Der Deutschunterricht und die ökologische Krise - Sebastian Susteck - E-Book

Der Deutschunterricht und die ökologische Krise E-Book

Sebastian Susteck

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Beschreibung

Die ökologische Krise im Unterricht – Perspektiven für das Fach Deutsch Wie soll das Fach Deutsch auf die ökologische Multi-Krise reagieren? Dass der Deutschunterricht einen wesentlichen Beitrag zur Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), mehr noch: zur Ausbildung einer umfassenden ecological literacy leisten kann, zeigt Sebastian Susteck in diesem Band. Er verbindet grundsätzliche Überlegungen zur Funktion und den Zielen eines neuen Deutschunterrichts mit Hinweisen und Anregungen zu den zentralen Unterrichtsgegenständen: Sachtexten und literarischen Texten, Kommunikation, Sprache und Medien. Wegweisend für die Zukunft des Fachs in der Schule. Mit vielen Tipps für die Schulpraxis! E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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Seitenzahl: 177

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sebastian Susteck

Der Deutschunterricht und die ökologische Krise

Literatur und Medien im AnthropozänBildung und Unterricht

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962391

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962391-7

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014633-0

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Zum vorliegenden Band

1 Der Deutschunterricht und die ökologische Krise

1.1 Ökologische Krise und Fachkrise

1.2 Die Allgegenwart der Krise und thematische Systematisierungsversuche

1.3 Die ökologische Neuerfindung der Geisteswissenschaften

1.4 Curricula und Wege zum ökologischen Deutschunterricht

1.5 Internationale Bildungsprogramme: Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Global Citizenship Education (GCE), GreenComp

1.6 Deutschunterrichtliche Ziele: ein Vorschlag

1.7 Drei Unterrichtsbeispiele: Gedicht, Sachtexte, Fotografie

2 Das Anthropozän

2.1 Der Begriff des Anthropozäns

2.2 Naturwissenschaftliche Zweifel und geisteswissenschaftliche Relevanz

3 Anthropozän und Deutschunterricht: Sprache

4 Anthropozän und Deutschunterricht: Bildkommunikation

4.1 Die Macht der Bilder

4.2 Darstellende Bilder

4.3 Strukturbilder

5 Anthropozän und Deutschunterricht: Literatur, Kultur, frühes 20. Jahrhundert

5.1 Die Bedeutung des frühen 20. Jahrhunderts

5.2 Avantgarden und Expressionismus

6 Anthropozän und Deutschunterricht: Literatur, Kultur, Energiegeschichte

6.1 Das fossile Zeitalter

6.2 Zum Beispiel Georg Kaiser: Gas, Kathrin Röggla: Das Wasser

6.3 Vor der fossilen Zeit. Zum Beispiel Jeremias Gotthelf, Annette von Droste-Hülshoff, Theodor Storm

7 Anthropozän und Deutschunterricht: Literatur, Kultur, Kulturnatur

8 Sachtexte und Textverflechtungen

8.1 Textverhältnisse und drei Funktionen von Sachtexten im Deutschunterricht

8.2 Sachtexte als Scharniertexte

9 Literarische Texte und literarisches Lesen

9.1 Besonderheiten literarischen Lesens

9.2 Informationsvermittlung und Perspektivik der Literatur

9.3 Grundfragen der Literaturauswahl

9.4 Kinder- und Jugendliteratur

9.5 Das Beispiel von Wolfgang Herrndorfs Tschick

9.6 Erwachsenenliteratur

10 Kritischer und positiver Deutschunterricht

10.1 Der kritische Ansatz, seine Grenzen und ein positives Gegenbild

10.2 Kritischer Deutschunterricht: Zum Beispiel Herausforderungen des Digitalen

10.3 Positiver Deutschunterricht: Zum Beispiel ökologische Kommunikation

10.4 Weitere positive Ansätze: Zukunftswerkstätten, Nature Writing (und Solarpunk)

Schluss

Literaturverzeichnis

Literarische Werke

Filme

Forschungsliteratur und weitere Texte

Zum Autor

[9]Zum vorliegenden Band

Die ökologische Krise der Gegenwart ist ebenso bedrohlich wie drängend und besitzt für Schülerinnen und Schüler große Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung. Für den Deutschunterricht stellt sie eine besondere Herausforderung dar, bietet Lehrerinnen und Lehrern jedoch auch Chancen, diesen Unterricht neu zu gestalten, attraktiver und relevanter zu machen. Der vorliegende Band gibt einen umfassenden Einblick in Möglichkeiten solcher Gestaltung und beantwortet zentrale Fragen, die sich Unterrichtenden, Studierenden des Lehramts oder Didaktikerinnen und Didaktikern stellen. Zugleich vermittelt er zahlreiche Unterrichtsideen und Hinweise auf weitere Lektüre. Literatur und Sachtexte der Gegenwart sind in hohem Maße mit ökologischen Fragen befasst; internationale Bildungsprogramme der UNO oder der Europäischen Union verlangen von der Schule, ökologische Fragen zum Thema zu machen, und dies quer durch die Fächer; geistes- und kulturwissenschaftliche Debatten haben die Ökologie entdeckt; und ökologische Themen sind längst in Prüfungen des Deutschunterrichts vorgedrungen, wie Abschlussprüfungen der Jahrgangsstufe 10 oder Zentralklausuren der Oberstufe in Nordrhein-Westfalen zeigen: Gedichte wie Silke Scheuermanns Löwenzahn (2015b) und Sascha Kokots Das Grollen in den Träumen (2019) waren Thema, und im Rahmen materialgestützten Schreibens wurden z. B. Plastik und Plastikmüll behandelt.

Das erste Kapitel des Bandes geht vom Fach Deutsch aus. Weshalb soll dieses Fach sich mit der ökologischen Krise befassen und welche Probleme und Chancen ergeben sich [10]dabei? Wie können Themen systematisiert und in den Unterricht gebracht werden? Was sagen Lehrpläne? Welches sind die relevanten internationalen Bildungsprogramme? Wie lauten mögliche Lernziele?

Kapitel zwei stellt das Konzept und Zeitalter des sogenannten Anthropozäns vor, das in Geistes- oder Sozialwissenschaften als ein Schlüssel zum Verständnis der ökologischen Herausforderung gilt. Vom Konzept des Anthropozäns ausgehend wird in den Kapiteln drei bis sieben ein Panorama von Möglichkeiten des Deutschunterrichts entworfen. Es umfasst die Beschäftigung mit Sprache und Bildern sowie verschiedene Beispiele, wie sich Literatur und Kultur mit ökologischen Fragen und Deutschunterricht verbinden lassen.

Kapitel acht setzt sich grundlegend mit Texten und Textverflechtungen auseinander. Es geht um unterschiedliche Funktionen von Sachtexten im Deutschunterricht und um die Verbindung von Sachtexten und literarischen Texten.

Kapitel neun fokussiert ganz auf den Literaturunterricht, die besondere Rolle von Literatur, die Auswahl literarischer Werke und Beispiele ökologischer Lektüren aus der Kinder- und Jugend- sowie Erwachsenenliteratur.

Kapitel zehn unterscheidet schließlich einen kritischen von einem positiven Deutschunterricht und zeigt, dass beide wichtig sind. Kritischer Unterricht sensibilisiert für verdeckte Absichten und Mechanismen in Sprache, Texten und Medien; positiver Deutschunterricht baut sprachliche Handlungsfähigkeiten auf und befähigt Schüler:innen, Wirklichkeit und Zukunft ökologisch mitzugestalten.

Die Kapitel setzen unterschiedliche Schwerpunkte, wiederholen und vertiefen aber auch wichtige Aspekte. Jedem [11]Kapitel sind zentrale Fragen vorangestellt. Informationskästen ergänzen Wissen zu einzelnen Aspekten im Kurzformat: zum ökologischen Hand- und Fußabdruck, zum Greenwashing der Werbung, zu Desinformation oder zu Natur- und Umweltlyrik.

Literaturnachweise stehen im Text in Klammern (Autor, Jahreszahl und ggf. Seitenangabe sowie bei wiederholter Nennung mit »ebd.«). Querverweise innerhalb des Bandes erfolgen mit einfacher Seitenangabe (»vgl. S. …«).

[13]1 Der Deutschunterricht und die ökologische Krise

Weshalb soll sich der Deutschunterricht mit der ökologischen Krise beschäftigen und welche Probleme und Chancen ergeben sich dabei? Warum ist die ökologische Krise schwer einzugrenzen und wie können ihre Aspekte systematisiert werden? Was sagen Lehrpläne und auf welchen Wegen wird Deutschunterricht ökologisch relevant? Welches sind die einschlägigen internationalen Bildungsprogramme? Wie lauten mögliche Lernziele? Wie kann Deutschunterricht zur ökologischen Krise konkret aussehen?

1.1 Ökologische Krise und Fachkrise

Die ökologische Krise der Gegenwart ist eine Herausforderung für die schulischen Sprachfächer und besonders den Deutschunterricht. Der Verdacht, sprachliche Bildung sei bloße Vorbildung, die bestenfalls Grundlagen für Wichtigeres legt und schlechtestenfalls irrelevant ist, wird in öffentlichen Debatten teils offen geäußert, schwingt in ihnen aber auch unausgesprochen mit. Blickt man auf weltweit auftretende Überflutungen, Dürren, Wald- und Buschbrände, den Verlust von Biodiversität, überschrittene planetare Grenzen oder den Ruf nach einer gesellschaftlichen Transformation, kann man tatsächlich die Frage stellen, ob das Unterrichtsfach Deutsch noch wichtiges und richtiges Wissen und Fähigkeiten vermittle. Speziell dort, wo der Unterricht deutlich auf Sprache fokussiert, wie im Bereich [14]der Sprachreflexion oder in Teilen des Literaturunterrichts, gewinnt diese Frage vordergründige Plausibilität. Wo Unterricht mit Sprache spielt und sie erforscht und wo es ihm um Literatur und ästhetische Erfahrung geht, steht er unter besonderem Druck und hat Rechtfertigungsprobleme.

Dass Kritik sich vor allem auf Bereiche des Deutschunterrichts richtet, denen das Fach sein besonderes Profil noch immer verdankt, zeigt, dass die ökologische Krise auf eine Fachkrise trifft, ja sie verstärkt oder gar auslöst. So erachteten Eltern in einer 2023 durchgeführten Befragung der Körber-Stiftung den Deutschunterricht zwar als zweitwichtigstes Fach, das an Relevanz nur noch vom Englischunterricht übertroffen wurde. Entscheidende Kompetenz war für sie jedoch Kommunikationsfähigkeit, während etwa Kreativität wenig Gewicht zugemessen wurde (vgl. Körber-Stiftung 2023: 4–6). Der Deutschunterricht droht so auf Alltagsaufgaben und berufsvorbereitende Bildung reduziert zu werden, was von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II nur noch einen Teil seiner traditionellen Anliegen abbildet. Unter anderem haben die Bildungstrends 2022 zudem belegt, dass ein hoher Prozentsatz von Schüler:innen der Jahrgangsstufe 9 geringes Interesse am Deutschunterricht hat, und zwar – und dies ist wichtig! – tendenziell unabhängig von individueller fachlicher Leistung (vgl. Schneider et al. 2023: 349, 351). Die Zahlen entsprechen älteren Befunden, bei denen Schüler:innen der Jahrgangsstufe 8 dem Fach in zentralen Aspekten – wie Wichtigkeit oder Notwendigkeit eigener Anstrengung – vergleichsweise niedrige Werte zuschrieben (vgl. Haag/Götz 2012). Die Bildungstrends vergleichen den Deutsch- [15]dabei mit dem Englischunterricht, dem es inhaltlich wie methodisch eher zu gelingen scheint, Interesse zu wecken.

Vor solchem Hintergrund ist die Überlegung naheliegend, ob der Deutschunterricht in seinen tradierten Formen den Krisen der Gegenwart gerecht werden kann. Umgekehrt ist zu fragen, ob nicht gerade die ökologische Krise eine Möglichkeit darstellt, den Unterricht an Gegenwarts- und Zukunftsfragen anzuschließen und dadurch zu aktualisieren. Meine These lautet, dass dies nicht nur der Fall ist, sondern die aktuellen Probleme zahlreiche Perspektiven bieten, auch die Sprachreflexion und die literarisch-ästhetische Perspektive des Fachs zu stärken und ihre Wichtigkeit zu zeigen. In womöglich kontraintuitiver Weise ist letzteres gerade deshalb möglich, weil literarische und ästhetische Werke normalerweise weder unmittelbar in Gebrauchskontexte eingespannt noch mit Blick auf Nutzzwecke gelesen werden. Sie bieten stattdessen einen Anlass, aus den kurzzeitigen Orientierungen politischer und Alltagskommunikation herauszutreten, ohne den Kontakt zur Gegenwart zu verlieren: Sprachschulung als Wahrnehmungsschulung zu betreiben, die eigene Persönlichkeit für die heutige Welt zu bilden oder Fragen nach menschlichem Handeln und der menschlichen Stellung in dieser Welt zu reflektieren und zu diskutieren, die ökologisch relevant sind. Obwohl nach wie vor diagnostiziert wird, dass ökologische Impulse im Deutschunterricht zu kurz kämen und in der Deutsch- und Literaturdidaktik »vergleichsweise zögerlich« (Wanning 2019b: 434) aufgenommen würden, steigt die Zahl entsprechender Unterrichtsvorschläge tatsächlich rasant an (vgl. Standke/Wrobel 2021: 9). Dennoch steht jeder Ansatz, Deutschunterricht und ökologische [16]Krise zu verknüpfen, vor großen Herausforderungen. Während die Krise einerseits schwer einzugrenzen ist, trifft sie andererseits auf eine vergleichsweise schwache Struktur des Unterrichtsfachs. Dies macht die Orientierung für Schüler:innen, aber auch Lehrer:innen schwierig und verlangt zudem die Auseinandersetzung mit Wissen, das traditionell nicht in den Bereich des Deutschunterrichts fällt.

1.2 Die Allgegenwart der Krise und thematische Systematisierungsversuche

Nimmt man zunächst die ökologische Krise selbst in den Blick, zeigt sie sich als alles umfassende Omnikrise, die in die verschiedensten Bereiche vordringt und zugleich eine neue Perspektive auf alle Bereiche verlangt. Sie mutet Deutschlehrer:innen die Begegnung mit fachfremdem Wissen zu, das auch in Literatur, Kunst und öffentliche Kommunikation einsickert. Wer aktuelle Literatur liest, trifft an vielen Stellen auf die Rückkehr des poeta doctus, nämlich gelehrter Dichter:innen, die umfangreiches Wissen in ihre Werke einbinden und dabei auch naturgeschichtliche Kenntnisse zeigen. Einerseits stehen im Zentrum der Krise physikalische, chemische oder biologische Prozesse. Sie werden beispielsweise im Modell planetarer Grenzen systematisiert, das knapp 30 internationale Wissenschaftler:innen um Johan Rockström im Jahr 2009 vorgestellt haben und das Risiken für das Erdsystem und die menschliche Zivilisation ausweist, von denen die bekanntesten in Klimawandel und Biodiversitätsverlust bestehen.

Neun planetare Belastungsgrenzen, Stand 2024 (vereinfachte Übersicht nach: Planetare Grenzeno. J.)

[17]Andererseits ist die Krise ein gesellschaftliches Phänomen, nämlich Resultat von menschlicher Existenz und Weltgestaltung. Betroffen sind Mobilität, Bauen und Wohnen, Konsum und Ernährung, die lange von scheinbar harmloser Normalität waren, sich nun aber in Frage gestellt sehen und zum Prozess von Aushandlungen und politischer Debatte werden. Krisenfolgen wie Trockenheit, Überflutung, Bodenerosion, Artensterben, aber ebenso Migration und Flucht treffen auf Krisenursachen wie Emissionen, Entwaldung oder Flächenversiegelung; globale Ungleichheiten kommen problemverstärkend hinzu. Der Umwelthistoriker Frank Uekötter hat in eine 2020 publizierte, gut 800 Seiten lange Umweltgeschichte mehrere Lesewege eingetragen, auf denen sein Werk begangen werden kann. [18]Jeweils markieren sie Aspekte der Krise. Es geht um Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Industrie, Bergbau, Tiere, Infrastruktur, Energie, Verschmutzung, Kolonialismus, Ernährung, Chemie, Mobilität oder Verstädterung (vgl. Uekötter 2020: 15–17). Der Dichter Daniel Falb (2015: 8) fasst die Datenlage zur planetaren Situation in einem Essay über Dichtung in der Gegenwartsgeologie wie folgt zusammen: »Homo sapiens […] modifiziert heute mehr als die Hälfte der kontinentalen Erdoberfläche durch Agrikultur und Urbanisierung, bewegt jährlich mehr physische Materialien über die Erdoberfläche als alle non-anthropogenen Prozesse auf der Erde zusammen, macht mit seinen Nutz- und Haustieren über 97 % der Biomasse aller terrestrischen Wirbeltiere und Vögel aus, produziert ein Klima, wie es auf der Erde seit dem Tertiär nicht mehr geherrscht hat, und ist dabei, das sechste Massenaussterben von Arten in der Erdgeschichte herbeizuführen.« Falbs Zitat zeigt dabei deutlich, wie eng Wissenschaften und Poesie aneinanderrücken.

Verlagert man den Blick von der Krise zum Deutschunterricht, hat dieser es nicht mit einem Unter-, sondern einem Überangebot möglicher ökologischer Unterrichtsgegenstände zu tun (vgl. Standke/Wrobel 2021: 5). Der Fülle thematisierbarer Texte und Themen stellt er eine vergleichsweise schwache Struktur von curricularen Teilbereichen gegenüber, die Sprache, Texte, Kommunikation, Medien heißen und die durch die Basiskompetenzen Sprechen, Zuhören, Schreiben und Lesen ergänzt sind. Zu bedenken ist hierbei nicht bloß, dass die sogenannte Kompetenzorientierung konkrete Fachinhalte an den Rand gedrängt hat, sondern dass das Fach Deutsch bildungspolitisch nicht zu den ökologischen »Trägerfächern« (Brock [19]2018: 68) zählt. Da die ökologische Krise und ihre Teilkrisen in Lehrplänen für den Deutschunterricht nicht detailliert thematisiert werden, muss dieser Unterricht gewöhnlich auf Systematiken der (Natur-)Wissenschaften, internationalen Bildungspolitik oder Fachdidaktik zurückgreifen, [20]wenn er Themen finden und ordnen will. Hier kann das Modell planetarer Grenzen helfen. Populär ist auch das Programm »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (BNE), auf das unten ausführlicher eingegangen wird (vgl. in diesem BandS. siehe hier). Zudem hat Berbeli Wanning (2019b: 448 f.) eine kulturökologische Themenkette für den Unterricht formuliert.

Über die genannten Systematiken hinaus ist es ein Merkmal des Unterrichtsfachs Deutsch, Texten erhebliche unterrichtssteuernde Wirkung zuzuschreiben, sodass das Verhältnis von deutschunterrichtlicher Struktur, einerseits, und ökologisch-thematischer Struktur, andererseits, durch literarische Werke, Sachtexte oder Filme vermittelt wird. Texte bestimmen mit, was besprochen werden kann, und zu Themen müssen passende Texte ermittelt werden, was nicht immer einfach ist.

Curriculare Teilbereiche des Deutschunterrichts und ökologische Systematiken

1.3 Die ökologische Neuerfindung der Geisteswissenschaften

Jedoch ist mit den beispielhaft gegebenen Systematisierungsvorschlägen nicht der einzige Zugang zur ökologischen Krise gegeben. Längst nämlich wird die Debatte auch von neuen Themenschwerpunkten beeinflusst, die in den Geisteswissenschaften und den Philologien gesetzt werden. Wie faszinierend es sein kann, Kultur und Literatur in Bezug zu ökologisch relevantem Wissen zu reflektieren, zeigen aktuell, um nur wenige Titel zu nennen, Essays wie Ursula K. Heises Das Artensterben und die moderne Kultur (2010) und Amitav Ghoshs Die große Verblendung (The [21]Great Derangement, 2016, dt. 2017) zum Klimawandel, Bücher wie Heinrich Deterings Menschen im Weltgarten (2020) zum ökologischen Denken zwischen Albrecht von Haller und Alexander von Humboldt, Susanne Stephans Der Held und seine Heizung (2023) zur Rolle von Brennstoffen für Dichtungen und Dichter oder poetologische Selbstauskünfte wie Mikael Vogels Sonagramme aus der Aussterbewelle (2021b) zu Gedichten über den Artenschwund. In einer Durchsicht verschiedener Ansätze zur Beschäftigung mit der ökologischen Krise skizziert Wanning (2019a: 452) ein »Schneisen-Modell« der literaturunterrichtlichen Planung, das »ein Netz von Erkundungsrouten« durch das Material zieht, dabei auch ungewöhnliche Wege wählt und nicht-literarische Quellen berücksichtigt. Hierbei müssen Lehrer:innen »eine große fachwissenschaftliche, historische und didaktische Kompetenz aufweisen« (ebd.), um Texte auswählen und kombinieren zu können.

Im weitesten Sinne geht es in den Geisteswissenschaften darum zu bestimmen, wie wir leben wollen, wie wir leben sollen und wie wir leben können, womit auch Horizonte eines Deutschunterrichts zur ökologischen Krise benannt sind. Diese Fragen gewinnen dadurch an Dringlichkeit, dass westliche bzw. nördliche Lebensstile immer weiter intensiviert, mittlerweile aber auch globalisiert werden, jedoch, in einer Formulierung des Soziologen und Philosophen Bruno Latour (2018: 54), auf einen »Mangel an Erde« treffen. »Als sich die heutige Umweltbewegung in den 1970er Jahren konstituierte«, erklärt Uekötter (2020: 12), »und Wissenschaftler sich neu orientierten […], standen meist die unbeabsichtigten Folgen des technisch-industriellen Fortschritts im Mittelpunkt. […] Aber nach den [22]Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte und speziell der Art und Weise, wie sich klassische Umweltprobleme mit Ernährungs- und Ressourcenkrisen verquickt haben, scheint es geboten, ökologische Themen als Teil des Gesamtprozesses der Ressourcenallokation in seiner ganzen Komplexität zu diskutieren. […] Es geht um das Leben und Überleben auf einem kleinen und ziemlich komplizierten Planeten.« Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen daher nicht mehr traditionelle Konzepte wie das des ›Umweltschutzes‹, sondern umfassende Fragen der Existenz und Lebensweise.

Zentrale geisteswissenschaftliche Impulse der Gegenwart kommen aus der losen Bewegung eines Neuen Materialismus (vgl. Hoppe/Lemke 2023), in dessen Rahmen Autorinnen wie Donna Haraway, Rosi Braidotti, Karen Barad oder Jane Bennett die zentrale Stellung auflösen wollen, die der Mensch im menschlichen Denken einnimmt. Menschen müssen sich demnach weniger als Krone der Schöpfung denn als Kreaturen unter Kreaturen verstehen. Der Neue Materialismus betont zudem die Handlungsmacht bzw.agency nicht-menschlicher Wesen oder gar unbelebter Objekte. Zu den irritierend-bedrohlichen Erfahrungen der Gegenwart gehört, in Worten Latours, dass der Planet beginnt, auf den Menschen zu reagieren (vgl. Latour 2018: 51).

Philologisch zentral ist der sogenannte Ecocriticism, der bereits seit den 1980er Jahren im angelsächsischen Raum entsteht, mehrere Entwicklungsstufen durchlaufen hat und zeitverzögert auch nach Deutschland gekommen ist (vgl. Dürbeck/Stobbe 2015; Bühler 2016). Auf unterschiedlichen methodischen Wegen untersuchen seine Vertreter:innen [23]die Beziehung von Literatur zur materiellen Umwelt. Vieles, was in aktuellen Debatten gefordert wird, ist in der Literatur tatsächlich vorbereitet, ja etabliert. Hierzu gehören Vorwegnahmen negativer und positiver Zukünfte, die einen Beitrag zu einer geforderten »Futures Literacy« leisten (vgl. Sippl et al. 2023a), oder die Erprobung unvertrauter, womöglich sogar nicht-menschlicher Perspektiven, die solche von Tieren, aber auch eines Flussbetts (vgl. Bode 2012: 123) oder Automobils ( hier–siehe hier) sein können.

Schließlich zu erwähnen ist ein kulturökologischer Ansatz, der auch didaktisch wichtig geworden ist und den kulturellen Funktionen literarischer Texte nachspürt (vgl. Grimm/Wanning 2016). Als ein Begründer der Kulturökologie erkennt Hubert Zapf (2015) in Literatur (a) einen kulturkritischen Metadiskurs, der als »Bilanzierungsinstanz für kulturelle Fehlentwicklungen, Erstarrungssymptome und Pathologien« wirkt, wobei vor allem »Machtstrukturen und Ideologien« in den Blick geraten (ebd.: 177–178), (b) einen imaginativen Gegendiskurs, der »das kulturell Ausgegrenzte ins Zentrum« stellt wie »Natur, Unbewusste[s], Körperlichkeit, Leidenschaft, Wandel, Bewegung, Magie, Energie, Vielfalt, Kommunikation und Selbstartikulation« (ebd.: 178) und (c) einen reintegrativen Interdiskurs, nämlich eine »Zusammenführung von Spezialdiskursen« (ebd.: 179). Das ist anspruchsvoll formuliert und meint, dass Literatur kulturelle (Fehl-)Entwicklungen anzeigt, wie sie in der ökologischen Krise sichtbar werden; dass sie Phänomenen wie nicht-menschlichem Leben Raum gibt, die kulturell an den Rand gedrängt sind; und dass sie, wie oben schon erwähnt, unterschiedliches Wissen zusammenführt, das sonst getrennt ist.

Verschiedene Themenhefte deutschdidaktischer Zeitschriften mit ökologischer Relevanz

 

Praxis Deutsch 48 (2021), Heft 287: »Dystopien«

Literatur im Unterricht 20 (2019), Heft 2: »Natur«

Literatur im Unterricht 19 (2018), Heft 2: »Technik und Technologie in der Gegenwartsliteratur«

Deutschunterricht 67 (2014), Heft 2: »Mensch, Natur, Text: Ökologie im Deutschunterricht«

Praxis Deutsch 23 (1996), Heft 138: »›Dritte Welt‹ – Eine Welt im Deutschunterricht«

Praxis Deutsch 22 (1995), Heft 130: »Wasser«

Diskussion Deutsch 25 (1994), Heft 135: »Deutschunterricht und Ökologie«

Der Deutschunterricht 46 (1994), Heft 3: »Industrieliteratur«

Praxis Deutsch 18 (1991), Heft 107: »Technik in der Literatur«

[24]1.4 Curricula und Wege zum ökologischen Deutschunterricht

Die Herausforderungen, vor die die ökologische Krise Deutschlehrer:innen stellt, resultieren auch daraus, dass Deutsch kein ökologisches Trägerfach ist. Betrachtet man etwa den Beschluss der Kultusministerkonferenz zu den inhaltlichen Anforderungen, die 2024 an die Lehrer:innenausbildung gestellt werden, spielen Begriffe des Ökologischen oder der Nachhaltigkeit beim Fach Deutsch keine Rolle (vgl.KMK 2024). Die Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife sprechen nicht explizit von Ökologie oder Nachhaltigkeit (vgl.KMK 2014). Günstiger ist das Bild der Lehrpläne zumal der letzten fünf bis zehn Jahre. Im baden-württembergischen Bildungsplan [25]des Gymnasiums für das Fach Deutsch von 2016 ist zwar nicht die Rede von Ökologie oder Natur, doch wird als eine von sechs Leitperspektiven die ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ benannt. Die Notwendigkeit »differenzierte[n] Textverständnis[ses]« (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg 2016: 4), das der Unterricht schulen soll, ergibt sich demnach aus dem Ziel, solche Bildung zu fördern. Laut dem gymnasialen Sek-I-Lehrplan Deutsch für Nordrhein-Westfalen soll der Unterricht »Beiträge zu fachübergreifenden Querschnittsaufgaben in Schule und Unterricht« leisten, wozu auch die »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2019: 10) gehört. Was dies heißt, wird freilich nicht weiter ausgeführt und zusätzliche Bezugnahmen auf Nachhaltigkeit, Ökologie oder Natur fehlen. Auch der Sek-II-Lehrplan spricht von »Bildung für nachhaltige Entwicklung« (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2023: 8). Jorrit Holst und Antje Brock haben 2020 die Lehrpläne aller Bundesländer für sämtliche Schulformen, -stufen und für verschiedene Fächer gesichtet und überprüft, inwiefern sie ökologische und Nachhaltigkeitsaspekte thematisieren und dabei auf Bildung für Nachhaltigkeit und nachhaltige Entwicklung Bezug nehmen. Dabei erkennen sie – wie ähnlich Wanning 2019a: 300 – zwei unterschiedliche curriculare Modelle. Nachhaltigkeit kann, erstens, als fächerübergreifendes Prinzip gesetzt werden. In diesem Fall, wie in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen zu sehen, spielt Nachhaltigkeit für das Fach Deutsch curricular eine explizite Rolle. Nachhaltigkeitsbildung kann, zweitens, nur auf ›nachhaltigkeitsnahe‹ Fächer [26]etwa des MINT-Bereichs konzentriert werden, was den Deutschunterricht an den Rand drängt. Die Existenz zweier gegenläufiger Modelle kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Fach Deutsch in beiden Fällen ökologische Fragen thematisieren kann, aber dies in beiden Fällen auch eine Herausforderung bleibt. Wo Nachhaltigkeit und Ökologie nicht erwähnt werden, sind sie dennoch nicht ausgeschlossen. Wo sie als Querschnittsaufgabe Erwähnung finden, bleibt dies vage.

Eva Pertzel sieht drei Wege, auf denen das Fach Deutsch für die ökologische Krise relevant werden kann. Erstens kann ein »Gegenstand selbst, wie beispielsweise ein literarischer Text, […] eine Auseinandersetzung mit dem Thema […] ein[fordern], um in seiner Tiefe erfasst werden zu können.« Zweitens kann eine Auseinandersetzung mit der ökologischen Krise schon dort gesehen werden, wo »zur Thematik passende[] Vorstufen« den Unterricht beschäftigen. »Ein Beispiel dafür ist die Fähigkeit zur Perspektivübernahme.« Drittens kann die ökologische Frage dort in den Unterricht einwandern, wo »traditionell auch außerfachliche Gegenstände thematisiert werden. Üblich ist dies im Deutschunterricht etwa im Kontext des Schreibens von Erörterungen.« (Pertzel 2018: 314)

Die dritte Variante ist dabei nicht nur didaktisch erprobt, sondern entspricht einem von der UNESCO