Der Doppelgänger - Fjodor Dostojewski - E-Book

Der Doppelgänger E-Book

Fjodor Dostojewski

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Beschreibung

Bisher kannte man nur die Fassung des »Doppelgängers«, die Dostojewski 20 Jahre nach Erscheinen gekürzt und geglättet hat. Doch wie surreal und komisch der junge Autor ursprünglich die Geschichte des Beamten, der von seinem Doppelgänger in den Wahnsinn getrieben wird, erzählt – das kann man erst jetzt lesen! Petersburg, Mitte des 19. Jahrhunderts. Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin will nie etwas falsch machen – trotzdem (oder gerade deshalb?) kommt er beruflich nicht voran. Auch bei Frauen hat er keinen Erfolg – seine Liebe zu Klara Olsufjewna, der Tochter eines einflussreichen Staatsrats, die er vor einer vermeintlichen Zwangsheirat retten will, bleibt ohne Erwiderung und spielt sich hauptsächlich in seiner Fantasie ab. Sein Leben ändert sich abrupt, als er während eines nächtlichen Spaziergangs auf seinen Doppelgänger trifft. Wer ist diese Person, die Goljadkin äußerlich aufs Haar gleicht und plötzlich auch in seiner Wohnung auf ihn wartet? Goljadkins anfängliche Versuche, sich mit dem Mann zu verbrüdern, bleiben erfolglos. Der Doppelgänger drängt sich gar als eine bessere Version seiner selbst in sein Leben: An Goljadkins Arbeitsplatz erweist er sich als selbstbewusster und erfolgreicher und heimst das Lob des Vorgesetzten ein. Es beginnt ein grotesker Konkurrenzkampf. Vom Verfolgungswahn getrieben, verliert Goljadkin mehr und mehr den Sinn für Realität – bis auch der Leser sich fragen muss: Wer ist das Original, und wer bloß der Nachahmer?

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Seitenzahl: 421

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Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Der Doppelgänger

Die Abenteuer des Herrn Goljadkin

Roman

Nach der ersten Fassung von 1846 übersetzt von Alexander Nitzberg

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Erstes Hauptstück

Zweites Hauptstück

Drittes Hauptstück

Viertes Hauptstück

Fünftes Hauptstück

Sechstes Hauptstück

Siebentes Hauptstück

Achtes Hauptstück

Neuntes Hauptstück

Zehntes Hauptstück

Elftes Hauptstück

Zwölftes Hauptstück

Dreizehntes Hauptstück

Vierzehntes Hauptstück

Anhang

Anmerkungen zum Roman

Portrait

Nachwort des Übersetzers

Notizbücher

Pläne und Entwürfe Dostojewskis für eine Neufassung des Doppelgängers

Inhaltsverzeichnis

Erstes Hauptstück

Das Erwachen des Titularrats Goljadkin. Sein Ankleiden, sein Aufbruch zu dem Ort, wohin zu begeben er sich beflissen. Herrn Goljadkins Rechtfertigung vor der eigenen Person und die daraus gewonnene Maxime, sich in all seinem Wandel immerzu von Beherztheit und Freimut leiten zu lassen, welche nicht ohne gewisse Noblesse. Sowie der Ort, an den Herr Goljadkin letztendlich zu gelangen geruht.

Noch hatte die Uhr nicht acht geschlagen, als der Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin aus einem langen Schlaf erwachte, gähnte, sich rekelte und letztendlich seine Augen ganz und gar aufschlug. An die zwei Minuten lag er freilich regungslos in seinem Bett, wie ein Mensch, der noch nicht mit Gewissheit sagen kann, ob er nun ganz und gar erwacht sei oder aber weiterhin schlafe, ob das, was sich um ihn herum ereignet, tatsächlich und wahrhaftig geschieht und nicht etwa bloß eine Fortspinnung seiner wirren und nebligen Träume ist. Doch schon bald begannen Herrn Goljadkins Sinne, immer klarer und schärfer ihre gewohnten alltäglichen Eindrücke zu beherzigen. Vertraut blickten ihn die rußigen dreckig grünen staubigen Wände seines kleinen Zimmers an, mit der Kommode aus roter Kirsche, den Stühlen aus rotem Kirschimitat, dem Tisch, bestrichen mit rotem Lack, dem türkischen lederartigen Diwan von rötlicher Farbe mit grünen Blümchen und letztendlich den gestern auf die Schnelle ausgezogenen Kleidungsstücken, als Klumpen mitten auf den Diwan geworfen. Letztendlich lugte der graue herbstliche Tag, verdreckt und schummrig, derart grimmig und mit einer derart sauren Grimasse durchs trübe Fenster ins Zimmer herein, dass Herr Goljadkin keinerlei Anlass mehr für etwaige Zweifel besaß, er sei nicht in irgendeinem Zauberreich, vielmehr in St.Petersburg, der Hauptstadt nämlich, und daselbst in der Schestilawotschnaja Straße,[1] im dritten Stockwerk eines wuchtigen Massivbaus, in seiner höchsteigenen Wohnung. Diese wichtige Entdeckung gemacht habend, schloss Herr Goljadkin die Augen so krampfhaft, als würde er dem jüngst Geträumten nachtrauern und sich wünschen, es kurz zurückzuerhaschen. Doch schon kurz darauf hüpfte Herr Goljadkin mit einem einzigen Satz aus seinem Bett, alldieweil es ihm letztendlich und offenbar jene Idee zu erwischen gelang, um welche seine bisher zerstreuten und nicht in die rechte Ordnung gebrachten Gedanken gekreist waren. Er hüpfte aus dem Bett und trippelte sogleich zu jenem kleinen runden Spiegel, welcher sich da auf der Kommode befand. Obzwar die vom Spiegel reflektierte Gestalt, verschlafen, halbblind und überaus beglatzt, in der Tat derartig unscheinbar war, dass sie auf den ersten Blick keinerlei erhöhte Aufmerksamkeit zu erregen vermochte, blieb doch der Eigentümer derselben offensichtlich ganz und gar zufrieden mit all dem, was er im Spiegel geschaut. – Das wäre ja eine recht ausgefuchste Chose –, sagte Herr Goljadkin mit gedämpfter Stimme. – Das wäre ja eine recht ausgefuchste Chose, sollte ich heute irgendwo fallieren, wenn heute zum Beispiel irgendetwas nicht ganz so passabel laufen würde – ein unangemeldeter Pickel zum Beispiel oder ein anderes Ärgernis; im Übrigen läuft es bislang ja nicht übel; läuft ja bislang eher äußerst ersprießlich. – Sehr froh darüber, dass alles ersprießlich läuft, stellte Herr Goljadkin den Spiegel zurück, während er selbst, ohne Rücksicht darauf, dass er barfuß war und jenen Aufzug trug, in dem er für gewöhnlich zu ruhen pflegte, zum Fenster eilte und mit den Augen emsig den Hof zu durchspähen begann. Das, was er im Hof dann erspäht hatte, befriedigte ihn sichtlich ganz und gar; sein Gesicht erstrahlte selbstgefällig. Darauf – doch zunächst einmal sah er hinter die Trennwand nach seinem Kammerdiener Petruschka, um sich zu vergewissern, dass Petruschka abwesend war – näherte er sich auf Zehenspitzen dem Tisch, schloss eine der Schubladen auf, durchwühlte den allerfernsten Winkel der Schublade, holte letztendlich unter den alten vergilbten Briefen und irgendwelchem Krimskrams eine grüne abgeschabte Brieftasche hervor, öffnete diese vorsichtig und blickte behutsam und voller Wonne in deren tiefstes verborgenes Fach. Offenbar blickte das Päckchen aus grünen, grauen, blauen, roten und auch sonstigen bunten Scheinen[2] Herrn Goljadkin ebenfalls freundlich und wohlwollend an: Mit strahlender Miene legte er die offene Brieftasche vor sich auf den Tisch und rieb sich die Hände zum Ausdruck des allergrößten Vergnügens. Letztendlich holte er es hervor, sein tröstliches Päckchen staatlicher Banknoten, und obzwar er sie seit dem gestrigen Tag bereits an die hundertmal gezählt hatte, begann er –, sie abermals durchzuzählen, wobei er jedes einzelne Blatt mit Sorgfalt zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. – Sieben-hundert-und-fünfzig Rubel in Banknoten! –, schloss er halb flüsternd. – Sieben-hundert-und-fünfzig Rubel … ein stolzes Sümmchen! Das ist ein recht possierliches Sümmchen! Gern hätte ich jetzt einen Menschen gesehen, dem dies Sümmchen ein nichtiges Sümmchen schiene! Solch ein Sümmchen kann einen Menschen wohl weit führen … Wäre ja kurios zu erfahren, wohin solch ein Sümmchen, nur zum Exempel, einmal mich selbst führen könnte –, schloss Herr Goljadkin, – wenn ich, zum Exempel, einfach mal so, aus diversen Beweggründen, mich womöglich beurlauben ließe und auf die Weise gänzlich ohne etwaige Einkünfte bliebe? – Diese denkwürdige Frage stellte sich Herr Goljadkin und versank in tiefernstes Grübeln. An dem Puncto halten wir es für angebracht, eine kleine Absonderlichkeit Herrn Goljadkins ganz en passant[3] festzustellen. Es ist nämlich so, dass er es überaus liebte, in Bezug auf sich selbst von Zeit zu Zeit gewisse romanhafte Designationen zu treffen; er liebte es, sich selbst zum Heroen eines höchst ergötzlichen Romans zu deklarieren, sich in Gedanken in allerhand Kabale und Heimtücke zu verstricken und sich letztendlich aus jeder Bredouille mit Ehr und Ruhm herauszuführen, dabei alle Barrieren zu überwinden, alle Kabale aus dem Weg zu räumen und seinen Widersachern gütiglichst zu vergeben. Aus seinen Betrachtungen zurückgekehrt, tat Herr Goljadkin mit einer ernsten und bedeutungsschwangeren Miene sein Geld in die Brieftasche, die Brieftasche in die Schublade, an die alte Stelle, und sah auf die Uhr. Die Uhr schickte sich an zu schlagen. Es war Punkt acht Uhr.

– Aber, aber, was ist denn das? –, dachte Herr Goljadkin. – Wo bleibt Petruschka? – Noch immer denselben Aufzug tragend, blickte er erneut hinter die Trennwand. Und wieder war hinter der Trennwand von Petruschka nicht die leiseste Spur, hitzig und ganz und gar außer sich war einzig der Samowar dort am Boden, der unentwegt fortzulaufen drohte und glühend vor Zorn nur pausenlos brabbelte, in lispelndem stammelndem Kauderwelsch an Herrn Goljadkin gewandt, so als wollte er sagen: Ihr lieben Leute, bitte, nehmt mich, ich bin doch schon längst am Siedepunkt.

– Den Teufel aber auch! –, dachte Herr Goljadkin. – Diese faule Bestie kann einen Menschen wirklich außer sich bringen, wo steckt er denn bloß? – In seinem mehr als gerechten Zorn betrat er den kleinen Korridor, an dessen Ende sich ein Türchen hin zur Diele befand, schob dieses Türchen einen Spalt breit auf und erblickte seinen Bediensteten, umringt von allerhand Domestiken und lauter dahergelaufenem Volk. Petruschka gab da etwas zum Besten, die anderen hingen wie gebannt an seinen Lippen. Weder das Gesprächsthema noch das Gespräch selbst waren nach Herrn Goljadkins Geschmack. Er rief Petruschka auf der Stelle zu sich und ging in sein Zimmer, missgelaunt, ja verstimmt. – Diese Bestie hat keinerlei Skrupel, einen Menschen mit Haut und Haar zu verkaufen, und am ehesten noch seinen gnädigen Herrn –, dachte er im Stillen, – und hat es auch schon, und hat es auch schon, so wahr ich hier stehe, ja, hat mich mit Haut und Haar verkauft. Nun, was gibt es?

– Die Livree ist gebracht worden, Herr.

– Dann zieh sie an und sieh zu, dass du herkommst.

Nachdem er die Livree angezogen hatte, betrat Petruschka mit blödsinnigem Lächeln das Zimmer seines gnädigen Herrn. Kostümiert war er geradezu hanebüchen. Er trug eine grüne, stark abgenutzte Lakaienlivree mit goldenen, aber bereits absplitternden Tressen, vermutlich für einen Menschen genäht, der Petruschka um einiges überragte. In der Hand einen Hut, ebenfalls mit Tressen und grünen Federn, und an der Seite einen Lakaiendegen mit lederner Scheide. Letztendlich, um das Bild abzurunden und seiner Lieblingsgewohnheit zu frönen, stets häuslich leger im Negligé zu wandeln, war Petruschka auch jetzt barfüßig. Herr Goljadkin musterte Petruschka rundum und war, wie es schien, überaus zufrieden. Ganz offensichtlich war die Livree ausgeborgt, und zwar zu einem festlichen Anlass. Des Weiteren fiel befremdlich auf, dass Petruschka während der gesamten Musterung den Gnädigen mit einem auf seltsame Weise erwartungsvollen Blick beäugte und mit höchst ungewöhnlicher Neugier dessen noch so geringsten Bewegungen folgte, was bei Herrn Goljadkin für äußerste Konfusion sorgte.

– Und was ist mit dem Wagen?

– Der Wagen steht bereit.

– Für den ganzen Tag?

– Jawohl. Fünfundzwanzig Scheine.

– Und die Stiefel sind gebracht?

– Die Stiefel sind gebracht.

– Sind gebracht, gnädiger Herr! Verstanden, du Schafskopf? Los, gib sie her.

Seine Freude zum Ausdruck gebracht habend darüber, dass die Stiefel gut passten, geruhte Herr Goljadkin, nun Tee zu trinken, sich frischzumachen und zu rasieren. Er rasierte sich mit äußerster Sorgfalt, machte sich mit demselben Eifer frisch, schlürfte auf die Schnelle etwas Tee und schritt dann über zum Allerwichtigsten – zu seiner Ankleidezeremonie: Als Erstes schlüpfte er in eine Hose, die beinahe absolut neuwertig war; legte sich dann ein Chemisett mit kleinen Bronzeknöpfen an, als Nächstes eine Weste mit schrillen hübschen Blümchen; um den Hals knüpfte er sich ein buntes Seidentuch, zuletzt zog er seinen Uniformrock an, ebenfalls nagelneu und gründlich gereinigt. Beim Ankleiden schielte er wiederholt voller Liebe auf seine Stiefel, hob allaugenblicklich mal den einen, mal den anderen Fuß, weidete sich an der Façon und murmelte unentwegt etwas vor sich hin und würdigte seine Grübeleien hin und wieder mit zwinkernden expressiven Grimassen. Im Übrigen aber war Herr Goljadkin an diesem Morgen mehr als zerstreut, sonst hätte er nämlich die grinsenden Grimassen Petruschkas bemerkt, der ihm beim Ankleiden geholfen hatte, Grimassen, die ganz allein ihm gegolten. Als alles so war, wie es sich gehört, und die Toilette erfolgreich komplettiert, steckte Herr Goljadkin die Brieftasche in seine Uniform, bewunderte zum letzten Mal Petruschka, der bereits seine Stiefel angezogen hatte und somit ebenfalls fertig zum Ausgehen war, stellte fest, dass nichts mehr zu tun wäre und es sich nicht lohnte, noch länger zu warten, und trippelte hurtig, in aller Eile und mit verhaltenem Herzklopfen seine Haustreppe hinunter. Ein azurner Wagen mit irgendwelchen Wappen rollte polternd vor die Eingangstüre. Petruschka zwinkerte dem Kutscher und einigen Stutzern auf der Straße zu, half dem Gnädigen, Platz zu nehmen, und mit einer gestelzten Stimme und sein blödsinniges Lachen kaum noch zurückhaltend, rief er »Und los!«, sprang hinten auf den Tritt, und das Ganze rollte nun mit Gedröhn und Gepolter, mit Schall und Geratter Richtung Newski Prospekt. Sobald der azurne Wagen durchs Tor gefahren war, rieb sich Herr Goljadkin krampfhaft die Hände und zuckte vor leisem kaum hörbarem Lachen, wie eine lustige Person, der es gelungen ist, einen Streich zu spielen, und die darob quietschvergnügt ist. Aber schon bald nach dem Lachanfall wich das Lachen irgendeinem seltsam kummervollen Ausdruck in Herrn Goljadkins Gesicht. Ungeachtet der feuchten und grauen Jahreszeit, öffnete er beide Wagenfenster und begann, emsig die Passanten rechts und links zu studieren, nahm jedoch eine solide und würdevolle Haltung an, sobald er bemerkte, dass jemand ihn ansah. An der Ecke der Litejnaja und des Newski Prospekts zuckte er zusammen, da ihn ein höchst verdrießliches Gefühl beschlich, und mit verzerrtem Gesicht, wie ein Unglücklicher, dem jemand auf ein Hühnerauge getreten, rutschte er eilig, gar verängstigt in den dunkelsten Winkel seines Wagens. Er war nämlich zwei Kollegen begegnet, zwei jungen Beamten bei just jener Behörde, in welcher er selbst zu dienen die Ehre hatte. Die Beamten, so schien es Herrn Goljadkin, waren ihrerseits höchst irritiert, ihren Mitgenossen auf die Art zu treffen; einer von ihnen zeigte sogar mit dem Finger in Richtung Herrn Goljadkins. Herrn Goljadkin kam es sogar vor, als würde der andere ihn lautstark beim Namen rufen, was sich verständlicherweise auf der Straße keineswegs schickt. Unser Held saß geduckt und erwiderte nichts. – Wie zwei Pennäler! –, begann er zu sich selbst. – Was wäre denn daran so staunenswert? Ein Mensch in einer Equipage; ein Mensch bedarf einer Equipage, also mietet er sich eine Equipage. Was für ein Gesindel! Ich kenne sie bestens – zwei Pennäler, die eine kräftige Tracht Prügel brauchten! Im Dienst, da spielen sie Kopf oder Zahl und treiben sich ansonsten weiß Gott wo herum, tja, das ist wohl ihr Lebenszweck. Würde denen mal gerne ein Wörtlein raunen, doch sei’s drum … – Herr Goljadkin hielt inne und fuhr zusammen. Ein flottes Paar von Tatarenstuten, die Herr Goljadkin nur zu gut kannte, eingespannt an eine Prachtkarosse, überholte rechts seine Equipage. Der Herr, der sich in der Karosse befand, erblickte durch Zufall das Gesicht Herrn Goljadkins, der seinen Kopf, ach, zu unvorsichtig aus dem Wagenfenster hinausschob, und war offensichtlich nicht minder erstaunt ob solch eines unerwarteten Treffens, er beugte sich vor, so gut es ging, und begann, mit der denkbar größten Neugierde und Anteilnahme in jenen Winkel des Wagens zu schauen, wo unser Held sich rasch zu verstecken anschickte. Der Herr in der Karosse war Andrej Filippowitsch, der Abteilungsleiter in jener Behörde, in welcher auch Herr Goljadkin diente, und zwar in der Eigenschaft als Gehilfe des Tischvorstehers. Herr Goljadkin begriff, dass Andrej Filippowitsch ihn nun ganz und gar erkannt hatte, ihn mit großen Augen fixierte und es vor ihm kein Entrinnen gab, und lief rot an bis an die Ohrenspitzen. – Sich verneigen oder nicht? Ihn grüßen oder nicht? Sich zu erkennen geben oder nicht? –, dachte unser Held in unbeschreiblicher Wehmut. – Oder so tun, als sei ich ein anderer, welcher mir zum Verwechseln ähnlich sieht, sich so verhalten, als ob nichts wäre? Eben nicht ich, nicht ich, und Punctum! –, sagte Herr Goljadkin und zog seinen Hut vor Andrej Filippowitsch, den er unverwandt anstarrte. – Es ist rein gar nichts –, flüsterte er mit aller Kraft, – es ist rein gar nichts, ich bin’s jedenfalls nicht, Andrej Filippowitsch, das bin wirklich nicht ich, nicht ich, und Punctum. – Doch schon bald überholte die Karosse den Wagen, und der Magnetismus der höhergestellten Augen ließ bei Herrn Goljadkin letztendlich nach. Doch er war immer noch rot, grinste und murmelte etwas vor sich hin … – Ich Narr hätte auch etwas erwidern können –, dachte er letztendlich: – Ich hätte auch einfach mit Beherztheit und Freimut, welche nicht ohne gewisse Noblesse, antworten können: Tja, Andrej Filippowitsch, so schaut es aus, bin nämlich auch zum Diner geladen, und Punctum! – Da fiel unserem Helden plötzlich was ein und sogleich fing er Feuer, runzelte die Brauen und warf einen fürchterlichen kämpferischen Blick in den vorderen Winkel des Wagens, einen Blick, der einzig dazu bestimmt, auf einen Schlag all die Feinde niederzubrennen. Doch letztendlich, wie in plötzlicher Eingebung, zog er die Schnur, die am Ellenbogen des Kutschers befestigt war, ließ den Wagen halten und befahl, zurück zur Litejnaja zu fahren. Herr Goljadkin verspürte nämlich auf einmal, vermutlich zum Zwecke des inneren Friedens, die dringende Notwendigkeit, seinem Hausarzt, Christian Iwanowitsch, unverzüglich etwas höchst Denkwürdiges mitzuteilen. Und obzwar er Christian Iwanowitsch noch nicht sonderlich lange kannte, ihn vielmehr erst einmal in der vorigen Woche aufgrund gewisser Umstände aufgesucht hatte, wäre dennoch ein Arzt, wie es immerzu heißt, beinahe so etwas wie ein Beichtvater – sich zu verstecken, wäre dumm, und es zählt ja ohnehin zu seinen Aufgaben, den Patienten gründlich zu kennen. – Aber wird das auch alles statthaft sein? –, dachte unser Held und stieg aus dem Wagen vor dem Eingang eines vierstöckigen Hauses auf der Litejnaja, wo er seine Equipage hatte anhalten lassen. – Wird das auch alles statthaft sein? Ehrenhaft sein? Passend sein? Aber was soll’s –, setzte er fort, während er die Stufen hinaufstieg, nach Luft schnappte und das Pochen des Herzens zu unterdrücken versuchte, welches die Angewohnheit hatte, auf allen fremden Treppen zu pochen; – was soll’s? Es ist allein meine Angelegenheit und daran ist wahrlich nichts Ungebührliches … nein, wahrlich nicht, meiner Ansicht nach. Sich zu verstecken, wäre dumm. Nun, ich will es auf folgende Weise tun, will sagen, nein, es ist rein gar nichts, ich war bloß in der Nähe … Schon sieht er ein, dass alles seine Richtigkeit habe.

Mit derlei Gedanken stieg Herr Goljadkin in den ersten Stock und blieb vor der Wohnung Numero fünf stehen, deren Tür ein famoses Messingschild zierte:

Christian Iwanowitsch Rutenspitz

Doktor der Medizin und der Chirurgie

Unser Held blieb stehen und beeilte sich, seiner Physiognomie einen respektablen, lässigen und durchaus freundlichen Ausdruck zu verleihen, und schickte sich an, die Klingelschnur zu betätigen. Er schickte sich an, die Klingelschnur zu betätigen, und dachte augenblicklich und auch äußerst zutreffend, morgen wäre es sicherlich sehr viel sinnvoller, jetzt bestünde doch gar keine echte Notwendigkeit, eigentlich gar keine echte Notwendigkeit. Doch da vernahm Herr Goljadkin plötzlich fremde Schritte im Treppenhaus und änderte schlagartig seinen jüngsten Entschluss und betätigte, einfach so, en passant, freilich mit recht entschlossner Miene, die Klingelschnur an der Wohnungstür seines Hausarztes Christian Iwanowitsch.

Inhaltsverzeichnis

Zweites Hauptstück

Die Weise, wie Herr Goljadkin die Praxis von Christian Iwanowitsch betritt. Worüber genau er sich mit ihm unterhält; wie er daraufhin rührselig wird; wie er daraufhin glaubhaft beweist, dass er über einige sogar recht bedeutsame Tugenden verfüge, welche im Leben eines Menschen beizeiten überaus nützlich sein könnten, und dass manche Zeitgenossen die Fähigkeit besäßen, einem mal was aufs Brot zu schmieren, wie es die Redensart besagt; wie er letztendlich darum bittet, sich empfehlen zu dürfen, und, alsbald ihm dies gewährt wird, hinaustritt und Christian Iwanowitsch in größter Verwunderung zurücklässt. Herrn Goljadkins Ansichten über Christian Iwanowitsch.

Der Doktor der Medizin und der Chirurgie Christian Iwanowitsch Rutenspitz – ein kerngesunder, wenn auch älterer Deutscher, begabt mit dichten ergrauten Brauen, einem buschigen Backenbart, einem ausdrucksvollen feurigen Blick, mit welchem er allein schon ganz offensichtlich alles Siechtum verscheuchte, und letztendlich auch mit einem gewichtigen Orden – saß an diesem Morgen in seinem Kabinett, in einem geruhsamen Fauteuil, trank den Kaffee, den ihm die Frau Doktor eigenhändig serviert hatte, rauchte eine Zigarre und verschrieb von Zeit zu Zeit seinen Patienten ein paar Rezepturen. Nach dem letzten Fläschchen, welches er einem greisen Väterchen verschrieben, dem die Hämorrhoiden zu schaffen machten, geleitete Christian Iwanowitsch das Väterchen zur Seitentür, nahm wieder Platz und wartete daselbst auf den nächsten Besucher. Herein trat unser Herr Goljadkin.

Ganz offenbar hatte Christian Iwanowitsch Herrn Goljadkin weder erwartet noch sonderlich zu empfangen gewünscht, denn auf einmal wurde er kurz verlegen und zeigte auf seinem Gesicht spontan einen seltsamen, um nicht zu sagen unzufriedenen Ausdruck. Weil Herr Goljadkin seinerseits fast immer auf geradezu unpassende Weise jede Orientierung verlor in just den Momenten, da er im Interesse seiner eigenen Unternehmungen jemanden zu abordieren[4] hatte, und auch jetzt keine gute Einstiegsphrase parat hatte, die für ihn jedes Mal ein echter Stolperstein war, wurde er regelrecht konfus, brachte etwas murmelnd hervor – immerhin womöglich eine Entschuldigung –, und unschlüssig, was zu tun sei, ergriff er einen Stuhl und nahm Platz. Doch als ihm auffiel, dass er Platz genommen, ohne eingeladen worden zu sein, und er fühlte, dies sei doch recht ungehörig, beeilte er sich, seinen Fauxpas, welcher in der Unkenntnis der feinen Welt und ihrer Gepflogenheiten bestand, zu berichtigen, und erhob sich sogleich vom Platz, den er ohne Einladung eingenommen. Dann besann er sich wieder und sah, wenn auch vage, seine zwei auf einmal begangenen Dummheiten und entschloss sich sogleich zu einer dritten, das heißt, er versuchte, sich zu rechtfertigen, brachte etwas stammelnd und grinsend hervor, lief rot an, wurde konfus, schwieg eine Weile bedeutungsvoll und setzte sich letztendlich hin, diesmal, ohne sich wieder zu erheben, wappnete sich jedoch für alle Fälle mit jenem kämpferischen Blick, der die unfassbare Macht besaß, in Gedanken sämtliche Feinde Herrn Goljadkins niederzubrennen und in Schutt und Asche zu legen. Darüber hinaus drückte dieser Blick die Unabhängigkeit Herrn Goljadkins aus, das heißt, er sagte in aller Deutlichkeit, es sei rein gar nichts, er sei sein eigener Herr, auf jeden Fall gehe ihn schier gar nichts an. Christian Iwanowitsch räusperte sich, krächzte, offenbar zum Zeichen seines Einverständnisses mit alldem, und richtete seinen forschenden Inspektorenblick auf Herrn Goljadkin.

– Christian Iwanowitsch –, begann Herr Goljadkin mit einem Lächeln, – ich komme zu Ihnen, um Sie ein weiteres Mal zu belästigen, und erlaube mir, Sie ein weiteres Mal um Nachsicht zu bitten … –, offenbar fiel es Herrn Goljadkin schwer, die passenden Worte zu finden.

– Hmm … ja! –, sagte Christian Iwanowitsch, ließ etwas Rauch aus dem Mund entweichen und legte die Zigarre auf den Tisch, – doch Sie sollten sich halten an die Instruktionen; ich habe es Ihnen auseinandergesetzt, das letzte Mal auseinandergesetzt; wovon Sie sollten Gebrauch machen, ist der Wandel Ihrer Gewohnheiten … Als da wäre etwas Amusement; als da wäre Freunde und Bekannte besuchen und bei alldem kein Feind sein der Flasche; sich stets halten an die heitere Gesellschaft.

Herr Goljadkin, noch immer lächelnd, beeilte sich darauf zu bemerken, er glaube, er sei wie all die anderen, sein eigener Herr, und seine Vergnügungen glichen auch jenen von all den anderen … so könne er natürlich ins Theater fahren, denn er habe auch Mittel wie all die anderen, also tagsüber, da sei er beim Dienst, des Abends aber bei sich daheim, es sei also rein gar nichts; en passant bemerkte er sogar, er sei wohl nicht schlechter als all die anderen, er wohne daheim, in seiner Wohnung, und letztendlich habe er auch den Petruschka. Doch da verlor Herr Goljadkin den Faden.

– Hmm, nein, diese Instruktion ist es nicht, ich wollte Sie fragen etwas ganz anderes. Eigentlich interessiert es mich zu wissen, ob Sie sind ein Freund der heiteren Gesellschaft, ob Sie heiter verbringen Ihre Zeit? … Also ob Sie weiter führen Ihren melancholischen Lebenswandel?

– Nun, Christian Iwanowitsch …

– Hmm, ich sage –, unterbrach ihn der Arzt, – dass Sie sollten haben eine von Grund auf erfolgte Umwandlung Ihres ganzen Lebens, im gewissen Sinne umkrempeln Ihren gesamten Charakter. (Christian Iwanowitsch setzte einen Akzent auf das Wort »umkrempeln« und schwieg darauf eine Minute lang mit vielsagendem Gesichtsausdruck.) Nicht fernbleiben dem heiteren Leben; besuchen Schauspiele und Klubs, auf gar keinen Fall ein Feind sein der Flasche. Zuhause bleiben ist verkehrt … zu Hause bleiben ist nichts für Sie.

– Wissen Sie, Christian Iwanowitsch, ich liebe meine Ruhe –, sprach Herr Goljadkin und warf Christian Iwanowitsch einen bedeutsamen Blick zu, wobei er sichtlich nach Worten suchte, um seinen Gedanken besser zu umreißen, – in meiner Wohnung, da sind nur ich und Petruschka … will sagen, mein Diener, Christian Iwanowitsch. Ich will sagen, Christian Iwanowitsch, ich gehe meinen Weg, Christian Iwanowitsch, meinen eigenen Weg, Christian Iwanowitsch. Bin nämlich recht eigen und, wie ich meine, von niemandem sonst abhängig. Ich gehe auch spazieren, Christian Iwanowitsch.

– Wie? … Ach ja! Aber jetzt gehen spazieren ist keine schöne Angelegenheit; ein höchst ungutes Klima dafür.

– Tja, Christian Iwanowitsch. Obzwar ich, Christian Iwanowitsch, ein äußerst friedliebender Mensch bin, wovon ich, sofern ich mich entsinne, zu berichten bereits die Ehre hatte, liegt doch mein Weg abseits von anderen, Christian Iwanowitsch. Der Weg ist breit[5] … Ich will … ich will, Christian Iwanowitsch, damit sagen … Verzeihen Sie mir, Christian Iwanowitsch, bin nicht sonderlich redegewandt.

– Hmm … dann reden Sie also davon …

– Ich rede davon, Sie mögen mir verzeihen, Christian Iwanowitsch, denn wie mir scheint, bin ich nicht sonderlich redegewandt –, sprach Herr Goljadkin leicht gekränkt, ein wenig verwickelt und verwackelt. – In dieser Hinsicht, Christian Iwanowitsch, bin ich nicht wie all die anderen –, fügte er hinzu mit einem irgendwie eigentümlichen Lächeln, – nein, ich kann nicht so viel reden; und hab’s nie gelernt, eloquent zu sein. Umso mehr bin ich beherzt, Christian Iwanowitsch; umso mehr bin ich beherzt, Christian Iwanowitsch!

– Hmm … Inwiefern … Sie sind beherzt? –, entgegnete Christian Iwanowitsch. Darauf folgte eine kurze Weile Schweigen. Der Doktor betrachtete Herrn Goljadkin irgendwie seltsam und misstrauisch. Herr Goljadkin schielte auch seinerseits misstrauisch zum Doktor hinüber.

– Wissen Sie, Christian Iwanowitsch –, ergriff Herr Goljadkin wieder das Wort und sprach immer noch in demselben Ton, ein wenig gereizt und stutzig geworden über so viel Starrsinn bei Christian Iwanowitsch, – wissen Sie, Christian Iwanowitsch, ich liebe die Ruhe und hasse den Trubel. Dort, ich meine, in der feinen Gesellschaft, Christian Iwanowitsch, bedarf es der Fähigkeit, das Parkett mit den Stiefeln glattzubohnern … (an dieser Stelle machte Herr Goljadkin einen kleinen Kratzfuß auf dem Fußboden), sowas ist dort gefragt, sofern’s beliebt, auch Esprit ist gefragt … ein blumiges Kompliment muss auf die Schnelle gedrechselt sein können, sofern’s beliebt … sowas ist dort gefragt. Aber ich, Christian Iwanowitsch, habe so etwas nie gelernt, habe all die Finessen nie gelernt; hatte nie die Zeit dazu, Christian Iwanowitsch. Nun ja, bin aus einfachem Holz geschnitzt, hab keinen eitlen Glanz an mir. Weswegen ich, Christian Iwanowitsch, all meine Waffen niederlege; ich gebe mich geschlagen, im nämlichen Sinne. – All das äußerte Herr Goljadkin selbstverständlich mit einem Ausdruck, der klar und deutlich zu verstehen gab, dass es unserem Helden überhaupt nicht leidtäte, seine Waffen im nämlichen Sinne niederzulegen und all die Finessen nie gelernt zu haben, es tat ihm nicht leid, ganz im Gegenteil. Christian Iwanowitsch lauschte gebannt, blickte zu Boden mit einer schiefen Grimasse, so als würde er etwas ahnen. Auf Herrn Goljadkins Tirade folgte ein langes und beredtes Schweigen.

– Mir scheint, Sie sind etwas abgeschweift –, sagte letztendlich Christian Iwanowitsch mit gedämpfter Stimme, – ich muss gestehen, ich kann Sie nicht verstehen absolut.

– Bin nicht sonderlich redegewandt, Christian Iwanowitsch; ich hatte schon die Ehre, Ihnen Entsprechendes mitzuteilen, bin nicht sonderlich redegewandt –, sagte Herr Goljadkin, diesmal in einem schroffen und entschlossenen Ton.

– Hmm …

– Christian Iwanowitsch! –, nahm Herr Goljadkin das Gespräch wieder auf mit einer leisen, doch eindringlichen Stimme, bisweilen ein wenig hochtrabend, und verharrte bei jedem einzelnen Punkt. – Christian Iwanowitsch! Als ich eintrat, begann ich mit einer Entschuldigung. Nun wiederhole ich es noch einmal und bitte Sie kurzzeitig um Nachsicht. Ich habe vor Ihnen, Christian Iwanowitsch, ja überhaupt nichts zu verbergen. Bin ein unbedeutender Mensch, das wissen Sie auch selbst; jedoch zum Glück bedaure ich es nicht, ein unbedeutender Mensch zu sein. Ganz im Gegenteil, Christian Iwanowitsch; ich sage es sogar freiheraus, ich bin stolz darauf, dass ich kein bedeutender, vielmehr ein unbedeutender Mensch bin. Kein Ränkeschmied – und auch darauf bin ich stolz. Nie brüte ich heimlich etwas aus, sondern tue alles offen und ohne Tücke, und das, obwohl ich meinerseits manchem durchaus schaden könnte, ja, sogar erheblich schaden könnte, ich wüsste auch, wem und vor allem, wie, Christian Iwanowitsch, doch ich mag all den Schmutz nicht, darum wasche ich meine Hände in Unschuld in dem nämlichen Sinne, Christian Iwanowitsch! – Herr Goljadkin hielt für einen Augenblick inne; seine Worte waren voll stiller Inbrunst.

– Ich wandele, Christian Iwanowitsch –, setzte unser Held seine Rede fort, – ohne Wanken, ohne Versteckspiele, auch nicht auf etwaigen Schleichwegen, die ich verabscheue und die ich getrost all den anderen überlasse. Ich trachte auch nicht danach, all jene zu verletzen, die vielleicht besser sind als Sie und ich … will sagen, besser sind als ich und die, Christian Iwanowitsch, als ich und die. Mag keine vagen Andeutungen; mag keine schäbigen Janusköpfe; verabscheue Verleumdung wie auch Klatsch und Tratsch. Eine Larve trage ich zu Karneval und nicht im Alltag vor all den Leuten. Ich hätte da eine Frage an Sie, Christian Iwanowitsch, wie würden Sie sich an einem Feind rächen, an einem Erzfeind – an jemandem, den Sie für einen solchen halten? –, schloss Herr Goljadkin und richtete dabei seinen kämpferischen Blick auf Christian Iwanowitsch.

Zwar verkündete Herr Goljadkin dies in aller Schärfe, Gewissheit und Klarheit, die Worte wägend und in Vorfreude auf eine unübertroffene Wirkung, und dennoch sah er dabei mit Sorge, mit einiger Sorge, mit äußerster Sorge Christian Iwanowitsch unverwandt an. Er war ganz Ohr und wartete bang, mit peinlicher, nagender Ungeduld auf die Antwort von Christian Iwanowitsch. Doch zum größten Staunen Herrn Goljadkins murmelte Christian Iwanowitsch bloß irgendetwas vor sich hin; dann rückte er seinen Fauteuil an den Tisch und erklärte recht trocken, aber dennoch höflich etwas wie, er habe jetzt gar keine Zeit, er könne ihm auch irgendwie nicht wirklich folgen; er sei aber ansonsten durchaus bereit, ihm im Rahmen seiner Möglichkeiten behilflich zu sein, halte sich aber aus allem Übrigen, welches ihn nichts angehe, brav heraus. Er griff zur Feder, nahm ein Blatt Papier, faltete es auf Onkel-Doktor-Art und erklärte, er werde ihm etwas verschreiben, was er im Augenblick für nötig erachte.

– Nein, nicht nötig, Christian Iwanowitsch! Nein, wenn’s beliebt, das ist gar nicht nötig! –, stammelte Herr Goljadkin, stand auf und packte Christian Iwanowitsch am rechten Arm. – Das, Christian Iwanowitsch, ist jetzt gar nicht nötig …

Doch während Herr Goljadkin all dies sprach, geschah in ihm eine seltsame Wandlung. Seine grauen Augen erglänzten seltsam, seine Lippen erzitterten, alle Muskeln, alle Gesichtszüge rührten sich, gerieten in Bewegung. Er selbst zitterte am ganzen Leibe. Seiner ersten Anwandlung folgend und Christian Iwanowitschs Arm festhaltend, stand Herr Goljadkin nunmehr starr, so als habe er den Glauben an sich verloren und erwarte einen Wink für sein weiteres Handeln. Darauf folgte eine seltsame Szene. Der vor den Kopf gestoßene Christian Iwanowitsch schien kurz an seinen Sitz festgewachsen und schaute vor lauter Konfusion Herrn Goljadkin mitten in die Augen, der seinerseits ihm in die Augen schaute. Letztendlich erhob sich Christian Iwanowitsch, wobei er sich am Revers von Herrn Goljadkins Uniform festhielt. Einige Sekunden lang standen die beiden regungslos da, ohne den Blick voneinander zu wenden. Aber auch diese zweite Anwandlung des Herrn Goljadkin entlud sich schließlich auf eine schier verblüffende Weise. Seine Lippen erbebten, das Kinn zuckte, und unser Held weinte auf einmal los. Er schluchzte, wackelte mit dem Kopf, schlug mit der Rechten gegen die Brust, während er sich mit der Linken seinerseits am Revers von Christian Iwanowitsch festhielt, er schickte sich an, etwas zu sagen, etwas sogleich richtigzustellen, brachte aber keinen Satz zustande. Letztendlich gelang es Christian Iwanowitsch, wieder aus dem Staunen herauszukommen.

– Ist ja gut, bitte, nur keine Aufregung, so setzen Sie sich doch! –, sprach er letztendlich und bemühte sich, Herrn Goljadkin zum Platznehmen zu bewegen.

– Ich habe Feinde, Christian Iwanowitsch, ich habe Feinde; ich habe arglistige Feinde, die geschworen haben, mich zu vernichten … –, erwiderte Herr Goljadkin mit bangem Flüstern.

– Ist ja gut, ist ja gut; lassen Sie die Feinde! Sie sollten sofort vergessen Ihre Feinde! Die sind absolut unnötig. So setzen Sie sich doch, setzen Sie sich –, redete Christian Iwanowitsch weiter und sorgte dafür, dass Herr Goljadkin nun letztendlich Platz nahm. Herr Goljadkin nahm nun letztendlich Platz, ohne seine Augen von Christian Iwanowitsch abzuwenden. Christian Iwanowitsch begann mit sehr gereiztem Ausdruck, im Kabinett von einer Ecke zur anderen zu schreiten. Darauf folgte ein langes Schweigen.

– Ich bin Ihnen dankbar, Christian Iwanowitsch, mehr als dankbar und fühle genau, was Sie für mich soeben getan haben, Christian Iwanowitsch. Bis ans Grab werde ich Ihrer Sanftmut gedenken, Christian Iwanowitsch –, sagte letztendlich Herr Goljadkin und erhob sich mit beleidigter Miene.

– Ist ja gut, ist ja gut! Ich sage Ihnen, ist ja gut! –, reagierte im strengen Ton Christian Iwanowitsch auf den jüngsten Streich Herrn Goljadkins und veranlasste ihn abermals, Platz zu nehmen.

– Nun, was haben Sie denn? Nun erzählen Sie schon, was Sie da haben für Unannehmlichkeiten –, setzte Christian Iwanowitsch fort, – und von welchen Feinden Sie reden? Was nun soll das alles sein?

– Nein, Christian Iwanowitsch, lassen wir das lieber bewenden –, antwortete Herr Goljadkin und blickte zu Boden, – legen wir das jetzt lieber beiseite, die Zeit wird kommen … die rechte Zeit, Christian Iwanowitsch, die passende Zeit, wenn nämlich alles aufgedeckt wird, von gewissen Personen die Larve fällt und sich gar manches hüllenlos zeigt. Aber jetzt, gewiss doch, nach alledem, was uns widerfahren ist, Christian Iwanowitsch, ich meine, Sie wissen es ohnehin besser … bin ich so frei, Christian Iwanowitsch, und wünsche Ihnen einen schönen guten Morgen –, sagte Herr Goljadkin, erhob sich diesmal fest entschlossen und griff nach dem Hut.

– Nun … wie Sie wünschen … hmm … (Es folgte minutenlanges Schweigen.) Ich meinerseits, Sie wissen, ich kann … ich wünsche Ihnen aufrichtig alles Gute.

– Ich verstehe Sie, Christian Iwanowitsch, ich verstehe Sie; verstehe Sie ganz und gar … Auf jeden Fall bitte ich gütigst um Nachsicht, dass ich Sie gestört habe, Christian Iwanowitsch.

– Hmm … Nein, ich wollte etwas anderes Ihnen sagen. Doch ganz wie Sie wünschen. Dieselbe Arznei. Weiter fortsetzen …

– Ich werde die Arznei weiter fortsetzen, ganz wie Sie sagen, Christian Iwanowitsch, ich werde sie weiter fortsetzen und in derselben Apotheke bestellen … Neuerdings, Christian Iwanowitsch, ist es ja schon ehrenvoll, Apotheker zu sein …

– Wie? Sie meinen in welchem Sinne?

– In dem allergewöhnlichsten Sinne, Christian Iwanowitsch. Ich meine doch nur, dass die Welt sich in dieser Richtung entwickelt …

– Hmm …

– Und dass jeder Bursche, und nicht allein der Apothekerbursche, heutzutage vor einem anständigen Menschen recht hochnäsig auftreten kann.

– Hmm. Und wie meinen Sie das?

– Ich rede doch, Christian Iwanowitsch, von einem allseits bekannten Menschen … nämlich von unserem gemeinsamen Bekannten, Christian Iwanowitsch, wie zum Beispiel, nun, sagen wir mal, von Wladimir Semjonowitsch …

– Ah! …

– Jawohl, Christian Iwanowitsch; und ich kenne auch so einige Leute, Christian Iwanowitsch, die sich nicht allzu sehr um die öffentliche Meinung kümmern und manches Mal die Wahrheit sagen.

– Ah! … Und wie das?

– Ach, einfach so; aber das gehört nicht hierher; jedenfalls sind die Leute in der Lage, einem mal was aufs Brot zu schmieren.

– Wie denn das? Schmieren?

– Mal was aufs Brot, Christian Iwanowitsch; ist so eine Redensart. Die sind in der Lage, im rechten Moment einem Glückwünsche auszusprechen; es gibt solche Leute, Christian Iwanowitsch.

– Glückwünsche auszusprechen?

– Jawohl, Glückwünsche auszusprechen, Christian Iwanowitsch, wie jüngst ein guter Bekannter von mir …

– Ein guter Bekannter von Ihnen? … Wie das? –, brachte Christian Iwanowitsch hervor und musterte forschend Herrn Goljadkin.

– Jawohl, ein guter Bekannter von mir sprach einem anderen guten Bekannten, ach, was rede ich, einem lieben Kumpan, oder wie man es heute so schön sagt: einem herzallerliebsten Freund, das sei nur nebenbei bemerkt, Glückwünsche aus zu dessen neuem Amt, zu dem Amt eines Assessors. »Bin hocherfreut, Wladimir Semjonowitsch, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen, um Ihnen meine Glückwünsche auszusprechen, meine innigsten Glückwünsche zu Ihrer neuen Position. Und ich bin umso mehr erfreut, als ja heute, wie jeder weiß, keinem das Glück in die Wiege gelegt wird.« – Herr Goljadkin nickte schelmisch mit dem Kopf und zwinkerte Christian Iwanowitsch zu …

– Hmm. Das hat er also gesagt …

– Das hat er gesagt, Christian Iwanowitsch, das hat er gesagt und schaute dabei auch noch Andrej Filippowitsch an, den Onkel unseres Goldjungen, Wladimir Semjonowitsch nämlich. Doch was geht’s mich an, Christian Iwanowitsch, dass er Assessor geworden ist? Was geht’s mich an? Ach, und heiraten will er, wiewohl er, wenn’s zu sagen ziemt, noch ganz grün hinter den Ohren ist. Das hat er gesagt, genau so. Und dann noch: Nun ja, Wladimir Semjonowitsch! Hab alles gesagt; dürft ich jetzt gehen?

– Hmm …

– Ja, Christian Iwanowitsch, so frage auch ich, dürft ich jetzt gehen? Ach ja, und um zwei Fliegen mit einer Klatsche zu schlagen – kaum habe ich den Jungspund erledigt mit dem Satz vom Glück in der Wiege, wende ich mich an Klara Olsufjewna (vorgestern war es, bei Olsufij Iwanowitsch) – sie hatte nämlich soeben etwas Einfühlsames gesungen –, da sage ich ihr: »Sie haben soeben etwas Einfühlsames gesungen, aber lauschen tut man Ihnen nicht mit reinem Herzen«, sage ich. Und damit, Christian Iwanowitsch, gebe ich ihr klar zu verstehen, nicht sie sei der Lohn, sondern etwas viel Höheres …

– Ah! Und er? …

– Hat eine Kröte geschluckt, Christian Iwanowitsch, ist so eine Redensart.

– Hm …

– Tja, Christian Iwanowitsch, sofern’s beliebt. Das sage ich dann auch noch dem Alten selbst – ich sage, Olsufij Iwanowitsch, ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin, ich schätze auch Ihre Wohltaten, die Sie schon beinahe seit meiner Kindheit über mich ausgeschüttet haben. Aber betrachten Sie es einmal offenen Auges, Olsufij Iwanowitsch, sage ich. Schauen Sie doch. Ich gehe die Sache offen und ehrlich an, Olsufij Iwanowitsch.

– Ach so!

– Ja, so ist es, Christian Iwanowitsch …

– Und er?

– Je nun, was soll er schon tun, Christian Iwanowitsch! Er plappert nur etwas von dem und von dem, ich kenne dich doch, und Dero Exzellenz sind ein großer Wohltäter, und plätschert und plätschert, bis alles zu Sauce zerlaufen ist … Nun, was soll’s? Er ist, wie man so schön sagt, schon etwas vom Alter angeschlagen.

– Ah! So ist das nun also!

– Jawohl, Christian Iwanowitsch. So wird es uns allen schlussendlich ergehen! Allein, was macht dieser alte Knochen! Er steht schon mit einem Bein im Grab, wie man so schön sagt, doch kaum lassen die Weiber ihre Gerüchteküche brodeln, ist er gleich zur Stelle und lauscht und lauscht, wie sollte es auch ohne ihn vonstattengehen …

– Die Gerüchteküche, sagen Sie?

– Jawohl, Christian Iwanowitsch, die Gerüchteküche lassen sie brodeln. Unser Bär hat da auch seine Hand mit im Spiel, wie auch sein Neffe, unser Goldjunge; tun sich mit den alten Hexen zusammen, und schon nimmt die Chose ihren Lauf. Was glauben Sie, was die nicht alles ausgeheckt haben, um einen Menschen zu morden? …

– Einen Menschen morden?

– Jawohl, Christian Iwanowitsch, um einen Menschen zu morden, einen Menschen im moralischen Sinne zu morden. Schon lassen sie brodeln … ich rede ja immer noch von meinem guten alten Bekannten …

Christian Iwanowitsch nickte mit dem Kopf.

– Schon lassen sie brodeln die Gerüchteküche … Ich muss gestehen, ich schäme mich, es auch nur auszusprechen, Christian Iwanowitsch …

– Hmm …

– Schon lassen sie brodeln die Gerüchteküche, er habe sich bereits schriftlich verpflichtet, eine andere zu ehelichen, er sei bereits mit einer anderen verlobt … Und was glauben Sie, Christian Iwanowitsch, mit wem?

– Also bitte!

– Mit einer Köchin, einer übelst beleumundeten Deutschen, bei welcher er seine Speisen bestellt; anstatt all die Rechnungen zu begleichen, bietet er ihr fein hübsch seine Hand.

– Und das erzählen die?

– Ja, ist das zu glauben, Christian Iwanowitsch? Eine Deutsche, eine mickrige, schäbige, schamlose Deutsche, Karolina Iwanowna, falls sie Ihnen bekannt ist …

– Ich muss sagen, was mich anbetrifft …

– Ich verstehe Sie, Christian Iwanowitsch, ich verstehe Sie gut und fühle es auch selbst …

– Verraten Sie mir bitte, wo Sie jetzt wohnen?

– Wo ich jetzt wohne, Christian Iwanowitsch?

– Ja … ich möchte … ich meine, früher, wo haben Sie damals doch gleich gelebt …

– Jawohl, gelebt, Christian Iwanowitsch, ich habe gelebt, auch früher gelebt. Wie könnte ich auch plötzlich aufhören zu leben! –, antwortete Herr Goljadkin mit leisem Geschmunzel und machte mit dieser seiner Antwort Christian Iwanowitsch verlegen.

– Nein, Sie das haben falsch verstanden; ich wollte meinerseits …

– Und auch ich wollte, Christian Iwanowitsch, auch ich wollte meinerseits –, sprach Herr Goljadkin schmunzelnd weiter. – Indessen sehe ich, Christian Iwanowitsch, dass die Zeit schon merklich fortgeschritten ist. Ich hoffe doch sehr, Sie gestatten mir nun … Ihnen einen schönen guten Morgen zu wünschen …

– Hmm …

– Jawohl, Christian Iwanowitsch, ich verstehe Sie; ich verstehe Sie gut –, sagte unser Held etwas kokett zu Christian Iwanowitsch. – Also gestatten Sie mir nun, Ihnen einen schönen guten Morgen zu wünschen …

Da machte unser Held einen Kratzfuß und trat aus dem Zimmer, wobei er Christian Iwanowitsch in der denkbar größten Verwunderung zurückließ. Die Doktorentreppe hinabsteigend, lächelte er froh und rieb sich die Hände. Draußen schnappte er frische Luft und wähnte sich endlich in Freiheit, er war sogar bereit, sich in der Tat für den Glücklichsten unter den Sterblichen zu halten und daraufhin sogleich zum Dienst zu fahren – als plötzlich in der Einfahrt sein Wagen polterte; und da fiel ihm alles wieder ein. Petruschka öffnete bereits das Türchen. Irgendein merkwürdiges und höchst unangenehmes Gefühl beschlich Herrn Goljadkin und durchrieselte ihn vom Scheitel bis zur Sohle. Für einen Augenblick schien er rot anzulaufen. Irgendetwas stach ihn von innen. Eben schickte er sich an, seinen Fuß zu heben und auf den Wagentritt zu setzen, da hob er sein Gesicht und sah hinauf zum Fenster von Christian Iwanowitsch. Na bitte! Christian Iwanowitsch stand da am Fenster, strich sich mit der Rechten den Backenbart glatt und beäugte neugierig unseren Helden.

– Dieser Doktor ist dumm –, dachte Herr Goljadkin und verkroch sich in seinen Wagen, – und zwar wirklich unendlich dumm. Vielleicht kuriert er die Kranken gut, und dennoch … ist er dumm wie ein Klotz. – Herr Goljadkin machte es sich bequem, Petruschka rief »Los!«, und der Wagen rollte wieder einmal Richtung Newski Prospekt.

Inhaltsverzeichnis

Drittes Hauptstück

Welche exakte Summe es Herrn Goljadkin auszuhandeln gelingt und wieviel er anschließend tatsächlich zahlt. Was er daraufhin seinen beiden Kollegen vom Dienst auseinandersetzt. Worum es sich bei Herrn Goljadkins privatem und öffentlichem Leben handelt. Wie Herr Goljadkin letztendlich zu dinieren gedenkt, und zwar sans façon, wie es Männer von Welt zu sagen pflegen, und was am Ende aus alldem wird.

Diesen ganzen Morgen verbrachte Herr Goljadkin in furchtbarer Aufregung. Am Newski Prospekt angelangt, ließ unser Held am Gostiny Dwor[6] halten. Er sprang aus dem Wagen und lief, von Petruschka begleitet, in die Arkaden und daselbst gleich zum Gold- und Silbergeschäft. Ein einziger Blick auf Herrn Goljadkin genügte, um festzustellen, dass er vor Tatendrang barst und es ihm schier unter den Nägeln brannte. Er handelte ein komplettes Tafel- nebst einem kompletten Teeservice aus, für fünfzehnhundert Rubel in Banknoten, und für exakt die gleiche Summe eine Zigarrenkiste von absonderlicher Gestalt wie auch eine komplette silberne Rasiergarnitur für den Bart; nachdem er sich letztendlich nach dem Preis von einigen anderen in ihrer Art ergötzlichen und nützlichen Dingen erkundigt hatte, beendete Herr Goljadkin den Besuch, indem er versprach, bereits morgen unbedingt wiederzukommen oder vielleicht sogar heute noch das Ausgehandelte abholen zu lassen, er schrieb sich die Nummer des Ladens auf, widmete der Bitte des Händlers um eine klitzekleine Anzahlung seine gesammelte Aufmerksamkeit und beteuerte, es werde zur rechten Zeit schon eine klitzekleine Anzahlung geben. Er verabschiedete sich kurz angebunden von dem irritierten Händler und wandelte weiter den Gang entlang, mitsamt einem Schwarm von Ladenschwengeln, wandte sich ständig nach Petruschka um und suchte emsig nach weiteren Läden. Er flitzte unterwegs in eine Wechselstube hinein und wechselte große Scheine in kleinere, und obwohl er beim Wechseln Geld verlor, wechselte er dennoch, und seine Brieftasche wurde daraufhin um einiges praller, was ihm sichtlich Vergnügen bereitete. Letztendlich blieb er vor einem Geschäft für Damengarderobe stehen. Nachdem er auch hier für eine stattliche Summe Waren ausgehandelt hatte, versprach er auch hier, unbedingt wiederzukommen, schrieb sich die Nummer des Ladens auf und sagte auf die Frage nach einer klitzekleinen Anzahlung, es werde zur rechten Zeit eine klitzekleine Anzahlung geben. Dann suchte er noch weitere Läden auf; überall handelte er etwas aus, erkundigte sich nach den Preisen für verschiedene Gegenstände, feilschte lange mit manch einem Händler, verließ die Läden und kehrte an die dreimal wieder zurück – in einem Wort, legte eine außergewöhnliche Geschäftstüchtigkeit an den Tag. Vom Gostiny Dwor aus begab sich unser Held in ein bekanntes Möbelgeschäft, wo er Möbel für sechs Zimmer aushandelte, bestaunte daselbst eine modische und höchst absonderliche Damentoilette nach der allerneuesten Façon[7] und sobald er dem Händler versichert hatte, er lasse dies alles abholen, verließ er das Geschäft, nach seiner Manier, mit der Zusage einer klitzekleinen Anzahlung, besuchte dann noch irgendeinen Ort und handelte abermals etwas aus. In anderen Worten, seine Tüchtigkeit schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Letztendlich begann aber dies alles Herrn Goljadkin sichtlich zu ermüden. Und auf einmal begann ihn, weiß Gott, warum, so mir nichts, dir nichts, das Gewissen zu quälen. Um nichts in der Welt wollte er jetzt zum Beispiel auf Andrej Filippowitsch stoßen oder, sagen wir, auf Christian Iwanowitsch. Letztendlich schlug die Straßenuhr die dritte Nachmittagsstunde. Als Herr Goljadkin nach all dem wieder in seinem Wagen Platz nahm, bestanden die an diesem Morgen gemachten Einkäufe einzig und allein aus einem Paar Handschuhe und einem Flakon Parfum für anderthalb Rubel in Banknoten. Da Herr Goljadkin noch reichlich Zeit hatte, wies er seinen Kutscher an, vor einer berühmten Restauration am Newski Prospekt anzuhalten, welche er zuvor nur vom Hörensagen kannte, stieg aus dem Wagen und eilte hinein, um einen Imbiss zu nehmen, zu Atem zu kommen und die erforderliche Zeit abzuwarten.

Er nahm einen Imbiss, just wie jemand, dem noch ein üppiges Festmahl bevorsteht, aß einen Happen, um, wie es heißt, den kleinen Hunger zwischendurch zu stillen, nachdem er seinen Stamper Wodka geleert, ließ sich Herr Goljadkin in einem der Sessel nieder, sah sich in aller Bescheidenheit um und richtete sich gemächlich ein mit einer mageren nationalen Zeitung.[8] Er las zwei, drei Zeilen, erhob sich, warf einen Blick in den Spiegel, strich sich glatt; dann schritt er zum Fenster, schaute hinaus, überzeugte sich, ob sein Wagen noch dastand … nahm wieder Platz und griff nach der Zeitung. Es war deutlich zu sehen, dass unser Held über die Maßen aufgewühlt war. Nachdem ein weiterer Blick auf die Uhr ihn darüber aufgeklärt hatte, es sei ja erst Viertel nach drei, weshalb er noch geraume Zeit auszuharren habe, und begreifend, dass es sich keinesfalls zieme, sich hier einfach so einzurichten, bestellte Herr Goljadkin Schokolade, wiewohl er in diesem Augenblick keinen sonderlichen Wunsch nach derselben verspürte. Nachdem er die Schokolade getrunken hatte, fiel ihm auf, dass die Zeit bereits ein klein wenig fortgeschritten war, also erhob er sich, um zu bezahlen. Da klopfte ihm jemand auf die Schulter.

Er wandte sich um und erblickte vor sich seine beiden Kollegen aus dem Amt, dieselben, welche er an diesem Morgen auf der Litejnaja getroffen hatte – zwei Burschen, noch jung an Jahren und Würden. Für unseren Helden waren die beiden weder Fleisch noch Fisch, weder Freund noch Feind. Selbstverständlich wurden von beiden Seiten sämtliche Förmlichkeiten gewahrt; doch eine Nähe war nie zustande gekommen, ja wäre auch nie zustande gekommen. Die Begegnung zum gegenwärtigen Zeitpunkt schien Herrn Goljadkin höchst unangebracht. Er runzelte die Stirn und war leicht pikiert.

– Jakow Petrowitsch, Jakow Petrowitsch! –, tschilpten die beiden Registratoren, – Sie hier? Welch eine …

– Ah! Sie sind’s, meine Herren! –, unterbrach sie Herr Goljadkin in Eile, ein wenig konfus und peinlich berührt von der unangemessenen Verblüffung der Beamten sowie von dem allzu familiären Gebaren, aber er spielte wohl oder übel den gelassenen Bonvivant. – Sie haben wohl beschlossen zu desertieren, nicht wahr, meine Herren? He, he, he! … – Um sein Gesicht zu wahren und sich ein klein wenig auf das Niveau der Kanzleijugend zu begeben, mit welcher er ansonsten in ganz und gar streng gezogenen Schranken verkehrte, klopfte er einem der Jünglinge gönnerhaft auf die Schulter; das Populäre freilich misslang Herrn Goljadkin in dem Fall sehr gründlich; statt einer zünftigen Freundschaftsgeste kam etwas wahrlich anderes zustande.

– Und unser Bär? Sitzt schon da, wie? …

– Wen meinen Sie denn, Jakow Petrowitsch?

– Na, den Bären, als wüssten Sie nicht, wen man bei uns den Bären schimpft? … – Herr Goljadkin lachte und wandte sich dem Kellner zu, der ihm das Restgeld auszahlte. – Ich rede von Andrej Filippowitsch, meine Herren –, setzte er fort, nachdem er mit dem Kellner fertig geworden, doch diesmal sprach er zu den Beamten mit einer überaus ernsten Miene. Und die Registratoren verständigten sich mit einem bedeutsamen Augenzwinkern.

– Er sitzt schon da und hat sich bereits nach Ihnen erkundigt, Jakow Petrowitsch –, antwortete ihm einer der beiden.

– Aha, er sitzt da! Nun, in solchem Fall, soll er doch da sitzen, meine Herren. Und hat sich nach mir erkundigt, wie?

– Jawohl, er hat sich nach Ihnen erkundigt, Jakow Petrowitsch; doch was ist mit Ihnen, Jakow Petrowitsch, Sie sind ja heute dermaßen gestriegelt und geschniegelt? Ein ausgemachter Dandy! …

– Ja, meine Herren, so ist es wohl! Nicht der Rede wert … –, sprach Herr Goljadkin, blickte zur Seite und lächelte angespannt. Als die Beamten ihn lächeln sahen, brachen sie in schallendes Gejohle aus. Herr Goljadkin war etwas konsterniert.

– Also wirklich, Jakow Petrowitsch! …

– Meine Herren, ich sag’s in aller Freundlichkeit –, antwortete unser Held nach einigem Schweigen, als wollte er einmal (so Hand aufs Herz) sich vor den Beamten eröffnen, – Sie, meine Herren, kennen mich zwar, doch kennen Sie mich nur von einer Seite. Und die Schuld an derlei Missverständnis trägt wohl keiner, es sei denn – ich selbst. – Herr Goljadkin presste die Lippen zusammen und sah die Beamten bedeutsam an. Und abermals mussten sich die beiden zuzwinkern.

– Bislang, meine Herren, kannten Sie mich nur zum Teil und eben nicht ganz … Mich zu erklären, hier und jetzt, wäre vielleicht nicht der passende Anlass. Aber ich will Ihnen ganz entre nous[9] mal etwas auseinandersetzen. Es soll Menschen geben, die Schleichwege meiden und Larven allein zu Karneval tragen. Es soll Menschen geben, die den wahren Zweck der Menschennatur nicht darin erkennen, das Parkett mit den Stiefeln glattzubohnern. Es soll des Weiteren Menschen geben, meine Herren, welche gewiss nicht sagen, sie führten ein Leben in Glückseligkeit, weil ihnen zum Beispiel die Hose gut sitzt. Es soll letztendlich auch Menschen geben, die es ablehnen, so ganz ohne Sinn, zu hüpfen und Pirouetten zu drehen, Süßholz zu raspeln und zu scharwenzeln, doch insbesondere, meine Herren, ihre Nase in Angelegenheiten zu stecken, in welchen sie schlichtweg unerwünscht ist … Meine Herren, ich habe fast alles gesagt und möchte mich hiermit freundlichst empfehlen …

Da setzte Herr Goljadkin eine Pause ein. Weil nun die Herren Registratoren die vollste Zufriedenheit empfanden, sind plötzlich beide höchst ungezogen in fröhliche Lachsalven ausgebrochen. Herr Goljadkin war aufgebracht.

– Lachen Sie nur, meine Herren, wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten! Ihr Leben ist noch reich an Lektionen –, sagte er mit gekränktem Stolz, ergriff seinen Hut und wich Richtung Tür.

– Aber eins, meine Herren, möchte ich doch hinzufügen –, fügte er hinzu, zum letzten Mal an die Herren Registratoren gewandt, – aber eins, meine Herren, möchte ich doch hinzufügen, schließlich sind wir ja ganz entre nous. Dies, meine Herren, sind meine Maximen: Misslingt mir etwas, so fasse ich Mut, gelingt mir etwas, bin ich auf der Hut, und auf gar keinen Fall sekkiere ich meine Mitmenschen. Bin kein Ränkeschmied und bin stolz darauf. Eigne mich schlecht fürs Diplomatenkorps. Wie heißt es so schön, meine Herren, dem Jäger läuft das Wild entgegen.[10] Das ist wohl wahr, und ich stimme dem zu: Doch wer ist hier Jäger und wer das Wild? Die ganz große Frage, meine Herren!

Herr Goljadkin verstummte beredt, mit einer sehr bedeutsamen Miene, das heißt: mit einer hochgezogenen Braue und aufs Ärgste zusammengepressten Lippen, verneigte sich vor den Herren Beamten, trat ins Freie und ließ die beiden im Zustand der äußersten Verblüffung zurück.

– Wohin beliebt’s? –, fragte Petruschka recht forsch, der es offenbar leid war, draußen in der Kälte umherzuirren. – Wohin beliebt’s? –, fragte er Herrn Goljadkin und begegnete seinem furchtbaren alles in Schutt und Asche legenden Blick, demselben Blick, mit dem unser Held sich an diesem Morgen bereits zwei Mal versehen hatte und zu dem er nun zum dritten Mal Zuflucht nahm, während er die Treppe hinunterschritt.

– Zur Ismajlowski-Brücke.

– Zur Ismajlowski-Brücke! Und los!

– Das Diner beginnt wohl kaum vor vier,[11] vielleicht erst gegen fünf –, dachte Herr Goljadkin, – ist es womöglich noch viel zu früh? Doch natürlich darf ich auch früher kommen; es ist ja ohnehin ein Familienessen. Ich könnte doch einfach mal so, sans façon,[12]