Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende - Manfred Krapf - E-Book

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende E-Book

Manfred Krapf

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Beschreibung

Im Bundestagswahlkampf 2017 nahm die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft einen wesentlichen Raum ein. Über das Ausmaß einer behaupteten Gerechtigkeitslücke und damit korrespondierend einer angeblich oder tatsächlich gewachsenen Armut hat sich eine Debatte entzündet. Diese Arbeit liefert einen Beitrag zu einem adäquaten Urteil des deutschen Sozialstaates. Die Untersuchung bietet zunächst einen historischen Abriss zum deutschen Sozialstaat seit 1949 einschließlich seiner Begrifflichkeit und Strukturprinzipien sowie zur Bevölkerungsentwicklung. Im Mittelpunkt der empirisch-quantitativen Bilanz seit der Jahrhundertwende steht der "output" des Sozialstaates mit seinen Zweigen, seinen Adressaten, Leistungen und seiner Finanzierung. Abgeschlossen wird dieser Hauptteil durch einen Überblick über das Sozialbudget. Das Schlusskapitel diskutiert die Frage, inwieweit von einem Ab- oder Umbau des deutschen Sozialstaates in der Epoche "nach dem Boom" die Rede sein kann.

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Manfred Krapf

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende

Von den Reformen nach 2000 bis zur Gegenwart

Impressum

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg academic ist ein Imprint der wbg© 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durch dieVereinsmitglieder der wbg ermöglicht.Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

978-3-534-40132-1

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-534-40134-5eBook (epub): 978-3-534-40133-8

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Inhalt

Inhalt

Einleitung

I. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949

II. Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates

1. Zum Begriff des Sozialstaates

2. Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates

III. Rahmenbedingungen des deutschen Sozialstaats: Zur Bevölkerungsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland seit der Wiedervereinigung

IV. Der bundesdeutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende: Adressaten, Leistungen, Reformen, Finanzen

1. Das System der Sozialversicherung

1.1 Die gesetzliche Rentenversicherung

1.2 Die gesetzliche Krankenversicherung

1.3 Die gesetzliche Unfallversicherung

1.4 Arbeitsförderung (Arbeitslosenversicherung)

1.5 Die soziale Pflegeversicherung

2. Das System der sozialen Grundsicherung

2.1 Die Grundsicherung für Arbeitsuchende: Das Arbeitslosengeld II

2.2 Die Sozialhilfe (im engeren Sinn) und die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung

2.3 Exkurs: Zur Armutsberichterstattung der Bundesregierung

3. Die Kinder- und Jugendhilfe

3.1 Adressaten

3.2 Leistungen und Reformen

3.3 Ausgaben

4. Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

4.1 Adressaten

4.2 Leistungen und Ausgaben

5. Das Asylbewerberleistungsgesetz

5.1 Personenkreis und Leistungen

6. Arbeitsbeziehungen: Arbeitsrecht und Mitbestimmung

7. Soziale Entschädigung

7.1 Personenkreis und Ausgaben

8. Familienpolitische Leistungen

8.1 Kindergeld, Elterngeld und Betreuungsgeld

8.2 Wohngeld und Wohnungspolitik

8.3 Ausbildungs- und Aufstiegsförderung

9. Der deutsche Sozialstaat gemäß dem Sozialbudget

9.1 Sozialleistungen, Sozialleistungsquote und Bruttoinlandsprodukt

9.2 Sozialleistungen nach der Funktion

9.3 Sozialleistungen gemäß der Institution

9.4 Die Finanzierung der Sozialleistungen bzw. des Sozialbudgets: Arten der Finanzierung und Finanzierungsquellen

9.5 Der deutsche Sozialstaat im (europäischen) Vergleich

V. Zusammenfassung und Fazit: Eine Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Jahrhundertwende

Chronologie zur Sozialpolitik 1998 bis 2015

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Sachregister

Einleitung

Im Bundestagswahlkampf 2017 nahm die Frage nach sozialer Gerechtigkeit in der deutschen Gesellschaft auch vor dem Hintergrund der Debatte um Flüchtlinge und Zuwanderung einen wesentlichen Raum ein. Über das Ausmaß einer propagierten, bestehenden Gerechtigkeitslücke und zur Frage, ob die Armut in Deutschland in den letzten Jahren eher zu- als abgenommen habe, hat sich eine parteipolitisch übergreifende Auseinandersetzung entwickelt. Die hier vorliegende Arbeit ist auch aufgrund dieser aktuellen Kontroversen entstanden, wenngleich sie darüber hinausgehend einen Beitrag zur Erforschung des bundesdeutschen Sozialstaates bietet, der als ein grundlegendes Element unserer demokratischen Verfassungsordnung betrachtet wird.

Die Untersuchung verfolgt demnach das zugegebenermaßen anspruchsvolle Ziel, eine empirisch-quantitative Bilanz des deutschen Sozialstaats seit der Wiedervereinigung bzw. seit der Jahrhundertwende zu liefern, um ein adäquates Urteil über den Sozialstaat zu ermöglichen, der im Übrigen als eine „kulturelle Errungenschaft“ Westeuropas (Franz-Xaver Kaufmann) „zu den größten Leistungen der europäischen Politischen Kultur im 20. Jahrhundert gehört“ (Hans-Ulrich Wehler).1 Dieser zeitgeschichtliche Ansatz bietet im Sinne einer gegenwartsnahen Zeitgeschichte demnach eine „Problemgeschichte der Gegenwart“2 bzw. eine „Öffnung zu den Problemlagen unser Gegenwart“.

Den Kern des deutschen Sozialstaates bilden die Sozialversicherung sowie weitere sozialpolitische Leistungen, womit zugleich betont wird, die Thematik der Armut fungiert nur als ein Teilaspekt. Es dominiert demzufolge die staatliche Sozialpolitik. Zentraler Gegenstand ist also vereinfacht formuliert der „output“, d.h. der „Sozialstaat in action“. Es stehen somit seine Adressaten, Leistungen, Reformen und Finanzen (Ausgaben und Einnahmen) vorrangig seit der Jahrhundertwende im Mittelpunkt. Der Schwerpunkt liegt auf einer quantitativen Bilanz quasi aus einer „Vogelperspektive“, so dass qualitative Veränderungen bzw. gegebenenfalls Innovationen in einzelnen Teilbereichen nur bedingt erfasst werden können.

Neben der knappen, deskriptiven Skizzierung der wesentlichen Elemente und Leistungen des deutschen Sozialstaates wird im abschließenden Fazit die Frage aufgeworfen, ob dieser in der Phase nach dem Boom einen Abbau oder lediglich einen Umbau bzw. möglicherweise sogar einen Ausbau erlebte. Vor dem Hintergrund dieser Fragestellungen erscheint es auch reizvoll, zumindest punktuell zu prüfen, inwieweit der Entwicklungsverlauf des deutschen Sozialstaates mit bestehenden politischen Konstellationen korrespondiert, will sagen, welche Regierungen und politische Mehrheiten etwaige Änderungen oder – positiver formuliert – Innovationen implementierten.

Zwar ist dem Verfasser der Arbeit bewusst, dass im Hinblick auf den Arbeitsmarkt, die Alterssicherung oder die Einkommens- und Vermö gensverteilung auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung noch erhebliche Divergenzen zwischen den sog. neuen Bundesländern und der alten Bundesrepublik bestehen, dennoch bleibt das hier anvisierte Ziel ein Gesamtüberblick über Deutschland.

Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: Nach einem knappen historischen Abriss zum deutschen Sozialstaat seit 1949 gehen wir kurz auf dessen Begrifflichkeit und wesentliche Strukturprinzipien ein. Anschließend soll ein Überblick über die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland den Rahmen des deutschen Sozialstaates umreißen. Im Hauptteil beschäftigen wir uns im Einzelnen mit den wesentlichen Zweigen des bundesdeutschen Sozialstaates, also seine Adressaten, Leistungen und die finanziellen Aspekte. Dieser Hauptteil schließt mit einem Überblick zum gesamten Sozialbudget ab. Ein umfangreiches Schlusskapitel fasst die Ergebnisse des Hauptteils zusammen und diskutiert die erkenntnisleitende Frage, inwieweit von einem Abbau oder Umbau des deutschen Sozialstaats in einer erweiterten zeitlichen Perspektive „nach dem Boom“ tatsächlich gesprochen werden kann.

Quellengrundlage der Untersuchung bilden die Sozialberichte der Bundesregierung, die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Jahre 1969 mit der Vorlage des ersten Sozialbudgets begannen und ein Jahr später um einen Berichtsteil erweitert wurden, in dem die Bundesregierung ihre sozialpolitischen Ziele und die „übergreifenden Zusammenhänge zu anderen Bereichen der Gesellschaftspolitik aufzeigt“3. Dieser neue Sozialbericht – bis dahin als Sozialbudget bezeichnet – ersetzte den bisherigen Rentenbericht, der bis dato als Sozialbericht bezeichnet worden war und seitdem als Rentenanpassungsbericht bzw. heute als Rentenversicherungsbericht erscheint und über die Finanzen der Rentenversicherung informiert. Die neue Sozialberichterstattung erfolgte zunächst bis 1975 im jährlichen Rhythmus, ab 1976 alle zwei Jahre, ab 1986 alle drei Jahre, ab 1990 alle vier Jahre, für die Jahre 1993 und 2005 wurde wieder eine dreijährige Erscheinung praktiziert im Sinne einer möglichst zeitnahen Berichterstattung über die Ausweitung der sozialen Sicherungssysteme auf die neuen Bundesländer bzw. 2005 wegen der Verkürzung der 15. Legislaturperiode des Bundestags.

Die Sozialberichte bestehen aus zwei Teilen: Teil A bringt einen umfassenden Überblick über die Maßnahmen der Gesellschafts- und Sozialpolitik, während der Teil B das Sozialbudget beinhaltet, in dem die Bundesregierung über den Umfang, die Struktur und den Entwicklungsverlauf der Einnahmen und Ausgaben informiert. Das Sozialbudget erscheint im Übrigen seit 1995 jeweils als Tabellenband in dem Jahr, in dem kein Sozialbericht veröffentlicht wird. Ergänzend wurden einige seit 1985 publizierten Datenreporte des Statistischen Bundesamtes sowie punktuell andere Quellen wie Erhebungen der Bundesagentur für Arbeit oder die Teilhabeberichte über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen herangezogen.

Als Adressaten des Buches sind zunächst alle am Sozialstaat Interessierten angesprochen, sei es im Rahmen eines Studiums, wobei hier zunächst an die Studienangebote in den verschiedenen sozialen bzw. sozialwissenschaftlichen Berufen zu denken ist oder wenn sie sich bereits in einer beruflichen Tätigkeit befinden.

Hinweis: Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, wird im Folgenden sprachlich nicht zwischen männlicher und weiblicher Form unterschieden.

 

 

 

     1 Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur. Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015, S. 11. Kaufmann spricht auch von „der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung als historischen Megatrend der europäischen Modernisierung“ (ebenda, S. 25); Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008, S. 267.

     2 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael, Nach dem Boom. Neue Einsichten und Erklärungsversuche, in: Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016, S. 9; ebenda, S. 12 (das folgende Zitat).

     3 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Sozialbericht 2013, Bonn 2013, S. 2 (zukünftig: Sozialbericht …).

I. Der Sozialstaat in der Bundesrepublik Deutschland: Abriss zu seiner historischen Entwicklung seit 1949

Dieses Kapitel bringt einen historischen Überblick über die Entwicklung des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland von ihrer Gründung 1949 bis zur Wiedervereinigung bzw. zur zweiten Großen Koalition Merkel. Für die 40jährige Geschichte der Bundesrepublik bis 1989 wurde konstatiert, es sei die „größte Expansionsperiode des Wohlfahrtsstaats in der deutschen Geschichte“4 gewesen. Im Zuge der Wiedervereinigung seit 1990 wurde das System des westdeutschen Sozialstaates nahezu identisch auf das Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ausgedehnt.5

Die 1949 neu gegründete Bundesrepublik war sozialpolitisch mit großen Herausforderungen wie den Kriegszerstörungen, der Wohnungsnot oder der Bewältigung des Flüchtlingszustroms konfrontiert: 7,9 Mio. Flüchtlinge aus dem Osten und 1,5 Mio. Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. DDR strömten in die westlichen Zonen bis 1950 ein, dazu kamen noch 4,1 Mio. Kriegsopfer wie Invaliden, Witwen und Waisen, Opfer des NS-Systems, Evakuierte, Displaced Persons und 3,4 Mio. Kriegssachbeschädigte. Diese enormen Belastungen müssen vor dem Hintergrund der „katastrophalen Wohnungsnot“ und eines Systems der sozialen Sicherheit gesehen werden, das schwere Defizite in den Anfangsjahren wie vor allem eine verbreitete Rentnerarmut aufwies. Für die ersten Jahre der Bundesrepublik wird vielfach von einer Gründungskrise gesprochen, die durch Kriegs- und Diktaturfolgen, Mängel in der sozialen Sicherung und politischen Spannungen zwischen einem sozialdemokratischen Block und der konservativ-liberalen Bundesregierung gekennzeichnet war.6

„Im Anfang war Bismarck.“7 Die Sozialpolitik der neuen Bundesrepublik Deutschland basierte auf dem Fundament des im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vom damaligen Reichskanzler Bismarck geschaffenen Systems der sozialen Sicherung. Ordnungspolitisch hat die katholische Soziallehre mit dem zentralen Leitbegriff der Solidarität die Entwicklung der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland mitgeprägt. In der von 1949 bis 1966 „währenden heroischen ersten Phase ihrer Sozialpolitik“8 gelang der Bundesrepublik die Bewältigung der großen Kriegsfolgen, d.h. der krassen Not der ersten Nachkriegszeit, die Integration der Benachteiligten und die Entschädigung der enormen Verluste. Dass hierbei ein rapides Wirtschaftswachstum als eine wesentliche Erfolgsbedingung fungierte, sei nur kurz angemerkt. Zunächst sollte das 1950 verabschiedete Bundesversorgungsgesetz Entschädigung und Hilfe für die Kriegsopfer bringen. Des Weiteren wurden bis 1956 mittels eines umfangreichen Wohnungsbauprogrammes zwei Mio. Sozialwohnungen errichtet und die Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer gestartet.

Aber die „mit Abstand imponierendste Leistung“ bildete seit 1952 der Lastenausgleich zur Integration der Vertriebenen in die Gesellschaft. Der Lastenausgleich erfolgte durch eine auf dem Sachvermögen basierende Abgabe, die über 30 Jahre gestreckt wurde und das Produktivvermögen nicht beeinträchtigte. Insgesamt wurden hier 140 Mrd. Mark umverteilt. Vertriebene, Flüchtlinge, Spätaussiedler, DDR-Flüchtlinge, Kriegssachbeschädigte usw. wurden entschädigt. Auch das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gehörte zur Bewältigung der Kriegsfolgen. „Entschädigung, Wiedergutmachung und Wiederaufbau“9 waren die Charakteristika des expansiven westdeutschen Sozialstaats in den 1950er Jahren gewesen.

Auf dem Gebiet der Sozialversicherung herrschte letztendlich Kontinuität, wenngleich die Alliierten zunächst durchaus Reformwillen in Richtung eines Systemwechsels zeigten. Infolge des Scheiterns der Viermächteverwaltung über Deutschland 1948 entschieden die drei westlichen Besatzungsmächte, dass die Deutschen selbst ihre Sozialversicherung neu ordnen sollten: „Die Neuordnung der Sozialversicherung obliegt den deutschen gesetzgebenden Körperschaften. Bis zu einer solchen Neuordnung sind die Versicherungsleistungen zu demselben Nennbetrag in Deutscher Mark zu bewirken, wie sie bisher in Reichsmark zu bewirken waren.“10 Das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik Deutschland hatte die Richtung der deutschen Sozialordnung basierend auf der Vorgabe des Artikels 20 noch „offen gelassen“. Der damals viel diskutierte Beveridge-Plan aus Großbritannien, der einen völligen Umbau des Systems der sozialen Sicherung unter Einbeziehung aller Bürger und einen steuerfinanzierten staatlichen Gesundheitsdienst sowie eine allgemeine Grundsicherung durch einen gemeinsamen staatlichen Versicherungsträger anvisierte, wurde nicht weiter verfolgt.

Eine an Überlegungen aus der Weimarer Republik orientierte Einheitsversicherung in Gestalt einer allgemeinen Staatsbürgergrundrente aus Steuermitteln anstelle der Beitragsfinanzierung, wie von SPD und Gewerkschaften zunächst angestrebt, fand in den Westzonen bzw. in der frühen Bundesrepublik demzufolge keine Mehrheit.11 Somit wird mit großer Berechtigung die „Restauration der Sozialversicherung als das „entscheidende Paradigma der sozialen Sicherung“12 in Deutschland hervorgehoben.

Nach der ersten Bundestagswahl 1949 verfolgte die neue Regierung Adenauer das Ziel, die traditionelle deutsche Sozialversicherung entschlossen zu verteidigen. Bereits 1951 wurde die aus der Weimarer Republik stammende Selbstverwaltung in der Sozialversicherung mit paritätischer Besetzung durch Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter wieder eingeführt und ein Jahr später ebenfalls anlehnend an den Vorgänger aus der Weimarer Republik die Bundesanstalt für Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet. Die Trennung von Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde beibehalten. Neben diesen Elementen der Kontinuität fanden sich neue Akzente wie die 1953 ins Leben gerufene Sozialgerichtsbarkeit. Beseitigt wurden völkisch-biologistische Konzepte aus der NS-Zeit im Bereich der öffentlichen Fürsorge.

Auch das System der Arbeitsbeziehungen wurde weitgehend restauriert: Noch vor der Gründung der Bundesrepublik beschloss der Wirtschaftsrat der Bizone 1948 das Tarifvertragsgesetz. Die Tarifautonomie wurde schließlich im neuen Grundgesetz verankert. Die in Weimar so umstrittene Zwangsschlichtung bei Arbeitskämpfen blieb außen vor. 1952 folgte das Betriebsverfassungsgesetz mit begrenzten Rechten ähnlich dem Gesetz von 1920 aus der Weimarer Republik und ein Jahr zuvor war die Montanmitbestimmung mit starken Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer beschlossen worden.

Eines der drängendsten Probleme in den Anfangsjahren der jungen Bundesrepublik war die weit verbreitete Altersarmut und noch Mitte der fünfziger Jahre galten die Sozialrenten als die „Achillesferse der sozialen Marktwirtschaft“13. Die Einführung der dynamischen Rente 1957, also die automatische Anpassung der Renten an die allgemeine Lohn- und Gehaltsentwicklung, behob diese unbefriedigende Situation nachhaltig.14 Erst die dynamische Rente ermöglichte eine Existenzsicherung mit Erhalt des Lebensstandards durch Anbindung an die allgemeine Lohnentwicklung. Die Rentenreform von 1957 war wahrscheinlich das „populärste Gesetz, das je in der alten Bundesrepublik“15 verabschiedet worden ist bzw. das „wichtigste Gesetz zum Ausbau der Sozialversicherung in der Bundesrepublik“16.

Diese „Richtungsentscheidung“17 von 1957 stellte eine „Epochenzäsur“ dar, die die gesetzliche Rentenversicherung auf neue Grundlagen stellte. Sie verwandelte die Rente zu einer „Lohnersatzfunktion“ mit dem Ziel der Absicherung des Lebensstandards und verwies auf die „individuelle Lebensarbeitsleistung“. Nunmehr verlor die Rente ihren ärmlichen Charakter als bloßes Existenzminimum. Die laufenden Renten wurden gleichzeitig einmalig um durchschnittlich 65 % angehoben! Das seit Bismarck gültige Prinzip der Äquivalenz von Beitrag und Leistung hatte nicht mehr den Ansprüchen einer dynamischen Wirtschaft mit erheblichen Lohn- und Preissteigerungen genügt.

Als neuer Leitbegriff fungierte aufgrund des Umbaus des Finanzierungsverfahrens der sog. Generationenvertrag: Das bis dahin geltende Kapitaldeckungsverfahren wurde aufgegeben und ein Umlageverfahren eingeführt, d.h. die Beitragszahler bauten keinen Kapitalstock mehr auf, sondern sie finanzierten die Renten der aktuellen Rentengeneration. Dabei vertrauen sie darauf, dass die nächste Generation ebenfalls ihre Renten finanziert.

Letztlich setzte sich Adenauer gegen den Willen des Wirtschaftsministers Erhard und den eher fürsorgerechtlich orientierten Vorstellungen des Finanzministers Schäffer sowie den Arbeitgeberverbänden durch, die sich gegen eine automatische Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung wandten. Insbesondere die Spitzenverbände der Wirtschaft befürchteten aufgrund der Dynamisierung eine lohnpolitische Interessengemeinschaft zwischen den Rentnern und den Arbeitnehmern und eine Verschiebung des tarifpolitischen Gleichgewichts. Die Rentenreform 1957 war aber auch durch massiven Druck der SPD zustande gekommen, dennoch errang die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen 1957 wohl wegen dieser Reform einen großen Sieg.

Die Rentenreform von 1957 beendete endgültig die sozialdemokratischen Präferenzen für eine am britisch-skandinavischen Vorbild angelehnte einheitliche staatsfinanzierte Grundrente für alle Staatsbürger einschließlich eines staatsfinanzierten Gesundheitssystems. Vor allem aus heutiger Perspektive ist allerdings kritisch anzumerken, dass die Reform von 1957 berufstätige Hausfrauen und Mütter nicht einbezog. Nach Thomas Ebert bildete im Übrigen parteipolitisch die „Reform von 1957 den Anfang einer über Jahrzehnte wirksamen informellen großen Koalition von Union und SPD in der Rentenpolitik“18, ungeachtet von tiefen Meinungsverschiedenheiten in anderen Politikfeldern.

Der weitere Ausbau des westdeutschen Sozialstaats betraf die bisherige Fürsorge, denn das 1961 beschlossene Bundessozialhilfegesetz beinhaltete einen einklagbaren Rechtsanspruch auf Unterstützung zu einem „menschenwürdigen Dasein“. 1961/64 folgten Verbesserungen beim 1954 wieder eingeführten Kindergeld und 1963 wurde das Wohngeld installiert.

Die Jahre von 1966 bis 1974 werden gemeinhin als große Reformära eingestuft.19 Bereits die Große Koalition von 1966 bis 1969 hatte sozialpolitisch aktiver agiert: Die Arbeiter- und Angestelltenrentenversicherung wurde finanzpolitisch verschmolzen, 1969 regelte das Berufsbildungsgesetz die Bundeszuständigkeit in diesem Feld und das im gleichen Jahr verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz (AfG) strebte u.a. eine aktive Arbeitsmarktpolitik an.

Die Kanzlerschaft Willy Brandts (1969-1974) brachte die „Phase der größten Beschleunigung der Sozialstaatsexpansion in der Geschichte der Bonner Republik“20 und die Sozialleistungsquote stieg um rund sechs Prozent an. Parteipolitisch gilt im Übrigen der Befund, dass vielfach die großen Parteien gemeinsam die Vorhaben verabschiedeten, so dass die „Sozialstaatsgeschichte der Jahre 1966 bis 1974 daher als Konsensgeschichte“21 darstellbar ist. Im Hinblick auf den ausgebauten deutschen Sozialstaat ist die deutsche Besonderheit zu bedenken, dass es im Unterschied zu den USA und Großbritannien mit der CDU/CSU und der SPD zwei große „Sozialstaatsparteien“22 gibt.

Ein markantes Beispiel für die problematische Parteienkonkurrenz in der Sozialpolitik war die Rentenreform von 1972. Diese Rentenreform kam innerhalb einer besonderen politischen und ökonomischen Konstellation zustande: Zum einen bestand infolge der Ostpolitik der neuen sozialliberalen Koalition ein politisches Patt im Bundestag und der Wahlkampf für die vorgezogenen Bundestagswahlen hatte bereits eingesetzt. Zum anderen herrschte eine wirtschaftliche Boomphase vor, so dass man von einer anhaltenden Vollbeschäftigung und Überschüssen in der Rentenkasse ausging.23 Letztlich beschloss der Bundestag in einem von allen politischen Kräften – einschließlich der FDP, die die Rentenversicherung für freie Berufe und Fabrikanten öffnen wollte – betriebenen Überbietungswettbewerb eine große, kostenträchtige Rentenreform. Das allgemeine Leistungsniveau wurde vor allem auf Betreiben der Opposition erhöht, die die SPD „auf der sozialpolitischen Bahn links überholen“ wollte. Die SPD insistierte auf einer flexiblen Altersgrenze ab dem 63. Lebensjahr ohne Abschläge. Von der Erhöhung des Rentenniveaus profitierten rund 12 Mio. Rentner. Darüber hinaus wurde die gesetzliche Rentenversicherung auf Selbstständige, Hausfrauen, Landwirte und Studenten ausgeweitet.

Zusammenfassend bestanden als die wichtigsten Pfeiler des deutschen Sozialmodells in den beiden Jahrzehnten nach Kriegsende das Tarifvertragsgesetz von 1949 mit der Tarifautonomie, das Kündigungsschutzgesetz von 1951, das Lohnfortzahlungsgesetz von 1969, die Montanmitbestimmung von 1951, das Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das Mitbestimmungsgesetz von 1976, die dynamische Rente 1957, das Kindergeldgesetz 1954, das Ehegattensplitting 1958, das Bundessozialhilfegesetz von 1961 mit Betonung von „Hilfe“ anstatt von „Fürsorge“, das Arbeitsförderungsgesetz 1969 und generell das Verfassungsziel gleicher Lebensbedingungen.24

Die expansive Entwicklung des bundesdeutschen Sozialstaats von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre muss grundsätzlich vor dem Hintergrund einer außerordentlich dynamischen Wirtschaft gesehen werden, dem sog. Wirtschaftswunder, das die sozialpolitischen Fortschritte ermöglichte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs expandierte von 1950 bis 1975 der deutsche Sozialstaat enorm, so stieg der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt in dieser Zeit von 19,2 % auf 33,9 %. Allein in der Phase von 1966 bis 1974 wuchs dieser Wert von 24,1 % auf 30,3 %, drei Viertel des Zuwachses fielen dabei in die Regierungszeit Brandt/Scheel! Die Epoche von 1966 bis 1974 wird auch als die „hohe Zeit der arbeitnehmerorientierten Sozialpolitik“25 charakterisiert, denn die realisierten Reformen betrafen vielfach gewerkschaftliche Forderungen wie die Lohnfortzahlung, die flexible Altersgrenze, das Betriebsverfassungsgesetz oder den verbesserten Arbeitsschutz. Ein weniger positives Bild gab demgegenüber die Ausländerpolitik ab, denn die Integration der „Gastarbeiter“ verlief nur zaghaft.

Lutz Leisering26 unterscheidet beim Ausbau des (west)deutschen Sozialstaates fünf Phasen, nämlich die Restauration (1949-1953), den Ausbau (1953-1975), die Konsolidierung (1975-1990), eine späte Expansion (1990-1995) und die Krise (ab 1995). Mitte der 1970er Jahre endete die Epoche der Expansion des Sozialstaates nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Die erste Ölkrise 1973 und eine anschließende Rezession 1974/75 bildeten eine „Wendemarke“27 und den Beginn einer Politik der Konsolidierung und Kostendämpfung der Aufwendungen für Sozialpolitik. Als Fazit am Ende der Boomphase kann man in Bezug auf den deutschen Sozialstaat festhalten: Es blieb bei der „Vorherrschaft des Sozialversicherungsprinzips“, dessen Kern ein „System der Versicherung abhängiger Arbeit [bildete], das sich überwiegend durch bruttolohnbezogene Beiträge finanzierte und eine Familienkomponente aufwies, die vom Modell der Hausfrauenehe geprägt war“28.

Die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 konnte Westdeutschland ungeachtet negativer Jahreswachstumsraten zwischen 1975 und 1982, einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Verdoppelung der Schuldenquote noch relativ glimpflich verkraften. Sozialpolitische Einschnitte fokussierten sich unter der seit 1974 amtierenden neuen Bundesregierung mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Ausgabenkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitslosenversicherung sowie später in der Rentenversicherung. Der Begriff „Krise“ tauchte seit den 1970er Jahren als Fixpunkt der sozialpolitischen Diskussion auf, wobei sich bereits strukturelle Krisenfaktoren abzeichneten.29 Ein demographischer Wandel, ein verändertes Selbstverständnis der Frauen gerade im gebärfähigen Alter oder die „Transformation der Erwerbsgesellschaft“, die die menschliche Arbeitskraft zurückdrängte, seien hier nur kurz genannt.

Ungeachtet des Endes der sozialstaatlichen Boomphase und des aufkommenden Krisendiskurses konnte von einem Stillstand in der Sozialpolitik nicht die Rede sein. 1976 begann die sukzessive Einführung des zusammenfassenden Sozialgesetzbuches, von dem bis zur Gegenwart zwölf Bücher erschienen sind. Das lange diskutierte Mitbestimmungsgesetz von 1976 war ein weiterer sozialpolitischer Baustein, wenngleich es die von den Gewerkschaften geforderte volle Parität in den Aufsichtsräten nicht verwirklichte. In den 1980er Jahren in der Ära Bundeskanzler Kohls erfolgte zwar ein gewisser Rückbau des Sozialstaates verbunden mit weiteren Kürzungen sowie mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt und mehr Selbstbeteiligung der Versicherten, dennoch gab es auch zukunftsweisende Neuerungen wie 1986 die Einführung des Erziehungsurlaubs.

Die Frühverrentung mit ambivalenten Folgewirkungen wurde ebenfalls ermöglicht. In Reaktion auf den sozialen und demographischen Wandel kam es 1995 zur Einführung der Pflegeversicherung als der nunmehr fünften Säule der Sozialversicherung. Neu war deren Finanzierung, denn die Arbeitnehmer trugen durch Mehrarbeit infolge der Streichung eines bisher gesetzlichen Feiertags den Arbeitgeberbeitrag faktisch mit.

Die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 brachte die nahezu vollständige Ausweitung des bundesrepublikanischen Sozialstaates auf das Gebiet der ehemaligen DDR durch den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990.30 In der Folgezeit belastete vor allem die Arbeitslosigkeit die sozialen Sicherungssysteme. Die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung wurden in Ostdeutschland anstelle der als Einheitsorganisation zusammengefassten Sozialversicherung neu und eigenständig eingerichtet: Im Gesundheitswesen wurde das bisherige kostenlose System in ein beitragsbasiertes Versicherungssystem mit zahlreichen Krankenkassen umgebaut, in der Rentenversicherung waren u.a. Transferzahlungen notwendig, um das niedrige ostdeutsche Niveau anzuheben.

Weitere Transformationen betrafen die Arbeitsbeziehungen mit dem Aufbau echter Gewerkschaften und dem Tarifwesen. Blickt man auf die Kosten der deutschen Vereinigung, verlief die „Wiedervereinigung im Sozialversicherungsmodus“31, d.h. sie wurde vorrangig durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Zur Abfederung der enormen Begleiterscheinungen des fast vollständigen Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft übernahm der Sozialstaat „hier eine Schlüsselrolle“32. Zum Krisenmanagement in Ostdeutschland zählten die Ausweitung der Frühverrentung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik vor allem mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Finanzierung der Wiedervereinigungskosten vor allem durch die Sozialversicherung wird heftig kritisiert, so sei es nach Gerhard A. Ritter „widersinnig, dass ein erheblicher Teil der deutschen Einheit auf die Solidargemeinschaften der Arbeitslosen-, der Renten- und seit Ende der 1990er Jahre auch der Krankenversicherung verlagert wurde“33. Letztlich habe die Sozialversicherung diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernommen. Eine Folge dieser „verfehlten Finanzierung“ war die Erhöhung der Lohnkosten und eine „überproportionale Belastung der Unterschichten“.

Infolge der Bewältigung der Einigungslasten stieg die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik innerhalb weniger Jahre auf über 26 %. Die Übernahme des bundesrepublikanischen Sozialversicherungssystems auf die neuen Bundesländer erforderte enorme Transferleistungen, die sich allein in den Jahren von 1991 bis 1994 auf rund 240 Mrd. DM beliefen.34 Allein um die Zahlungsfähigkeit der Renten- und Arbeitslosenversicherung im Jahr 1993 beispielsweise zu sichern, waren insgesamt 50 Mrd. DM als Transfer erforderlich, was rund drei Prozent Beitragspunkte in der Sozialversicherung entsprach. Nach dem Ende des Vereinigungsbooms 1993 betrieb die Regierung Kohl wieder eine nachhaltigere Kürzungspolitik in der Sozialpolitik (z.B. in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bei der Arbeitslosenhilfe oder bei Leistungen für Asylbewerber).

In den 1990er Jahren intensivierten sich die Reformdebatten vor dem Hintergrund eines immer mehr sich abzeichnenden demographischen Wandels und einer zunehmend global verflechtenden wirtschaftlichen Entwicklung. Die Krise des deutschen Systems der sozialen Sicherheit in den 1990er Jahren war durch die Wiedervereinigungskosten mitgeprägt, diese bildeten aber nicht die ausschlaggebende Rolle.35 Vielmehr handelte es sich um strukturelle Ursachen, die die Arbeitsgesellschaft betrafen, d.h. einen wachsenden Grundbestand an Arbeitslosen, insbesondere Dauerarbeitslosen, die Alterung der Industriegesellschaften mit ihren Folgen für die Alterssicherung und das Gesundheitswesen bzw. die Pflege, die Veränderung der Familienstrukturen bzw. der Lebensformen und des Rollenverständnisses der Frauen.

Festzuhalten ist, die „wohl schwerwiegendste Herausforderung ist die Krise der Arbeitsgesellschaft“ mit ihren Auswirkungen auf das System der sozialen Sicherheit wie es in Deutschland bestand. Ein „Dauerbrenner“ in diesem Krisendiskurs waren die zahlreichen Gesundheitsreformen seit den späten 1970er und den 1980er Jahren mit den Versuchen, die Effizienz im System zu steigern, die Kostenexplosionen zu bremsen und zu einer Beitragssatzstabilität zu gelangen.36 Es seien hier nur stichpunktartig genannt das Gesundheits-Reformgesetz 1989 mit u.a. mehr Zuzahlungen, Abbau von Überversorgungen, das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 u.a. mit Begrenzung der Arztzahlen und einer Ausgabenbudgetierung, das GKV-Gesundheit-Reformgesetz von 2000 und das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004, das Einschnitte im Leistungskatalog beinhaltete und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 mit dem neuen Gesundheitsfonds, der Beitragsfestsetzung durch die Bundesregierung, der Einführung des Zusatzbeitrags nur für die Versicherten usw. Letztendlich handelte es sich hier durch das Abweichen von der bislang paritätischen Beitragsfinanzierung um eine partielle Abkehr vom bisherigen Sozialstaatsmodell, das auf der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer basierte.

Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten 30 Jahren aber insgesamt stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Letztlich scheiterten diese Ansätze im Gesundheitswesen, ungeachtet punktueller und kurzfristiger Einsparungen, wegen vielfältiger „Bremsfaktoren“ aus den Reihen involvierter Gruppen wie der Ärzteschaft, Pharmaindustrie, Krankenhäuser, Länder und Kommunen. Inwieweit eine Kostendämpfung im Gesundheitswesen angesichts des medizinischtechnischen Fortschritts und einer alternden Gesellschaft überhaupt eine realistische Zielvorgabe darstellt, sei hier nur angedeutet.

Große, bis in unsere unmittelbare Gegenwart umstrittene Reformen, auf die im Hauptteil der vorliegenden Arbeit ausführlicher einzugehen sein wird, nahm die Bundesregierung unter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders (1998-2005) in Angriff, wobei man durchaus zwischen den beiden Legislaturperioden unterscheiden muss.37 In der ersten Regierung Schröder sei es keinesfalls zu einer neoliberalen Umgründung der Sozialpolitik gekommen, sondern, so Manfred G. Schmidt, eher treffe die These vom Reformstau bzw. von „Nichtentscheidungen“ (z.B. in der Frage des Renteneintrittsalters) zu. Die neue Regierung habe zunächst sozialpolitische Entscheidungen der Vorgängerregierung weitgehend aufgehoben. Aber die rot-grüne Sozialpolitik „schillert in vielen Farben“, d.h. sie ist nicht nur durch Kontinuität, „sondern auch durch Diskontinuität – Pfadabweichungen,“38 unter dem Signum des „aktivierenden Sozialstaates“ gekennzeichnet. So wich die kapitalfinanzierte sog. Riesterrente im Rahmen der Alterssicherung vom paritätisch finanzierten System der Sozialversicherung ab. Durch diese „grundlegende Sozialstaatsreform“39der Regierung Schröder sei eine „Neujustierung des Sozialstaates in Gang gekommen“40, wobei die Alterssicherung und die Arbeitsmarktreformen, die sog. Hartzreformen41, also die vier „Gesetze über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (Hartz I-IV), die zentralen Felder bildeten.

Hartz I und II sollten die Arbeitsvermittlung und Eingliederung von Erwerbslosen durch u.a. Personalservice-Agenturen, Bildungsgutscheine, Ich-AGs, Mini und Midi-Jobs reformieren. Hartz III beinhaltete die grundsätzliche Neuorganisation und Umbenennung der bisherigen Bundesanstalt für Arbeit in die Bundesagentur für Arbeit mit den Agenturen für Arbeit anstelle der bisherigen Arbeitsämter. Hartz IV brachte die Einführung einer einheitlichen, niedrigeren, mit Bedürftigkeitsprüfung verbundenen Grundsicherung durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe und das neue Arbeitslosengeld II sowie u.a. sog. Ein-Euro-Jobs. Als zentrale Leitlinie der Reformen fungierte ein „Fördern und Fordern“, was mehr Druck auf Erwerbslose zur Aufnahme einer Arbeit beinhaltete, den Berufsschutz bei anhaltender Arbeitslosigkeit erheblich minderte, den Einsatz von Vermögen bis auf kleine Freibeträge verlangte und einen wachsenden Niedriglohnbereich und Minijobs anvisierte. Damit war für ältere Arbeitnehmer im Falle einer Arbeitslosigkeit die Gefahr verbunden, erhebliche Einschnitte hinnehmen zu müssen, so wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I je nach Lebensalter von bisher maximal 32 Monaten auf nunmehr höchstens 18 Monaten verkürzt.

Der andere Baustein der rot-grünen Reformen betraf die Alterssicherung, nämlich zum einen die sog. Riesterrente (2001) als private und staatlich geförderte zusätzliche Altersvorsorge und das Nachhaltigkeitsgesetz (2004), das nunmehr das Verhältnis der Rentner zur Anzahl der Beitragszahler in Rechnung stellte.42 Damit wurde zumindest partiell von der 1957 eingeführten Rentendynamisierung und dem Prinzip der Lebensstandardsicherung abgewichen. Zielvorgabe war nunmehr die Beitragsstabilität. Das Rentenniveau wurde abgesenkt und zu dessen Kompensation die private Altersvorsorge in Form der kapitalbasierten, jedoch freiwilligen Riesterrente implementiert. Diese auch aufgrund massiver Lobbyarbeit der Finanzindustrie zustande gekommene private Altersvorsorge stellte „eine tiefgreifende Zäsur in der Sozialstaatsgeschichte der Bundesrepublik“ dar.

Als wesentliches Argument für diese Reform in der Alterssicherung fungierte der demographische Faktor, zum einen gekennzeichnet durch einen massiven Geburtenrückgang zwischen 1965 und 1975, der bis in die Gegenwart anhält und zum anderen durch eine gleichzeitig älter werdende Bevölkerung. Damit eng verbunden begannen Diskussionen über die Möglichkeit, durch Kapitalbildungen das bisher ausschließliche Finanzierungssystem des Umlageverfahrens zu ergänzen. 2007 schließlich beschloss die Große Koalition die schrittweise Anhebung der Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung auf 67 Jahre bis zum Jahr 2029.43

Die Alterssicherung war im Übrigen bereits während der Kanzlerschaft Helmut Kohls in den 1990er Jahren ein Reformbereich gewesen. Eine 1992 in Kraft getretene Rentenreform berücksichtigte erstmals demographische Gesichtspunkte und stellte – um einen deutlichen Beitragsanstieg in der Zukunft zu vermeiden – die Rentenanpassung von der Bruttolohn- zur Nettolohnorientierung um. Des Weiteren hob man schrittweise die Altersgrenzen an. Letzteres hatte Abschläge zur Folge bei vorzeitigem Renteneintritt, aber noch galt das Prinzip der Rente als Lebensstandardsicherung. Die Rentenreformdiskussion ist neben der demographischen Entwicklung auf die in den 1990er Jahren sich verstärkende Lohnnebenkostenfrage vor dem Hintergrund einer intensiveren Standortdebatte im Kontext der sich beschleunigenden Globalisierung zu verankern.

Die im Herbst 2008 ausgebrochene Finanzkrise erfasste auch die Bundesrepublik Deutschland nachhaltig, 2009 kam es mit einem Minuswachstum von fünf Prozent zum schwersten Einbruch seit 1945.44 Zur Bekämpfung der Krise verabschiedete die Bundesregierung jeweils unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel vier sog. Konjunkturpakete und ein Sparpaket, wobei hier nur die sozialpolitischen Implikationen interessieren.45 Die Pakete beinhalteten Beitragssenkungen bei der Arbeitslosen- und Krankenversicherung, eine bessere steuerliche Absetzbarkeit von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, Erhöhungen von Kindergeld und Kinderfreibeträgen, mehr Arbeitsvermittlerstellen bei der Bundesagentur für Arbeit und vor allem die Ausweitung der Kurzarbeit sowie die Erstattung von Arbeitgeberbeiträgen bei Kurzarbeit. Diese sozialpolitischen Maßnahmen standen somit „ganz im Zeichen der Kurzarbeit“, die zum „Flaggschiff der deutschen Krisenreaktion“ avancierte. Kurzarbeit verhinderte durch vorübergehende Produktionsanpassungen der Unternehmen das Auftreten von Massenentlassungen und erklärte den Erfolg der deutschen Beschäftigungspolitik in der großen Krise. Insgesamt gesehen nahmen die sozialpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung dieser großen Krise einen hohen Stellenwert ein, denn gut die Hälfte der implementierten Bekämpfungsmaßnahmen betrafen in einem weiteren Sinn Sozialpolitik.

Im Jahre 2010 allerdings wurde diese antizyklische Politik der Bundesregierung durch „das größte Ausgabenkürzungsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik“ abrupt beendet. Es beinhaltete Subventionsabbau, Kürzungen bei der Bundeswehr, beim Elterngeld (komplette Streichung bei Langzeitarbeitslosen) und die Abschaffung des bis dahin gewährten Übergangsgeldes für Arbeitslose, die keinen Anspruch auf das Arbeitslosengeld I mehr besaßen. Die Sozialpolitik der ersten Regierung Merkel habe sich insgesamt „durch viel Kontinuität“46 ausgezeichnet und sei einerseits expansiv gewesen, z.B. beim Elterngeld oder der Einführung weiterer Mindestlöhne47, andererseits sei sie Zwängen zum Kompromiss ausgesetzt gewesen (Gesundheitsfonds).48

Nachdem die erste Große Koalition mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel schon seit 2007 „moderate Korrekturen“49 der zum Teil einschneidenden Reformpolitik der vorausgegangenen Jahre in die Wege geleitet hatte, setzte die zweite Große Koalition Merkel seit 2013 einige sozialpolitische Erweiterungen durch. So bestand ab 2014 für eine bestimmte Altersgruppe die Möglichkeit, nach 45 Beitragsjahren – einschließlich von Zeiten der Arbeitslosigkeit – mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente zu gehen. Dieses Zugangsalter wurde entsprechend dem allgemeinen Renteneintrittsalter schrittweise auf 65 Jahre erhöht. Des Weiteren wurde eine „Mütterrente“ eingeführt, die die Kindererziehung besser anerkennen sollte. Über die 1992 getroffenen Regelungen hinausgehend erhalten – in der Regel Mütter – für vor 1992 geborene Kinder einen zusätzlichen Entgeltpunkt in der Alterssicherung gutgeschrieben, was eine höhere Rente zur Folge hat.

Schließlich kam es nach langen Debatten zur endgültigen Einführung eines staatlichen, flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns, wenngleich Minderjährige ohne Berufsausbildung bzw. Schüler, Auszubildende, Pflichtpraktikanten, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihres Wiedereinstiegs, Ehrenamtliche und Zeitungszusteller davon ausgenommen wurden. Weiterhin erfolgte eine Ausweitung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und familienpolitische Ergänzungen durch das Elterngeld plus sowie das umstrittene Betreuungsgeld.

Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben in Deutschland geworfen, wobei die Epoche nach der Wiedervereinigung bzw. nach der Jahrhundertwende eine genauere Betrachtung unten im Abschnitt IV. 9 erfährt. Es werden dabei bis zum Ende der Regierungszeit Bundeskanzler Helmut Kohls, die den Anfang der hier interessierenden Epoche bildet, vier Phasen unterschieden:50

Für den Zeitraum von 1949 bis 1975 spricht man von einer Ausbauphase mit einer drastischen Steigerung der Sozialleistungsquote, die Jahre von 1975 bis 1990 werden als eine Phase der Konsolidierung mit einer steigenden Arbeitslosigkeit charakterisiert und von 1990 bis 1996 dominierte die deutsche Einheit mit der Übertragung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die neuen Bundesländer. Seit 1997 begann noch eine von der damaligen Regierung Kohl eingeleitete Rückkehr zur Konsolidierung. Die Abfederung des enormen wirtschaftlichen Umbruchs in der ehemaligen DDR war verantwortlich für die „erneute sprunghafte Zunahme des Sozialbudgets, d.h. der Gesamtausgaben für soziale Leistungen“51: War das Sozialbudget von 1950 bis 1977 von 16,8 Mrd. DM auf 400 Mrd. DM gestiegen – die Quote von 17,1 % auf 34,0 % –, nahm es bis 1990 auf 743 Mrd. DM (= 29,2 %) und bis 1995 gar auf 1179 Mrd. DM (= 34,1 %) zu.

Resümierend zum Auf- und Ausbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland bis etwa in die 1970er Jahre rekapituliert Manfred G. Schmidt52 dessen Antriebskräfte: Zunächst ist die Ausgangssituation der Bewältigung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu beachten, dann das hohe Wirtschaftswachstum, das die Finanzierung des Sozialstaates nachhaltig erleichterte. Des Weiteren beförderte die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach sozialen Leistungen, die sich nicht nur in der Alterssicherung, sondern ebenfalls kostensteigernd in der Gesundheitsversorgung bemerkbar gemacht haben. Schließlich sei mit Nachdruck der Auf- und Ausbau durch politische Entscheidungen hervorzuheben und hierbei auf den Parteienwettbewerb um die Wählerstimmen bei den Wahlen zu verweisen, wobei grundsätzlich die Erlangung von Herrschaftslegitimität mittels Sozialpolitik eine wesentliche Rolle spielte.

Auch einflussreiche Wirtschaftsverbände stellten eine Machtressource des Sozialstaates dar (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände). Ebenso fungierte als Antriebskraft das Politikerbe, d.h. es wurden Entscheidungen auf der Basis früherer Festlegungen getroffen, die sich prägend auswirkten. Damit ist der Komplex der Pfadabhängigkeit impliziert, denn vielfach dominierten herkömmliche Lösungen, wenngleich diese als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Über die weiteren Tendenzen und Entwicklungsrichtungen des deutschen Sozialstaats vor allem nach 2000 wird unten im Kapitel V ein ausführliches Fazit gezogen.

 

 

 

     4 Hans Günter Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 139f.; zum Folgenden auch Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart/München 2003, S. 169-190; Lutz Leisering, Der deutsche Sozialstaat, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 182ff.

     5 Vgl. zur Entwicklung der Sozialpolitik in der DDR Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 224-248. Da das westdeutsche System der sozialen Sicherung bzw. der Sozialpolitik nahezu identisch auch im wiedervereinigten Deutschland bestehen blieb, wird auf die Entwicklungsgeschichte der Sozialpolitik in der DDR verzichtet.

     6 Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 23f. und S. 23-42 (zum Folgenden); Manfred G. Schmidt, Der Deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 38f.; vgl. zu den Phasen des bundesdeutschen Sozialstaats auch Lutz Leisering, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialmodells, in: Hans-Peter Schwarz (Koord.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 427ff.

     7 Andreas Meusch, Sozialpolitik, in: Werner Weidenfeld/Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1999, S. 695 und ebenda, S. 698f. (zum Folgenden).

     8 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 258 und S. 259 (das folgende Zitat); zum Folgenden auch ders., Gesellschaftsgeschichte, S. 257-267.

     9 Metzler, Sozialstaat, S. 175.

    10 Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens, Teil II, 4. Abschnitt, § 23 (Gesetz No. 63 vom 27. Juni 1948) zit. nach Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 194 und ebenda, S. 191 (das folgende Zitat).

    11 Vgl. zur Rezeption des Beveridge-Plans in der deutschen Nachkriegszeit Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition: Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 43-70.

    12 Meusch, Sozialpolitik, S. 696.

    13 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 195; ebenda, S. 195ff. (zum Folgenden); Schmidt, Sozialstaat, S. 39f.

    14 Vgl. Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte: Die Rentenreform 1957, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 71-85.

    15 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 262.

    16 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 19912, S. 159.

    17 Hockerts, Einleitung, S. 12 und ders., Rente, S. 71 (der folgende Begriff).

    18 Thomas Ebert, Die Zukunft des Generationenvertrags, Bonn 2018, S. 46.

    19 Vgl. Hans Günter Hockerts, Im Zenit der staatlichen Wohlfahrtsproduktion: Die Reformära 1966-1974, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 181-201.

    20 Hockerts, Einleitung, S. 13.

    21 Hockerts, Zenit, S. 185.

    22 Schmidt, Sozialstaat, S. 46.

    23 Vgl. Hans Günter Hockerts, Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 150-180, S. 178 (das folgende Zitat).

    24 Vgl. auch Gerhard Bosch, Das deutsche Sozialmodell in der Krise. Die Entwicklung vom inklusiven zum exklusiven Bismarck’schen Sozialstaat (=IAQ-Forschung 2015/02), S. 6f.

    25 Hockerts, Zenit, S. 187.

    26 Leisering, Sozialstaat, S. 182f.

    27 Hockerts, Metamorphosen, S. 145 und Peter Starke, Krisen und Krisenbewältigung im deutschen Sozialstaat: Von der Ölkrise zur Finanzkrise von 2008 (= ZeS-Arbeitspapier Nr. 02/2015), S. 13f. Nach Meusch, Sozialpolitik, S. 699, war der „wichtigste Bruch in der Sozialpolitik der Bundesrepublik“ kein Regierungswechsel, „sondern ist die Konsequenz des Ölpreisschocks des Jahres 1973“; Schmidt, Sozialstaat, S. 40f.

    28 Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 341.

    29 Dazu Metzler, Sozialstaat, S. 189f.

    30 Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 208ff. und ders., Soziale Frage und Sozialpolitik in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Opladen 1998, S. 117ff.; Metzler, Sozialstaat, S. 191ff.; Schmidt, Sozialstaat, S. 41.

    31 Frank Nullmeier, Die Sozialstaatsentwicklung im vereinten Deutschland. Sozialpolitik der Jahre 1990 bis 2014, in: Peter Masuch/Wolfgang Spellbrink/Ulrich Becker/Stephan Leibfried (Hg.), Grundlagen und Herausforderungen des Sozialstaats. Denkschrift 60 Jahre Bundessozialgericht. Eigenheiten und Zukunft von Sozialpolitik und Sozialrecht, Bd. 1, Berlin 2014, S. 183.

    32 Starke, Krisen, S. 15.

    33 Gerhard A. Ritter, Gesamtbetrachtung, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 11: 1989-1994. Bundesrepublik Deutschland. Sozialpolitik im Zeichen der Vereinigung, Bandherausgeber: Gerhard A. Ritter, Baden-Baden 2007, S. 1110; ebenda (auch die folgenden Zitate).

    34 Vgl. Ritter, Soziale Frage, S. 128.

    35 Vgl. Ritter, Soziale Frage, S. 132ff.; ders., Probleme und Tendenzen des Sozialstaates in den 1990er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 396ff. und ebenda, S. 397 (das folgende Zitat).

    36 Vgl. dazu ausführlich die jeweiligen Gesetzesvorhaben bei Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.), Übersicht über das Sozialrecht 2015/2016, Nürnberg 201512, S. 152ff. und unten den Abschnitt zur Krankenversicherung.

    37 Vgl. für die erste Regierung Schröder knapp Manfred G. Schmidt, Rotgrüne Sozialpolitik (1998-2002), in: Christoph Egle/Tobias Ostheim/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt 1998-2002, Wiesbaden 2003, S. 235-258 und zur zweiten Regierung Schröder, ders., Die Sozialpolitik der zweiten rot-grünen Koalition (2002-2005), in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projektes (2002- 2005), Wiesbaden 2007, S. 295-312.

    38 Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 20053, S. 116 und ders., Sozialstaat, S. 42

    39 Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 183. Der Autor grenzt diese Reformphase auf die Jahre 2000 bis 2007 ein.

    40 Hockerts, Einleitung, S. 16.

    41 Vgl. dazu auch Lothar F. Neumann/Klaus Schaper, Die Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 20085, S. 148-152; Josef Schmid, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik große Reform mit kleiner Wirkung?, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rotgrünen Projektes (2002-2005), Wiesbaden 2007, S. 271-294.

    42 Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente. Über den Einzug der Demographie und der Finanzindustrie in die Politik der Alterssicherung, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 294-324, S. 295 (das folgende Zitat). Eingehender zur sog. Riesterrente unten im zusammenfassenden Fazit.

    43 Nach Manfred G. Schmidt, Die Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005-2009), in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S. 311 war der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering der „eigentliche Motor“ der Rente mit 67, da er in ihr ein wesentliches Element der von ihm nachhaltig unterstützten Agenda 2010 sah.

    44 Vgl. dazu Starke, Krisen, S. 16ff.

    45 Vgl. die informative Übersicht zu den deutschen Krisenmaßnahmen bei Starke, Krisen, S. 18 (Tabelle 3) und ebenda, S. 21f. (die beiden folgenden Zitate); zur Bedeutung der Kurzarbeit im Kontext der Krise auch Frank Bandau und Kathrin Dümig, Verwaltung des deutschen „Beschäftigungswunders“. Die Arbeitsmarktpolitik der schwarz-gelben Koalition 2009-2013, in: Reimut Zohlnhöfer/Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009-2013, Wiesbaden 2015, S. 378f.

    46 Schmidt, Sozialpolitik der zweiten Großen Koalition (2005-2009), S. 303; ebenda, S. 302ff. zur Sozialpolitik der ersten Großen Koalition Merkel. Nach Schmidt, ebenda, S. 317 war die Sozialpolitik der ersten Regierung Merkel durch ein „flache[s] Reformprofil“ gekennzeichnet.

    47 Zur Frage der Mindestlöhne in der schwarz-gelben Koalition (2009- 2013) bemerkt Manfred G. Schmidt: „Geradezu sensationell war ein weiterer schwarz-gelber Politikwechsel: die insgesamt zunehmende Akzeptanz von Mindestlöhnen in einer größeren Zahl von Branchen“ (ders., Die Sozialpolitik der CDU/CSU-FDP-Koalition von 2009 bis 2013, in: Reimut Zohlnhöfer/Thomas Saalfeld (Hrsg.), Politik im Schatten der Krise. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2009-2013, Wiesbaden 2015, S. 407).

    48 Vgl. zur Sozialpolitik der zweiten Regierung Merkel Schmidt, Sozialpolitik 2009 bis 2013, S. 397-426. Zu beachten sei, dass die Sozialpolitik „ab Mitte 2010 im Schatten des Euro-Schuldenkrisenmanagements“ stand (ebenda, S. 412).

    49 Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 189; vgl. zur Arbeitsmarktpolitik der ersten Großen Koalition Merkel auch Kathrin Dümig, Ruhe nach und vor dem Sturm: Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Großen Koalition, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S. 287, demzufolge „es in der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu keinem substantiellen Politikwechsel“ gekommen sei.

    50 Vgl. Meusch, Sozialpolitik, S. 702.

    51 Ritter, Soziale Frage, S. 128.

    52 Vgl. Schmidt, Sozialstaat, S. 43ff.

II. Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates

Die folgenden beiden Abschnitte wollen in knappen Zügen den Gegenstand „Sozialstaat“ in seiner Begrifflichkeit sowie seinen tragenden Grundprinzipien erfassen.

1.  Zum Begriff des Sozialstaates

Wir sprechen in dieser Arbeit vom Sozialstaat in Deutschland und verwenden nicht den vor allem im angelsächsischen Raum gebräuchlichen Terminus Wohlfahrtsstaat bzw. welfare state, der noch an die Wohlfahrtspflege aus der vordemokratischen Epoche des aufgeklärten Absolutismus erinnert.53 Demgegenüber wird hier betont, dass der moderne, voll ausgeprägte Sozialstaat „eine besondere Form der Massendemokratie“ ist, wenngleich einzelne Elemente des Sozialstaates durchaus in vordemokratischen Staaten und planwirtschaftlich organisierten Staaten, autoritären Staaten oder faschistischen Diktaturen zu finden sind. Sozialpolitik als Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erlebte immer wieder einen Definitionswechsel. Dies galt auch für Deutschland als Pionierland der Sozialpolitik, wo seit Bismarcks Zeiten immer wieder Bezeichnungen auftauchten wie „Soziale Frage“, „Arbeiterfrage“ oder „Sozialstaat“. Letztlich ist der Begriff Sozialpolitik heute sehr umfassend angelegt, denn er beinhaltet neben staatlicher Sozialpolitik die Sektoren Markt, Verbände und Familien sowie andere Politikfelder wie z.B. Bildungspolitik oder regionale Wirtschaftsförderung oder Arbeitsbeziehungen.

Der Begriff des Sozialstaates ist in Deutschland wohl auf Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, der die Bezeichnung „soziale Demokratie“ und den Terminus des „sozialen Staates“ verwendete. In der Weimarer Republik sprach man vom „Sozialstaat“ in einem positiveren Sinne. Der moderne Sozialstaat, der sich begrifflich nach 1945 im (west)deutschen Sprachgebrauch endgültig durchgesetzt hat, beinhaltet die „wesentlichen demokratischen Elemente der Gleichheit und Selbstbestimmung der Staatsbürger“. Der Terminus „Sozialstaat“ vermeidet Anklänge an eine paternalistische Wohlfahrt aus der Zeit des Absolutismus, die die bürgerliche Freiheit beschränkte.

Schließlich ist die Dominanz des Begriffs „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch ein Resultat negativer Assoziationen des Begriffs „Wohlfahrt“, der an das wenig erfreuliche Schicksal der sog. Wohlfahrtserwerbslosen in der großen Krise in der Endphase der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre erinnerte. Ebenfalls spielte die Erinnerung an die völkisch ausgerichtete NS-„Volkswohlfahrt“ eine Rolle bei der Vermeidung des Wohlfahrtsbegriffes. Die Dominanz der Terminologie „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart ist darüber hinaus auch auf das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zurückzuführen. Schließlich beinhaltet „welfare state“ zumeist nicht das im deutschen Sozialstaat wichtige Arbeitsrecht, so dass der Begriff „Sozialstaat“ letztendlich eine spezifische deutsche Tradition verkörpert und hier vorrangig Verwendung findet.54

Zu den Eigenarten des deutschen Sozialstaats zählt Franz-Xaver Kaufmann55 die Verbindung zwischen Staatlichkeit und Sozialstaat, denn historisch gesehen ist die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland auf staatspolitische Überlegungen zurückzuführen, d.h. die sozialpolitische Aufgabe konzentrierte sich auf die Befriedung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit. Des Weiteren ist in Deutschland im Unterschied etwa zu Schweden oder Großbritannien, wo man den Arbeitnehmerschutz als Angelegenheit der Tarifparteien betrachtet, das Arbeitsrecht Bestandteil sozialstaatlicher Regulierung. Ein weiteres deutsches Charakteristikum stellt die hohe Verrechtlichung der Sozialpolitik dar, die durch die spezifische Sozialgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt.

Schließlich besteht das deutsche System der sozialen Sicherung aus vielfältigen und berufsgruppenspezifischen Komponenten, die ursprünglich nach einer Zuordnung als Angestellter oder Arbeiter differenziert waren. Entscheidendes Kriterium war die möglichst durchgehende Teilnahme am Produktionsprozess. Lutz Leisering56 unterscheidet einen Sozialstaat im engeren Sinn – die soziale Sicherung und das Arbeitsrecht – und einen Sozialstaat in einem weiteren Sinn – dazu zählend das Bildungswesen, die Wirtschafts- und Betriebsverfassung, die Arbeitsbeziehungen sowie die wachstums- und beschäftigungsbezogene Wirtschaftspolitik.

Die vorliegende Arbeit konzentriert sich – im Rahmen der klassischen Staatstätigkeitsforschung – auf Sozialpolitik als Staatstätigkeit, wobei für Deutschland, wie oben Kaufmann bereits betonte, die „historischen Wurzeln staatlicher Sozialpolitik [liegen] in der ungelösten Arbeiterfrage“57 liegen. Damit steht im Fokus die staatliche soziale Sicherung gegen die Lebensrisiken basierend auf der Erwerbstätigkeit, also staatliche Programme und Leistungen. Entsprechend mittlerweile zahlreichen ländervergleichenden Forschungen, die dem staatszentrierten Ansatz zu zuordnen sind, wird in der vorliegenden Studie im Hauptteil in Anlehnung an Köppe/Starke/Leibfried58 auf drei zentrale Indikatoren zur Beschreibung und Analyse des deutschen Sozialstaates zurückgriffen: Erstens eine Analyse der Sozialausgaben des Staates, zweitens die Erfassung der anspruchsberechtigten Personen (Versicherte, Leistungsempfänger) und schließlich drittens der Inhalt und die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen, d.h. der Leistungen.

Die genannten Autoren sprechen von dreifachen Entgrenzungen der Sozialpolitik, nämlich sektoraler, funktionaler und territorialer Art, und verwenden einen erweiterten Begriff von Sozialpolitik, um die Pluralität der Wohlfahrtsproduktion insgesamt zu erfassen. Denn neben dem Staat als den wichtigsten Produzenten agieren auch andere Akteure, Programme oder Angebote. Man spricht im Kontext der erweiterten Sozialpolitik von einem Wohlfahrtsmix, einem Wohlfahrtspluralismus oder einer Wohlfahrtsproduktion. Dabei wird zwischen den Sektoren Staat, Markt, Verbänden und Familien/Haushalten unterschieden, wobei sich die Sektoren verwischen. Unter einem erweiterten Begriff von Sozialpolitik subsumieren andere Forscher staatliche, fiskalische, marktförmige, freiwillige informelle und betriebliche Programme und betonen Privatisierungen und eine Vermarktlichung sozialpolitischer Aktivitäten. Man beschreibt sie als hybride Märkte mit sozialpolitischer Zielsetzung und bezeichnet sie als Wohlfahrtsmärkte (Beispiel: die Riesterrente).

Neben dieser sektoralen Entgrenzung läuft parallel die funktionale Entgrenzung, durch die immer mehr Politikfelder ins Blickfeld der Sozialpolitik geraten, d.h. Mittelstandspolitik, Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzpolitik oder Umweltpolitik. Zwar sei die „Vermeidung sozialer Risiken und Kompensation von Marktungleichheiten [ist] weiterhin funktionaler Kern der Sozialpolitik, wird aber mittlerweile häufig weiter gefasst“. Zusammenfassend umgreift der Aufgabenbereich der Sozialpolitik verschiedene Politikbereiche und weist keinen funktionalen Kern mehr auf.

Schließlich fungiert als dritte Entgrenzung die territoriale Ebene, wobei zunächst nur die nationale Ebene maßgeblich war. Nunmehr aber habe sich die territoriale Ebene zweifach entgrenzt, d.h. einerseits in Richtung einer Regionalisierung und andererseits in Richtung einer Internationalisierung, wenngleich weiterhin gilt, „der nationale Wohlfahrtsstaat bleibt aber der zentrale Bezugspunkt der Sozialpolitik“, da sich eine dem Nationalstaat vergleichbare europäische Sozialpolitik bisher nicht ausbilden konnte. Resümierend gesehen hat sich ausgehend vom eher engen Konzept des nationalen Wohlfahrtsstaates die Sozialpolitik auf sektoraler, funktionaler und territorialer Ebene dreifach entgrenzt. Aus heutiger Perspektive zählen zur Sozialpolitik alle Ebenen und Funktionen, wobei der Staat die sozialpolitische Koordinierung beibehält. Der Nationalstaat bleibt aber dessen ungeachtet die „mit Abstand wichtigste Quelle von Sozialpolitik“ und die nationale Gesetzgebung legt weiterhin die Grundregeln fest.

Betrachtet man die Aufgaben des Sozialstaates, so zählt nicht nur die Sozialversicherung mit ihrer Schutzfunktion bei Alter, Invalidität, Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit als wichtigster sozialpolitischer Gegenstand dazu, sondern auch Familienhilfe, Gesundheitsfürsorge und sozialer Wohnungsbau. Ein Kennzeichen des Sozialstaates sind „Versuche zum Ausgleich unterschiedlicher Startchancen des einzelnen durch ein staatliches Erziehungs- und Bildungswesen und die partielle Umverteilung von Einkommen durch das Steuersystem, ferner die Regulierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen durch Maßnahmen des Schutzes für Arbeitnehmer“59. Die Arbeitsbeziehungen und die sie tragenden Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer als Sozial- bzw. Tarifpartner fungieren als unverzichtbare Bestandteile des Sozialstaates, der „Institutionen zur Konfliktlösung entwickelt [hat], die schon über Jahrzehnte erfolgreich den Interessenausgleich ermöglichen“60.

Fassen wir den Begriff und Inhalt des Sozialstaates zusammen, so ist er „eine Antwort auf den steigenden Bedarf nach Regulierung der im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung immer komplizierter gewordenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die geringere Bedeutung der traditionellen Formen der Daseinsvorsorge vor allem in der Familie und auf die Zuspitzung von Klassengegensätzen“61. Der Sozialstaat versucht die „von dem umfassenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft betroffenen Menschen in ihrer sozialen Existenz zu sichern und an den Früchten der wachsenden Produktivität durch Hebung des allgemeinen Wohlstandes partizipieren zu lassen“62. Dies impliziert nicht die Aufhebung sozialer Ungleichheit, sondern nur deren Abmilderung.

Verfassungsrechtlich verankert und damit deutlich aufgewertet ist der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland in den Artikeln 20, Abs. 1 und Artikel 28, Abs. 1 des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 20, Abs. 1 ist die „Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Artikel 28, Abs. 1 spricht von den Grundsätzen eines „sozialen Rechtsstaates“. Allerdings geht das Grundgesetz inhaltlich nicht näher auf diese Staatszielbestimmung ein.63 Hans F. Zacher betont deshalb folgerichtig: „Der Sozialstaat ist etwas Offenes“64, seine tatsächliche Ausgestaltung sei nur vage im Grundgesetz verankert und letztendlich entscheidet die Politik über die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Im Unterschied zur Verfassung der Weimarer Republik finden sich im Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte: Das Recht der Koalitionsfreiheit in Art. 9, Abs. 3, das die Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sichert, die freie Arbeitsplatzwahl und Berufswahlfreiheit in Art. 12, Abs. 1, die Gewährleistung und Sozialbindung des Privateigentums in Art. 14.

2.  Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates

Grundsätzlich basiert das gesamte System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, auch gesellschaftliche Risikovorsorge genannt, auf dem Versicherungsprinzip, dem Versorgungsprinzip und dem Fürsorgeprinzip.65

Versicherungsprinzip:

„Kernstück der Sozialen Sicherung in Deutschland ist die Sozialversicherung“ für die großen Lebensrisiken Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die auf Bismarck zurückführende obligatorische Sozialversicherung stieg zum „zentralen Element“ des sozialen Sicherungssystems auf. Eine staatlich organisierte Sozialversicherung erweist sich für diese nur bedingt kalkulierbaren Risiken im Vergleich zu einer privaten Versicherung als besser geeignet. Erstens können umfassende Solidargemeinschaften mit einer Umlagenfinanzierung große Belastungen, Katastrophen, Kriege eher bewältigen als kapitalansparende Sicherungssysteme, die durch Kriege oder Inflation leichter vernichtet werden. Vorteilhaft ist zweitens das Prinzip der Pflichtversicherung, da es den Menschen manchmal an einer ausreichenden privaten Vorsorge mangelt. Entscheidendes Kriterium für das Prinzip der Sozialversicherung ist aber drittens die Verknüpfung vom Versicherungsprinzip mit dem Solidarprinzip, wodurch eine Umverteilung der Belastungen erfolgt.

Beispielhaft für den Gedanken des Solidarprinzips steht die gesetzliche Krankenversicherung, wo die jeweils gezahlten Beiträge nicht das mögliche Risiko widerspiegeln, denn der Kranke und der Gesunde zahlen bei gleichem Einkommen die gleiche Prämie. Es herrscht demzufolge kein Äquivalenzprinzip. Man kann drei Ausprägungen des Solidarprinzips festmachen:66 Erstens werden ungleiche Risiken mit gleichem Beitrag zusammengefasst, zweitens besteht eine „intertemporale Umverteilung“, d.h. mit Blick auf den Generationenvertrag in der Rentenversicherung bedeutet dies einen Leistungserhalt in der Lebensphase, wenn selber kein Beitrag mehr geleistet wird bzw. werden kann, und drittens werden die Lasten durch eine einkommensabhängige Beitragszahlung zugunsten der Schwächeren durch die Stärkeren zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze umverteilt. Letzteres ist vor allem in der Krankenversicherung ausgeprägt.

(b) Versorgungsprinzip:

Das Versorgungssystem basiert demgegenüber auf Steuermitteln und die Begünstigten haben einen Rechtsanspruch auf Leistungen wie beispielsweise die Kriegsopferversorgung ohne vorherige Beitragsleistung.

(c) Fürsorgeprinzip:

Das Fürsorgeprinzip hingegen verlangt eine Bedürftigkeitsprüfung vor einer Leistungsgewährung. Ein Anspruch auf Leistung besteht erst dann, wenn eigenes Vermögen und Einkommen sowie etwaige Unterhaltspflichten von Angehörigen nicht eingefordert werden können. Die Leistungen werden ebenfalls aus Steuermitteln bestritten, Beispiele sind die Formen der Grundsicherung, die Ausbildungsförderung oder das Wohngeld.

Gerhard Bosch variiert und differenziert einige übergreifende Grundprinzipien des deutschen Sozialmodells:67Erstens nennt er das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge ein Eingreifen des Staates erst erfolgt, wenn andere Ebenen nicht entsprechend helfen können, zweitens das mit der Rentenreform 1957 implementierte Prinzip der Sicherung des erreichten Lebensstandards, drittens das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der gleichen Lebensbedingungen in allen Landesteilen und viertens das Prinzip des equal pay bei vergleichbarer Arbeit in einem Betrieb.

 

Den zentralen Stellenwert bei der Darstellung der Einrichtungen und Leistungen des deutschen Sozialstaates nimmt das Sozialgesetzbuch (SGB) ein, das die Teile des verstreuten Sozialleistungsrechts in einem Gesetzeswerk zusammenfassen soll. 1976 begann diese große Aufgabe mit dem SGB I, dem Allgemeinen Teil. Der Allgemeine Teil des SGB beinhaltet eine Kodifikation sozialer Rechte des Bürgers, also eine Art „Sozialcharta für die Bundesrepublik Deutschland“68. § 1 SGB I formuliert als Aufgabe des Sozialrechts „… ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen…“. Die §§ 2 bis 10 beschreiben die sozialen Rechte der Bürger mit dem Anspruch auf soziale Sicherung, soziale Entschädigung und soziale Förderung, die §§ 13, 14 und 15 regeln Fragen der Durchsetzung des Rechtsanspruchs. Hierbei geht es um die Pflicht der Leistungsträger der Sozialen Sicherung zur Aufklärung, Beratung und Auskunft. Bisher sind 12 Bücher des Sozialgesetzbuches erschienen:

Abbildung 1: Sozialgesetzbuch (SGB)

Buch I: Allgemeiner Teil (1976)

Buch II: Grundsicherung für Arbeitssuchende (2003)

Buch III: Arbeitsförderung (1998)

Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (1977)

Buch V: Gesetzliche Krankenversicherung (1989)

Buch VI: Gesetzliche Rentenversicherung (1992)

Buch VII: Gesetzliche Unfallversicherung (1996)

Buch XIII: Kinder- und Jugendhilfe (1991)

Buch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001)

Buch X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (Neufassung 2001)

Buch XI: Soziale Pflegeversicherung (1994)

Buch XII: Sozialhilfe (2003)