ja, morgen früh geht es für mich los“, antwortete er schließlich, mehr mit sich selbst als mit dem Fremden sprechend.
Der junge Mann trat einen Schritt näher. „Ich heiße übrigens Felix. Ich gehe auch morgen los. Vielleicht treffen wir uns unterwegs.“
Johannes sah auf den gut trainiert wirkenden Pilger, der ihm gegenüberstand. Felix strahlte auf ihn die Energie eines Mannes aus, der den Camino mit Tatkraft angehen wollte. Johannes, der das Ziel hatte, den Weg ruhig und in seinem eigenen Tempo zu gehen, fragte sich, ob sie sich wirklich wiedersehen würden.
„Ich bin Johannes“, sagte er schließlich, „Mal sehen, ob wir uns treffen. Ich habe viel Zeit und möchte gemütlich pilgern.“
Felix nickte und drehte sich dann um, um weiterzugehen. „Ich auch. Na dann, gutes Pilgern!“, rief er über die Schulter. Johannes sah ihm nach, wie er auffallend langsam in der Abendsonne verschwand, und ein leises Gefühl von Vorfreude und Ungewissheit über die kommenden Tage machte sich in ihm breit.
Als er den Platz verließ, war es bereits spät. Er hatte den Empfehlungen aus der Pilgerherberge folgend, das Casa Mando für das Abendessen im Kopf. Doch als er das Restaurant betrat und den vollen Raum erblickte, spürte er eine seltsame Unruhe in sich. Die Atmosphäre war laut, lebendig, der Duft von Gewürzen und frisch zubereiteten Gerichten durchdrang den Raum. Johannes, der die Stille suchte, ging ohne ein Wort weiter. Es gab heute also kein cocido maragato, das regionale Eintopfgericht, das man ihm so sehr ans Herz gelegt hatte. Stattdessen entschied er sich, vor der Kathedrale ein bocadillo zu kaufen und das Sandwich im Schatten des imposanten Bauwerks zu essen.
Morgen würde er aufbrechen. Der Camino würde beginnen. Was würde ihn erwarten? Würde er auf dieser Reise wieder mehr zu sich selbst finden und die Lasten seiner ungelösten Konflikte ablegen können?
Johannes hatte schlecht geschlafen. Die anderen drei Übernachtungsgäste in seinem Zimmer hatten noch bis tief in die Nacht auf Englisch diskutiert – über Gott und die Welt, bei mindestens einer Flasche Prieto Picudo vom Weingut Bodegas Valdevinas. Der Klang ihrer Stimmen war zu laut, zu lebendig, als dass er zur Ruhe kommen konnte. Also hatte er sich zur Seite gerollt, Ohrstöpsel in die Ohren gesteckt und sich vergeblich bemüht, die Gedanken der anderen auszublenden. Es war schwer gewesen, in den Schlaf zu finden, aber irgendwann, als die Gespräche endlich verstummten, war er doch noch in einen unruhigen Schlaf gefallen.
Als er erwachte, schliefen seine Zimmergenossen noch tief. Johannes stand auf, machte sich im Waschraum frisch und ging dann in den Frühstücksraum. Alles war einfach, vielleicht noch einfacher als in den Jugendherbergen der 70er Jahre, von denen seine Eltern oft erzählt hatten. Die Tische und Stühle waren schlicht, und die Essensausgabe wirkte wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Der Raum roch nach frischem Brot und Kaffee, aber auch nach der puristischen, fast rauen Atmosphäre einer Pilgerherberge.
Er verließ die Herberge und machte sich auf den Weg. Der Morgen war kühl, der Himmel bedeckt – perfekte Bedingungen für die ersten Schritte seiner Reise. Er hatte keinen festen Plan, keine festen Etappen, wollte nur langsam gehen und den Weg auf sich wirken lassen. Er folgte dem Symbol der Jakobsmuschel nach Norden, in Richtung Carbajal de la Legua.
Zunächst wanderte er durch die Altstadt von León, dann über einige kleine Gassen, die ihn zurück zum Rio Bernesga führten. Dem Flusslauf folgte er bis zum Ortsausgang. Der Rucksack auf seinem Rücken wog etwa zwölf Kilogramm, was er gut tragen konnte. Sein Pektoralkreuz baumelte am Hals, als sichtbares Zeichen seiner Pilgerreise. Immer wieder zogen andere Pilger an ihm vorbei – meist Ausländer, die ihn freundlich mit einem ‘Buen Camino’ grüßten. Johannes hatte sich diesen Gruß schnell zu eigen gemacht.
Der Weg war gut ausgebaut und führte ihn in eine friedliche Landschaft. Nach etwa einer Stunde öffneten sich zur linken Seite bunt blühende Wiesen, und der Blick auf das sanfte Grün gab ihm das Gefühl, wirklich angekommen zu sein. Pilger in allen Altersgruppen überholten ihn, immer den Muschelsymbolen am Weg folgend. Junge Leute, die fast wie Schüler aussahen, und alte Menschen, die ebenfalls mit Wanderstöcken, aber auch mit schwer aussehenden Rucksäcken an ihm vorbeizogen. Nur ein Pärchen, vermutlich Mutter und Tochter, ließ er hinter sich. Ihre Sprache klang slawisch, und sie hatten anscheinend viel zu besprechen.
Bald erreichte er den Nadelbaumwald am Monte San Isidro. Der Weg führte ihn am Rande des Waldes entlang, bevor er zum Fluss zurückkehrte. Der Weg war unbefestigt, aber viel schöner zu gehen. Die Ruhe des Waldes und das leise Rauschen des Wassers halfen ihm, den ersten Tag der Reise anzunehmen.
Zur Mittagszeit erreichte er schließlich Carbajal de la Legua, ein kleines, verschlafenes Städtchen auf 865 m Höhe. Es gab keine offizielle Pilgerherberge, doch als er den Ort betrat, fiel sein Blick auf die Iglesia de Santa María de Carbajal, eine schlichte Kirche im romanischen Stil, die ihm sofort ins Auge sprang. Natürlich wollte er auch diese Kirche von innen sehen. Es war eine Mischung aus beruflicher Neugier und persönlichem Bedürfnis, sich von der nüchternen Schönheit der Orte leiten zu lassen, an denen Pilger wie er Halt machten.
Die schwere Holztür der Kirche knarrte leise, als er sie öffnete. Der Raum war dunkel, mit nur wenigen Fenstern, die das Licht schüchtern hereinsickern ließen. Vor ihm stand der Hochaltar, umgeben von religiösen Darstellungen und Heiligenfiguren. Johannes setzte sich auf eine der hölzernen Bänke in der Mitte der Kirche und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Einige Malereien und Fresken an den Wänden zeigten Szenen aus dem Leben von Jesus und Maria. Es war eine Atmosphäre der Ruhe und Einkehr – alles war einfach, aber nicht armselig.
Er war der einzige Besucher, was ihn nicht störte. Im Gegenteil, es gab ihm die Gelegenheit, sich ungestört auf das zu konzentrieren, was dieser Ort ihm zu bieten hatte. Diese Kirche faszinierte ihn auf seltsame Weise. Sie war kein Ort von Prunk und Überfluss, aber sie strahlte eine tiefe, friedliche spirituelle Ruhe aus. Es war der Ort, an dem er sich auf seiner Reise innerlich ausrichten konnte.
Johannes hatte keine Ahnung, wie lange er dort saß und nachdachte, als ihn plötzlich das leise Knarzen der Tür aus seinen Gedanken riss. Eine ältere Dame trat ein, ging langsam in Richtung Hochaltar und hielt kurz inne, um sich zu bekreuzigen. Dann zündete sie eine Kerze an, legte einige Münzen in die Dose und sprach wohl ein Gebet. Johannes beobachtete sie still. Ihre Bewegung war ruhig, fast würde er sagen feierlich. Es war ein unspektakuläres, aber sehr berührendes Ritual. Vielleicht eine Witwe, dachte er, jemand, der in dieser Kirche Trost suchte.
Nachdem sie das Gebet beendet hatte, stand die Frau wieder auf, legte sich ihr Kopftuch zurecht und ging langsam und würdevoll zum Ausgang. Wieder knarrte die Tür, und kurze Zeit später war sie wieder verschlossen. Es war still. Johannes saß noch eine Weile, die Zeit schien stillzustehen.
Doch dann – ein weiteres Geräusch. Wieder knarzte die Tür, und Johannes hörte leise Schritte. Eine weitere Person hatte die Kirche betreten. Er konnte nur das Knarren einer Bank hinter ihm hören, dann wieder Stille.
Er begann, sich die Statuen genauer anzusehen. Da war Maria, dargestellt als Himmelskönigin, mit einer goldenen Krone und einer friedlichen, beschützenden Ausstrahlung. Und dann entdeckte er den heiligen Jakobus, den Schutzpatron der Pilger, der mit Pilgerstab und Muschel dargestellt war – ein Bild, das ihn an seine eigene Reise erinnerte. Auf der anderen Seite der Kirche konnte er noch eine Statue des heiligen Martin von Tours erkennen, der seinen Mantel mit einem Bettler teilte.
Plötzlich hielt er inne. Hatte er da nicht ein leises Schluchzen gehört? Das Geräusch kam aus einer der hinteren Reihen. Johannes horchte auf. Ja, da war es wieder. Es klang wie das Weinen einer Frau.
Zunächst versuchte er, das Gefühl zu ignorieren, aber es ließ ihn nicht los. Ein leises, fast unmerkliches Schnäuzen unterbrach die Stille. Vielleicht war sie ebenfalls auf der Pilgerreise, vielleicht trug sie eine Last, die sie hier, in diesem ruhigen Raum, ablegen wollte.
Johannes wollte die Kirche schon verlassen, doch dann entschied er sich, noch zu warten. Es war ihm unangenehm, an der weinenden Kirchenbesucherin vorbeizugehen. Also blieb er sitzen und wartete. Doch nach einer halben Stunde stand er auf und schlich leise zum Ausgang.
Als er an der Frau vorbeiging, sah er sie nun genauer an: Sie war um die 40 Jahre alt, trug praktische Funktionskleidung und hatte ihr blondes schulterlanges Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Ihr Gesicht war in dem dämmrigen Licht der Kirche nur schwer zu erkennen, doch er sah das Pektoralkreuz an ihrem ledernen Halsband. Sie war also eine Pilgerin.
Johannes trat vorsichtig an ihr vorbei. Sie reagierte nicht, sie war zu tief in ihren Gedanken versunken. Wahrscheinlich hatte sie ihn gar nicht bemerkt.
Das Tageslicht blendete Johannes förmlich, als sich die Tür der Kirche hinter ihm schloss und er wieder im Freien stand. Der Moment, als er den kühlen, schattigen Raum verlassen hatte, fühlte sich fast surreal an. Doch die Realität holte ihn schnell ein. Denn es gab keine offizielle Pilgerherberge in Carbajal de la Legua, also musste er sein Glück bei den wenigen Einheimischen im Ort versuchen.
Zwei ältere Herren saßen auf einer Bank und blickten in die Ferne, als würden sie das Wenige beobachten, das das Leben in diesem abgelegenen Ort noch zu bieten hatte. Johannes trat vorsichtig näher, atmete tief ein und versuchte, sich mit den Worten zu verständigen, die ihm in seiner brüchigen Spanischkenntnis noch geblieben waren. „Buenas tardes. Bett für eine Nacht?“
Der eine Mann hob langsam den Kopf und betrachtete Johannes und sein Pektoralkreuz mit einem prüfenden Blick. „Quizás con el pastor“, murmelte er. Johannes verstand nur Pastor.
„Wo?“, fragte Johannes, ein wenig unsicher, wie er sich in dieser kleinen, fremden Welt zurechtfinden sollte.
Der erste Mann musterte ihn erneut, ein unbestimmtes Funkeln in den Augen. Dann deutete er mit einer Handbewegung auf seinen Nachbarn. „Aquí“, sagte er schlicht.
Johannes konnte sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen. Die beiden hatten sich sicherlich schon viele Male auf diese Weise einen Spaß mit Pilgern gemacht. Wahrscheinlich wussten sie genau, was sie taten. Der zweite Mann erhob sich langsam und deutete Johannes mit einer Bewegung an, ihm zu folgen.
Neben der Kirche, abseits der wenigen Häuser, stand ein einfaches, etwas baufällig wirkendes Gebäude. Ein schmales Schild an der Wand trug die von der Zeit gezeichnete Aufschrift Pastorado. Johannes folgte dem Mann, der ihn ohne ein weiteres Wort hineinführte. Im Inneren roch es nach altem Holz und kaltem Stein, und der Pastor, ein älterer, stiller Mann mit grauen Haaren, führte ihn durch einen schmalen Flur und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer.
„Muy simple“, sagte der Pastor auf Spanisch, als er das Zimmer betrat. Ein Bett, ein Waschbecken, ein Stuhl, kein Tisch, keine weiteren Möbel. Die kargen Wände schienen den Raum fast zu erdrücken. Ein Zettel lag auf dem Stuhl, auf dem in Spanisch und Englisch stand, dass die Übernachtung vierundzwanzig Euro kostet, kein Frühstück angeboten wird und die Nachtruhe um zweiundzwanzig Uhr beginnt. Vom Korridor aus konnte Johannes zwei weitere Türen sehen, hinter denen sich sicherlich weitere spartanische Zimmer verbargen. Offensichtlich war dieses Pastorado nur selten in Gebrauch, zu nah lag es an der sehenswerten Stadt León.
Johannes nickte zustimmend, bezahlte das Geld im Voraus und nahm dann sein Zimmer in Besitz. Die Toilette befand sich im Flur und war für alle Gäste zugänglich, und auch die kleine, gut gepflegte Küche durfte von jedem genutzt werden. Ein kleines Trostpflaster für die Kargheit der Unterkunft – wenigstens konnte er sich einen Tee oder Kaffee zubereiten.
Er war froh, hier tatsächlich ein Dach über dem Kopf zu haben. Der erste Tag auf dem Camino war mit den insgesamt acht Kilometern gut verlaufen, und das bedeutete, dass der Weg für ihn noch offen war. Es fühlte sich alles neu und unbestimmt an. Doch der Tag hatte ihn bis hierhergebracht, und das war schon ein kleiner Erfolg.
Johannes verließ das Pfarrhaus und schlenderte zum kleinen Lebensmittelladen im Dorf. Er besorgte sich frisches Brot und ein Stück Käse – genug für das Abendessen und das Frühstück des nächsten Morgens. Die Etappe des heutigen Tages war geschafft. Ein kleines, aber erfüllendes Gefühl machte sich in ihm breit.
Doch bevor er sich in sein Zimmer zurückzog, suchte er noch die Ruhe der Natur. Er stieg den schmalen, von hohem Gras überwucherten Weg hinunter zum Rio Bernesga, wo er an einem alten, verfallenen Steg vorbeikam. Der Weg war in den letzten Wochen sicherlich kaum begangen worden, das Moos hatte die Stufen und den Geländerpfosten fast vollständig überzogen. Aber inmitten all dieser Vergänglichkeit entdeckte Johannes eine Bank, die von der Zeit vergessen schien. Eine dünne Moosschicht bedeckte die Sitzfläche, aber das störte ihn nicht. Er setzte sich und ließ seine Gedanken mit der beruhigenden Geräuschkulisse des plätschernden Bachs hinweggleiten. Hier, am Rand des kleinen Flusses, konnte er in aller Ruhe sein Käsebrot genießen, den Blick auf das sanfte Rauschen des Wassers gerichtet. Es war ein weiterer ersehnter Moment der Stille.
Als Johannes später ins Pfarrhaus zurückkehrte, war es schon nach zwanzig Uhr, und die Dunkelheit hatte den kleinen Ort vollständig eingenommen. Es war ruhig. Zuvor hatte er das fast trostlose, kleine Zimmer mit dem Bett und dem Waschbecken eher gemieden. Stattdessen zog er es vor, den Gemeinschaftsraum mit der Kochgelegenheit aufzusuchen. In diesem Raum brannte Licht, und er war ein wenig geräumiger mit einem Tisch, an dem er sich für den Moment niederlassen konnte. Es war ein Ort, an dem er sich wenigstens für eine Weile wie zu Hause fühlen konnte.
Als er den Raum betrat, staunte er nicht schlecht: Am Tisch saß bereits eine andere Person, eine Frau, die mit einer Tasse Tee und einem Notizbuch beschäftigt war. Es war dieselbe Frau, die er schon in der Kirche gesehen hatte.
„Buenas noches, Johannes, Alemán“, sagte er mit einem Lächeln und deutete auf sich selbst.
„Buenas noches, Clara, Alemán“, antwortete sie. ‘Schon wieder jemand aus Deutschland’, dachte Johannes. Was für ein Zufall – oder vielleicht auch Schicksal. Es war irgendwie... amüsant.
„Darf ich mich zu dir setzen?“, fragte er.
„Ja klar, nimm Platz“, antwortete sie mit einer entspannten Geste.
Johannes stellte seinen Rucksack ab und kochte sich heißes Wasser für eine Tasse English Breakfast Tee. Clara hatte ihr Notizbuch noch immer vor sich und schien in Gedanken versunken. Vielleicht war es ein Tagebuch. Doch dann legte sie es zur Seite und sah ihn neugierig an.
„Pilgerst du auch?“, fragte sie, als sie die Stille zwischen ihnen bemerkte.
„Ja, ich habe heute in León angefangen“, antwortete Johannes und setzte sich. „Für den ersten Tag habe ich die Strecke kürzer gehalten. Es ist alles noch so neu, ich wollte mir Zeit lassen.“
„Ja, das kenne ich“, erwiderte Clara, mit einem kühlen Lächeln. „Ich komme auch aus León und nehme mir auch die nötige Zeit. Mal sehen, wie weit ich komme und ob ich es bis Oviedo schaffe...“
Johannes wurde neugierig. „Eigentlich ist die Strecke bis Oviedo doch gut zu schaffen, oder? Wenn das Wetter mitspielt.“
Clara schwieg einen Moment, und Johannes konnte sehen, dass sich etwas in ihr bewegte, bevor sie die Stille brach: „Vielleicht… es kommt wohl darauf an, wie sehr man mit sich selbst im Reinen ist.“
Johannes nickte, verstand jedoch nicht ganz, was sie meinte. Doch die Art, wie sie sprach, und der Ausdruck in ihren Augen ließen ihn erahnen, dass auch sie mit einer gewissen Last unterwegs war.
„Wo kommst du her?“, fragte er, um das Gespräch aufzulockern.
„Aus Ahrensburg bei Hamburg“, sagte Clara.
„Ah, kenne ich! Ich bin auch aus dem Norden, aus der Nähe von Kiel.“
„Zwei Fischköppe in Carbajal de la Legua – das ist sicher eine Seltenheit“, meinte Clara mit einem spitzbübischen Grinsen.
Johannes musste schmunzeln. Es war ein Moment, der den Tag etwas leichter machte. Clara hatte definitiv Humor, und das war in dieser stillen, verlassenen Ecke Spaniens ein willkommenes Geschenk.
„Na, dann werde ich mich mal in meine Suite zurückziehen“, sagte Clara, nachdem sie ihre Teetasse abgewaschen hatte. „Gute Nacht, vielleicht bis morgen.“
Eine Stunde später ging Johannes auf sein Zimmer. Der erste Pilgertag war vorbei. Er war müde, zufrieden und gespannt auf das, was noch kommen würde. Der Weg hatte gerade erst begonnen.
Es war bereits hell, als Johannes erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch die dünnen, etwas vergilbten Vorhänge seines Zimmers. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass es schon nach acht Uhr war. Zeit, aufzustehen, dachte er. Langsam zog er die Vorhänge beiseite und blickte in den tristen Innenhof. Der Anblick erinnerte ihn an die Fassade des Pfarrhauses, das von der Straße aus genauso karg und unbelebt wirkte. Am Himmel zogen einige Schönwetterwolken auf, die ihm eine Botschaft übermittelten: Es könnte ein guter Wandertag werden. Vielleicht war es der richtige Moment, aufzubrechen.
In der kleinen Küche war er allein. Die anderen Zimmertüren standen offen, was darauf hindeutete, dass Clara bereits aufgebrochen war. Johannes setzte den Wasserkocher auf und bereitete sich einen Pott Instantkaffee zu. Dann schnitt er sich ein Stück Brot ab, nahm ein wenig Käse und füllte seine Wasserflasche auf. Es war schon halb zehn, als er den Zimmerschlüssel in den vorgesehenen Holzkasten legte und das Pfarrhaus verließ. Der Weg nach Cabanillas wartete.
Kaum hatte er den kleinen Ort hinter sich gelassen, führte der Weg ihn durch weite Wiesen mit zahlreichen blauen Kornblumen, ständig leicht bergauf. Johannes merkte schnell, dass seine Kondition nicht so gut war, wie er gehofft hatte. Die Etappe war geprägt von Natur pur. Der Weg führte durch mehrere Buchenwälder, deren kühle Schatten Johannes guttaten. Er blieb immer wieder stehen, lauschte den Gesängen der Vögel, dem Rascheln der Blätter im Wind, und versuchte, den Moment in sich aufzunehmen.
Er traf nur wenige andere Pilger auf diesem Abschnitt des Weges. Die meisten kamen ihm entgegen, offensichtlich auf dem Weg nach León. Immer wieder legte er kleine Pausen ein, ließ die Natur auf sich wirken und bemerkte mit einem leisen Seufzer, dass er heute nur überholt wurde. Alle anderen schienen schneller zu sein, als hätten sie ein Ziel, das sie unbedingt erreichen mussten, während er selbst in einem gemächlicheren Tempo voranschritt. Doch er hatte sich längst mit dieser Langsamkeit abgefunden. Es war nicht die Eile, die ihn trieb, sondern der stille Dialog zwischen ihm und dem Weg.
Dann, nach einigen Stunden, begegnete er einem älteren Mann, der sich ebenfalls langsam und bedächtig auf dem staubigen Pfad bewegte. Der Mann war von stattlicher Statur, doch seine Schritte wirkten alles andere als hastig. Mit einem langsamen, fast feierlichen Rhythmus schritt er voran, als würde er dem Weg und seiner eigenen Geschichte Respekt zollen.
Der Mann trug ein einfaches, aber ehrwürdiges Gewand aus leichtem, blassen Stoff, das durch die Jahre und zahllose Reisen ein wenig abgewetzt schien, aber niemals zerfallen war. Das Hemd war schlicht, in einem unauffälligen Farbton, und auf seinem Rücken war ein Kreuz eingestickt, fast unsichtbar, doch für Johannes war es klar zu erkennen. Um seine Hüften hing ein abgenutzter Ledergürtel, dessen Enden sanft im Wind wehten, und bei jedem Schritt knarrten seine Wanderschuhe – als hätten sie ebenso viele Meilen hinter sich wie der Mann selbst. An seiner Seite schwang eine kleine Wasserflasche, die von den jahrelangen Reisen gezeichnet war. Der Stab, den er mit ruhiger Hand führte, wirkte schlicht, aber fest, wie ein treuer Begleiter auf seinem Weg. Es schien die einzige wirkliche Unterstützung zu sein, die er brauchte, um sich vorwärts zu bewegen.
In der Tasche seines Umhangs konnte Johannes das Ende eines kleinen Gebetbuchs erkennen. Ein Kruzifix, schlicht und unauffällig, hing um seinen Hals und schimmerte matt im Licht der Sonne. Der Priester, wie Johannes vermutete, schien völlig in den eigenen Gedanken versunken, als hätte der Pilgerweg ihm schon viele Stunden der Besinnung und des Gebets geschenkt.
Johannes holte den Mann schließlich ein. „Buen Camino“, sagte Johannes, der den Moment nicht nur als Begrüßung, sondern auch als Einladung verstand. Der Mann stellte sich als Antonio vor – ein brasilianischer Priester, der seit vierzig Jahren im Kirchendienst tätig war. Als Antonio hörte, dass Johannes ebenfalls Pastor war, strahlten sich die beiden an, als hätten sie einen unsichtbaren Faden der Gemeinsamkeit entdeckt, der ihre Wege für einen kurzen Moment verband.
Sein Gesicht war von den Jahren und der Sonne gegerbt und von tiefen Falten durchzogen. Ein Leben, das von Glauben, Entbehrung und Hingabe geprägt schien. Die Augen des Priesters waren hell und ruhig, und sie blickten nach vorne, auf das, was vor ihm lag – ruhig, aber bestimmt, als suchten sie nicht nach dem Ziel, sondern nach der Wahrheit, die im langsamen Gehen verborgen lag.
Antonio erzählte von seinem Glauben, der im Laufe der Jahre immer schwächer geworden war. Er trug sich mit dem Gedanken, seine Kirche zu verlassen. Nach vierzig Jahren im Dienst hatte er das Gefühl, dass der Glaube, der ihm früher Halt gegeben hatte, nun verschwunden war. Der Pilgerweg, so sagte er, sei für ihn eine letzte Hoffnung, Klarheit darüber zu finden, welchen Weg er nun gehen sollte – nicht nur auf dem Camino, sondern auch im Leben.
Johannes hörte aufmerksam zu. Und Antonio schien zu wissen, dass der Camino mehr war als ein körperlicher Weg – er war eine Reise zu sich selbst.
Die Zeit verstrich, und die Sonne bewegte sich langsam nach Westen, als die beiden Pilger weitersprachen. Doch Antonio war noch langsamer unterwegs als Johannes. Nach einer halben Stunde trennten sich schließlich ihre Wege, als Antonio ein langsames, aber entschlossenes ‘Adiós’ murmelte, bevor er wieder in seinem gemächlichen Tempo weiterging.