Der die Adler sieht - Harald Braem - E-Book

Der die Adler sieht E-Book

Harald Braem

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Beschreibung

Vor ca. 4000 Jahren erlebt Europa eine technologische Revolution: Fremde Völker mit Metallwaffen überrennen die Küstenbewohner, die noch als Jäger und Sammler in der Jungsteinzeit leben. Es ist die Geschichte von mutigen Menschen. Mit leichten Booten aus Schilf wagen sie sich auf den wilden Atlantik, um eine neue, sichere Heimat zu finden. Sie entdecken die Glücklichen Inseln. Der Roman schildert ihren Überlebenskampf, Seestürme, Vulkanausbrüche und verheerende Waldbrände. Aber es geht auch um Freundschaft, Liebe, Mord und Magie. Eine der Hauptpersonen ist eine uralte Schamanin mit drei Augen...

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Impressum
Der Autor
Die Einweihung
Im Schilfwald
Wellenreiten
Der schielende Händler
Xacas Dorf
Streit
Das verlassene Dorf
Tagoror
Agars Stunde
Der Überfall
Abora
Aufbruch
Die Bucht
Tanats Traum
Über das große Wasser
Benahoare
Der Adlerstein
Jagd auf kleine Drachen
Das Zusammentreffen
Vollmond
Abnehmender Mond
Die brennenden Berge
Acero
Idafe
Nachwort
Danksagung

Impressum

www.elveaverlag.de

Kontakt: [email protected]

 

© ELVEA 2021

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf, auch teilweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

weitergegeben werden.

 

Autor: Harald Braem

 

Titelbilder: Corey Ford

 

Covergestaltung/Grafik: ELVEA

 

Layout: Uwe Köhl

 

Projektleitung:

 

BOOKUNIT

 

www.bookunit.de

 

 

 

 

 

 

 

Harald Braem

 

 

Der die Adler sieht

 

 

Historischer Roman

 

 

 

 

ELVEA

Der Autor

 

 

›die eigenen Gefühle sind die Stimmen von Millionen Vorfahren, von denen es jedem Einzelnen gelang, in einer erbarmungslosen Umwelt zu überleben und sich zu reproduzieren.‹

(Yuval Noah Harari)

 

›Tausend Worte reichen nicht aus, um Schönheit beim Namen zu nennen. Dieses welke Blatt dort im Wind … es sieht aus, als würde es tanzen …‹

(Harald Braem)

 

 

 

 

 

 

 

 

Prof. Harald Braem ist Buch- und Filmautor (u.a. Terra X).

Er lebt auf der Kanareninsel La Palma und in Nierstein am Rhein. Seit 1984 betreibt er Feldforschung auf den Spuren der Ureinwohner.

Weitere Informationen: www.haraldbraem.de

 

 

 

 

Die Einweihung

Die Frau mit den drei Augen erwachte und spürte sofort, dass jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen war. Die Veränderungen in der Umgebung: Die Luft schmeckte anders, das Grün leuchtete in der frühen Morgensonne stärker als sonst, es schien zu brennen. Wo das Licht auf freie Flächen traf, waberten Dunstwölkchen auf, tanzten spiralig hoch. Der Wind flüsterte im Schilfwald. Es raschelte, als seien darin Wesen unterwegs, die sich säuselnd unterhielten. Und das Meer gab mit Geisterstimmen Antwort. Dämmerung griff mit Spinnenfingern nach ihr.

In der Nacht mit wirren Träumen und seltsamen Bildern war ihr der Kulkul erschienen, der unsichtbare schwarze Vogel mit der schaurigen Stimme, die direkt in ihrem Kopf entstand.

»Mola« hatte er gesagt, »Dreiaugenfrau. Du bist die Schamanin deines Stammes. Du hast dafür zu sorgen, dass alles der Bestimmung folgt und kein Unglück geschieht. Du musst den magischen Pfad betreten.«

Mola war alt. Wie alt, das wusste niemand genau, nicht einmal sie selber. Eine kleine, zähe Frau, dürr wie Schilfgras, aber ebenso kräftig und biegsam. Sie konnte stundenlang reglos an einer Stelle verharren, aber sich auch schnell und geschmeidig wie eine Echse bewegen. Und sie besaß tatsächlich drei Augen. Zwei mit Lidern, die sich wie bei normalen Menschen heben und senken ließen und ein drittes auf der Stirn, das immer offen stand und starr blickte, denn es war tätowiert. Mit diesem dritten Auge konnte sie in die Vergangenheit und in die Zukunft blicken, nicht aber in die Gegenwart des Hier und Jetzt, weshalb sie oft die Zeit mit geschlossenen Augen in einer Art Halbschlaf verbrachte, damit sich ihr das Westliche klarer offenbaren konnte. Die übrigen Zeichen an ihrem Körper dienten dem freien Lauf der Kraft, damit der große unsichtbare Strom besser durch sie hindurchfließen konnte und Gutes bewirken. Abora … Eine Schlange am rechten Arm, Punkte, Kreuze und Wellenbänder auf den Handrücken und rund um die Fingerknöchel.

»Du musst dem magischen Pfad folgen« hatte der Kulkul mehrmals mit krächzender Stimme geschrien, und sein Befehl war bis in alle Winkel ihres Bewusstseins gedrungen. Schweißnass war sie von ihrem Nachtlager hochgeschreckt. Ihr Herz klopfte wie eine Trommel. Aber mit plötzlicher Klarheit wusste sie wieder, was es nun zu tun galt. Der magische Pfad! Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie vergaß so vieles in letzter Zeit, brachte gestern, heute und morgen durcheinander. Aber die Stimme des Kulkul hatte sie wachgerüttelt. Der Tag der Namenssuche! Bei Mädchen war alles leichter, da gab es die Treffen und Riten am heiligen Weiher, nahe gelegen zwar, doch für Männer unsichtbar, da die Wasserstelle von einem Tabu umgeben war.

Jungen mussten den magischen Pfad gehen, der beschwerlich und voller Gefahren war. Und sie musste sie führen … Es war lange her, seit Mola das letzte Mal auf ihm unterwegs gewesen war, sehr lange. Mit wem war das nur? Ach ja, mit Agar, dem kleinen Agar, der jetzt ein großer kräftiger Mann war und Mencey des Stammes … Von einem Erinnerungstrubel begleitet erschienen Gesichter von Jugendlichen, die heute Männer waren, vor ihrem dritten Auge. Jung und neugierig waren die Kerle damals gewesen und sie selber auch wesentlich jünger. Die Bilder in ihrem Kopf schienen aus einer fast vergessenen Zeit zu stammen.

»Hol die Neuen!«, rief die dunkle Stimme des Kulkul, »Tanat und Gara. Führe sie, damit sie ihre richtigen Namen finden!«

Mola gehorchte dem schwarzen Vogel, dem Ruf aus der anderen Welt. Sie folgte stets seinen Anweisungen, ihr gesamtes Leben lang, es war ihre Aufgabe, ihr Schicksal. So konnte sie dem Stamm auf die einzige Weise dienen, die sie leben konnte: als Seherin und Heilfrau.

»Ich muss alles richtig machen«, murmelte sie, »darf nichts vergessen … die Schale, die Feder, die anderen Dinge …«

Sie begann in den Schätzen zu graben, die neben ihrem Lager unter trockenem Schilf verborgen ruhten.

»Es gibt nur diesen einen, weiten Weg in die Berge«, flüsterte sie.

Warum das so war wusste sie nicht. Es hieß, so sei es von alters her Brauch gewesen. Schon bei ihrer Vorgängerin, die vor langer, langer Zeit verstorben war. Niemand konnte sich mehr an den Namen erinnern. Aber ihr Wissen war auf Mola übergegangen. Sie musste nur einfach weitermachen. Sie zweifelte keinen Moment lang daran, dass es genau das Richtige für ihren kleinen, mageren Körper war. Und für ihren ständig unruhigen Geist. Sie musste so handeln. Gerade an einem so besonderen Tag wie heute …

Sie beugte sich über den zusammengerollt schlafenden Tanat und betrachtete ihn, als sähe sie ihn heute das erste Mal, sein braungebranntes Gesicht mit den dunklen Locken und erstem Ansatz von Bartflaum am Kinn. Der Junge durfte in ihrer Hütte schlafen, weil ansonsten kein Platz für ihn war. Sie berührte sanft seine nackte Schulter. Tanat fuhr hoch und rieb sich schlaftrunken die Augen.

»Was ist los?«

»Heute ist der Tag«, flüsterte Mola. »Wir müssen sofort aufbrechen.«

Tanat brauchte einen Moment, um zu begreifen, was die Medizinfrau meinte.

»Geh und hol Gara«, sagte Mola mit einer Betonung, die keinen Widerspruch duldete.

Tanat stand auf und verließ rasch die Hütte, während die Alte noch einmal prüfend ihre Schätze sortierte und sorgfältig in einem Korb verstaute. Sie würde ihn auf dem Rücken tragen, das war die leichteste Art. Und wenn der Weg dann doch zu lang werden würde und ihre Kräfte nachließen, konnten die beiden Jungen abwechselnd die Last übernehmen. Tanat und Gara, sprach Mola zu sich selbst, Tanat, den ich ohne Eltern fand und aufnahm, als wäre er mein Sohn, weil ich selbst keine Kinder gebären kann … und Gara, der Spross unseres Häuptlings. Beides mutige Jungen. Sie werden es schaffen. Dass auch sie die beschwerliche Reise unbeschadet überstehen würde, daran zweifelte sie keinen Moment lang.

Tanat war inzwischen im Halbdunkel zur Nachbarhütte getappt und fast über die beiden Hunde gestolpert, die am Eingang schliefen, große schwarz- und braungefleckte Hunde. Die hoben nur träge die Köpfe, um gleich danach wieder die Schnauzen auf die ausgestreckten Pfoten sinken zu lassen. Nicht einmal ein Knurren. Sie kannten sich gut. Es war in Ordnung, dass er über sie hinweg stieg und in gebückter Haltung durch das Einstiegsloch in die Hütte schlüpfte. Er bewegte sich lautlos, um nicht Garas schnarchende Eltern Agar und Ula zu wecken.

»Es ist soweit«, flüsterte Tanat Gara ins Ohr. »Wir müssen los. Mola wartet bereits.«

Gara war sofort wach und folgte dem Freund ohne weitere Fragen.

Lautlos begann ihr Weg, und so sollte es den ganzen Tag über bleiben. Ohne Unterhaltung, ohne unnützes Reden. Sie durchquerten den Schilfwald in östliche Richtung. Mola schritt voraus, den tanzenden Lichtstrahlen folgend, auf leuchtendem Pfad, immer der aufgehenden Sonne entgegen. Nicht allzu schnell, aber mit der Wendigkeit einer Echse sich schlängelnd, bewegte sich Mola, stolperte nie, hielt beständig das gleiche Tempo. Sie war im Trance. Das dritte Auge hatte sich mit dem Zustand abgefunden und schlafen gelegt. Die anderen beiden benötigte sie kaum. Sie sah mit den Füßen und spürte im Voraus, wo es gut war aufzutreten, einen großen Schritt oder keinen Sprung zu machen. Mola bewegte sich tänzerisch vorwärts und das übertrug sich auf die Jungen. Stundenlang liefen sie so durch ödes, steiniges Buschland, nur auf den Rhythmus des Atems achtend, der wie leise Musik wurde, ein andauernder Urton. Die Sonne im Rücken begann langsam zu versinken.

Ihr Marsch führte nun über eine geröllbedeckte Ebene, in der in dichten Inseln niedriges Buschwerk wuchs. Hart und stachelig, aber grün in der Sonne glänzend. Wäre gutes Weideland für Ziegen, dachte Tanat. Er hielt die rechte Hand schützend vor die Augen und spähte über das weite Gelände bis hinüber zu den Bergen. Inzwischen waren sie ein gutes Stück der Hügelkette näher gekommen. Er sah dichten Wald wie einen dunklen Saum die Berge umschließen. Weiter oben nackter Fels, mitunter seltsam geformt wie riesige, schlummernde Tiere. Weitere Einzelheiten konnte er nicht mehr ausmachen, denn er war nur kurz stehengeblieben und musste sich nun beeilen, um wieder Anschluss an den vorauslaufenden Gara zu finden. Es ging unaufhaltsam weiter.

Unterwegs überfiel sie der Hunger. Aber die beiden Jungen bissen die Zähne zusammen und ließen sich kein Schwächegefühl anmerken. Sie wussten es, man hatte es ihnen vorausgesagt: Auch das, die Überwindung des Hungers, genau wie das Schweigen, gehörten zur Prüfung, ganz gleich wohin sie dieser Weg führen würde. Nur mit dieser Einstellung war es möglich, das Ziel zu erreichen.

Mola spürte nichts. Sie lief voraus, hatte Gara den Korb überlassen. Sie sprach kein Wort. Sie war mit sich und ihren Gedanken allein … Es fiel ihr immer schwerer, sich an die vielen Einzelheiten zu erinnern, die ganz früher, vor langer, langer Zeit, als sie noch jung war, geschehen waren. Und wenn, dann brachte sie das meiste durcheinander. Sie musste sich konzentrieren, von allem Denken freimachen, von den Bildern, die ständig auftauchten und sie verwirrten. Nur das Hier und Jetzt galt, dieser Weg ins Gebirge, der ein unsichtbarer Pfad war. Sie musste ihn fühlen, im gesamten Körper spüren, nur so war es richtig …

Gegen Abend erreichten sie einen schmalen Bachlauf. Sie stürzten darauf zu und legten sich zum Trinken wie Tiere ins Nass, tauchten ihre Gesichter ins Wasser, genossen die erfrischende Kühle. Das Hungergefühl war verschwunden. Dafür übermannte sie eine große Müdigkeit. Sie rollten sich zwischen Buschwerk in eine schützende Mulde und schliefen vor Erschöpfung sofort ein. Ohne Träume, ohne innere Bilder und Stimmen.

Jedenfalls traf das auf Tanat und Gara zu. Die Medizinfrau sah immer Bilder. Sie lebte in einer Art Traumzeit, in der Tag und Nacht, das Jetzt, Gestern und Morgen ineinander verschwammen. Wenn wirklich mächtige Bilder auftauchten, Visionen, wenn sie die Stimme des Kulkul hörte, dann war sie sofort hellwach, lebte in ihrer bedeutsamen Wirklichkeit, dann gab sie dem Kulkul und den anderen Stimmern in ihrem Kopf Antwort. Oder sie begann zu singen. Lieder ohne Worte, die nur aus gefühlten Klängen bestanden. So wie Hummel und Bienen summen, die Fliegen, wie sich Vögel verhalten, wenn sie mit der Welt einverstanden sind.

In dieser Nacht geschah nichts dergleichen und das beruhigte Mola sehr. Gegen Morgen schnarchte sie so laut, dass Tanat und Gara davon aufgeweckt wurden. Obgleich sie sich vorsichtig hochbewegten, war Mola sofort wach … Sie hustete, räusperte sich und sprudelte einen Klumpen Schleim aus. Das waren die Geister, die sie nicht mehr gebrauchen konnte.

»Ja« sagte sie, als ihre Stimme wieder klar vernehmbar wurde, »dann brechen wir auf.«

Gara verzog das Gesicht »Ist es noch weit?«, fragte er, froh darüber, dass die Medizinfrau das Schweigegebot für einen kurzen Moment gelockert hatte.

»Genau wie gestern. Ungefähr. Wenn wir auf dem richtigen Weg sind, müssten wir gegen Abend ankommen.«

»Sind wir auf dem richtigen Weg?«, hakte Gara nach.

»Sind wir das? Natürlich sind wir auf dem richten Weg.« Ihr Gesicht verzog sich zu einer spöttischen Grimasse. »Das sind wir doch immer«, fügte sie hinzu.

Sie stand auf, schlenkerte kurz Arme und Beine und machte sich marschbereit.

Der Weg führte nun ständig ansteigend über buschbestandenes Hügelland in Richtung der Berge. Ab und zu musste Mola kurz stehen bleiben um zu verschnaufen. Aber da sie keine Seitenstiche verspürte, schritt sie entschlossen weiter. Es wurde ein endlos quälender, mühsamer Marsch. Schließlich erreichten sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit den terrassenförmigen Sockel eines Berges. Hier begann Mola zwischen großen, herabgestürzten Felsbrocken nach der richtigen Stelle zu suchen. Gebückt huschte sie hin und her, verschwand und tauchte unerwartet an anderer Stelle wieder auf. Schließlich ertönte ein Freudenschrei. Sie hatte das Gesuchte gefunden: eine mäßig sprudelnde Quelle und daneben, kaum mit dem bloßen Auge erkennbar, die spärlichen Überreste einer alten Feuerstelle.

»Holt Reisig und Äste. Im Umkreis liegt genug davon. Beeilt euch, bevor die Nacht anbricht. Ich bereite das Übrige vor.«

Mola nahm Baumzunder aus ihrem Korb, zerbröselte ihn über einem Nest aus trockenen Pflanzenstengeln und ließ den Feuerquirl geschickt durch die Hände gleiten. Erste Glühpunkte tauchten auf. Mola beugte sich vor und blies sie an, bis eine erste zarte Rauchwolke aufstieg. Bald darauf flackerte ein gut geschichtetes Feuer hoch. Noch immer hatten sie nichts gegessen, spürten aber kaum noch den Hunger. Als die Flammen gelb, rot und bläulich tanzten und kleine leuchtende Glutspritzer in die Dunkelheit sandten, wo sie knisternd verloschen, als der Rauch verzogen war, holte Mola die heiligen Dinge aus dem Korb: die hölzerne Schale, die alte zerfranste Feder und die getrockneten Pilze und Beeren, die in ein gerolltes Blatt eingewickelt waren. Eine Handvoll unscheinbarer schwarzer Beeren und Pilze. Sie wies Tanat an, mit der Schale Wasser zu holen. Als er zurückkam, war sie bereits dabei, die schwarze Masse in einer Steinmulde zu Pulver zu zerstampfen. Sie benutze dafür einen glatten, länglich geformten Stein, den sie zuvor nahe der Feuerstelle aufgelesen hatte, als Stößel und die natürliche Wölbung im Felsen als Mörser. Sie nahm die Schale entgegen, hielt sie in der Linken, tauchte mit dem Fingern der rechten Hand ins Wasser und spritzte das Nass in alle vier Richtungen des Himmels. Dann ließ sie das schwarze Pulver in die Schale rieseln, fuhr mit der Handfläche hinein, rührte um, damit sich die Kräfte der Natur verteilen konnten. Dabei sang sie. Ein uraltes Lied, deren Text und Sinn sie nicht mehr so genau zusammen bekam. Aber es beruhigte die Sinne.

Mola reichte Gara als erstes die Schale, nickte ihm aufmunternd zu. Gara trank einen großen Schluck und gab an Tanat weiter. Auch Tanat trank. Bereits beim ersten Schluck spürte er einen galligen Geschmack auf den Lippen, ein Brennen im Mund und Rachen. Danach ein Hinabfließen wie Feuer im Schlund, im Bauch und im Magen, eigentlich überall, bis hinein in Arme und Beine. Mit zittriger Hand hielt er Mola die Schale entgegen. Er fühlte sich schwindelig und merkwürdig leicht, als besäße sein Körper kein Gewicht mehr. Ein kräftiger Windstoß und er würde vom Boden abheben und wie ein welkes Blatt davongetragen … Tanats Blick streifte kurz seinen Freund Gara. Der saß stocksteif da, mit glasigen Augen und war bleich wie von der Sonne ausgetrocknetes Strandgut, sein blondes Haar schien zu glitzern. Das mochte aber auch am Schein des flackernden Feuers liegen, denn die Gestalt der Medizinfrau hatte sich ebenfalls verändert. Wie eine Zwergin sah sie aus und ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzerrt.

Mola spürte plötzlich, wie schwer ihre mageren Glieder wurden. Ein Druck lastete auf ihren Schultern, der bis in die Knochen hineinfuhr. Wer würde einmal das Ritual ausführen, wenn sie dazu nicht mehr imstande war? Bea die kleine Blume? Die war noch so jung und nicht tätowiert, noch so weit von ihrer Berufung entfernt. Sie öffnete einen Moment lang beide Augen, damit das dritte ausruhen konnte. Ihr Blick fiel auf Tanat, der in seltsam verbogener Haltung am Feuer hockte, als sei er ein trauriger Vogel, eine namenlose Krähe, weit, weit entfernt vom übrigen Schwarm und verlassen. Dieses Bild rührte Mola an. In einer Art Abwehrzauber begann sie zu lachen. Schrill und kreischend lachte sie eine Spirale aus tausend Vogelstimmen in den Nachthimmel.

 

Das lautstarke Spektakel riss die beiden Jungen aus ihrem Dämmerzustand und ließ sie schlagartig wach werden. Mola entzündete in der Glut einen Kienspan, stand auf, ohne dabei wesentlich größer zu werden und wies mit der Fackel in Richtung der Felsen.

»Kommt«, sagte sie, »folgt mir. Ihr dürft es jetzt sehen.«

Mit entschlossenen Schritten ging sie in die Dunkelheit hinein. Tanat und Gara folgten ihr rasch, um im Lichtschein der Fackel zu bleiben. Nach kurzer Zeit erreichten sie den Eingang einer Höhle. Ohne zu zögern trat Mola ein. Sie schien keinerlei Angst vor den Geistern im Bauch der Erde zu haben. Mutig schritt sie voran. In gebückter Haltung sich vortastend, passierten sie einen Gang mit niedriger Decke, der sich plötzlich zu einer Art Halle hin öffnete. Mola blieb stehen und fuhr mit der Fackel die Wände entlang. Da erschienen die ersten Tiere, seltsame Wesen mit Hörnern und Fell, Ungeheuer und Dämonen, wie sie Tanat und Gara nie zuvor zu Gesicht bekommen hatten. Und das schreckliche war: diese Wesen begannen sich zu bewegen, liefen die Wände entlang, zwei Raubkatzen mit riesigen Zähnen, gekrümmt wie Hauer, setzten zum Sprung an. Und die Augen waren starr auf Tanat und Gara gerichtet.

»Was ist das?«, flüsterte Gara mit ängstlicher Stimme.

»Das sind Tiere«, antwortete Mola. »Tiere, die einmal hier gelebt haben vor langer, langer Zeit.«

»Und wer hat sie gemalt?«, fragte Tanat, denn ihm wurde langsam klar, dass es nur gemalte Bilder sein konnten und keine lebendigen Wesen und dass der Eindruck von Bewegung durch das unruhig zuckende Licht der Fackel entstand.

»Menschen«, sagte Mola. »Menschen, die in der grauen Vorzeit hier lebten. Sie verehrten die Tiere und jagten sie nur, wenn sie Hunger hatten. Aber um sie jagen zu können, mussten sie zuvor ihre Tierseelen bannen. Hier in der Höhle, am geheimen Ort, den nur die wenigsten kennen.«

Noch einmal leuchtete sie mit der Fackel die Wände ab und diesmal betrachteten sie alles in Ruhe, jedes Detail, jeden Strich, jede Gravur. Dann erlosch das Licht und sie befanden sich in völliger Dunkelheit. Der Kienspan war abgebrannt, Mola zerstieß den Rest der Glut auf dem Boden.

Nun begann ein unsicherer Rückweg durch die Nacht. Sie tappten dicht an dicht hintereinander her und waren froh, endlich wieder das Lagerfeuer zu erreichen. Sofort legte Mola Holz nach, ließ Licht und Wärme entstehen, die sich wie ein Schutzmantel um die Jungen schmiegte. Dafür waren Tanat und Gara dankbar, denn sie standen noch immer unter dem Einfluss des soeben Erlebten. Die starken Bilder im Bauch der Erde wirkten nach. Und die unheimliche Stille dort! Als schlafe an diesem Ort alles Leben und würde nur geweckt, wen man die Höhle betrat. Noch einmal machte die Trinkschale die Runde. Diesmal brannte es nicht mehr in der Kehle. Stattdessen breitete sich ein warmes Wohlgefühl aus, das zufrieden und schwerelos durch den Körper floss. Ich bin wie eine Amme, dachte Mola. Ich säuge träumende Kinder. Aber bald werden sie wach und sich auf den Weg machen …

Sie goss den Rest der Schale ins Feuer, wedelte sie mit der Feder trocken, stülpte sie um, nahm einen als Schlegel geeigneten Stock aus dem Reisighaufen und begann, die Holzschale als Trommel zu nutzen. Sie schlug stetig den selben Rhythmus, der sich nach und nach langsam steigerte. Dann sang sie in ihrer Geheimsprache. Niemand verstand es, wahrscheinlich nicht einmal Mola. Aber das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass die Stimmen der Nacht harmonisch mit einstimmten, der Wind, das leise Flüstern aus den Bergen, die Geräusche, die ganz anders klangen als der gewohnte Atem des Meeres.

Tanat und Gara versanken in einen tiefen Schlaf der zum einen von der Erschöpfung stammte, zum anderen der Wirkung der Pilze und Beeren zuzuschreiben war. Dass sie bei alldem dennoch bei Bewusstsein blieben, verdankten sie Molas Trommelgesang. Die Medizinfrau hörte nicht auf zu singen, als sie die Trommel absetzte, Holzstücke ins niedergebrannte Feuer nachschob und allerlei Dinge tat, die sie selber nicht verstand. Niemand sah zu. Sie tat es, weil sie es tun musste. Ein Kraut, das sie unterwegs gepflückt hatte, ins Feuer werfen. Mit der Feder den aufsteigenden Qualm wirbelnd zerteilen. Tief atmete sie ein, damit sich der Geist des Krautes in ihrem Inneren ausbreiten konnte. Sie war das Gefäß für das heilige Ritual, und diese Opferschale musste rein und von allem Bösen befreit sein.

Gara sah mit geschlossenen Augen das Meer. Es reichte grenzenlos, lag wie ein glänzender Spiegel unter der Sonne, die Wellen nur wenig gekräuselt, bis auf jene nahe am Strand. Ideal für einen Ritt auf dem Schilfbündel. Mit ein paar rudernden Armbewegungen steuerte er weiter hinaus. Es war herrlich. Diesmal würde er seine persönliche Bestleistung überbieten, das spürte er deutlich. Er war wie sein Vater zum Siegen geboren. Das Meer war sein Element, er liebte es zu schwimmen und nach Muscheln zu tauchen. Am meisten aber den freien Ritt über das Wasser. Das Schilf umschlungen über Wellen zu gleiten, sich zu fühlen wie ein Delfin. Eine Weile trieb er so ohne Gedanken, mit Salz und Wind auf der Haut. Dann war es genug. Noch nie war er so weit draußen gewesen. Er musste umkehren, zurück in die Bucht, um dort die Brandungswellen zu reiten. Aber eine plötzliche Strömung trieb ihn ab, immer weiter vom Ufer weg, seitlich auf Felsen zu. Das war gefährlich, denn das Meer klatschte dort kräftig an Land. Gara kämpfte dagegen an, kam aber nicht voran. Im Gegenteil, die zerklüfteten Felsspitzen rückten bedrohlich näher. Er hörte ein Donnern und Gurgeln in seinem Rücken, dann schlug eine riesige Woge über ihm zusammen, zog ihn hinunter bis zum Grund, wo er hart auf den Steinen aufschlug. Er kam wieder hoch, schnappte nach Luft und wurde erneut, von einer zweiten Welle, erwischt. Sie wirbelte ihn durch. Er wusste nicht mehr, wo oben oder unten war. Und wo war das Schilfbündel geblieben? Erlebte er einen sehr intensiven Traum, oder war das Wirklichkeit? Er rappelte sich mühsam auf und fand sich auf dem Boden liegend neben der Feuerstelle. Er musste wohl im Sitzen eingeschlafen und zur Seite gefallen sein. Benommen betastete er seine Stirn und die Schläfen. Kein Blut. Nur Schweiß … Sein Blick fiel auf das Gesicht der Medizinfrau. Aber das war nicht Mola. Dieses Wesen war jung und hübsch. Es sah aus wie Grea die mit den Augen lächelt. War sie es? Wie konnte das sein? Sein Herz schlug schneller. Es klopfte wie eine Trommel.

Etwas völlig Anderes passierte mit Tanat. Er hatte die Augen geschlossen und sah nichts. Er spürt nur, dass sein Körper immer leichter wurde, so als hafte er nicht mehr an der Erde, als würde er schwerelos mit dem Wind schweben. Er wünschte sich, durch Zeiten und Räume zu fliegen, spielerisch dahinzugleiten für alle Ewigkeit. Es hielt ihn nicht mehr länger am Feuer. Er erhob sich und stieg durch dichten Nebel nach oben. Der erste Lichtstrahl in der Morgendämmerung bildet vor ihm eine Linie, einen leuchtenden Pfad. Er folgte ihm. Sicher die Füße setzend, als würden diese den Weg wiedererkennen, steigt er hinauf in die Berge, immer höher, von Nebelschwaden umweht. Blindlings klettert er weiter, tappt sich vor wie in einem seltsamen Traum und durchstößt plötzlich die Wolkendecke. Blau ist der Himmel, gleißend die Sonne und die Sicht weit, als würde sie die ganze Welt umfassen. Er sieht endlose Zonen aus Buschland, Hügel, Bauminseln. Weißliche Schlieren durchzeichnen den Himmel. An manchen Stellen der Ebene steigt Feuchtigkeit auf, als würden dort Feuer qualmen. Aber er sieht nicht das Meer, ist noch zu weit vom Schilfwald entfernt, von den Dünen der Brandung. Nie zuvor war er so weit weg von allem, was ihm bekannt und vertraut ist. Plötzlich durchdringt ein lauter, spitzer Schrei die Stille. Ein riesiger Vogel mit braunen Schwingen steift über den Himmel, ein Adler. In einer weit ausladenden Spiralbahn steigt er immer höher hinauf bis zur Sonne. Dann driftet er nach Westen ab, wird ein schmaler schwarzer Streifen am Horizont, ein winziger Punkt. Schließlich ist er verschwunden. Der Schrei ist Tanat in Mark und Bein gefahren, wie ein Messer in sein Innerstes hinein, ohne Schmerz zwar, aber mit der Gewissheit, dass er diesen Moment und diesen Laut nie mehr im Leben vergessen wird. Zunächst hatte sich sein Körper verändert, ganz allmählich, aber doch deutlich spürbar. Diese Kraft in den Armen! Wie beim Wellenreiten, nur viel leichter, weil kein Wasser da war, kein Druck der Wogen, kein Widerstand. Es kam Tanat vor, als würde er schweben. Ein einziges Heben der Arme nur und er würde spielerisch leicht die Luft ringsum zerteilen und bis in die Fingerspitzen hinein das sanfte Streicheln des Windes spüren …

Aber er konnte sich nicht bewegen, ein Gewicht lastete mit einem Mal schwer wie Baumstämme auf seinen Schultern und Knien. Er war fest mit dem Boden verbunden, als wachse sein Körper aus dem Felsen heraus. Sein Geist aber wollte fliegen, sich erheben und frei sein … Er fand sich am Lagerfeuer wieder, öffnete vorsichtig die Augen. Gara saß schlafend da, sein Kinn war auf die Brust gefallen, und die blonde Mähne bedeckte sein Gesicht.

Das Holz war zu Asche heruntergebrannt. Mola hockte davor und wedelte mit ihrer Feder Wölkchen auf, verteilte weiße Flocken im Umkreis. Tanat beobachtete sie genau. Sie schien ein kleines Kunstwerk zu schaffen, eines das nur von kurzer Dauer war. Der erste heftige Windstoß wirbelte alles durcheinander. Aber das störte sie nicht in ihrem Tun. Stattdessen streichelte sie nun mit der Feder den Wind, formte in der Luft unsichtbare Gestalten. Als sie den Kopf hob, traf ihr Blick auf seine erstaunten Augen.

»Ich habe geträumt«, sagte Tanat mit belegter Stimme.

»Wir träumen doch alle ständig« gab Mola zur Antwort. »Wie war dein Traum?«

Tanat versuchte, das Erlebte in Worte zu fassen, aber es gelang ihm nicht. Was war nur geschehen? Wie sollte er das ungewöhnliche Gefühl beschreiben?

»Nimm noch etwas von den Beeren«, sagte die Alte und bot ihm zwei der verschrumpelten schwarzen Kugeln in die offene Hand. Er nahm sie entgegen und zerkaute sie mit Bedacht zwischen den Zähnen.

»Wie heißt Du?«, fragte Mola.

»Tanat«, stotterte er aus trockenen Lippen.

Warum fragte sie das? Hatte sie seinen Namen vergessen? Erkannte sie ihn nicht mehr? Verwirrt schüttelte er sich.

»Nein, so heißt du nicht.«

Tanat schluckte.

»Das war dein Kindername«, sagte Mola. »So nannten wir dich, als wir dich noch nicht näher kannten. Dein richtiger Name lautet: Der die Adler sieht. Das ist dein Kraftname, mit dem du endlich das bist, was du immer sein wolltest … Du hast doch den Adler gesehen?«

Tanat nickte benommen.

»Und was war das Besondere daran?

---ENDE DER LESEPROBE---