Der Dämon und Fräulein Prym - Paulo Coelho - E-Book + Hörbuch

Der Dämon und Fräulein Prym E-Book

Paulo Coelho

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Ort in den Pyrenäen, gespalten von Habgier, Feigheit und Angst. Ein Mann, der von den Dämonen seiner schmerzvollen Vergangenheit nicht loskommt. Eine junge Frau auf der Suche nach ihrem Glück. Sieben Tage, in denen das Gute und das Böse sich einen erbitterten Kampf liefern und in denen jeder für sich entscheiden muss, ob er bereit ist, für seinen Lebenstraum etwas zu riskieren und sich zu ändern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 219

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paulo Coelho

Der Dämonund Fräulein Prym

RomanAus dem Brasilianischen vonMaralde Meyer-Minnemann

Titel der 2000 bei Editora

Objetiva Ltda., Rio de Janeiro,

erschienenen Originalausgabe:

›O Demônio e a Srta. Prym‹

Copyright © 2000 by Paulo Coelho

Mit freundlicher Genehmigung

von Sant Jordi Asociados, Barcelona, Spanien

Alle Rechte vorbehalten

Paulo Coelho: www.paulocoelho.com

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2001 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto von Yolande de Kort (Ausschnitt)

Copyright © Yolande de Kort/

Trevillion Images

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2022

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23388 9

ISBN E-Book 978 3 257 60256 2

[5] Und es fragte ihn ein Oberer und sprach: Guter Meister, was muß ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?

Jesus aber sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

Lukas, 18: 18

[7] Seit fast 15Jahren setzte sich die alte Berthe nun schon jeden Tag vor ihre Tür. Die Bewohner von Bescos wunderte dies nicht, denn alte Menschen träumen nun einmal von der Vergangenheit und ihrer Jugend, blicken versunken auf eine Welt, die nicht mehr die ihre ist, und suchen nach einem Vorwand, um mit ihren Nachbarn ins Gespräch zu kommen.

Berthe hatte jedoch einen Grund, dort zu sitzen. Ihr Warten fand an jenem Morgen ein Ende, als sie den Fremden den steilen Hang heraufkommen und sich langsam zum einzigen Hotel des Ortes begeben sah. Er war nicht, wie sie ihn sich immer vorgestellt hatte. Seine Kleider waren schäbig, sein Haar etwas länger, als man es für gewöhnlich trug, und er war unrasiert. Sein Begleiter aber fehlte nicht: der Dämon.

›Mein Mann hat recht‹, sagte sich Berthe. ›Hätte ich nicht hier gesessen, wüßte niemand etwas davon.‹

Sie schätzte ihn auf etwa vierzig oder fünfzig Jahre, war sich allerdings nicht ganz sicher. ›Ein junger Mann‹, befand sie, wie alte Leute es mit Menschen tun, die jünger sind als sie selber, und fragte sich, wie lange er wohl bleiben werde: allem Anschein nach bloß kurz, denn er hatte nur einen kleinen Rucksack dabei. Wahrscheinlich würde er nicht mehr als eine Nacht bleiben und dann zu einem Ziel weiterwandern, das sie nicht kannte und das sie auch nicht interessierte.

[8] Dennoch hatten sich all die Jahre gelohnt, die sie vor der Tür ihres Hauses gesessen und auf seine Ankunft gewartet hatte, denn sie hatten sie gelehrt, die Schönheit der Berge zu genießen, die sie zuvor kaum wahrgenommen hatte, weil sie dort geboren und ihr die Landschaft vertraut war.

Wie erwartet, trat er ins Hotel. Berthe überlegte, ob sie über diesen unerwünschten Gast mit dem Priester sprechen sollte, verwarf es aber, denn er würde ihr nicht zuhören und es als eine Altweibergeschichte abtun.

Nun ja, es blieb ihr also nichts anderes übrig, als abzuwarten, was geschah. Stürme, Orkane und Lawinen zerstören ohne Vorwarnung innerhalb weniger Stunden vor zweihundert Jahren gepflanzte Bäume. Ein Dämon braucht für sein Werk der Zerstörung auch nicht mehr Zeit. Schlagartig wurde ihr klar, daß das Böse sich Bescos ausgesucht hatte, ihr Wissen darum aber nichts würde ändern können. Dämonen kommen und gehen, sie sind ständig auf der Welt unterwegs. Manchmal geschieht nichts, sie kommen dann nur, um zu sehen, was gerade geschieht, andere Male kommen sie, um die eine oder andere Seele auf die Probe zu stellen. Doch sie sind unbeständig und wechseln ihr Ziel ohne erkennbare Logik, häufig nur aus Freude an einem Kampf, der sich lohnt. Berthe fand nichts Aufregendes oder Besonderes an Bescos, nichts, was einen Fremden mehr als einen Tag fesseln könnte – ganz zu schweigen jemanden so Wichtigen und Vielbeschäftigten wie einen Boten der Finsternis.

Sie versuchte sich auf etwasanderes zu konzentrieren, aber das Bild des Fremden ging ihr nicht aus dem Kopf. Der eben noch sonnige Himmel bewölkte sich.

[9] ›Das ist ganz normal für diese Jahreszeit‹, dachte sie. ›Das hat nichts mit der Ankunft des Fremden zu tun, es ist reiner Zufall.‹

Da hörte sie einen fernen Donnerschlag, dem drei weitere folgten. Der Donner kündigte ein Gewitter an, doch er konnte den alten Legenden des Dorfes zufolge ebensogut die Stimme eines zornigen Gottes sein, der sich über die Menschen beschwerte, denen er gleichgültig geworden war.

›Vielleicht sollte ich doch etwas tun. Schließlich ist genau das eingetreten, worauf ich gewartet habe.‹

Ein paar Minuten konzentrierte sie sich auf das, was um sie herum geschah. Die Wolken senkten sich über das Dorf, aber sie hörte kein Donnergrollen mehr. Als gute Katholikin traute sie Überlieferungen und Aberglauben nicht, erst recht nicht jenen von Bescos, deren Wurzeln in der Zeit lagen, als der Ort noch keltisch war.

›Der Donner ist nur ein Naturphänomen. Wenn Gott mit den Menschen sprechen wollte, würde er nicht solche Umwege wählen.‹

Sie dachte noch darüber nach, als ein erneuter Donner in nächster Nähe sie auffahren ließ. Berthe erhob sich, nahm den Stuhl und ging ins Haus, bevor es anfing zu regnen. Doch ihr Herz war bang und von einer unbestimmten Angst erfaßt.

›Was soll ich tun?‹

Wenn doch der Fremde nur so schnell als möglich wieder ging, hoffte sie. Sie fand sich zu alt, um ihrem Dorf, sich selber und Gott, dem Allmächtigen, zu helfen, der sich, falls er tatsächlich Hilfe brauchen sollte, bestimmt jemand [10] Jüngeren dazu erkoren hätte. Alles war nichts als Einbildung.

Aber daß sie den Dämon gesehen hatte, nun, daran bestand kein Zweifel.

Er war da, in Fleisch und Blut, als Pilger verkleidet.

[11] Das Gasthaus war nicht nur Hotel, sondern auch ein kleiner Laden für Produkte der Region, eine Wirtschaft mit typischen Gerichten und eine Bar, in der sich die Bewohner von Bescos zu ihren ewig gleichen Gesprächen versammelten. Sie redeten über das Wetter oder die jungen Leute, die aus dem Dorf in die Stadt abwanderten. »Neun Monate Winter, drei Monate die Hölle«, stöhnten sie immer und meinten damit die Tatsache, daß sie alles in nur neunzig Tagen tun mußten: die Felder pflügen, düngen, säen, dann warten, ernten, Heu einbringen, Schafe scheren.

Alle, die in Bescos geblieben waren, wußten wohl, daß sie beharrlich an einer Welt festhielten, die schon untergegangen war. Es fiel ihnen schwer zu akzeptieren, daß sie zur letzten Generation von Bauern und Hirten gehören sollten, die seit Jahrhunderten diese Berge bevölkert hatten. Früher oder später würden die Maschinen kommen, das Vieh weit von Bescos entfernt mit speziellem Futter aufgezogen und das kleine Dorf womöglich an eine große ausländische Firma verkauft werden, die es in einen Skiort verwandeln würde.

So war es anderen Orten der Region bereits ergangen, einzig Bescos widerstand, denn es fühlte sich seinen Vorfahren und deren Traditionen verpflichtet, die sie gelehrt hatten, wie wichtig es ist, bis zum letzten Augenblick zu kämpfen.

[12] Der Fremde las im Hotel das Meldeformular genau durch, überlegte, wie er sich dort eintragen sollte. An seinem Akzent war er unschwer als Südamerikaner zu erkennen, und er beschloß, sich als Argentinier einzutragen, weil ihm die argentinische Fußballnationalmannschaft besonders gut gefiel. Das Formular verlangte eine Adresse, und er trug als Straßennamen »Colombia« ein, weil er wußte, daß Südamerikaner die Angewohnheit haben, sich gegenseitig zu ehren, indem sie wichtige Plätze oder Straßen nach ihrem Nachbarland benannten. Als Namen wählte er für sich den eines berühmten Terroristen des vergangenen Jahrhunderts.

Keine zwei Stunden später wußte ganz Bescos, daß ein Ausländer namens Carlos, geborener Argentinier und wohnhaft in der schönen Calle Colombia in Buenos Aires, bei ihnen abgestiegen war. Das war der Vorteil kleiner Orte: Im Nu weiß jeder bis ins kleinste Detail über jede noch so private Angelegenheit Bescheid.

Und genau das kam der Absicht des Neuankömmlings entgegen.

Er stieg in sein Zimmer hinauf und leerte den Rucksack: Er hatte wenig Kleidung dabei, einen Rasierapparat, ein Paar Schuhe zum Wechseln, Vitamine, um einer Erkältung vorzubeugen, ein dickes Heft, in das er seine Notizen schrieb, und elf Goldbarren von jeweils einem Kilo. Erschöpft von der Anspannung, vom Aufstieg und vom Gewicht schlief er fast sofort ein, allerdings nicht ohne zuvor einen Stuhl gegen die Tür gestellt zu haben, obwohl er wußte, daß er jedem der 281Einwohner von Bescos trauen konnte.

[13] Am nächsten Tag frühstückte er, gab am Empfang des kleinen Hotels Wäsche zum Waschen ab, legte die Goldbarren wieder in den Rucksack und machte sich auf zum Berg, der im Osten des Dorfes lag. Auf dem Weg sah er nur eine alte Frau, die vor ihrem Haus saß und ihn neugierig beäugte.

Er verschwand im Wald und wartete, bis seine Ohren sich an das Summen der Insekten, das Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes gewöhnt hatten, der die kahlen Zweige gegeneinanderschlug. Er wußte, daß er hier leicht beobachtet werden konnte, ohne es zu bemerken, und verharrte fast eine Stunde lang reglos.

Als er davon ausgehen konnte, daß ein möglicher Beobachter inzwischen enttäuscht aufgegeben hatte und ohne eine Neuigkeit, die er im Dorf erzählen könnte, wieder abgezogen war, grub er in der Nähe einer y-förmigen Felsformation ein Loch und versteckte dort einen Barren. Dann stieg er den Berg noch ein Stück weiter hinauf, verharrte dort noch eine weitere Stunde, scheinbar ganz in die Betrachtung der Natur versunken, bis er eine andere Felsformation, die einem Adler ähnelte, sah und dort ein weiteres Loch grub, in das er die restlichen zehn Goldbarren legte.

Der erste Mensch, den er auf dem Weg zurück ins Dorf traf, war eine junge Frau; sie saß an einem Bach, der wegen der Schneeschmelze viel Wasser führte. Als sie ihn kommen hörte, hob sie den Blick von dem Buch, in dem sie gerade las, schaute ihn kurz an und las dann weiter. Schließlich gehörte es sich nicht, das Wort an einen Fremden zu richten.

[14] Fremde, die an einen neuen Ort kommen, haben jedoch das Recht, mit Unbekannten Freundschaft zu schließen, und so trat er näher.

»Hallo«, sagte er. »Es ist für diese Jahreszeit sehr warm.«

Sie nickte.

Der Fremde ließ nicht locker:

»Ich möchte, daß Sie sich etwas ansehen.«

Sie legte höflich das Buch zur Seite, streckte die Hand aus und stellte sich vor.

»Ich heiße Chantal und arbeite abends in der Bar des Hotels, in dem Sie abgestiegen sind. Ich habe mich schon gewundert, daß Sie nicht zum Abendessen runtergekommen sind. Das Hotel lebt nämlich nicht nur von der Vermietung der Zimmer, sondern auch von dem, was die Gäste konsumieren. Sie sind Carlos aus Argentinien und wohnen in Buenos Aires in der Calle Colombia. Alle hier im Ort wissen das bereits, weil ein Mensch, der hier außerhalb der Jagdsaison auftaucht, immer Neugier erweckt. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit grauem Haar und dem Blick von jemandem, der schon viel erlebt hat.«

»Ich bin zweiundfünfzig und heiße nicht Carlos und alle anderen Angaben im Melderegister sind ebenso falsch.«

Chantal wußte nicht, was sie sagen sollte. Der Fremde fuhr fort:

»Ich will Ihnen nicht Bescos zeigen, sondern etwas, was Sie noch nie gesehen haben.«

Sie hatte schon viele Geschichten von Mädchen gelesen, die einem Fremden in den Wald gefolgt und darauf spurlos verschwunden waren. Einen Augenblick lang fürchtete sie sich, doch dann siegte die Abenteuerlust. Dieser Mann [15] würde letztlich nicht wagen, ihr etwas anzutun, denn sie hatte ja gerade gesagt, alle im Ort wüßten von ihm, auch wenn die Angaben im Register nicht mit der Wahrheit übereinstimmten.

»Wer sind Sie?« fragte sie. »Wenn es wahr ist, was Sie da sagen, woher wissen Sie dann, daß ich nicht zur Polizei gehe und Sie wegen falscher Angaben anzeige?«

»Ich verspreche, alle Ihre Fragen zu beantworten, aber erst einmal müssen Sie mit mir kommen, denn ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es ist fünf Minuten von hier.«

Chantal klappte das Buch zu, atmete tief durch und betete stumm, während in ihrem Herzen Aufregung und Angst herrschten. Dann erhob sie sich und folgte dem Fremden. Es würde eine weitere dieser frustrierenden Begegnungen in ihrem Leben werden, die stets verheißungsvoll begannen und als ein weiterer unerfüllter Traum von der großen Liebe endeten.

Der Mann ging zu dem y-förmigen Stein, deutete auf die erst kürzlich ausgehobene Erde und forderte Chantal auf freizulegen, was dort vergraben lag.

»Aber ich werde mir meine Hände und meine Kleidung dreckig machen«, protestierte Chantal.

Der Mann nahm einen Ast vom Boden, brach ihn durch und reichte ihn ihr zum Graben. Sie fand sein Verhalten merkwürdig, tat aber schließlich, was er von ihr verlangte.

Fünf Minuten später förderte Chantal den schmutzigen, gelben Barren zutage.

»Das sieht wie Gold aus«, sagte sie.

»Das ist Gold. Es gehört mir. Bedecken Sie es wieder mit Erde.«

[16] Sie gehorchte. Der Mann führte sie zu dem anderen Versteck. Wieder grub sie. Diesmal war sie wie geblendet von der Menge des Goldes.

»Auch das ist Gold. Und es gehört ebenfalls mir«, sagte der Fremde.

Sie schwieg.

»Wer sind Sie eigentlich? Und was machen Sie hier? Warum haben Sie mir das hier gezeigt, wo Sie doch wissen, daß ich allen erzählen kann, was an diesem Berg versteckt ist.«

»Viele Fragen auf einmal«, murmelte der Fremde, der den Blick geistesabwesend auf den Berg gerichtet hatte, als würde er ihre Gegenwart nicht wahrnehmen. »Daß Sie es weitererzählen, entspricht zumindest genau meinem Plan.«

»Sie haben mir versprochen, daß Sie, wenn ich mitkomme, all meine Fragen beantworten.«

»Erstens sollten Sie Versprechen keinen Glauben schenken. Die Welt ist voll davon: Reichtum, ewige Erlösung, unendliche Liebe. Es gibt Menschen, die glauben alles versprechen zu können; andere – wie Sie – greifen blind nach allem, was ihnen bessere Zeiten verspricht. Diejenigen, die etwas versprechen und es nicht halten, fühlen sich am Ende machtlos und frustriert. Das gleiche gilt für jene, die sich blind auf einmal gegebene Versprechen verlassen.«

Er merkte, daß er alles nur komplizierter machte, als er von seinem eigenen Leben, von einer Nacht erzählte, die sein Schicksal verändert hatte, von den Lügen, an die er sich geklammert hatte, weil er der Realität nicht ins Auge blicken konnte. Ihm wurde bewußt, daß er verständlich reden mußte, damit sie begriff, was er sagen wollte.

[17] Chantal verstand jedoch fast alles. Wie jeder ältere Mann, sagte sie sich, dachte er nur an Sex mit jemand Jüngerem. Wie jeder Mensch glaubte er, mit Geld alles kaufen zu können. Wie jeder Fremde war er sicher, die Mädchen eines Provinznestes wären alle naiv genug, jeden noch so absurden Vorschlag anzunehmen, solange er eine entfernte Möglichkeit mit einschloß, von hier wegzukommen.

Er war nicht der erste und würde leider auch nicht der letzte sein, der versuchen würde, sie auf so plumpe Art zu verführen. Verwirrend war allerdings die Menge Gold, die er anbot. Sie hatte nie gedacht, soviel wert zu sein, und das ängstigte sie und schmeichelte ihr zugleich.

»Ich bin alt genug, um nicht mehr auf windige Versprechen hereinzufallen«, entgegnete sie und versuchte Zeit zu schinden.

»Obwohl Sie ihnen immer geglaubt haben und es auch jetzt noch tun.«

»Da irren Sie sich aber. Ich weiß, daß ich im Paradies lebe, ich habe die Bibel schon gelesen und werde nicht den gleichen Fehler machen wie Eva, die sich nicht mit dem zufriedengab, was sie hatte.«

Das stimmte natürlich nicht, und jetzt machte sie sich allmählich Sorgen, daß der Fremde das Interesse verlieren und gehen könnte. Tatsächlich hatte sie es selber so eingerichtet, daß er sie im Wald treffen mußte. Sie hatte sich extra an eine Stelle gesetzt, an der er auf dem Heimweg vorbeikommen mußte, damit sie jemanden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte, der sie vielleicht noch mit einem Versprechen umgarnen und ihr eine Liebe vorgaukeln würde, die ihr ein paar Tage lang den Traum schenkte, ihr [18] Tal, in dem sie geboren war, für immer zu verlassen. Ihr Herz war schon viele Male verletzt worden, und dennoch glaubte sie immer noch, daß sie eines Tages den Mann ihres Lebens finden würde. Anfangs hatte sie viele Gelegenheiten verstreichen lassen, weil sie fand, daß der Richtige noch nicht gekommen war, aber jetzt fühlte sie, daß die Zeit immer schneller verging, und war entschlossen, Bescos mit dem erstbesten Mann zu verlassen, der sie mitzunehmen bereit war, selbst wenn sie – noch – nichts für ihn empfand. Auch Liebe war eine Frage der Zeit.

»Genau das möchte ich gern herausbekommen: ob wir im Paradies oder in der Hölle leben«, unterbrach der Mann ihre Gedanken.

Gut, er schien in die Falle zu gehen.

»Im Paradies. Aber wer lange an einem vollkommenen Ort gelebt hat, der langweilt sich am Ende.«

Sie hatte den ersten Köder ausgeworfen. Hatte mit anderen Worten gesagt: »Ich bin frei, stehe zur Verfügung.« Seine nächste Frage mußte nun lauten: »Wie Sie?«

»Wie Sie?« wollte der Fremde wissen.

Sie mußte vorsichtig sein, nicht zu durstig zum Brunnen gehen, sonst könnte sie den Mann verschrecken.

»Ich weiß nicht. Manchmal kommt es mir so vor, manchmal denke ich, mein Schicksal liegt hier und ich könnte überhaupt nicht fern von Bescos leben.«

Der nächste Schritt: Gleichgültigkeit vortäuschen.

»Nun, da Sie mir nichts weiter über das Gold erzählen wollen, das Sie mir gezeigt haben, kann ich zu meinem Bach und meinem Buch zurückkehren. Vielen Dank für den Spaziergang.«

[19] »Einen Augenblick!«

Der Mann hatte angebissen.

»Selbstverständlich werde ich Ihnen erzählen, was es mit dem Gold auf sich hat. Warum hätte ich Sie sonst hierhergebracht?«

Sex, Geld, Macht, Versprechen. Aber Chantal tat so, als erwartete sie eine überraschende Enthüllung. Die Männer empfinden eine seltsame Lust darin, überlegen zu sein, wobei sie in den meisten Fällen nicht wissen, daß sie sich absolut vorhersehbar verhalten.

»Sie scheinen ein Mann mit viel Lebenserfahrung zu sein, jemand der mir viel beibringen kann.«

Genau. Das Seil etwas lockern, etwas Lob spenden, um die Beute nicht zu erschrecken, das war eine wichtige Regel.

»Allerdings haben Sie die schlechte Angewohnheit, anstatt eine einfache Antwort zu geben, lange Reden über Versprechen zu halten oder darüber, wie wir uns im Leben verhalten sollten. Ich bleibe sehr gern, aber erst einmal müssen Sie mir die Fragen beantworten, die ich Ihnen gleich zu Anfang gestellt habe: Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«

Der Fremde wandte den Blick von den Bergen ab und sah das Mädchen direkt an. Er hatte viele Jahre mit allen möglichen Arten von Menschen gearbeitet und wußte mit fast hundertprozentiger Gewißheit, was sie dachte. Sie würde bestimmt glauben, er habe ihr das Gold gezeigt, um ihr mit seinem Reichtum zu imponieren, während sie ihrerseits versuchte, ihn mit ihrer Jugend und Gleichgültigkeit zu beeindrucken.

[20] »Wer ich bin? Nun, sagen wir, ich bin ein Mann, der bereits seit einiger Zeit auf der Suche nach einer bestimmten Wahrheit ist. In der Theorie habe ich sie gefunden, sie aber noch nie in die Tat umgesetzt.«

»Was für eine Art Wahrheit?«

»Sie betrifft die Natur des Menschen. Ich habe herausgefunden, daß wir, wenn wir in Versuchung geführt werden, ihr am Ende erliegen. Alle Menschen auf Erden sind bereit, Böses zu tun, es hängt nur von den Umständen ab.«

»Ich glaube…«

»Es geht nicht darum, was Sie oder ich glauben oder was wir glauben wollen, sondern darum, herauszufinden, ob meine Theorie stimmt. Sie wollen wissen, wer ich bin? Ich bin ein sehr reicher, sehr bekannter Industrieller, ich bestimme über Tausende von Angestellten, war hart, wenn es sein mußte, und menschlich, wenn ich es für notwendig erachtete.

Ich bin jemand, der Dinge erlebt hat, die sich andere nicht einmal träumen lassen.

Ich habe durchaus sowohl Lust als auch Wissen jenseits der festgelegten Grenzen gesucht: Ich bin ein Mann, der das Paradies kennengelernt hat, als er glaubte, in der Hölle der Routine und der Familie gefangen zu sein, und der die Hölle kennenlernte, sobald er das Paradies und die vollkommene Freiheit genießen konnte. Das bin ich, ein Mann, der ein Leben lang böse und gut war und vielleicht am besten selber meine Frage nach dem, was den Menschen in seinem Innersten ausmacht, beantworten könnte – und deshalb bin ich hier. Ich weiß, was Sie jetzt wissen wollen.«

[21] Chantal spürte, daß sie an Boden verlor. Sie mußte ihn schnell zurückerobern.

»Sie glauben, ich würde Sie jetzt fragen: Warum haben Sie mir das Gold gezeigt? Aber ehrlich gesagt, wüßte ich gern, warum ein reicher und dazu noch bekannter Industrieller ausgerechnet nach Bescos kommt, um eine Antwort zu finden, die er in Büchern, Universitäten oder einfach dadurch finden könnte, daß er einen Philosophen anstellt.«

Der Fremde freute sich über die Pfiffigkeit des Mädchens. Wie gut, er hatte die richtige Person ausgewählt – wie immer.

»Ich bin nach Bescos gekommen, weil ich einen Plan habe. Vor langer Zeit hab ich ein Theaterstück eines Autors namens Dürrenmatt gesehen, den Sie gewiß kennen…«

Diese Bemerkung war als Provokation gedacht. Natürlich hatte dieses junge Mädchen noch nie den Namen Dürrenmatt gehört und würde wieder blasiert tun, so als wüßte sie, wer das war.

»Ja, und«, sagte Chantal gespielt gleichgültig.

»Es freut mich, daß Sie ihn kennen, ich will Ihnen aber auch sagen, welches seiner Stücke ich meine.« Er wählte seine Worte mit Bedacht, so daß sie nicht übermäßig ironisch klangen, aber doch klarmachten, daß er wußte, daß sie log. »Es geht darin um eine alte Dame, die als reiche Frau in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um sich an ihrem einstigen Liebhaber zu rächen, der sie abgewiesen hatte, als sie noch ein junges Mädchen war. Ihr ganzes Leben, ihre Ehen, ihr finanzieller Aufstieg hatten nur dem einen Ziel gegolten: sich an ihrer ersten Liebe zu rächen.

[22] Von dieser Geschichte ausgehend entwickelte ich mein eigenes Spiel: Ich würde in einen abgelegenen Ort gehen, deren Bewohner ein Leben voller Freude, Frieden und Mitgefühl führen, und würde sehen, ob ich es schaffe, daß einige die wichtigsten Gebote brechen.«

Chantal wandte den Blick ab und schaute auf die Berge. Sie wußte, daß der Fremde gemerkt hatte, daß sie diesen Schriftsteller nicht kannte, und fragte sich bang, was nun kommen würde.

»In diesem Ort sind alle ehrlich, angefangen bei Ihnen«, fuhr der Fremde fort. »Ich habe Ihnen einen Goldbarren gezeigt, der Sie frei und unabhängig machen würde, so daß Sie von hier weggehen, durch die Welt reisen, endlich tun könnten, wovon junge Mädchen in entlegenen Bergdörfern immer träumen. Er wird hier liegenbleiben. Sie wissen, er gehört mir. Aber Sie können ihn auch stehlen, wenn Sie wollen. Damit werden Sie allerdings gegen eines der wichtigsten Gebote verstoßen: ›Du sollst nicht stehlen.‹«

Das Mädchen blickte dem Fremden ins Gesicht.

»Die anderen zehn Goldbarren wären genug, damit sämtliche Bewohner des Dorfes in ihrem Leben nie wieder arbeiten müßten«, fuhr er fort. »Ich habe Sie nicht gebeten, sie wieder mit Erde zu bedecken, weil ich sie an einen anderen Ort bringen werde, den nur ich kenne. Ich möchte, daß Sie zurück ins Dorf gehen und von den Goldbarren und von meinem Angebot erzählen, sie den Bewohnern von Bescos zu geben, wenn sie etwas tun, was sie niemals für möglich gehalten hätten.«

»Zum Beispiel?«

»Hier geht es nicht um ein Beispiel, sondern um etwas [23] ganz Konkretes: Ich möchte, daß sie das Gebot ›Du sollst nicht töten‹ brechen.«

»Was?«

Sie hatte die Frage geradezu herausgeschrien.

»Genau, Sie haben richtig gehört. Ich möchte, daß sie ein Verbrechen begehen.«

Der Fremde merkte, daß das Mädchen buchstäblich erstarrte; vielleicht würde sie jetzt gehen, ohne die Geschichte zu Ende zu hören. Er mußte ihr schnell seinen ganzen Plan offenbaren.

»Meine Frist beträgt eine Woche. Wenn am Ende der sieben Tage jemand im Dorf ermordet aufgefunden wird – es kann ein alter Mann sein, der zu nichts mehr nütze ist, ein unheilbar Kranker oder ein geistig Behinderter, der nur Arbeit macht: es ist gleichgültig, wer das Opfer ist –, dann gehört dieses Gold den Bewohnern von Bescos, und ich werde daraus schließen, daß wir alle schlecht sind. Wenn Sie jenen Goldbarren stehlen, der Ort aber der Versuchung widersteht, oder umgekehrt, werde ich daraus schließen, daß es gute und böse Menschen gibt, was mich vor ein ernstes Problem stellt, weil es einen Kampf auf spiritueller Ebene bedeutet, der von beiden Seiten gewonnen werden kann. Glauben Sie an Gott, an die Ebene der Spiritualität, Kämpfe zwischen Engeln und Dämonen?«

Das Mädchen schwieg, und ihm wurde klar, daß er diesmal die Frage zum falschen Zeitpunkt gestellt hatte. Womöglich machte es auf dem Absatz kehrt und ließ ihn nicht ausreden. Er mußte mit den ironischen Spielereien aufhören und die Sache direkt ansprechen:

»Wenn ich am Ende den Ort mit meinen elf Goldbarren [24] wieder verlasse, dann hat sich all das, was ich glauben wollte, als Lüge erwiesen. Ich werde mit der Antwort sterben, die ich nicht haben wollte, weil das Leben einfacher wäre, wenn ich recht gehabt hätte, nämlich daß die Welt schlecht ist.

Mein Leid würde dadurch nicht aufhören, aber wenn auch alle anderen Menschen leiden, wird es erträglicher. Allerdings ist etwas falsch an der Schöpfung, wenn nur einige dazu verdammt sind, große Tragödien zu erleiden.«

Chantals Augen füllten sich mit Tränen. Doch sie beherrschte sich und fragte:.

»Warum tun Sie das? Warum mit meinem Dorf?«

»Es geht hier weder um Sie noch um Ihr Dorf, sondern einzig und allein um mich: Die Geschichte eines Menschen ist die Geschichte der ganzen Menschheit. Ich will wissen, ob wir gut oder schlecht sind. Wenn wir gut sind, ist Gott gerecht. Und er wird mir alles vergeben, was ich getan habe, was ich denen gewünscht habe, die mich zu zerstören versuchten, die falschen Entscheidungen, die ich in den wichtigsten Stunden getroffen habe, auch den Vorschlag, den ich Ihnen jetzt unterbreite – denn Gott war es, der mich auf die dunkle Seite gestoßen hat.

Wenn wir schlecht sind, dann ist alles erlaubt, dann habe ich nie eine falsche Entscheidung getroffen, dann sind wir bereits verdammt, und es ist ziemlich gleichgültig, was wir in diesem Leben tun, denn die Erlösung liegt jenseits des Denkens und des Handelns eines Menschen.«

Bevor Chantal gehen konnte, fügte er noch hinzu:

»Sie können beschließen, nicht mitzumachen. In diesem Fall werde ich allen sagen, daß ich Ihnen die Gelegenheit [25] gegeben habe, allen zu helfen, Sie sich aber geweigert haben, und ich werde selber den Vorschlag machen. Wenn sie beschließen, jemanden zu töten, kann es durchaus sein, daß Sie dann das Opfer sein werden.«

[26] Die Bewohner von Bescos gewöhnten sich an die Routine des Fremden: Er stand früh auf, nahm ein kräftiges Frühstück ein und brach dann zu seinen Wanderungen in die Berge auf, obwohl der Regen, der zwei Tage nach seiner Ankunft angefangen hatte, nicht wieder aufhörte, später zu Schneeregen mit einigen seltenen Aufheiterungen geworden war. Er aß nie zu Mittag, sondern kam erst am frühen Nachmittag ins Hotel zurück, schloß sich in seinem Zimmer ein, um, wie alle annahmen, zu schlafen.