Schatten der Gerechtigkeit - Günter Kampf - E-Book

Schatten der Gerechtigkeit E-Book

Günter Kampf

0,0

Beschreibung

November 2029: Eine neue Pandemie durch ein Grippevirus bedroht die Welt. Die WHO erwägt den internationalen Gesundheitsnotstand und könnte eine Impfplicht verhängen. Behörden und Widerstand bereiten sich auf alle Szenarien vor. Als der Bundestag die Impfpflicht beschließt, beginnt ein Wettlauf zwischen ihrer Umsetzung und einer juristischen Anfechtung. Zum ersten Mal wird die sektorale Impfpflicht gegen COVID von 2022 vor dem Bundesverfassungsgericht kurzfristig geprüft. Vertreter der Behörden müssen sich für ihre damaligen Entscheidungen rechtfertigen: War die Impfung geeignet, erforderlich und angemessen, um die Pandemie zu begrenzen? Die Skepsis gegenüber dem neuen Impfstoff ist groß in der Bevölkerung. Ein spektakulärer Datenraub deckt brisante Informationen zu seiner Verträglichkeit auf. Derweil häufen sich in den Kliniken junge Patienten mit von Herzmuskelentzündungen und Schlaganfällen - könnte der neue Impfstoff die Ursache sein? Die Anhörung wird live übertragen und zieht Hunderttausende auf die Straßen und Plätze. Zwei Richter müssen aufgrund von Befangenheit ausscheiden, während neue Zeugen auftauchen. Schließlich fällt die Entscheidung zu der entscheidenden Frage: Dürfen die WHO und der Gesetzgeber eine potenziell tödliche Grippe-Impfung für die Bevölkerung anordnen? Ein fesselnder Thriller, der die Leser in eine Welt voller Intrigen, wissenschaftlicher Entdeckungen und menschlicher Schicksale entführt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 325

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Mia

Die Vorbereitungen am BIPAM

Im Eynur Döner Eck

Der dritte Kontakt

Der Widerstand

Chaos auf den Straßen

Nadine

Andi

Die Übergabe

Das Karikó-Weissman-Institut

Erste Versuchsergebnisse

Weitere Unruhen

Der Kongress

Das Frühstück

Der Fotograf

Das Mittagessen

Die Hospitation

Der zweite Tag im Labor

Gewaltbereitschaft

Der Abschied

Die Offenbarung

Der internationale Gesundheitsnotstand

An einem unbekannten Ort

Die gesetzliche Impfpflicht

Das Weihnachtsgeschenk

Anschlagsversuch

Das Ergebnis der Recherche

Die Halbschwester

Die Verfassungsbeschwerde

Station 3, Kardiologie

Tag 1: Geimpfte als Infektionsquelle?

Station 7, Neurologie

Tag 1: Überlastete Kliniken?

Tag 1: Lockdown oder Impfung?

Notaufnahme

Tag 1: Impfquotenziel

Station 3, Kardiologie

Tag 1: Erforderlichkeit der Impfpflicht?

Notaufnahme

Tag 1: Verhältnismäßigkeit der Impfung?

Tag 2: Dramatisierende Kommunikation?

Notaufnahme

Tag 2: Risikobewertung durch die Politik?

Tag 2: Protokolländerungen am RKI?

Bergen – erste Bürgertransporte

Ein Keller in Wanne-Eickel

Tag 3: Chargenabhängige Nebenwirkungen?

Tag 3: DNA-Kontamination in Impfstoffen?

An einem unbekannten Ort

Nächtlicher Besuch im Institut

Die Begegnung

Feierabend

Munster – die Kaserne füllt sich

Die Sichtung

Die Anhörung – Mia

In der Gartenlaube

Die Anhörung – Nadine

Der Impfstoffraub

Die Anhörung – John McBain

Die Vorbereitung

Munster – die Impfung

Die Anhörung – Ayumi

Whitehat

Ein letzter Sachverständiger

Die Beratung

Munster – der Tag danach

Der Antrag

Die Hotelbar

Ein Keller in Peking

In der Silbergrube

Im Impfzentrum

Die Entscheidung

Die Tage danach

Ein Jahr später

Epilog und Danksagung

Vorwort

Alle in diesem Buch dargestellten Personen, Ereignisse und Orte sind vollständig fiktiv. Jegliche Übereinstimmungen mit realen Personen, lebendig oder verstorben, sind rein zufällig und unbeabsichtigt. Die Namen, Charaktere und anderen Elemente dieser Geschichte wurden von dem Autor erdacht und dienen ausschließlich der Unterhaltung. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen, lebenden oder verstorbenen, ist nicht beabsichtigt und sollte nicht als solche interpretiert werden.

Die Inhalte aus offiziellen, öffentlich zugänglichen Dokumenten, wie den Ausführungen der wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, den Wochenberichten des Robert Koch-Instituts sowie den Auswertungen zu Impfnebenwirkungen des Paul-Ehrlich-Instituts, wurden mit größtmöglicher Sorgfalt wiedergegeben. Diese stellen die tatsächliche Realität dar, wie sie in den jeweiligen Dokumenten veröffentlicht wurde, wobei stets die jeweilige Behörde und das Veröffentlichungsdatum angegeben sind. Alle anderen Inhalte in diesem Buch sind frei erfunden und dienen der Erzählung der fiktiven Geschichte.

Mia

26. November 2029

Wie eine Besessene betätigte Mia Keller beide Handbremsen ihres E-Bikes, während das Vorderrad unruhig zu schlingern begann. Bloß nicht ausrutschen, dachte sie panisch, als sie auf der mit Laub bedeckten, regennassen Fahrbahn im Schillerpark versuchte, einem Fußgänger auszuweichen. Der Asphalt glänzte matt unter dem trüben Licht der Straßenlaternen, die hier und da durch die Äste von Bäumen lugten. In der Ferne hörte sie die gedämpften Geräusche von vorbeifahrenden Autos. „Hey! Können Sie nicht aufpassen? Das hier ist eine Veloroute, kein Gehweg“, fauchte sie den jungen Mann an, dessen gestreifte Mütze ein auffälliges ‘F’ zierte – ein Symbol, das in den letzten Jahren immer häufiger im Stadtbild aufgetaucht war. Es stand für Freiheit und wurde von einer wachsenden Zahl von Aktivisten als Erkennungszeichen getragen. Der Fußgänger hatte den Kopf in den Kragen seiner Jacke gezogen, seine Schritte hallten auf dem nassen Asphalt, als er sich langsamer vorwärtsbewegte. ‘Spinner’, dachte sie innerlich, während sie in Gedanken mit einem Marker noch die Buchstaben ‘FP2’ hinzufügte. Dann hätte es wenigstens einen Sinn, in Anbetracht der vielen Menschen, die momentan erneut an Atemwegsinfektionen litten.

Das Bundesinstitut für Prävention und Information in der Medizin, auch BIPAM genannt, das 2025 aus dem Robert Koch-Institut hervorgegangen war und die öffentliche Gesundheit fördern soll, hatte seit Oktober 2029 der Bevölkerung erneut zum Tragen von Masken im öffentlichen Raum geraten. Es war dieselbe Begründung wie zur COVID-19-Pandemie, nämlich andere zu schützen. Mia hegte viel Sympathie für diese Empfehlung des Instituts, schließlich arbeitete sie dort und kannte ihre Kollegen inzwischen recht gut. Auch deshalb trug sie beim Fahrradfahren auf dem Weg zur Arbeit aus Überzeugung eine FFP2-Maske. Zwar fiel ihr das Atmen mit Maske schwerer, doch ihre Überzeugung, dadurch Mitmenschen vor einer Infektion zu schützen, gab ihr ein gutes Gefühl.

Nachdem sie mit ihrem E-Bike zum Stillstand gekommen war, kam es zum unerwarteten Kontakt: Das Vorderrad berührte sanft den Fußgänger. „Entspann dich, es ist doch nichts passiert“, sagte der Fußgänger mit einem Lächeln, das warmherzig und freundlich war. Seine Augen strahlten eine Gelassenheit aus, die Mia sogar etwas beeindruckte. Doch warum duzte er sie einfach so? „Ja, aber nur, weil mein Fahrrad so gute Bremsen hat. Sonst hättest Sie sich vielleicht blaue Flecken am Bein geholt.“

Der erste Schreck war verflogen, und sie schwang sich wieder auf ihr E-Bike, um ihre Fahrt in einem zügigen Tempo zum Nordufer fortzusetzen. Aus der Ferne hörte sie noch den Fußgänger rufen: „Scheiß Masken, die bringen eh nix.“ Elender Besserwisser, dachte sie bei sich.

Der Dunkelheit gab langsam gegenüber der Morgensonne auf, aber die Luft war immer noch feucht und kühl. Der vertraute Duft von frischem Brot wehte aus einer nahegelegenen Bäckerei, in der bereits die ersten Kunden standen. Keinesfalls wollte sie heute zu spät zur Arbeit kommen. Ihr aktuelles Projekt zur Immunität der Bevölkerung gegenüber Grippeviren war ihr viel zu wichtig.

Die Vorbereitungen am BIPAM

30. November 2029

„Was Sie jetzt hören werden, ist von höchster Vertraulichkeit. Ich muss wohl kaum betonen, welche gravierenden Konsequenzen es für jeden von Ihnen haben könnte, sollte die Geheimhaltung nicht gewahrt bleiben.“ Mit diesen mahnenden Worten eröffnete der Präsident des BIPAM die sehr kurzfristig einberufene zehnminütige Besprechung für die höhere Führungsebene, die vollständig und maskiert im großen Besprechungsraum saß, hinter verschlossenen Türen und ohne Handys.

„Gestern Abend hat mir die Bundesgesundheitsministerin Ramona Kurz persönlich offenbart, dass aufgrund der in Nordamerika und Europa dramatisch ansteigenden Fallzahlen des H7N9-Influenza-A-Virus in zwei bis drei Wochen, spätestens jedoch vor Weihnachten, wahrscheinlich der weltweite Gesundheitsnotstand ausgerufen wird. Basierend auf den internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO rechnen wir mit der anschließenden Einführung einer weltweiten Impfpflicht für Personen ab 12 Jahren gegen dieses gefährliche Pandemievirus. Es obliegt dann den deutschen Behörden und Gesundheitsämtern, diese Maßnahme innerhalb von sechs Wochen nach der Änderung des Infektionsschutzgesetzes rigoros umzusetzen. Der logistische Aufwand zur Impfung von 70 Millionen Bürgern wird bereits akribisch vorbereitet. Die Bundeswehr wird aktiv in die Operation eingebunden sein, um Impfzentren und Pflegeheime zu unterstützen und Impfverweigerer aufzuspüren, die bis auf weiteres in Gewahrsam genommen werden können – notfalls auch mit Gewalt. Die notwendigen Verfügungen werden bereits in den höchsten Etagen entworfen. Quarantänezelte werden in vielen Kasernen eingerichtet.

Ab sofort wird eine permanente enge Abstimmung zwischen den zuständigen Ministerien stattfinden. Von heute an treffen wir uns hier täglich um 7:30 Uhr, um die Einzelheiten der Umsetzung zu besprechen. Ich bitte darum, sich wegen der Kurzfristigkeit auf jede dieser Besprechungen bestmöglich vorzubereiten, damit unsere knappe Zeit so effektiv wie möglich genutzt werden kann. Sie erhalten alle bereits beschlossenen Anweisungen und Verordnungen per E-Mail. In den täglichen Besprechungen werden ausschließlich Themen behandelt, die zwischen den Abteilungen und Ministerien abgestimmt werden müssen. Ab morgen sind außerdem hochrangige Vertreter der Bundeswehr, des Bundesinnenministeriums, der Bundespolizei, des Karikó-Weissman-Instituts sowie weiterer relevanter Behörden als ständige Gäste anwesend.

Alle anderen geplanten Termine in Ihren Kalendern sind ab jetzt nachrangig. Wenn Sie deswegen Termine mit Externen absagen müssen, bitte ich Sie, Krankheit, Arbeitsüberlastung oder sonstige glaubhafte Gründe vorzuschieben. Keinesfalls dürfen Andeutungen gegenüber Außenstehenden im Hinblick auf einen möglichen weltweiten Gesundheitsnotstand oder die absehbare Impfpflicht gemacht werden. Und kein Wort an die Presse. Das sollte allen klar sein. Bis auf weiteres gilt für alle von Ihnen eine strikte Urlaubssperre. Haben Sie Fragen dazu?“

Mia konnte kaum fassen, was sie soeben vernommen hatte. Zu lebhaft waren die Erinnerungen an das Chaos von 2020 und die COVID-19-Pandemie, Bilder von leeren Straßen und überforderten Kliniken schossen durch ihren Kopf. Wie viele Termine würde sie jetzt absagen müssen? Würde sie überhaupt nach Hause in ihre Wohnung in Reinickendorf kommen, unter dieser bevorstehenden Arbeitslast? Sie warf einen Blick auf ihren Kollegen aus der Abteilung Infektionsepidemiologie. Sein Gesicht war so blass wie seine Maske, der Blick verstört. Offenbar saß ihm der gleiche Schrecken im Gesicht.

„Die Sitzung ist für heute beendet“, verkündete der Präsident mit unerschütterlicher Klarheit und setzte seine Maske wieder auf. Mia versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, und machte sich auf den Weg zur Teeküche in der Nähe ihres Büros. Dieser klassische Treffpunkt war der Ort für Nachbesprechungen mit den Kollegen, wenn außergewöhnliche Ereignisse sich anbahnten. Ihre innere Unruhe wuchs. Was kam wohl als Nächstes?

Im Eynur Döner Eck

30. November 2029

Es war bereits nach 20 Uhr, als Mia, erschöpft und innerlich aufgewühlt, ihren Arbeitsplatz verließ. Der Abend in Berlin war stiller geworden. Ihrem Freund Tim hatte sie schon eine Nachricht geschickt, dass es heute später werden würde – nichts Ungewöhnliches für ihn, das kannte er nur zu gut. In der Regel war Tim ohnehin freitags beim Handballtraining, so dass Mia davon ausging, den Abend erst einmal allein zuhause verbringen zu müssen. Doch dieser Gedanke erfüllte sie mit einem unbehaglichen Kribbeln in ihrem Bauch. Um ihre Einsamkeit und die Gedanken an das Erlebte ein wenig zu vertreiben, beschloss sie, um die Ecke ins Eynur Döner Eck zu gehen. Der vertraute Geruch von frisch gegrilltem Fleisch und Gewürzen lag in der Luft, als sie die Tür öffnete. Es war ein typischer türkischer Imbiss, nicht besonders groß, aber gemütlich. Die Wände waren mit bunten Fliesen bedeckt, und die Theke hinter dem Grill war von dampfenden Fetten und Kräutern durchzogen. Die Halogenstrahler über der Grillstation warfen ein warmes Licht auf die goldbraunen Spieße, die sich langsam drehten, während der Duft von Knoblauch, Kreuzkümmel und Paprika sie umhüllte.

„Einen Dürüm-Döner und eine Cola, bitte“, rief sie Altan, dem Inhaber, zu und setzte sich an einen der Tische, der ihr etwas Rückzug bot. Der Geruch von frisch gebackenem Fladenbrot mischte sich mit dem des gegrillten Fleisches, und das Geräusch von Klirrendem Geschirr, lauten Gesprächen und dem Zischen des Fleischs auf dem Grill bildete eine vertraute Geräuschkulisse. Um sie herum murmelten die anderen Gäste in Sprachen, die sie kaum zuordnen konnte – war es Türkisch? Arabisch?

„Bitteschön, guten Appetit“, verkündete Altan, während er den Teller und die Cola auf ihren Tisch stellte. Der kalte Luftzug von der offenen Tür mischte sich mit der Wärme des Ladens, und für einen Moment fühlte sie sich in diesem kleinen, belebten Raum von der Welt abgeschirmt. Das Essen sah köstlich aus: Der Döner war großzügig mit Salat, Tomaten und Zwiebeln belegt, und die Soße glänzte einladend auf dem zarten Fleisch. In diesem Moment schien ein kleiner Lichtstrahl durch die Dunkelheit ihrer Gedanken zu brechen. Doch trotz des appetitlichen Anblicks blieben ihre Gedanken in den beunruhigenden Sätzen des Präsidenten gefangen. Welche Schatten lagen auf der Zukunft? Wie schwer würde die Pandemie werden, die erneut über die Welt ziehen sollte? Wie vielen Menschen würde es ihr Leben kosten? Würden die Kliniken wieder überflutet? Was würde geschehen, wenn sich die ‘Unvernünftigen’ erneut weigerten, sich impfen zu lassen? Würde die Bundeswehr tatsächlich mit Gewalt durchsetzen, 15 Millionen Menschen in Quarantäne zu zwingen? Und was würde mit impfunwilligen Ärzten und Pflegekräften geschehen? Fehlen die dann nicht in den Kliniken und Praxen? Diese Perspektiven machten ihr jetzt schon Angst.

„Hallo, darf ich hier Platz nehmen?“, klang eine angenehme männliche Stimme vor ihr, die unerwartet durch ihre Sorgen schnitt. Völlig in Gedanken versunken hatte sie nicht bemerkt, wie ein Mann um die 30 an ihren Tisch getreten war. Vielleicht hatte er auch schon eine Weile dort gestanden. Sie hob kaum den Blick; der Typ war ihr völlig egal. „Ja, klar“, murmelte sie und blieb in ihren Grübeleien gefangen.

„Danke, und guten Appetit“, antwortete er, und als sie zufällig einen Blick auf ihn warf, fiel ihr die grün-braun gestreifte Mütze auf, auf der ein ‘F’ zu sehen war. War das nicht dieser freche Kerl von heute Morgen? Als sich ihre Blicke trafen, bemerkte sie die freundlichen, klaren Augen und das sympathische Gesicht des Mannes. Nein, das konnte einfach nicht sein. Während ihre Gedanken unruhig hin und her sprangen, fügte er hinzu: „Sind wir uns vielleicht schon heute Morgen begegnet, als ich über den Fahrradweg geschlendert bin? Hey, sorry, ich wollte Sie da nicht erschrecken. Ich war einfach nur für einen Moment abgelenkt.“

Plötzlich war sie zurück im Hier und Jetzt. Jetzt siezte er sie wieder? „Ja, das kann sein. Ist aber auch egal. Achten Sie einfach auf Ihren Weg. So schwer kann das doch nicht sein.“

Immer mehr Gäste strömten in den Imbiss. Der Geräuschpegel stieg an, und der Geruch von frisch gegrilltem Fleisch und Kräutern erfüllte den Raum immer intensiver. Das Zischen der Fritteuse vermischte sich mit den Gesprächen und dem gelegentlichen Lachen von Gästen, die miteinander flirteten oder sich über den Alltag austauschten. Plötzlich bemerkte er den leicht besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht. „Sie sehen bedrückt aus. Beziehungsstress?“ Sie warf ihm einen empörten Blick zu. „Das geht Sie einen Scheiß an.“ Ein Gefühl der Wut überkam sie, und der Wunsch, sich von ihm zu entfernen, wurde stärker. Doch alle anderen Tische waren belegt, und ihren Teller wollte sie nicht mit nach draußen nehmen.

„Ich weiß. Ich bin einfach ein neugieriger Mensch. Mein Name ist übrigens Leon, Leon Lorenz. Ich bin freier Journalist und erst seit vier Wochen in Berlin. Beruflich bedingt interessiert mich ganz besonders das Leben und die Geschichten interessanter Menschen – und ich glaube, Sie sind einer davon.“ Er schob ihr eine Visitenkarte über den Tisch. Glücklicherweise war sie mit ihrem Döner fast fertig. Etwas aufdringlich, gleichzeitig aber auch sympathisch; diese Ambivalenz ließ sie zumindest für einen Moment etwas entspannter werden – ihr inneres erstes Lächeln seit der Krisensitzung.

„Mia, Mia Keller, kein Journalist“, stellte sie sich vor, während sie den letzten Happen ihres Döners kaute. Jetzt musste er über ihre Schlagfertigkeit schmunzeln. Sie nahm ihren Teller und das Glas und stand auf. „Also, beim nächsten Mal heißt es: Augen auf. Klar?“ Sie konnte es nicht lassen.

„Dir auch einen schönen Abend, Mia“, rief er ihr hinterher. Und unverschämt war er auch noch, jetzt duzte er sie schon wieder, einfach so! Dennoch hatte seine unkonventionelle Art etwas Erfrischendes, etwas Besonderes. Für diesen kurzen Augenblick konnte sie die Sorgen des Arbeitstags hinter sich lassen. Mit einem etwas entspannteren Gefühl verließ sie das Bistro, während sie seine Karte einsteckte. Vielleicht würde das Schicksal sie noch einmal zusammenführen – dann wüsste sie wenigstens, gegen wen sie Anzeige erstatten kann.

Der dritte Kontakt

7. Dezember 2029

Eine Woche war inzwischen ins Land gezogen, und die intensiven täglichen Sitzungen am BIPAM hatten ein neues Niveau erreicht. Die Atmosphäre war von einer unerträglichen Spannung durchzogen, die sich wie eine um den Hals zusammenziehende Schlinge anfühlte. Es deutete sich an, dass gewalttätige Ausschreitungen zu einem realen und bedrohlichen Szenario werden könnten, sollte tatsächlich eine allgemeine Impfpflicht verhängt werden. Währenddessen wurden in Indien, China und Osteuropa bereits Anschläge auf mRNA-Produktionsstätten verübt – ein für viele Politiker besorgniserregendes Zeichen, dass sich einige Gegner dieser Technologie immer weiter in ihrer Wut und verzweifelten Radikalität verloren.

In den sozialen Medien kursierten manchmal Hinweise auf eine bevorstehende, weltweite Impfpflicht. Doch diese wurden innerhalb von Minuten von den Plattformen als ‘Desinformation’ gelöscht. Die Schattenhand des ‘Digital Services Act’ bewirkte ein schnelles Verschwinden bestimmter Inhalte. Dieses schnelle Löschen bot den Nährboden für das Aufkeimen von Spekulationen, die wie Pilze aus dem Boden sprießten. Immer mehr Bürger wurden gegenüber offiziellen Stellungnahmen skeptischer, eine Entwicklung mit besorgniserregender Eigendynamik, die sich mit jeder weiteren Löschung bestimmter Texte noch mehr verstärkte. ‘Open Source’ Programme zur Sicherung und Sammlung gelöschter Inhalte hatten bereits Fuß gefasst, das Löschen von Tweets unter der Kategorie ‘Desinformation’ wurde dadurch im Grunde zu einer Farce.

Mia lastete derweil eine zunehmende Sorge auf ihrer Seele. Mit Tim wollte sie nicht reden, aus Angst, ihn zu belasten. Er hatte vor Jahren ein Start-Up gegründet, das USB-Sticks mit einer integrierten unsichtbaren Software entwickelt hatte, die einen Kopiervorgang auf diesen Stick unsichtbar macht. Damit sollten Whistleblower geschützt werden können, die in Firmen oder Behörden Dokumente sichern wollen, um kriminelle Machenschaften aufzudecken. Diese Geschäftsidee brachte Tim sehr früh in den Fokus der Sicherheitsbehörden. Mia wollte ihn deshalb nicht noch zusätzlich gefährden.

Ihre Eltern lebten in Bayern, und das Telefon war kein sicherer Ort für offene Gespräche. Die Last, die sie trug, schien sich wie ein unsichtbarer Schatten über ihr Leben zu legen. Der Schlaf kam ihr unruhig und gestört vor, die Erholung durch die Nacht blieb ihr fremd. Immer wieder ging ihr der Gedanke an Leon durch den Kopf – war er tatsächlich vertrauenswürdig? Sein Auftreten vermittelte diesen Eindruck, und als sie seine Vita im Internet durchstöberte, entdeckte sie, dass er ein Psychologiestudium absolviert hatte. Als Psychologe müsste ihm die Schweigepflicht vertraut sein. Als Journalist vermutlich nicht. Konnte sie diesen riskanten Schritt wirklich wagen und mit ihm reden? Immer wieder erschien ihr dieser Gedanke wie ein ungebetener Gast.

Ein sicherer Ort, ein abgelegener Weg ohne Handy, das wäre doch ideal. Wenn sie ihm nur vertrauen könnte… Entschlossen fasste sie den Plan, es zu versuchen. Sie tippte hastig eine Nachricht in ihr Smartphone: „Morgen 18:00 Uhr, Spaziergang, S-Bahn Grunewald. Interesse? Mia.“ Sie kannte sich an diesem S-Bahnhof gut aus, ihre Tante wohnte ganz in der Nähe. Ein Hauch von Röte stieg ihr ins Gesicht. Was, wenn er es nur als plumpen Flirt verstand? Immer wieder starrte sie auf ihr Smartphone, das unbeweglich in ihrer Hand lag. Immer noch keine Antwort. Schließlich gab sie der Enttäuschung und der Müdigkeit nach und zog sich in ihr Bett zurück.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, war es noch immer dunkel. Ihre Nacht war alles andere als erholsam gewesen. Hatte ihr Handy nicht irgendwann gesummt? Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie drei neue Nachrichten entdeckte – eine davon von Leon. Ein rascher Blick, dann las sie seine knappe Antwort: „Ja.“ So lakonisch, so unerwartet. Plötzlich nagte der Zweifel an ihr. Sollte sie absagen? Es war noch genug Zeit, um ihre Entscheidung zu überdenken. Aber andererseits – es wäre unhöflich und stillos, ihm einfach die kalte Schulter zu zeigen. Immerhin hatte er jetzt ihre Handynummer. Aber so, wie er wirkte, schien er nicht der Typ zu sein, der Rufnummern einfach weitergab oder Frauen belästigte.

Nach den zum Teil schier endlosen Überstunden der letzten Woche machte Mia heute früher Feierabend. „Tschüss, zusammen! Bis morgen. Ich habe noch einen Termin heute Abend.“ Kaum hatte sie das Büro verlassen, fand sie sich schon in der S-Bahn wieder, neben all den anderen Masken, auf dem Weg in Richtung Grunewald. Sie erreichte ihr Ziel zehn Minuten früher als verabredet, doch die Mütze mit dem ‘F’, nach der sie suchte, blieb zunächst unauffindbar.

Der nächste Zug war gerade eingetroffen, während ein leichter Nieselregen fiel. Eine Schar von Masken drängte aus dem Wagen, um sich auf den Weg nach Hause zu begeben – der Feierabendverkehr hatte begonnen. Plötzlich erblickte sie Leon. Tatsächlich trug er wieder seine markante Mütze. „Hallo Mia! Deine Nachricht hat mich überrascht. Hier bin ich“, rief er mit einem Lächeln, das ihr sofort ein Gefühl der Vertrautheit gab. Ihre Menschenkenntnis hatte sie bislang nur selten getäuscht. „Hallo Leon. Es freut mich, dass du gekommen bist. Lass uns ein paar Schritte gehen“, erwiderte sie, als sie gemeinsam den Bahnsteig verließen und in Richtung Eichkampstraße einlenkten.

Ein zustimmendes Nicken von Mia entschied über die Stille zwischen ihnen, während sie vor der Taverna Inos anhielten – einem griechischen Restaurant, das sich wie ein Geheimnis zwischen den Bäumen verbarg. „Hast du Lust, hier was zu essen“, fragte sie. Plötzlich hielt sie den rechten Zeigefinger vor ihre Lippen und deutete an, dass er still sein solle. Sie gingen hinter das Haus. „Ja, warum nicht“ war alles, was er sagte. Mit Geschick zog sie einen Beutel aus ihrer Jackentasche und legte ihr ausgeschaltetes Smartphone hinein. Ihr Kopf nickte in Leons Richtung, als wolle sie ihn einladen, es ihr gleichzutun. Er sah sie mit einem fragenden Blick an.

Sie wedelte mit einem Schlüssel, höchstwahrscheinlich dem für den namenlosen Briefkasten hinter dem Gebäude. Langsam dämmerte es Leon – die Details des Ablaufs waren kein Zufall. Über den Spaziergang wollte Mia keine Geräte dabeihaben, die ihren Standort und das Gespräch aufzeichnen konnten. Mit dieser Einsicht stellte auch er sein Handy aus und legte es in den Beutel, der unmittelbar darauf im Briefkasten verschwand.

Sie gingen in Richtung Wald, während der Nieselregen die Atmosphäre mit einer dezenten Melancholie überzog. Zu ihrer eigenen Sicherheit war Mia gut gewappnet: eine Alarmsirene mit 110 Dezibel, eine Taschenlampe und ein Klappmesser lagen griffbereit in ihrer Tasche. Vor zwei Jahren hatte ihr Arbeitgeber wegen der zunehmenden Straßengewalt in Berlin einen Selbstverteidigungskurs angeboten, seitdem waren ihre Accessoires eher auf Sicherheit als auf Schminke und Parfum ausgerichtet.

Die Luft war kühl und frisch, ein Duft von feuchtem Moos und Erde stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem würzigen Aroma der Nadelbäume, die den Wald wie ein schützendes Dach umhüllten. Der sanfte Nieselregen hatte den Boden mit einem glitzernden Schleier bedeckt, der das Dunkel des Waldes mit einem sanften, silbrigen Schimmer durchbrach. Jeder ihrer Schritte hinterließ auf dem nassen Waldboden einen flachen Abdruck.

Nach einigen Minuten des Schweigens kam Mia direkt auf den Punkt. „Leon, kann ich dir vertrauen? Kannst du schweigen? Du bist schließlich Psychologe und weißt, was Schweigepflicht bedeutet, oder?“ Leon hatte mit einem heiklen Thema gerechnet, seit sie den Briefkasten aufgesucht hatten. Spätestens jetzt war ihm klar, dass diese Begegnung nichts mit einem romantischen Abend zu tun hatte. „Ja, ja und ja“, antwortete er, und die Verwunderung in ihren Augen sprach Bände. „Was willst du mir sagen?“

Leons lächelte. „Ich habe jede deiner drei Fragen beantwortet.“ Mia entspannte sich ein wenig. „Pass auf. Ich bin Journalist und unterliege keiner Schweigepflicht. Allerdings habe ich das Recht, meine Informationsquellen geheim zu halten. Ich habe keine Ahnung, was du auf dem Herzen hast, aber den Quellenschutz garantiere ich immer. Guten Freunden gewähre ich auch eine Art von Schweigepflicht, doch die kann ich dir nicht einfach zusagen, dafür kennen wir uns zu wenig.“

Der Waldboden war weich und fedrig, bedeckt mit einer dicken Schicht aus nassem Laub und Nadeln. Unter ihren Schuhen gab der Boden nach, fast als würde er sie in seinen weichen Griff nehmen wollen. Überall um sie herum sammelten sich kleine Pfützen, die den Regen spiegelten und den Wald noch lebendiger machten, als der Wind durch die Bäume fuhr.

Ein Seufzer der Erleichterung entglitt Mias Lippen. Seine Zusage zum Quellenschutz beruhigte sie ein wenig. „Leon“, begann sie, „ich will mal so anfangen. Im Grunde genommen kenne ich dich überhaupt nicht. Ich weiß nur, dass du dich manchmal auf Velorouten verirrst und dich dort von Radfahrerinnen anfahren lässt.“ Mit einem schelmischen Zwinkern erntete sie ein Nicken von Leon. Ja, der Seitenhieb kam zum zweiten Mal an.

„Ich arbeite an einem Bundesinstitut und habe vertrauliche Informationen in Bezug auf Ereignisse, die in den kommenden Wochen mit hoher Wahrscheinlichkeit Deutschland betreffen werden. Diese könnten, so sehe ich es, zu erheblichen gesellschaftlichen Verwerfungen und chaotischen Zuständen führen.“ Leon wurde blass, der Ernst dieser Worte durchzog seine Miene. Auch wenn er noch keine Ahnung hatte, worum es genau ging, machte die Aktion mit den Handys nun Sinn. „Sprich weiter“, drängte er.

„Mir macht das alles Sorgen, und ich habe eine Scheiß Angst“, fügte Mia hinzu. „Mit meiner Familie kann ich nicht reden. Mit meinem Freund und den anderen Freunden ebenfalls nicht. Alles ist verboten. Mit dir dürfte ich auch nicht sprechen. Du weißt schon, Arbeitsvertrag, Verschwiegenheitsklausel und so. Aber ich muss über manches reden, sonst breche ich noch zusammen. Bei dir habe ich immerhin ein gutes Gefühl, ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht, weil du Psychologie studiert hast und Journalist bist.“ Leon lächelte - ein echtes Lächeln. „Und nun, wo wir uns ohne einen Döner zwischen uns etwas besser kennenlernen, habe ich immer noch das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann.“

Mia hatte Stil, eine gelungene Mischung aus Ernsthaftigkeit und Humor, die ihm gefiel. „Ob du mir vertrauen willst, keine Ahnung. Das musst du mit dir selbst klären. Doch ich kann dir versichern, dass mein Quellenschutz besteht. Und ich verspreche dir, dass ich Inhalte von Gesprächen oder Dokumenten nur dann öffentlich mache, wenn ich deine Zustimmung habe. Das ist mein journalistisches Credo.“

Jetzt war Leon ganz der Profi, dieser Teil des Gesprächs folgte einem Ritual, das ihm sehr vertraut war. Er hatte solche Gespräche bereits oft geführt und sich damit einen angesehenen Ruf in seiner Branche erarbeitet. „Wie viel Zeit hast du?“, fragte Mia.

Nach fast drei Stunden spürte Mia, wie der feine Regen langsam durch ihre Jacke bis auf ihre Haut drang. Die kühle Luft hatte ihre Gedanken verlangsamt, sie fühlte sich beinahe schwerfällig, als ob der Wald die Zeit mit jedem Schritt langsamer machte, ihre Gedanken wie in einem Nebel verhüllte.

Es war 0:10 Uhr, als Mia schließlich, erschöpft und fröstelnd, aber erleichtert, in der vertrauten Sicherheit ihrer Wohnung ankam. Tim schlief schon. Hoffentlich würde ihr Vertrauen in Leon nicht enttäuscht.

Der Widerstand

8. Dezember 2029

Die Kellertür öffnete sich mit einem leisen Quietschen, das in der bedrückenden Stille des Raumes verhallte. An der Decke hing eine einfache Glühlampe, deren diffuses Licht tanzende Schatten an den Wänden hinterließ. Das Kabel der Lampe, das aus der unverputzten Decke ragte, war laienhaft mit Lüsterklemmen zusammengeflickt. Leon hob den Kopf und sah nach, wer heute noch kommen würde.

Er war von bemerkenswerter Statur: gut durchtrainiert, sportlich gekleidet und mit einem klaren Verstand, der wie ein scharfes Messer durch den Nebel des Unbekannten schnitt. Selten gab es jemanden, der es so gut verstand, komplexe Zusammenhänge zu entschlüsseln und bei kontroversen Themen immer wieder den gleichen Maßstab anzulegen. Diese Fähigkeit war längst zum Relikt einer anderen Zeit geworden und war in großen Teilen der Bevölkerung sowie unter zahlreichen Journalisten der großen Medien verloren gegangen, seit die Nachrichten der drei internationalen Agenturen die Realität der Berichterstattung dominiert hatten und ihre kritische Qualität verkümmert war.

In diesem Augenblick betrat Lea Böttcher den Raum. „Hallöchen“, begrüßte sie Leon. Wer sie nicht kannte, hielt beim ersten Blick unwillkürlich inne. Mit ihren 26 Jahren trug sie bereits zahlreiche Tätowierungen im Gesicht und am Hals, und wer weiß, was am Rest des Körpers noch zu finden war. Eine Schlange schlängelte sich geschmeidig vom linken Schlüsselbein bis hinauf zum Ohr, wo ihre gespaltene Zunge die Ohrmuschel umschlang – ein symbolisches Bild für Schutz. Auf der anderen Halsseite prangte eine Fledermaus, die ihr persönliches Sinnbild für Freiheit darstellte. Im tiefen Ausschnitt blitzte der obere Teil eines Skorpions hervor, ein scharfes Zeichen für die unermüdliche Kraft, die in ihr steckte. Nach außen hin wirkte sie unnahbar und kühl, doch ihre Freunde aus der Aktivistengruppe hatten längst erkannt, dass sie eine tief verwurzelte, warmherzige und menschliche Seite besaß, die darauf wartete, ans Licht zu kommen.

Sie warf ihren Rucksack mit der gewohnten Unbekümmertheit auf den abgenutzten, orangefarbenen Sessel aus den glorreichen 70er Jahren, der neben dem ramponierten Schrank thronte. An der Wand neben dem Schrank hing ein verblasstes Plakat mit dem kämpferischen Slogan ‘Selbstbestimmung’ – ein Relikt aus besseren Zeiten, das längst niemand mehr wirklich zur Kenntnis nahm. Es wirkte wie eine Mustertapete, die sich über Jahre in der Wandfläche festgekrallt hatte, deren Design jedoch unsichtbar geworden war. Leon widmete sich konzentriert seinem Laptop. Auch an diesem Samstag hatten alle ihre Health-Watches und Smartphones zuhause gelassen, als Folge einer Vereinbarung, um sich gegenseitig zu schützen.

„Dann scheinen wir für heute wohl vollzählig zu sein“, bemerkte Leon mit einem Hauch von Ironie in seinem Lächeln, während sein Blick auf Lea gerichtet war. „Lass uns also beginnen.“

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Die Hinweise verdichten sich, dass wir früher als geplant in die Offensive gehen müssen. Möglicherweise steht uns bereits in zwei oder drei Wochen das Unvermeidliche bevor. Bis dahin muss unsere Argumentation jedoch noch deutlich besser werden, wenn nicht sogar absolut wasserdicht sein. Ich werde gleich morgen früh noch einmal Kontakt mit Rechtsanwalt Karl Kopf aufnehmen. Könntest du das Crowdfunding weiter vorantreiben? Wir werden das Geld wohl schneller brauchen, als wir angenommen haben. Und sende noch heute Botschaft Nummer 1 an Freedom007.“

Leas Miene wirkte angespannt, als wüsste sie, dass das monatelange Planspiel sich nun in ernste Realität verwandelte – und das viel rascher, als sie sich träumen ließ.

Chaos auf den Straßen

9. Dezember 2029

Wieder brach das Chaos auf den Straßen Berlins aus. Auslöser war eine genehmigte Demonstration, die für die Sicherung der Grund- und Freiheitsrechte eintrat. Seit 2020 hatte es immer wieder Demos dieser Art gegeben, da einige Grundrechte in Deutschland zunehmend eingeschränkt worden waren. Die Paragrafen 5 und 8 des Grundgesetzes zur Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit waren 2027 im Rahmen einer EU-Direktive so verändert worden, dass es kaum noch eine Möglichkeit gab, diese Grundrechte in Deutschland vor einem Gericht durchzusetzen.

Im Stadtteil Lichtenberg hatten sich maskierte Linke und Grüne mit Gewerkschaftsvertretern und Kirchenmitgliedern zu einer Gegenprotestaktion formiert. Berlin war zu einem Schauplatz des wachsenden Konflikts geworden. „Verpisst euch!“, schallte der wütende Sprechchor der Gegendemonstranten durch die Straßen – ein bedrohliches Echo, das selbst die Polizei in Atem hielt. Diese hatte sichtbare Mühe, die beiden Lager auseinanderzuhalten und die aufgebrachten Gemüter zu beruhigen. Berlins Innensenator war fest entschlossen, weitere Bilder von brutalen Auseinandersetzungen wie vor zwei Wochen zu vermeiden. Damals waren bei gewalttätigen Zusammenstößen 268 Demonstranten beider Seiten festgenommen worden.

Die neuen mobilen Kameras auf Drohnen, ausgestattet mit KI-gestützter Maskendurchsicht zur Gesichtserkennung, ermöglichten der Polizei eine blitzschnelle Identifizierung dieser Gewalttäter. Obwohl der ungezielte Einsatz dieser Technologie auf Demos verboten war, erleichterte sie die Arbeit erheblich. ‘Die vom Gesetzgeber zur gezielten Terrorabwehr erlaubten Maßnahmen sind auch bei Demos von Nutzen’, dachte der Innensenator. Zwar hätte er diese ohne richterlichen Beschluss nicht einsetzen dürfen, doch im Nachhinein gab es keine nennenswerten Beschwerden. Im Gegenteil, seine Entscheidung zur sofortigen Identifizierung der Krawallmacher wurde von der Regierung und zahlreichen Medien einhellig gelobt. Er fühlte sich ein wenig wie Helmut Schmidt im Jahr 1962, zur Zeit der Großen Elbflut. Damals hatte Schmidt in einem ähnlichen Dilemma 40.000 Soldaten zur Unterstützung der Zivilmaßnahmen ohne große Genehmigungen einfach angefordert, und sein schnelles, entschlossenes Handeln hatte Hamburg vor einer größeren Katastrophe bewahrt. Heute fühlte sich der Innensenator wie Schmidt damals, und das war ein befriedigendes, fast euphorisches Gefühl.

*****

Als Mia die erschreckenden Bilder in der Tagesschau sah, überkam sie ein mulmiges Gefühl. Was würde passieren, wenn es heute schon so chaotisch war? Wie würde es erst aussehen, wenn Hunderttausende in zwei oder drei Wochen gegen die Impfpflicht auf die Straßen strömten? Ein Bild formte sich in ihrem Kopf: Menschenmengen, aufgebrachte Stimmungen, ein Kessel, der jederzeit zu überkochen drohte.

Und was würde mit den vielen Migranten geschehen, die die Impfpflicht womöglich nicht verstehen oder sogar ablehnen würden? Würden sie ihre Messer zücken? Würde die Straße bald von täglichen Auseinandersetzungen geprägt sein? Und könnte sie in dieser Atmosphäre ihr Büro noch sicher erreichen?

Diese Fragen ließen Mia keine Ruhe. Sie hielten sie gefangen und legten sich wie ein bleierner Mantel auf ihre Brust.

Nadine

10. Dezember 2029

Das Licht im Badezimmer war gedämpft, als Nadine eintrat. Ein Gefühl der Müdigkeit umgab sie, während sie sich aufraffte, um sich die Zähne zu putzen und den Tag hinter sich zu lassen. Es war erst 20 Uhr, doch das Zubereiten ihrer Mini-Tiefkühlpizza hatte sie mehr Kraft gekostet, als sie erwartet hatte. Die Schmerzen in ihren Gliedern ließen sie kaum noch sitzen. Trotz der schweren Krankheit, die sie seit einigen Jahren begleitete, war es ihr ein Bedürfnis, die Pflege ihrer Zähne nicht zu vernachlässigen. Oft kam ihr der Gedanke: Wenn der Rest des Körpers schon immer schwächer wird, sollen wenigstens die Zähne im bestmöglichen Zustand bleiben.

Der Gedanke an den Tag, an dem sich ihr bis dahin sorgenfreies Leben radikal ändern sollte, schlich sich auch heute in ihr Gedächtnis. Es war während der COVID-19-Pandemie. Am 5. Januar 2021 wurde das große Impfzentrum in Hamburg eröffnet, jedoch wurden zur Impfung zunächst nur Risikogruppen eingeladen, vor allem ältere und besonders gefährdete Menschen. Nadine hatte ihren ersten Impftermin am 8. April 2021, als 22-Jährige ohne Vorerkrankungen musste sie einige Wochen warten. Drei Wochen später folgte die zweite Injektion. Sie war eine von mehr als 600.000 Menschen, die sich in den Messehallen von Hamburg impfen ließen. Der gesamte Ablauf glich einer Massenabfertigung. Die Einverständniserklärung, die sie im Vorfeld per E-Mail erhalten hatte, sollte sie unterschrieben zum Termin mitbringen. Schlichte Trennwände verwandelten die Halle in ein Labyrinth aus Kabinen.

Der Ablauf war monoton, fast wie ein unheilvolles Ritual. Man meldete sich an, gab die unterschriebene Einverständniserklärung und den Impfpass ab und wurde dann in eine der Kabinen geleitet. Nach kurzer Zeit erschien der Impfarzt. Nadine konnte seine Gesichtszüge kaum erkennen, die Maske verdeckte fast das gesamte Gesicht. Nur der Vollbart und die buschigen Augenbrauen schimmerten durch – ein Bild, das ihr die Vorstellung eines Theo Waigel aufdrängte, bis ihr bewusstwurde, dass nur der bayerische Akzent fehlte.

„Guten Tag, Frau Hoppe. Ich werde Sie jetzt impfen. Wie ich sehe, haben Sie die Einverständniserklärung bereits unterschrieben. Sehr schön. Damit sind Sie über die möglichen Risiken der Impfung informiert. Heute verwenden wir den Impfstoff von BioNTech, wie bei Ihrer ersten Impfung. Hatten Sie nach der ersten Impfung irgendwelche Beschwerden?“

„Nein, alles war in Ordnung. Nur die Einstichstelle war ein bisschen gerötet und hat bei Bewegungen des Arms ein paar Tage weh getan. Aber sonst gab es keine Probleme.“

Nadine war die Halle unangenehm, es waren zu viele Menschen hier, alle maskiert und auf Abstand bedacht. Möglichst schnell weg hier, war ihre Devise.

Sie hatte keine große Angst vor COVID-19, sondern wollte sich nur impfen lassen, um einfacher am Sozialleben teilhaben zu können. Und um ihre Oma besuchen zu können, ohne die Sorge, sie eventuell anzustecken. Außerdem hatte sie als Kassiererin bei Aldi sehr viele Kundenkontakte, wenn auch nur von kurzer Dauer und durch eine Plexiglasscheibe. Was also sollte ihr passieren? ‘Schützen Sie sich und andere’, hatte man immer wieder betont. Jetzt leistete sie ihren Beitrag dazu, dass alle möglichst schnell aus dieser Pandemie kommen.

„Ich habe keine weiteren Fragen“, antwortete sie rasch und spürte das kühle Hautantiseptikum, gefolgt von dem stechenden Schmerz des ‘kleinen Pieks’, wie die COVID-Impfung bisweilen genannt wurde. Nadel raus, ein kleines Pflaster auf die Punktionsstelle, und schon war der Impfarzt mit einem ‘Tschüss Frau Hoppe“ verschwunden. Aus der Nachbarkabine hörte sie das Echo des gleichen monotonen Dialogs. Sie ging zurück in den Wartebereich, der sich weiter mit Menschen füllte, die auf Stühlen oder in Rollstühlen saßen. Nur wenige Plätze waren zum Sitzen frei, da viele Impflinge von ihren Angehörigen begleitet wurden. Wegen der möglichen allergischen Reaktionen war es für Nadine nötig, mindestens 15 Minuten unter Beobachtung zu bleiben. Als die Zeit verstrichen war, bekam sie ihren Impfpass zurück und machte sich auf den Heimweg.

Damals schien alles noch Sinn für sie zu machen. Die Mammutaufgabe, große Teile der Bevölkerung in kürzester Zeit zu impfen, war über die Arztpraxen gar nicht realisierbar, davon war sie überzeugt. Doch der Ablauf im Impfzentrum fühlte sich wie eine Massenabfertigung an. Hätte es dazu überhaupt eine realistische Alternative gegeben? Alles ging hier schnell, die Abläufe waren optimiert, das Personal blieb dennoch höflich und aufmerksam. Dieser Weg barg die Hoffnung, aus der Dunkelheit der Pandemie hervorzutreten. Und Nadine hatte ihren gesellschaftlichen Beitrag geleistet, das fühlte sich gut an. Sie war erleichtert, dass in den Messehallen im Grunde alles ganz einfach war. In zwei Wochen würde sie als vollständig geimpft gelten und konnte wieder einfacher am Sozialleben teilhaben. Endlich!

Nur zwei Tage später fühlte sie sich unwohl. Wie aus dem nichts fiel es ihr auf einmal schwer, die Treppen zu ihrer Wohnung in der zweiten Etage hinaufzusteigen. Sie erlebte eine ungewöhnliche Schwere in ihren Beinen. Und dann diese komischen Kopfschmerzen. Und der Schwindel. Selbst das Licht im Wohnzimmer war ihr unangenehm hell. Ein beunruhigender Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Vielleicht hatte sie sich im Impfzentrum COVID-19 eingefangen. Die Halle war voll. Und in der U-Bahn hatten die Menschen dicht gedrängt gestanden und husteten und niesten immer wieder. Ob die Masken eine Übertragung tatsächlich sicher verhindern können, wenn jemand neben ihr hustet? Ganz sicher war sie sich da nicht.

Es wird wohl nur eine Grippe sein, dachte sie, sich selbst beruhigend, auch wenn es sich diesmal anders anfühlte. Also meldete sie sich krank und verordnete sich Bettruhe, Erkältungstee und sehr viel Schlaf, um zu neuen Kräften zu kommen.

Das Telefon klingelte. Sie hatte anscheinend in einen tiefen Schlaf gefunden, als sie von einem vertrauten Klang geweckt wurde. Es war ihre Oma, nachmittags um halb drei. „Hallo Nadine, wie geht‘s dir? Hast du die zweite Impfung vorgestern gut überstanden?“

„Oma, warum schreist du so?“

Oma Erna war entsetzt, sie sprach doch so wie immer. „Ich schreie nicht, Liebes. Ich spreche ganz normal mit dir. Geht es dir wirklich gut?“

„Jetzt schreist du ja schon wieder. Sprich doch bitte leiser mit mir, deine Stimme ist einfach zu laut.“

„Warum bist denn so gereizt? Ist irgendwas passiert, Nadine? Brauchst du Hilfe?“

„Nein, Oma, ich fühle mich nur seit heute Morgen irgendwie schlecht. Es ist wie eine Grippe, aber anders. Ich habe mich schon krankgemeldet, ich brauche jetzt einfach Ruhe.“

Oma Erna war verständnisvoll und senkte ihre Stimme. „Meine liebe Nadine, dann machen wir es heute nur ganz kurz. Wenn du etwas brauchst, schreib mir doch einfach eine WhatsApp. Ich komme dann rüber.“ Ihre Oma lebte schräg gegenüber in der Osterstraße und mit ihren 79 Jahren war sie eine rüstige Rentnerin, die ihr Leben samt Einkäufen problemlos organisieren konnte. Somit konnte sie auch für Nadine Besorgungen vornehmen, wenn sie es wünschen sollte.

„Danke Oma, du bist die Beste. Ich ruhe mich jetzt wieder aus. Alles Gute, tschüss.“

Oma Erna war für Nadine das Licht in der Dunkelheit, ihr sicherer Hafen in stürmischen Zeiten. Die Erinnerungen an ihre Mutter waren nur noch schwach. Nadine wusste nur, dass ihre Mutter oft im Krankenhaus war. Später erzählte ihr die Oma, dass sie an Brustkrebs gelitten hatte. Schließlich hatte der Tod gesiegt, und mit nur drei Jahren musste Nadine die unermessliche Leere im Herzen eines kleinen Mädchens spüren, als sie ihre geliebte Mutter verlor.

Ihr Vater, überwältigt von der neuen, grausamen Realität, versank zusehends in einen Strudel aus Alkohol und Verzweiflung. Immer wieder fand Nadine ihn in einem erbärmlichen Zustand im Wohnzimmer, ein Bild, das die Unbeschwertheit eines jeden Kindes in den Abgrund stürzen könnte. An manchen Nächten blieb er fern, Nadine wäre dann allein gewesen, wäre nicht ihre Oma gekommen. Nachbarn sollen ihn mit anderen Frauen in der Wohnung gesehen haben, wenn Nadine in der Kita war. Eine junge Studentin aus dem Wohnblock gegenüber, hieß es, habe sich des Öfteren in seiner Gesellschaft wiedergefunden, und das Gerücht war Nadine ein weiterer Schmerz.